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Eine beinahe fremde Stadt

Wir kamen Erzincan nun rasch näher, und ich musste feststellen, dass sich alles verändert hatte. Es gab neue Gebäude, neue Quartiere, sogar eine Universität; früher hatte es hier nur eine Hochschule gehabt. Noch bevor wir im Zentrum eintrafen, kam mir alles unbekannt vor, und es machte mir Angst. Ich hatte mir fest vorgenommen, einmal einen Tag lang ganz allein in Erzincan herumzugehen und alles wieder neu zu entdecken. Aber das war nun eine völlig andere, beinahe fremde Stadt. Wo sind wir? Ist das wirklich Erzincan?, fragte ich mich bang. So unglaublich viel Verkehr, schlecht gebaute Häuser, wegen der Erdbebengefahr nur dreistöckig gebaute Wohnblocks. Die Hauptstrasse im Zentrum gab es zwar noch, aber sie war zweigeteilt, und in der Mitte musste man beim Überqueren der Strasse über ein ziemlich hohes Hindernis aus Beton steigen, was für alte und behinderte Menschen sehr schwierig ist.

Ich könnte hier nicht mehr leben, dachte ich erschrocken, das ist für mich zu schwierig, es gibt zu viele Hindernisse. Es machte mich traurig. Ich suchte das Geschäft, wo ich gearbeitet hatte, und fand es nicht. Vor 30 Jahren hatten wir für unsere Hochzeit einen Saal gemietet. Auch den fand ich nicht mehr. Überall sah ich unzählige Plakate und grosse Leuchtreklamen, und die Geschäfte waren auffällig angeschrieben. Erzincan hatte zu meiner Zeit 60 000 Einwohner, jetzt 139 000. Ein Schock. Alles kam mir sehr fremd vor, und ich fühlte mich verloren. Was ist passiert mit dir, meiner Stadt? Hast du dich derart verändert?, fragte ich mich. Während der 30 Jahre, die ich in Thun verbracht hatte, war dort alles ungefähr gleich geblieben, vor allem im Zentrum. In Erzincan waren viele Leute während des Erdbebens ausgewandert, viele jedoch zurückgekommen. Und alles war anders. Ich finde hier nichts Vertrautes mehr, musste ich mir eingestehen, ich kann nicht allein auf die Strasse, ich finde mich nicht mehr zurecht, bin verloren, völlig fremd. Ich habe Angst vor den Leuten, auch sie sind alle fremd, ich kenne niemanden mehr, nur ein Schwager wohnt noch hier, aber wo genau, weiss ich nicht. Erst einmal versuchte ich, durchzuatmen. Das war mein Ziel gewesen: Erzincan. Und nun traf mich die Erkenntnis wie ein Schock: Die Stadt ist mir fremd geworden. Was ist passiert? Ich konnte und wollte es zunächst nicht glauben. Ich war völlig durcheinander, fassungslos, voller Schmerz und fremdelte wie ein kleines Kind. Nein, das konnte nicht wahr sein! Ich wollte meine vertraute, meine geliebte Stadt wiederhaben. Wo war meine Vergangenheit geblieben? Zumindest ein Stück davon musste ich hier doch finden. Ich hatte mich damals nicht richtig von Erzincan verabschieden können, hatte überstürzt abreisen müssen. Fast wie eine Verbrecherin war ich heimlich aus der Stadt verschwunden. Niemand hatte erfahren dürfen, dass ich in die Schweiz flüchtete. Ich hatte mir aber nichts zuschulden kommen lassen, ich war nur eine junge, verunsicherte, deprimierte Mutter mit einem kleinen Kind, und ich wollte dieses zu seinem Vater in die Schweiz bringen.

