Ueli Schmid
Br端gger und die Leiche im Schnee
WEBERVERLAG.CH
Ueli Schmid
Br端gger und die Leiche im Schnee
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Impressum Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe. Š 2014 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun/Gwatt Idee und Text Ueli Schmid Foto Umschlag istockphoto Gestaltung Umschlag Monica Schulthess Zettel, Werd & Weber Verlag AG Satz Bettina Zanella, Werd & Weber Verlag AG Lektorat Madeleine Hadorn, Werd & Weber Verlag AG Korrektorat Heinz Zßrcher, CH-3612 Steffisburg ISBN 978-3-03818-008-1 www.werdverlag.ch www.weberverlag.ch
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 .......................................................................................................
7
Kapitel 2 .......................................................................................................
19
Kapitel 3 .......................................................................................................
41
Kapitel 4 .......................................................................................................
49
Kapitel 5 .......................................................................................................
63
Kapitel 6 .......................................................................................................
85
Kapitel 7 ....................................................................................................... 109 Kapitel 8 ....................................................................................................... 133 Kapitel 9 ....................................................................................................... 153 Kapitel 10
...................................................................................................
173
Kapitel 11
...................................................................................................
185
Kapitel 12
...................................................................................................
211
Kapitel 13
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229
Herzlichen Dank
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235
Glossar ........................................................................................................... 236
Auch wenn 채hnliche Vorkommnisse bekannt geworden sind, so beruht dieser Roman dennoch auf der Fantasie des Autors. Namen und Handlungen der Hauptpersonen sind frei erfunden und allf채llige Vergleichbarkeiten mit tats채chlichen Geschehnissen zuf채llig.
Die Hauptpersonen Niklaus Peter Ein Schriftsteller und Journalist, dessen Nachforschungen die Pläne gewisser Kreise durchkreuzen. Markus Hofmann Ein junger Handwerker, der an falsche Apostel gerät. Victor Zumbühl Ein engagierter Vereinspräsident, dem man gewisse Wahrheiten aus der Nase ziehen muss. Simon Brügger Ein junger Offizier, der trotz Sprechverbots seinen Vater, Adjutant Brügger, über unschöne Machenschaften aufklärt. Bernd Walser Ein nörgelnder Kommissär, der nicht über alle Zweifel erhaben ist. Röbi Trachsel Ein freier Journalist, dessen Ehrenwort gilt. Adjutant Andreas Brügger Ein bewährter Fahnder vom Dezernat Leib und Leben, der trotz eines blauen Auges das Ziel nicht aus den Augen verliert. Kurt Rentsch Brüggers Assistent, der offenbar etwas zu verschweigen hat. 5
Kapitel 1
