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Politik: kein Gesprächsthema

Von Anfang an war mir klar, es sei besser, in der Türkei mit den Menschen nicht über Politik, die polarisiert, zu sprechen. Ich nahm mir vor, möglichst wenige Fragen zu diesem Thema zu stellen. Überall trafen wir nette, hilfsbereite Leute, die jedoch nicht über ihre politische Einstellung Auskunft geben wollten, sie hatten Angst, offen über die Situation im Land zu sprechen. Sie befürchteten, sie und ihre Familien würden überwacht, wären Repressionen ausgesetzt und könnten ihre Stelle verlieren oder gar inhaf tiert werden.

Am nächsten Tag waren wir elf Stunden im Auto unterwegs bis nach Kappadokien. Eine sehr weite, abwechslungsreiche Fahrt, beinahe «ans Ende der Welt», fand Barbara. Als wir die ersten Feenkamine in dieser einzigartigen Landschaft erblickten, rief sie aus: «Schau, Hüsniye, wie schön das hier ist!» Sie machte staunende Augen wie ein Kind. Auch für mich war das alles neu, obwohl ich schon Filme über Kappadokien gesehen hatte. Wir übernachteten in einem sauberen Hotel und fuhren am nächsten Morgen ins Ihlara-Tal. Dort machten wir eine Wanderung in der tiefen Schlucht, die mich ans Munzur-Tal in meiner Heimatprovinz erinnerte. Ich konnte kaum glauben, dass Menschen dort so viele christliche Kirchen ohne richtiges Werkzeug, mit ihren Händen in die Felsen gebaut hatten. Auch eine unterirdische Stadt in Derinkuyu besichtigten wir. Kenan nahm mich an der Hand und führte mich, ich sah in den finsteren Räumen tief unter dem Boden nicht viel, aber ich spürte, wie schwierig es einst für die Menschen gewesen sein musste, sich hier vor den Verfolgern zu verstecken.

Im Freiluftmuseum in Göreme hatte es viele Touristen. Leider gibt man sich meiner Meinung nach zu wenig Mühe, den Tourismus richtig zu fördern und für Sauberkeit zu sorgen. Dort in der Gegend gibt es viele Töpfereien. Mir fiel jedoch auf, dass in den überall aufgestellten Tontöpfen kaum Pflanzen oder Blumen eingepflanzt waren. Den Türken ist es nur wichtig, das Innere ihrer Häuser zu schmücken und sauber zu halten. Wie es draussen vor der Tür aussieht, interessiert sie nicht. Ein Schock war der Zustand der WCs unterwegs, die oft schmutzig oder kaputt waren.

In Mittelanatolien fiel uns die extreme Trockenheit auf. Es war sehr heiss, es hatte seit langem nicht mehr geregnet, die Wiesen waren ganz ausgetrocknet und kupferfarbig geworden. Eine solche Trockenheit ist beängstigend. Ohne Wasser gibt es kein Leben. Das eigentliche Ziel unserer Reise – Erzincan und Tunceli – rückte allmählich näher. Die Moscheen und die türkischen Fahnen überall waren mir nicht neu, das kannte ich bereits: Eine Religion, eine Nation, eine Fahne, eine Sprache!, wird gepredigt. Man gibt zu viel Geld für prunkvolle Moscheen aus; man sollte besser in mehr Arbeitsplätze und vor allem auch in Schulen investieren, das wäre bitter nötig.

Das Versprechen der Regierung, die Türkei werde eine Demokratie, es werde alles besser, hat falsche Hoffnungen geweckt. Geändert hat sich nichts, im Gegenteil, es ist alles weit schlimmer geworden seit 1983, eine richtige Entdemokratisierung ist in Gang. Erdogan zeigt nun sein wahres Gesicht. Er hat sich langsam von unten hochgearbeitet, er ist nicht über Nacht Staatspräsident geworden. Die Türkei hat sich immer mehr zu einem autoritären Präsidialsystem entwickelt. Erdogan hat den muslimischen

Prediger Fethullah Gülen mit seiner Gülen-Bewegung für den Putschversuch von 2016 verantwortlich gemacht und ihn eigentlich für seine Zwecke ausgenutzt; er möchte die Linken und die Kurden vernichten.

In der Nacht vor unserer Ankunft in Erzincan konnte ich kaum schlafen. Es kam mir immer noch alles unwirklich vor. So viele Jahre war meine frühere Heimat unerreichbar gewesen – und nun würden wir tatsächlich in Erzincan ankommen, wir waren ganz nah am Ziel. Weder Kenan noch Barbara verriet ich, wie sehr ich auf einmal Angst hatte vor dem, was uns in Ostanatolien erwartete. Noch sechs Stunden – und dann sind wir in Erzincan, dachte ich ununterbrochen.