Und nun kam ich über drei Jahrzehnte später zurück; man hätte mich für eine europäische Touristin halten können. Ich möchte, dass du auf mich stolz bist, Erzincan, sprach ich meine Stadt in Gedanken an, als wäre sie eine Person. Früher bin ich hier eine junge Frau ohne Selbstbewusstsein gewesen, krank und schwach. Jetzt komme ich als eine Andere zu dir zurück, ich bin nicht mehr die gleiche

Hüsniye. Du sollst stolz auf mich sein. Ich habe mich verändert wie du, auch du bist nicht gleichgeblieben. Ich muss dich so akzeptieren, wie du nun bist, aber ich hoffe, hier doch noch ein Stück von mir zu finden. Vielleicht versöhnen wir uns dann. Ich bin nicht gekommen, um etwas zu kaufen oder zu konsumieren, sondern um meine Gefühle zu prüfen. Bedeutest du mir nach wie vor etwas?

Habe ich hier noch ein Stück Heimat – oder gar nichts mehr? Ist alles für immer verloren?

Wir suchten zuerst ein Hotel, was recht schwierig war, weil es eines sein musste, das Aleviten gehört. Im Westen der Türkei gehören auch Linke zu den Sunniten, im Osten jedoch ist es anders, Sunniten gehören dort in erster Linie zur rechten Ideologie, obwohl sie selber meist nicht wissen, weshalb. Man müsste sie zuerst aufklären. Das System benutzt sie. Vor 30 Jahren hatten wir versucht, die Leute aufzuklären. Alle armen Leute sind gleich. Wenn ich armen Menschen helfen will, frage ich nicht, ob sie Sunniten oder Aleviten sind, sie sind einfach Menschen.

Wir fanden schliesslich ein schönes, modernes Hotel mit einem Café samt Konditorei, und die Leute, die dort arbeiteten, schienen aufgeschlossen zu sein. Es fiel mir jedoch unangenehm auf, wie laut es im Café war, ich habe mich längst an die Ruhe in der Schweiz gewöhnt, das ist mir wichtig geworden. In der Türkei fand ich nun alles zu laut. Die Türken sind sich gewohnt, laut zu sein, es hört sich an, als würden sie die ganze Zeit schreien oder streiten, aber sie reden nur laut und temperamentvoll. Ich war neugierig, wollte möglichst rasch mehr von Erzincan erkunden. Im Zentrum fühlte ich mich auf den Strassen sehr unsicher. Der Boden war fremd, alles war fremd, ich ging sehr unsicher, fast schwankend, als müsste mich jemand wie ein Kind an der Hand halten und führen, und ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte in der nicht mehr vertrauten Stadt. Erst einmal suchte ich den Stadtpark. Früher gab es dort nur Bäume, jetzt standen da auch Wohnblocks und ein grosses Restaurant mit einer Art Teich in der Mitte, wie in einem Kurpark. Hoffentlich befand sich dort in der Nähe immer noch meine Schule. Früher hatte ich jeden Stein gekannt, mich frei bewegt, alles war mir vertraut gewesen. Ich war damals sehr aktiv gewesen, jeden Tag mehrmals durch die Stadt gegangen. Jetzt kam mir alles fremd vor: die Strassen, die Gebäude, die Geschäfte, die Passanten … nur die Sprache nicht. Wie eine Fremde kam ich zurück und suchte meine alte Schule. Das Schulhaus wirkte verändert, aber ein Teil war noch wie vorher und trotzdem irgendwie anders. Ich hatte mir vorgenommen, vor der Schule auf einem Mäuerchen zu sitzen wie früher, als ich mit den Kollegen in der Pause gelacht und Spass gemacht hatte. Nun wollte ich rasch weitergehen, ich fand nichts Vertrautes mehr vor, es war ein eigenartiges Gefühl.

Auch das Gymnasium stand noch am gleichen Ort, das alte Gebäude war nicht abgerissen worden. Alles kam mir farblos vor. In meiner Erinnerung war alles farbig gewesen, ich sah noch das Rot vor mir, ein Burgunderrot. Jetzt glich das Gymnasium einem langweiligen Militärgebäude. Der Rasen im Garten vor dem Gymnasium war nicht mehr grün, sondern rötlichbraun, von der Sonne verbrannt. Für mich war jede Pause wichtig gewesen, ich hatte jeweils mit den Mitschülern leidenschaftlich über Politik diskutiert, und wir hatten auch viel gelacht und Witze gemacht. Erinnerungen kamen hoch, aber meine ehemaligen Mitschülerinnen und -schüler waren nicht mehr da, und das machte mich traurig. Am 18. Mai 1973 war der junge Revolutionär Ibrahim Kaypakkaya umgebracht worden. Seither hatte ich an jedem 18. Mai, als ich ins Gymnasium ging, dort im Garten gesessen und an ihn gedacht.