Trotz Schneegestöber und glitschigen Strassen füllte sich der Saal im Dachstock des einstigen Gasthofs und heutigen Gemeindehauses Zum Alten Bären zusehends. Victor Zumbühl, der Präsident des Kulturvereins Nestligen, stand im Saaleingang, nickte den Ankommenden freundlich zu und rieb sich zufrieden die wulstigen Hände. Seine Glatze glänzte im Licht der Deckenlampen und sein dreifaches Kinn schwappte, fast taktgleich zum Kopfnicken, auf und nieder. Aus Furcht, der dritte Nestliger Krimiabend würde vor halb leeren Zuschauerreihen stattfinden, hatte man kurzfristig umdisponiert. Anstelle der Konzertbestuhlung waren eiligst Tischchen auf- und Stühle darum herum gestellt worden. Nun nahmen die Besucher schon mehr als die Hälfte der Plätze ein. Die Garderobe neben der Treppe war überhängt mit Wintermänteln, Jacken, Mützen und Hüten, und Frau Lobsiger, die das improvisierte Café littéraire bediente, hatte alle Hände voll zu tun. «… einen Halben Roten bitte und zwei Sandwiches … vier Mal Kaffee …» «Zwei Halbe Weisse und vier Gläser …» «Hier bitte schön, zwei Halbe, macht … zwei Mal zwölf Franken fünfzig, eh … fünfundzwanzig Franken. Haben Sie es nicht kleiner? Heute Abend bezahlen alle mit Hundertern.» «Kuno», rief sie dem schlaksigen Kassier zu, der am Tischchen bei der Saaltüre Eintrittskarten zu zehn Franken verkaufte, «kannst du mir bitte ein paar Zwanziger- und Fünfzigernoten wechseln? Und sei so gut 7
und lass noch eine Harasse roten Aigle heraufholen, danke schön.» Frau Lobsiger war in ihrem Element und höchst zufrieden, denn das Geschäft mit Getränken und Essbarem am heutigen Abend durfte man als sehr einträglich bezeichnen. Endlich würde der Vorstand des Kulturvereins zugeben müssen, dass ihre Idee, das Café littéraire nicht nur in den Pausen, sondern während des ganzen Anlasses zu betreiben und somit auf die langweilige Konzertbestuhlung zu verzichten, eine gute und erst noch einträgliche Idee war. Während sie weiter mit emsigen Händen Kaffee, Wein, Bier und Sandwiches über den behelfsmässigen Tresen schob, überlegte sie ernsthaft, ob man an den Winteranlässen gar Erbsmus und Gnagi oder Kartoffelsalat mit heissen Emmentaler Würstchen verkaufen könnte; und wenn nicht, dann mindestens Käseküchlein und Knoblauchbrote, anstelle der schwammigen und faden Halsraketen, wie sie die Sandwiches geringschätzig nannte. Wie auch immer, dachte sie schadenfroh, mein Café rentiert, im Gegensatz zum Büchertisch. Da sahnen nur die Herren Dichter und Verleger ab. Für den Kulturverein bleibt wenig bis gar nichts übrig. Sie schaute hinüber zum Tisch zwischen den hölzernen Ständern des mächtigen, offenen Dachstuhls, wo die zierliche, brünette Frau Läderach Bücher stapelte und mit einem der drei Autoren schäkerte, die an diesem Anlass lesen würden. «… also die Läderach, wie die mit den Schriftstellern … überhaupt mit den Mannsbildern … keine Gelegenheit lässt sie aus», murmelte Frau Lobsiger für sich, und ein Hauch Missgunst und Eifersucht strich wie ein Schatten über ihr volles Gesicht; «… so sind sie halt, 8
die Frauen von heute. Jung, schlank, hübsch müsste man sein … bildet sich wohl etwas ein auf ihre Belesenheit, die Läderach.» Drei Minuten nach acht Uhr schloss der Vereinssekretär sachte die Türe, nachdem er sich, zur Treppe halsend, vergewissert hatte, dass niemand mehr im Anzug war. Der Kassier machte sich über die Geldkassette her, um die Einnahmen zu zählen. Während die Lampen im Saal erloschen, schritt Präsident Zumbühl im Schein eines einzelnen Scheinwerfers mit angemessener Würde nach vorne zum Lesetisch und hustete ins Mikrofon, um zu prüfen, ob es eingeschaltet sei. Es rauschte und knackte. Dann begann er mit näselnder Stimme: «Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist mir eine besondere Ehre, Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, hier in diesem altehrwürdigen Saal zu diesem feierlichen Anlass willkommen heissen zu dürfen. An diesem Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es mir eine besondere Ehre …» Im Saal hörte man es hüsteln und kichern. Schuhsohlen scharrten, Stuhlbeine knackten. Doch der Präsident würdigte und ehrte unbeirrt weiter. Er sprach gemessen timbriert, gab seiner Freude Ausdruck, dass sich Literaturbegeisterte so zahlreich eingefunden hätten. Er dankte allen, die weder Schnee und Kälte noch sonstige Mühen gescheut hätten, um am dritten Nestliger Krimiabend teilzunehmen, dankte für das sichtlich rege Interesse an der Literatur im Allgemeinen und am einheimischen Kulturschaffen im Besonderen, dankte den Autoren und allen freiwilligen Helfern, insbesondere Frau Läderach am Büchertisch für ihren unermüdlichen Einsatz. 9
