
3 minute read
Hüsniye Kahraman-Korkmaz
Auf der Suche nach meiner früheren Heimat
Gut 30 Jahre war ich nie mehr im Osten der Türkei gewesen. Im Herbst 2001, nachdem ich das Schweizer Bürgerrecht erhalten hatte, wurde es möglich, erstmals wieder in die Türkei zu reisen, vorerst allerdings nur in den Westen des Landes, und seither war wieder viel Zeit verstrichen. Schon sehr lange hatte ich immer Sehnsucht nach Erzincan gehabt und mir gewünscht, zu sehen, was sich dort in den letzten 35 Jahren verändert hat. In dieser Stadt in Ost anatolien habe ich die wichtigsten Jahre meines Lebens, meiner Jugend verbracht. Aber ich hatte all die Jahre immer Angst gehabt, in den Osten der Türkei zu reisen. Als mir mein Sohn ein Enkelkind geschenkt hatte und auch meine Tochter zu Hause ausgezogen war, hatte ich auf einmal viel Zeit zum Nachdenken. Es entstand eine gewisse Leere in meinem Leben, und ich merkte, dass die Vergangen heit nicht abgeschlossen war. Mein Mann jedoch wollte nicht in seine alte Heimat reisen; seit seiner Flucht ist er nie mehr dorthin zurückgekehrt. Auf einmal brachte ich den nötigen Mut auf, die Reise zu planen, obwohl ein Jahr nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 in der Türkei alles schlimmer geworden war. Ich wollte mich nicht länger einschüchtern lassen. Ich fühlte mich frei, und niemand brauchte mich hier wirklich. Ich wollte endlich die Realität in der Türkei, die ich in den Medien ständig mitverfolgt hatte, mit eigenen Augen sehen und erleben. In was für einem Zustand werde ich das Land vorfinden? Was hat sich dort verändert seit meiner Flucht?, fragte ich mich.
So beschloss ich eines Tages spontan, Flugtickets zu buchen; ich war schon immer eine Draufgängerin gewesen.
Kenan, mein jüngerer Bruder, war in dieser Zeit gerade einen Monat lang bei mir in Thun in den Ferien. Wir machten zusammen viele Ausflüge in die Berge, und auch mein jüngster Bruder Musa kam auf Besuch. Wir drei Geschwister waren wieder einmal zusammen wie in früheren Zeiten.
Der grosse Tag war plötzlich da, und ich traf Barbara wie vereinbart am Bahnhof Thun. Ich war wegen meiner Sehbehinderung zum Teil auf ihre Hilfe angewiesen, vor allem in der Dunkelheit. Wir fuhren mit dem Zug nach ZürichFlughafen und übernachteten direkt am Airport, weil wir am nächsten Morgen sehr früh abfliegen würden. Mir kam alles vor wie ein Traum, und ich konnte immer noch nicht glauben, dass wir nun tatsächlich unterwegs waren. Ich habe Flugangst und hatte deshalb Edelweiss gebucht, eine Schweizer Fluggesellschaft, das schien mir sicherer zu sein. Alles ging jedoch gut, und ich spürte, dass ich bei Barbara, die reiseerfahren ist, in guten Händen war. Wir landeten mittags in Dalaman an der südwestlichen Mittelmeerküste, und ich atmete erleichtert auf und stellte fest: Ich lebe noch!
Nun folgte die Passkontrolle. Vorher hatte ich all die Jahre immer und überall Angst vor Beamten und Passkontrollen gehabt und jeweils innerlich gezittert. Doch diesmal blieb ich ruhig und wusste: Ich bin ein freier Mensch, mir kann nichts passieren mit meinem Schweizer Pass. Barbara liess mich vorangehen, damit sie sehen konnte, wie ich durch die Kontrolle kam. Der Zollbeamte stellte fest: «Sie haben sich vor neun Jahren einen Pass ausstellen lassen und sind trotzdem nicht in die Türkei gereist. Warum?»
Was soll ich antworten?, überlegte ich. Am besten sage ich gar nichts. Ich schwieg hartnäckig.
Zu meiner Überraschung sagte er: «Bravo, dass Sie nun doch gekommen sind!»
Er kontrollierte zwar meinen Pass ganz genau, doch offenbar stand mein Name nicht im Personenkontrollsystem –und ich kam problemlos durch den Zoll. Die erste Hürde war genommen.
Als wir mit unseren Koffern aus dem Flughafengebäude traten – es war unerträglich schwülheiss –, erwartete ich, dort meine Halbschwester Ayten und ihren Mann zu sehen, die versprochen hatten, uns abzuholen. Aber es war niemand da. Endlich sah ich sie draussen von weitem winken. Es war verboten, ganz nahe am Flughafengebäude zu parken. Bei meinen Verwandten war ich gut aufgehoben, mein Schwager fährt sicher Auto, das wusste ich. Wir fuhren ungefähr eine Stunde weit in ihr Hotel oberhalb von Fethiye, fühlten uns dort willkommen als Gäste und wurden verwöhnt. Barbara wurde wie ein Mitglied der Familie behandelt. Am zweiten Tag besichtigten wir mit meinem Schwager antike Sehenswürdigkeiten in der Umgebung, und auch Kenan traf nun mit seinem Auto aus Izmir ein.
Bei meinem Bruder fühlten wir uns in besten Händen, er ist ein ausgezeichneter, vorsichtiger Autofahrer. Wir hatten auf der ganzen Reise unterwegs zum Glück nie Probleme. Die nächsten zwei Tage würden wir nun sehr weit fahren. Es war mein Wunsch, Barbara ein touristisch attraktives Programm zu bieten, damit sie möglichst viel von der Türkei sehen konnte. Auch ich interessiere mich sehr für die Natur, für alte Kulturen und für Geschichte, die meist mit viel Schmerz und Leid verbunden ist. Immer schon hat es Völker gegeben, die vertrieben wurden und auf der Flucht waren. Die Völkerwanderungen der Gegenwart haben Ähnlichkeit mit der Geschichte meiner Vorfahren im Osten.
Zuerst fuhren wir nach Pamukkale. Diesen beeindruckenden Ort hatte ich bisher nur im Fernsehen gesehen. Schade fand ich, dass es in Pamukkale so viel Schmutz und Abfälle gab, überall PET-Flaschen, Plastiksäcke und kaputte Strassen. Es wird viel zu wenig für den Tourismus getan, obwohl man Eintritt bezahlen muss, um die Kalksteinterrassen zu begehen.