Diese Jahre waren für mich eine wichtige Zeit gewesen, aber weder die Schule an sich noch das uns vermittelte Wissen fand ich damals wichtig, nur das politische Engagement. Wir wollten weder lernen noch studieren, wir lehnten die bürgerliche Kultur ab. Mein Vater sagte zwar immer: «Du musst lernen und in die Schule gehen.»

Das war für mich ein falsches Denken. Wir lehnten die bürgerliche Ideologie ab, den Armen brachte diese nichts. Viele Genossen studierten deswegen leider nicht, obwohl sie sehr intelligent waren. Auch meine Sehbehinderung war für ein Studium ein Problem. Du bist nicht gesund wie andere, dachte ich, aber ich zeigte das nach aussen nicht. Es war nicht mein Ziel zu studieren, obwohl meine Intelligenz dafür ausgereicht hätte. Ich wollte mich voll und ganz für die Armen und die Frauen einsetzen, für Freiheit, Gleichberechtigung und für fairen Lohn kämpfen. Durch mein politisches Engagement, meinen Einsatz wollte ich die Welt retten.

Heute habe ich viel gelernt und die Schule trotz allem abgeschlossen.

All dies lief nun wie ein Film in meinem Kopf ab. Ich war erfüllt von Freude und Trauer, dass die Jugend vorbei ist. Die Schönheit ist weg, überlegte ich, jetzt folgt eine andere Zeit. Jung sein bedeutet schön sein. Alt bedeutet: nicht schön. Die Schönheit versteckt sich vielleicht hinter den Falten im Gesicht, sie wird zu einer inneren Schönheit. Ich war sehr traurig, sagte aber meinen beiden Reisegefährten nichts, ich musste alleine mit meinen Gefühlen und Gedanken fertig werden.

Wir konnten nicht alles an einem Tag besichtigen. Es wurde bereits dunkel, und wir gingen in ein Restaurant, ins «Kebabistan», ins Kebab-Land. Erzincan ist berühmt für besonders guten Kebab. Nicht aus Hackfleisch, sondern aus Fleischscheiben. Wir fanden einen freien Tisch. Zu meinem Erstaunen waren die Restaurants nämlich überall voll. Waren so viele Leute reich? Kenan erklärte, das seien alles europäische Touristen, gebürtige Türken aus der Schweiz und aus Deutschland, die im Sommer ihre ehemalige Heimat besuchen; im Winter werde die Stadt leer sein.

Auch in der nächsten Nacht schlief ich nicht gut. Zu viele Gedanken bedrängten mich. Was wird morgen auf mich zukommen, was werde ich erleben? Noch hatte ich nicht viel von Erzincan gesehen. Ich war traurig, nervös und enttäuscht. Bisher hatte ich mir gewünscht, fünf Tage in der Stadt zu bleiben, aber nun fand ich, drei Tage würden eigentlich genügen.