Frau Lobsiger horchte auf und zog ein beleidigtes Gesicht. Natürlich ... nur die Läderach wird namentlich erwähnt, wie immer … Endlich und abschliessend stellte Zumbühl das Damenquartett vor, das für die würdige Eröffnung, für Intermezzi und Entreactes besorgt sein würde. Es sei wohl nicht gerade üblich, an Krimiabenden klassische Musik erklingen zu lassen. Aber er als Präsident des Kulturvereins sei der Meinung, man solle immer wieder Neues wagen. Somit erkläre er den Anlass als eröffnet, er wünsche allen Anwesenden viel Vergnügen. Jemand lenkte den Scheinwerfer um, der Lichtkegel schwenkte, liess den Präsidenten im Dunkeln stehen und erfasste die Musikerinnen auf dem kleinen Podest rechts des Lesepultes; die dunklen Roben glitzerten, die nackten Arme wirkten blass, die Gesichter maskenhaft. Sie hoben die Instrumente. Matt glänzten Geige, Bratsche und das Cello; dunkles, warmes Holz. Die Querflöte funkelte silbern. Während die ersten Takte eines Quartetts von Mozart erklangen, wurde hier und dort noch ein Stuhl gerückt, mit rotem oder weissem Aigle angestossen. Die letzten Flüsterer verstummten. Im Saal wurde es ruhig. Die Musik erfüllte den Raum; leichte, belebende Klänge. Nach der Pause – zwei Autoren hatten unterdessen gelesen, der bärtige, bebrillte Benjamin Hausammann, ein Einheimischer sozusagen, jedenfalls aus der nahen Hauptstadt, und Paulus Linzer, ein Ostschweizer; Stücke von Haydn und Mozart waren verklungen, die behäbige Frau Lobsiger hatte beachtliche Mengen Wein, Kaffee und Schinkenbrote und die Läderach schon vier Bücher verkauft – stand der Vereinspräsident er10
neut an Rednerpult und Mikrofon. Er leite nun, sagte er, den dritten Teil des Abends ein …, «und ich möchte Ihnen nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, den letzten Autor des dritten Nestliger Krimiabends vorstellen. Niklaus Peter, hier in Nestligen aufgewachsen, ein noch wenig bekannter Autor. Aber einer, der mit verständlicher Sprache daherkommt. Frisch von der Leber weg und unbekümmert. Niklaus Peter legt vor allem Wert auf den Inhalt seiner Geschichten und weniger auf literarische Ziererei.» Hausammann und Linzer blickten einander etwas betreten an, und Präsident Zumbühl fuhr fort: «Man hält Peter zuweilen vor, er bediene sich einer saloppen Wortwahl. Mag sein. Aber das, was er schreibt, versteht man wenigstens. Auch derbe Töne klingen. Und Peter, so denke ich, ist voll Mitgefühl für die Schwachen und Randständigen, er scheut sich nicht, Wahrheiten auszusprechen, auch wenn diese vielleicht schmerzen. Fast möchte ich sagen, Niklaus Peter sei ein Fürsprech für …» Sachte wurde hinten im Saal die Türe aufgestossen. Eine hohe, hagere Mannsperson in knielangem, dunklem Mantel und schwarzem Schlapphut schlüpfte herein, schloss kaum hörbar die Türe und blieb in der Schräge des hohen Walmdaches stehen. Einzig der Kassier, der jetzt bei Frau Läderach am Büchertisch sass, hatte den Verspäteten bemerkt. Er wartete eine Minute, dann winkte er den Knochigen zu sich heran. Zögernd kam die dunkle Gestalt näher. «In einer halben Stunde ist Schluss», flüsterte der Kassier. «Macht nichts, bin stecken geblieben, es schneit und schneit …» 11