Wahrscheinlich wird sich nicht viel verändert haben, überlegte ich. Aber Barbara hatte mich gewarnt, ich müsse mich darauf vorbereiten, dass alles anders sein werde, sonst sei ich dann enttäuscht. Und schon jetzt unterwegs in den Osten kam mir vieles in der Türkei fremd vor. Die Nacht wollte kein Ende nehmen. Viele Emotionen und viele Erinnerungen kamen hoch. Ich hatte zudem plötzlich grosse Sehnsucht, meine Mutter und meine Genossen von früher wiederzusehen. In mir herrschte ein eigenartiges Gefühlschaos.

Nach dem Frühstück ging die Reise endlich weiter. Nach ungefähr sechs Stunden Autofahrt kamen wir an Refahiye vorbei, dem Verwaltungszentrum der Provinz Erzincan. Das war für mich auch eine fremde Stadt. Ich wusste, dass die Bevölkerung dort «gemischt» ist, das heisst aus Aleviten und Sunniten besteht. Jetzt wollte ich nur rasch weiter nach Erzincan. Es begann plötzlich stark zu regnen. Hier gab es auffallend viel Grün, viele Bäume. Bisher, in Mittelanatolien, hatte ich fast nur Trockenheit, Steppe, Steine gesehen. Ich kannte jedoch den Zustand der Strassen nicht und wusste nicht, was passieren würde bei heftigem Regen, ich hoffte, es würde nicht noch ein Unglück geschehen, bevor ich Erzincan endlich sehen würde. Diese Strecke – in umgekehrter Richtung – war ich vor über 30 Jahren mit dem Bus gefahren, allein mit meinem kleinen Sohn auf der Flucht in die Schweiz. Drei Jahrzehnte schienen so unglaublich rasch vergangen zu sein. Cemil, inzwischen längst erwachsen, ein Mann, war damals noch sehr klein gewesen, zweieinhalbjährig. Und ich war nun nicht mehr jung und unerfahren, sondern eine ältere, erfahrene Frau. Ich hatte mir früher gewünscht, mein ganzes Leben in meiner Heimat zu verbringen, aber das blieb ein Traum. Wir blieben in meiner Kindheit und Jugend nie lange an einem Ort, alle paar Jahre mussten wir umziehen, es schien, als gäbe es keinen festen Platz auf der Welt für uns. Es gibt viele Menschen, die bleiben ihr Leben lang am gleichen Ort, werden dort geboren und sterben auch dort, aber meine Grosseltern und Eltern gehörten immer zu einer Minderheit und mussten umherziehen. Warum gehörten wir zu einer Minderheit? Ich wollte nicht immer fremd bleiben und in Ungewissheit und Unsicherheit leben. Ich hätte lieber auch einmal zu einer Mehrheit gehört. Von weitem sah ich nun, dass wir uns endlich Erzincan näherten. Zuerst erblickte ich die Berge auf beiden Seiten, die Stadt liegt in der Ebene, eingerahmt von Bergketten. Ich hatte die Namen der Berge vergessen, aber den Munzur, den höchsten, wichtigsten Gipfel in Erzincan, nicht. Das Munzur-Gebirge bildet die Grenze zwischen Erzincan und Tunceli. Es war ein besonderer Moment, meine Stadt nun von weitem zu sehen. Ich war erfüllt von starken Gefühlen, die jäh hochstiegen, ich hätte am liebsten gleichzeitig weinen und laut herausschreien mögen: Ich bin endlich zurück in meiner Stadt! Ich konnte es immer noch nicht wirklich glauben. Es gab viele Dörfer, viel Grün in der Umgebung von Erzincan, das war immer noch gleich. Zumindest die Landschaft hatte sich nicht verändert, und ich freute mich darüber und erwartete, auch die Stadt sei noch immer gleich wie früher. Aber dann … Zuerst hielten wir kurz eingangs Ula an. Kenan wusste, dass mir dieses Dorf viel bedeutete, und wir sahen uns um. In Ula hatte ich mich einst öfters illegal mit meinen Genossen getroffen und Theater gespielt. Die Dorfbewohner waren sehr neugierig gewesen, sie hatten zum ersten Mal in ihrem Leben ein Theaterstück gesehen, und es hatte ihnen gefallen. Aber wir konnten damals nicht weitermachen, es war verboten. Wir fuhren nun an den Rand des Dorfes, das eine kleine Stadt geworden war, es gab nicht mehr nur kleine, bescheidene Häuser, sondern grosse Wohnblocks.

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