Am nächsten Morgen gingen wir sofort auf die Suche nach unserer ehemaligen Wohnung. Für mich ist es die wichtigste, ich habe dort etwa acht bis zehn Jahre verbracht, und ich wollte das ehemalige Zuhause nun unbedingt sehen. Wir gingen zu Fuss, und ich nahm an, ich würde jede Ecke kennen und gleichzeitig sehen, was sich verändert hatte. Das war nämlich viele Jahre mein Schulweg gewesen. Doch auch dieser war verändert. Ich hielt nur Ausschau nach alten Gebäuden, die neuen bedeuteten mir nichts. Nur wenige Häuser kannte ich noch; die Wohnungen der Offiziere gab es nicht mehr, und die Strassen waren verändert. Sogar mein Bruder fand die richtige Strasse nicht auf Anhieb, und wir irrten eine Weile herum, bis wir auf unsere Wohnung stiessen. Das Haus stand ganz verlassen da, kein Mensch schien mehr hier zu wohnen. Früher hatten hier mehrere Familien gelebt. Wir hatten jeweils Stühle ins Freie gestellt, uns gemütlich zusammengesetzt, Tee getrunken, diskutiert und gelacht, und die Kinder hatten Verstecken gespielt. Ich hätte schreien und weinen und laut fragen wollen: Warum verändert sich die Welt ständig und bleibt sich nicht gleich? Die Farbe an den Hauswänden war abgeblättert, das Geländer rostig, die Treppenstufen waren brüchig geworden … In meiner Erinnerung war alles neu und schön, und wir hatten uns damals über die grossen Fenster in der Kellerwohnung gefreut und darüber, dass wir nun mehrere geräumige Zimmer bewohnen konnten. Wir waren nicht wohlhabend, wir mussten eine günstige, einfache Wohnung mieten, doch das Wichtigste für meine Mutter war, dass wir alle zusammen sein konnten. Ein Leben in Luxus kannte und brauchte ich nicht. Ich wünschte mir nur, dass meine Mutter eines Tages nicht mehr so hart arbeiten müsste und bei uns zu Hause bleiben könnte. Nebenan gab es damals spezielle Häuser für Offiziere, und ich beobachtete, wie die Familien dort in Saus und Braus lebten. Offizierskinder besuchten die gleiche Klasse wie ich. Als Schülerin schämte ich mich manchmal für meine Mutter und befürchtete, man könnte sich wegen unserer Armut über uns lustig machen oder in der Schule schlecht über uns reden und denken: Hüsniye ist die Tochter einer armen Mutter, die arbeiten muss. Doch meine Mutter war eine sehr schöne und fleissige Frau, und ich hätte eigentlich auf sie stolz sein sollen. Sie kam für unseren Lebensunterhalt auf, und wir litten nie Hunger.

Später habe ich mich geschämt, dass ich so schlecht über meine Mutter gedacht hatte. Musa, mein jüngster Bruder, hatte damals vor dem Haus ein Hundehaus gebaut und sich liebevoll um die Strassenhunde gekümmert. Er war so hilfsbereit und grosszügig, ein herziges Kerlchen. In seiner Kindheit war er glücklich gewesen. Die Jahre meiner Jugend liefen wie Szenen in einem Film vor meinem inneren Auge vorbei, ich sah alles wieder klar vor mir. Wichtige Menschen waren damals zu mir auf Besuch gekommen, und ich hatte in der Kellerwohnung vieles erlebt: meine erste Liebe, dann die Liebe zu meinem späteren Mann Ali Haydar und die Freundschaften zu meinen Genossen. Alles spielte sich in der Wohnung ab, vor der ich nun stand. Erfreuliches, Lustiges, Trauriges und Schwieriges. Und ich erlebte noch einmal in der Erinnerung, wie die Polizei vorbeikam und die Wohnung durchsuchte und was wir dabei für Ängste ausgestanden hatten … Und jetzt war alles still und verlassen. War denn niemand mehr da, der mich, Hüsniye, noch kannte?

Plötzlich kam eine Frau aus der Wohnung nebenan und sah uns. Vielleicht sind das neue Mieter, dachte sie wahrscheinlich, und fragte: «Was suchen Sie?» Ich nannte den Namen des Hausbesitzers und erkundigte mich nach ihm.

Ja, der habe einmal da gewohnt, aber nun schon lange nicht mehr, und auch sein Sohn lebe nicht mehr in Erzincan, er komme selten vorbei, erklärte sie.

«Wer sind Sie, wie heissen Sie?», erkundigte sich die Frau, die ich plötzlich erkannte.

«Ah, Güler, grosse Schwester, ich bin Hüsniye, die Tochter von Zehra. Wir haben vor über 30 Jahren hier gewohnt. Erinnerst du dich an mich?», rief ich aus.