Die Stimme tönte dumpf, der späte Gast hatte sich nicht die Mühe genommen, den Wollschal über die Nase herunterzuziehen, geschweige denn Mantel und Hut abzulegen. Er klaubte einen Schein hervor, eine Zwanzigernote, und streckte sie dem Kassier hin. Der schüttelte den Kopf, wisperte etwas wie «lassen Sie nur … Kasse schon abgerechnet … nach der Pause gratis …» Der Fremde legte die Note auf den Tisch und raunte, man solle sie nur nehmen, es reue ihn nicht, diesen Peter müsse er einfach hören … ein Talent in gewisser Hinsicht … Er beendete den Satz nicht, einige Köpfe hatten sich gedreht. Vorne am Pult, vom Scheinwerfer angestrahlt, schloss der Präsident doch noch seine Rede, dankte allen und wünschte weiterhin gute Unterhaltung. Auf dem gelben Programmblatt stand: Quartett Opus 131 Ludwig van Beethoven Arr. für drei Streicher und Querflöte Im Saal wurde es still. Alles lauschte den Klängen des eigenwilligen Komponisten. Die Damen auf dem Podium gaben sich redlich Mühe, sie musizierten mit Herz und Gefühl und waren dem Stück einigermassen gewachsen. Nur eben, Beethoven liess sich nicht so unbekümmert spielen wie ein Haydn oder ein Mozart. Dann setzte sich Niklaus Peter an den Lesetisch und erzählte den Zuhörern, dass er sich lange überlegt habe, was er hier lesen solle. Letztes Jahr sei sein Krimi herausgekommen. Aber den habe er bewusst zu Hause gelassen, dafür etwas mitgebracht, was ihm schon lange auf dem Magen liege; Teile einer Geschichte, die auf 12
Tatsachen beruhe, Bruchstücke eines Romans, die er hier loswerden müsse, weil dadurch die Möglichkeit bestehe, dass etwas ans Tageslicht komme, das schon längst hätte aufgedeckt werden müssen. Eine unselige Geschichte, die viele Menschen leiden lasse. Das, was er nun lesen werde, sei keine gültige Fassung, mehr oder weniger nur ein Entwurf … Ein älterer Herr mit Bart und grauem Pferdeschwanz brummte, man sei eigentlich nicht gekommen, um sich Notizen anzuhören. Seine füllige Begleiterin zischte, er solle nicht immer motzen und die Klappe halten. Niklaus Peter begann. Er las schnell. Man verstand sein Gehaspel schlecht. Es war, als müsste er hundert Seiten seiner Geschichte in einer Viertelstunde loswerden, als befände er sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Der zu spät Gekommene hinten im Saal nestelte verstohlen an einem Handy, einem jener mobilen Telefone, die mehr und mehr in Mode kamen und mit denen bald die ganze Nation telefonierte. Draussen schneite es heftig bei Winden aus Nordwest. * Am selben Abend dieses 9. Februars 1999 sass Adjutant Andreas Brügger vom Dezernat Leib und Leben der Kantonspolizei Bern, von seinen Kollegen Res genannt, zu Hause im Sessel vor dem Fernseher. Wieder einmal hatte er Tagesschau und Wettervorhersage verpasst. Unbedingt hatte er besonders Letztere sehen wollen, wegen der heftigen Schneefälle der vergangenen Tage. Aber eben, wie schon so oft, ein ungelöster Fall hatte ihn auf Trab und eine neue vielversprechende Spur für zwei Überstunden am Bürotisch 13
gehalten. Vor einer Woche hatte ein älterer Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, unterhalb der Uttigerwelle einen leblosen Körper in der niedrig gehenden Aare treiben sehen und umgehend die Polizei benachrichtigt. Etwas weiter unten an einem gemauerten Sporn hatte man dann die Leiche eines jungen Mannes mit Gesichts- und Schädelverletzungen aus dem eisigen Fluss gezogen. Die ersten Vermutungen, die Verletzungen seien durch einen Sturz oder durch den Aufprall an Brückenpfeiler oder Steinen entstanden, widerlegte Doktor Wagner von der Gerichtsmedizin zwei Tage später. Von wegen Sturz und so, alles dummes Zeug. Das sei ein Fall für Leib und Leben. Dem Jungen sei der Schädel eingeschlagen worden. Hundertprozentig Corylus avellana. Ob er bitte Deutsch reden möchte, hatte Brügger erwidert, er verstehe leider kein Latein. Ach so … Haselholz, mit armdicken Knütteln aus hundskommunem Haselholz, äusserst heftig ausgeführte Schläge auf Schädel und Gesicht. Morgen sei der Obduktionsbericht fertig. Endlich, heute Nachmittag, wurde die Leiche identifiziert. Es handelte sich um einen zweiundzwanzigjährigen Berner Oberländer, dessen Vermisstenmeldung vor wenigen Tagen eingegangen war. Als Brügger sein Büro am Nordring verliess, war es zehn Minuten nach sieben, es hätte gereicht für die Tagesschau. Aber ununterbrochen fiel Schnee, Brügger kämpfte sich auf seinem Fahrrad über die vom Streusalz matschig gewordene Fahrbahn. Der verklebte Dynamo seines Velos drehte mehr schlecht als recht, das bisschen Energie reichte halbwegs, der Fahrradfunzel ein müdes Flackern zu entlocken. Dichte Flockenwirbel tanzten ununterbrochen seit den Morgenstunden. 14