«Ja, natürlich, ich habe euch nie vergessen!», antwortete sie, sie erkannte mich nun ebenfalls. Wir umarmten uns spontan und gerührt. Nun erschien auch ihr Mann. Ich hatte ihn noch jung vor Augen, nun war er ein alter Mann geworden – und Güler eine alte, grauhaarige Frau. Sie war oft bei uns gewesen, hatte fast jeden Tag nach etwas gefragt, und wir hatten ihr immer alles, was sie benötigte, gegeben. «Ihr habt mir viel geholfen, du warst stets grosszügig, du hast alles mit uns geteilt, du warst sehr hübsch, spontan, intelligent. Warum habe ich dich nicht sofort erkannt, du hast dich gar nicht so sehr verändert», sagte sie gerührt.

«Doch, ich habe mich verändert, deshalb hast du mich zuerst nicht wiedererkannt», erklärte ich. Für mich war dieses Wiedersehen ein beglückender Moment. Als würde ich gleichzeitig auch meine Mutter wiedersehen. Wir hatten viel Zeit zusammen verbracht, die Nachbarn hatten zwei Kinder gehabt. Nun hatte ich doch noch ein Stück meiner Vergangenheit wiedergefunden, ein wichtiges Stück von mir. Ich war also nicht ganz verloren und vergessen in Erzincan. Wenn die Nachbarn eines Tages sterben, dann wird auch ein Stück von mir sterben, dann kennt mich hier niemand mehr, überlegte ich. Nach uns sei eine andere Familie eingezogen, aber das sei nicht mehr dasselbe gewesen, sie hätten uns immer sehr vermisst, erzählten die ehemaligen Nachbarn, und sie luden uns zu sich ein. Wir könnten bei ihr übernachten, sagte Güler. «Kommt herein!» Die beiden erzählten von ihrem Leben, von den Schwierigkeiten, von den Problemen ihrer Tochter. Wenn ich solches höre, zögere ich nicht zu helfen. Ich gab Güler spontan Geld, damit sie für ihre Tochter etwas kaufen konnte. Ihre Familiengeschichte gehört auch zu meiner, sie ist Teil meines Lebens.

Es tat gut, willkommen zu sein, es tröstete mich. Die Begegnung mit Güler und ihrem Mann wühlte mich jedoch sehr auf. Ich versprach den beiden, diesmal nicht einfach aus Erzincan abzureisen, ohne mich vorher zu ver abschieden.

Nach dem Kaffeetrinken mit den Nachbarn gingen wir weiter zur Wohnung, in der ich seinerzeit verhaftet worden war. Wir wohnten dort nur zwei Jahre, ich nur eines. Hinter dem Haus hatte ich meine verbotenen Bücher vergraben. Nach meiner Freilassung und der von Ali konnten wir uns dort zum ersten Mal nach drei Jahren wiedersehen. Gegenüber wurde seinerzeit ein neues Haus gebaut, und wir bezogen dort eine Wohnung im ersten Stock. Zum ersten Mal wohnten wir nicht mehr in einer Kellerwohnung. Meine Brüder waren bereits weggezogen, sie studierten und kamen nur im Sommer nach Erzincan. Es war also keine richtige Familienwohnung mehr. Ali musste damals seinen Militärdienst absolvieren; er konnte während der Ferien heimkommen, und wir trafen uns jeweils in der neuen Wohnung – bis zu unserer Heirat.

Ali wollte nicht noch einmal fünf Jahre warten, sondern sobald wie möglich heiraten. Am 24. Oktober 1983 fand unsere Hochzeit statt. An diesem Tag musste ich von meiner Familie Abschied nehmen. Ich dachte damals, es sei gut für meine Mutter, wenn sie für eine Person weniger aufkommen müsse.

Wir gingen nun weiter und suchten im gleichen Quartier das Haus, wo ich nach meiner Heirat mit meinen Schwiegereltern gewohnt hatte. Die Umgebung hatte sich zwar verändert, aber ich fand den Laden, den Ali damals geführt hatte, und wusste noch gut, dass sein Elternhaus ganz in der Nähe sein musste.

Das Haus meiner Schwiegereltern hatte ich als gross in Erinnerung. Jetzt kam es mir überraschend klein und unbedeutend vor, irgendwie geschrumpft, wie alle früheren Wohnungen. Nichts weckte Gefühle in mir, das Haus wirkte fremd, und ich habe ohnehin keine guten Erinnerungen an jene Zeit. Die Familie meines Mannes war mir von Anfang an ganz anders vorgekommen als meine, ich passte da nicht hinein, das spürte ich schon im Voraus. Endlich konnten Ali und ich zwar zusammen sein und uns eine gemeinsame Zukunft aufbauen. Aber in der Wohnung der Schwiegereltern ging es mir nicht gut, es war eine Art Hölle, und ich wurde deswegen krank. Habe ich einen Fehler gemacht, in diese Familie hineinzuheiraten?, fragte ich mich damals. Ich war wie gefühllos und blieb eine Fremde. Meine Schwiegermutter lebte noch ganz in der alten Tradition, während ich eine moderne junge Frau war. Ich wollte nun nur das Zimmer sehen, in dem Cemil geboren wurde. Wir blieben nicht lange, tranken Tee mit meinen Verwandten, die vom Einkaufen zurückgekommen waren, sie verbringen hier jeden Sommer Ferien, und kehrten ins Hotel zurück. Am nächsten Tag besuchte ich mit Kenan noch einmal die ehemaligen Nachbarn, um mich von ihnen zu verabschieden. Güler hatte Börek gemacht, ein traditionelles Blätterteiggebäck, und auf uns gewartet. Wir sprachen noch einmal lange über die alten Zeiten und frischten Erinnerungen auf. Obwohl die beiden nun alt geworden waren und sich verändert hatten, machte mich die Begegnung mit ihnen nicht traurig. Wir tauschten Telefonnummern aus. Sie wolle den Kontakt mit mir nicht mehr verlieren, sagte Güler. Ich versprach, sie erneut zu besuchen, sollten wir irgendwann nach Erzincan zurückkehren.

In der Gefahrenzone

Ich wollte unbedingt auch Tunceli, Ovacık und wenn möglich unsere Siedlung in den Bergen besuchen. Aus den Medien wusste ich, dass sehr viele Leute dort längst weggezogen sind und es kaum mehr Besucher gibt, die sich nach Ostanatolien wagen. Die Gegend gilt als gefährlich, von Reisen in Grenzgebiete der Türkei wird teilweise abgeraten und es wird zu Vorsicht aufgerufen, auch vom EDA: «Trotz erhöhter Sicherheitsmassnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Seit dem Sommer 2016 hat die Zahl der Anschläge zugenommen. Im Südosten und Osten des Landes und auch in Ankara und Istanbul haben die Attentate zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Buspassagiere, Demonstranten und Touristen.»

Auch im Report von Amnesty International 2016/17 steht: «Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 hat sich die Menschenrechtslage in der Türkei massiv verschlechtert. Unter dem Verdacht, mit den Putschisten zu sympathisieren, wurden Zehntausende festgenommen. Die Anwendung von Folter ist belegt. In den Kurdengebieten führen das Militär und die PKK Operationen durch, unter welchen die Zivilbevölkerung leidet.»

Das behielt ich immer im Hinterkopf. Die Angst, plötzlich wieder im Gefängnis zu landen, begleitete mich auf der ganzen Reise, vor allem in Tunceli, aber ich verdrängte und verschwieg sie.

Mein kleiner Bruder und mein Grossvater sind in unserer Siedlung begraben, allerdings nicht auf einem richtigen Friedhof. Der Ort liegt sehr abgelegen, verlassen, es ist zu gefährlich, dort zu leben. Wir hätten eine spezielle

Erlaubnis gebraucht, um hinauffahren zu dürfen und hätten noch am gleichen Tag zurückkehren müssen. Es gibt zwar einen mit dem Auto befahrbaren Weg steil hinauf in die Siedlung, aber man weiss nie, ob man sich nicht in Gefahr begibt. Es passiere immer wieder, dass Menschen in der Gegend umgebracht würden, erzählte man uns. Dann heisse es jeweils, Terroristen, nicht das Militär, seien die Täter.