Spärlicher Verkehr auf den Strassen. An der Bushaltestelle drängten sich mehr Menschen unter dem plexigläsernen Schutzdach als üblich. Hie und da gedämpfte Geräusche eines Autos, das an Brügger vorbeikroch. Der Schnee schluckte beinahe den Motorenlärm. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite stumpfe Abblendlichter im Gefege des Winterabends. Die Ampel an der Kreuzung Standstrasse – Wylerstrasse schaltete von fahlem Rot auf trübes Grün. Die Vorderräder des ersten Autos drehten wirkungslos und schleuderten den bräunlichen Schnee nach hinten. Die folgenden Wagen hupten nicht wie sonst in ähnlichen Situationen. Man stieg aus, man half sich gegenseitig. Auch Brügger stieg vom Rad und schob mit. Bis der Wagen schlingernd wegkam, stand die Ampel wieder auf Rot. Brügger pedalte trotzdem los. Er erreichte die Morgartenstrasse, stellte sein Velo in den Unterstand. Er wischte sich den Schnee von Schultern und Schuhen, klopfte seine Mütze aus und durchstieg das Treppenhaus bis zu seiner Wohnung. Als er sich vor den Fernseher setzte, waren Tagesschau und Wettersendung vorbei, es flimmerten irgendwelche Banalitäten über den Bildschirm. Brügger zappte ein Weilchen, fand schliesslich einen Regionalsender, der nach der Werbung Börsenkurse und Wetterbericht versprach. Er bemühte sich vom Sessel in die Küche, holte sich Käse, Brot und kalte Milch. Finanzanalytiker und Wetterfrösche hatten recht behalten: Die Börsenkurse stürzten ab, das Wetter schlug um. Erstere in Richtung Keller wie seit Wochen nicht. Schnee fiel meterhoch bis in die Niederungen, weit über das Mittelmass der letzten zwanzig Jahre hinaus. Wesentliche Änderungen seien nicht zu erwarten. Nicht in den nächsten Tagen jedenfalls. 15
Zeitweilig ist man machtlos gegen beides, dachte Brügger, vorübergehend wenigstens. Finanz- und Wetterlagen beruhigen sich früher oder später, Pekuniäres meist früher. Chemie- und andere Multis, Banken und Versicherungen und ihre Aktionäre haben alles Interesse daran, setzen jeden Hebel in Bewegung. Nichts geht über Profit. Notfalls fusionieren, übernehmen, die einen die andern oder umgekehrt. Das Rad kommt nie zum Stillstand, die Kurse schnellen wieder in die Höhe. Mit dem Wetter ist es ähnlich. Seit tertiären Zeiten ist das Klima mittelmässig und erträglich. Wetterkapriolen und Umweltkatastrophen kommen indes immer wieder vor, ebenso wie Börsenkräche. Einmal hier und einmal dort. Und irgendwer wird profitieren. Der Mensch tritt göttlich auf, erfindet Schneekanonen. Fehlt die weisse Pracht, speien diese lärmenden Ungetüme die Hänge voll. Notfalls hilft das Militär, karrt Tausende Kubikmeter Schnee heran aus weit entfernten Regionen. Wo Lastwagen nicht mehr weiterkommen, setzt man Helikopter ein. Der Skiweltcup hat stattzufinden, der Skitourismus ebenso, wenn die Kassen stimmen sollen. Alles scheint machbar. Der freundliche Herr da oben gerät in willkommene Vergessenheit, solange die Finanzen stimmen für eine Minderheit. Und diese wenigen haben immer mehr zu sagen. Die Mehrheit, der Grossteil der Bevölkerung macht munter mit im Weltgetriebe. Manchmal widerwillig zwar, nur wenige murren ab und zu. Schliesslich schweigen auch sie und gehorchen. Man bezahlt die stetig steigenden Krankenkassenprämien murrend und nutzt sie weidlich aus, doktert hier und doktert da, verblödet langsam und wird hundert Jahre alt. Und merkt wohl nicht, wie diese Welt – dank Elektronik – zum 16