Obwohl ich unsere Siedlung gern wiedergesehen hätte, verzichtete ich darauf. Ich wollte nichts riskieren und auch Barbara nicht unnötig in Gefahr bringen. Dort oben gibt es keine Menschen, nur wilde Tiere, und wir wären ständig überwacht worden. Mehmet, der jüngste Bruder meines Mannes, reiste zwar ab Erzincan als Begleiter mit uns, weil er sich in der Gegend auskennt, und auch mein Bruder fährt regelmässig von Izmir in seine alte Heimat. Im Alter haben die Menschen auf einmal den Wunsch, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Bis zur Grenze von Erzincan hatte es bisher auf unserer Reise nie eine Personen- und Fahrzeugkontrolle gegeben. Wir wussten jedoch, dass es gefährlich war, nachts nach Tunceli zu fahren, das war nur tagsüber möglich. An der Grenze zu Tunceli gab es nun tatsächlich mehrere Kontrollen. Fünfmal wurden wir genaustens kontrolliert! Vor 30 Jahren hatte ich gezittert, wenn ich einen Polizisten nur von weitem sah. Jetzt machte es mir nichts aus, ich blieb erstaunlich ruhig. Es kam mir unwirklich vor wie in einem Film. Die Angst ist für immer weg, dachte ich erleichtert, ich habe sie überwunden. Die Soldaten, die in Tunceli ihren obligatorischen Militärdienst absolvieren müssen, verurteile ich nicht. Man kann in der Türkei Berufssoldat werden, und viele haben diesen Weg nur gewählt, weil sie keine andere Arbeit fanden.

Sie sind deshalb keine Feinde für mich. Mir fiel bei einer Kontrolle ein junger Soldat auf, dessen Waffe grösser schien als er selber. Er kam mir so jung und unbeholfen vor, dass es mir fast weh tat, wenn ich daran dachte, wie sehr seine Mutter wahrscheinlich um ihren Sohn bangte. Aber die anderen, die nicht mehr jungen Polizisten, sind i n meinen Augen eigentlich Mörder. Wie viele unschuldige Menschen haben sie schon umgebracht?, fragte ich mich. Der Weg nach Tunceli führte durch eine sehr einsame Gegend, es hatte kaum Verkehr, und man sah, dass die Strassen nicht richtig unterhalten wurden. Wir kamen durch eine schöne Landschaft, doch kaum jemand schien dort zu wohnen, alles wirkte verlassen. Nach etwa zwei Stunden Fahrt kamen wir in Tunceli an, das früher Dersim hiess. Die Stadt kam mir ganz leer vor, allein und verlassen wie ein Waisenkind. Ich hatte dort Ende der 1970er-Jahre meine Kindergärtnerinnenausbildung absolviert. Damals war Tunceli eine Stadt voller junger Menschen gewesen, bekannt als sehr freizügig, eine Ausnahme in der Türkei. Eine ganz andere, freie Welt voller Leben und Aufbruchstimmung. Viele gebildete, aufgeschlossene, kritische, politisch engagierte Leute und Studenten lebten dort. Es gab sogar verschiedene linke Bewegungen. Anders als in den anderen Teilen des Landes wurde die türkische Flagge nicht ständig gehisst, und es wurde keine Landeshymne gesungen. Jetzt aber war die Stadt wie ausgestorben, man sah kaum jemanden auf der Strasse. Die Geschäfte waren zwar geöffnet, aber es kamen keine Kunden. Tunceli ist wie eine Wunde, in den Augen der Regierung ein kritischer, gefährlicher Ort, der gemieden und streng überwacht wird. Für mich war das eine grosse Enttäuschung. Ich konnte mit niemandem diskutieren, wie ich gehofft hatte.

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