Dorf geworden, überschaubar geworden ist. Was man überschauen kann, das kann man kontrollieren. Ob die grosse Mehrheit ahnt, wie sehr ihr Geschick gesteuert wird? Die Schere tut sich auf, klafft mehr und mehr auseinander. Das Rad dreht munter weiter. Brügger hatte fernsehen wollen, kam dann ins Grübeln wegen Börsendaten und Wetterbericht und war nicht eben heiterer Stimmung. Er allein zu Hause, Dany, seine Angetraute, seit heute Nachmittag im Berner Oberland. Damit die Ferienwohnung bereit sei, wenn er ab Freitag für drei Wochen zu seiner Frau nach Adelboden in die Ferien fahre. Der Sohn in einer Rekrutenschule beim Abverdienen, die Tochter mit Freundinnen aus dem Gymnasium in die Skiferien verreist. Brügger allein in der Wohnung. Triste Leere ohne Familie. So wenig braucht es, um aus dem Trott gerissen zu sein, um Gewohntes zu vermissen, sinnierte er und schraubte sich ächzend aus seinem Sessel, schlurfte in die Küche und schenkte sich vom übrig gebliebenen Wein ein, den er gestern zu später Stunde entkorkt und mit Dany auf die Ferien angestossen hatte. Gestern Abend hatte der Burgunder köstlich geschmeckt. Jetzt fand er ihn langweilig, abgestanden, obwohl er der Flasche die Luft entzogen hatte. Am Vakuumpümpchen könne es kaum liegen, überlegte er, wohl eher daran, dass ungeteilter Genuss kein Genuss sei. Ob er noch seine Frau anrufen solle in Adelboden? Vielleicht schlief sie schon. Nur noch die Sendung 10 vor 10 anschauen, dann ab ins leere, kalte Bett. Seine Betrübtheit stieg noch um ein paar Grade, zudem war er hundemüde. Je älter er werde, je länger er Gauner und Ganoven jage, desto schlechter gelinge es ihm abzuschalten, klagte Brügger zuweilen. Als dann 17
der dreitagebärtige Stephan Klapproth am Bildschirm die Nachrichten zu lesen begann, waren Brüggers Gedanken ganz anderswo. Die Leiche mit dem geschändeten Gesicht aus der Aare hatte sich in seine Sinne gedrängt. Schlug der Täter im Affekt zu, ausser sich vor Wut? War es aus tödlichem Hass geschehen? Man wusste noch kaum etwas. Einzig die Identität stand fest seit heute Nachmittag: Markus Hofmann, dreiundzwanzigjährig, Radio- und Fernsehelektriker, wohnhaft gewesen in Thun, geringfügig vorbestraft wegen Randale und leichter Körperverletzung, begangen am antifaschistischen Spaziergang in Thun vor knapp zwei Jahren. Dort hatte er einem Linken mächtig eine paniert.
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Kapitel 2
Der pensionierte Gemeindearbeiter und seither als Hausbursche und Mädchen für alles im Restaurant Schlossmatt tätige Hansjakob Linder, genannt Jöggu, verzog sein faltiges Gesicht zu einer fürchterlichen Grimasse. Dann steckte er sich den Zeigefinger der rechten Hand, den er sich eben beim Einklinken des Schneepflugs an den Aebi-Motormäher eingeklemmt hatte, so heftig in den Mund, dass dabei seine oberen Dritten in missliche Schieflage gerieten. Der Finger schmerzte höllisch. Jöggu lutschte daran, zog ihn wieder heraus, spuckte Blut und begann sträflich zu fluchen: «Donners Fotzel-Aebi, verdammter Scheiss-Schneepflug, Himmelsternen, himmelhagelnocheinmalgopfriedstutzabenangere.» Jöggu zeterte ausgiebig und nicht zu leise, er hieb mit der blessierten Pranke Löcher in die Luft, als könnte er so den Schmerz in Stücke hauen. Dann versuchte er erneut den Motor zu starten. Er wickelte das Seil um das Pully und zog heftig daran. Es pfupfte ein bisschen. Mehr nicht. Er versuchte es mehrmals. Vergebens. «Lumpenhund von Motor, ist wohl wieder ersoffen.» Jöggu öffnete das Werkzeugkästchen zwischen den Holmen des Mähers, griff nach dem Kerzenschlüssel und machte sich umständlich daran, die Zündkerze aus dem Gewinde zu drehen. Natürlich, die Kerze war nass und verrusst. Dann suchte er in der Remise nach Putzfäden. Dort, wo sie üblicherweise hätten sein sollen, fand er sie nicht. «Der Tömschu wird sie wieder verlegt oder nicht zurückgebracht haben, der Schnuderbueb. Dauernd 19