Werkschau Text Band 8

Page 1

SCHREIB AKADEMIE

WERKSCHAU TEXT BAND 8


IMPRESSUM MEDIENINHABER UND HERAUSGEBER: NÖ KREATIV GmbH FIRMENSITZ: NÖ KREATIV GmbH, Schlossplatz 1, 3452 Atzenbrugg FIRMENSTANDORT: NÖ KREATIV GmbH, Hypogasse 1, 3100 St. Pölten TELEFON: +43 2742 9005-16810 FAX: +43 2742 9005-16820 E-MAIL: office@noe-kreativ.at WEBSITE-ADRESSE: www.noe-kreativ.at FIRMENBUCHNUMMER: FN 405570b FIRMENBUCHGERICHT: Landesgericht St. Pölten UMSATZSTEUER-IDENTIFIKATIONSNUMMER: ATU 68296738 GESCHÄFTSFÜHRER: Mag. Rafael Ecker GESELLSCHAFTER – BETEILIGUNG ZU 100%: KULTUR.REGION.NIEDERÖSTERREICH GmbH FÜR DEN INHALT VERANTWORTLICH: Mag. Rafael Ecker PRODUKTIONSLEITUNG: Giuseppe Rizzo REDAKTION: Mag.a Martina Rössler B.A., Katharina Falkensteiner LEKTORAT: Mag.a Karin Schrammel und Das Textatelier GRAFIK/LAYOUT: HABESOHN, DOUCHA Werbeagentur GmbH, GF Harald Doucha DRUCK: Paul Gerin GmbH & Co KG COPYRIGHT: KULTUR.REGION.NIEDERÖSTERREICH GmbH, Atzenbrugg 2014. Alle Rechte vorbehalten.


„In den Dichtern träumt die Menschheit.“ Christian Friedrich Hebbel Zu unserer großen Freude sprießen in Niederösterreich seit Jahren Literaturveranstaltungen aus dem Boden, die das Interesse an Kultur und Kunst in unserem Land widerspiegeln. Dabei kann man sich die Literatur erwandern, mit Wein genießen, von Nebeln umwallen lassen oder ihr an historischen Orten lauschen. So können Tradition und Bewährtes geehrt und zugänglich gemacht werden. Mindestens genauso wichtig ist uns als Politiker aber die Investition in die Zukunft – in die jungen Talente, die wir unterstützen wollen.

­ chriftstellerinnen und Schriftstellern sowie von Autorinnen und S Autoren können Jugendliche in den Schreib­akademien ihre ­Begabung ­erproben. Sie lernen kleine Formen und große Entwürfe kennen, spielen mit Sprache und entdecken ihr ­Potenzial, mit dem Sie innere Bilder und Gefühle in Poesie und Prosa verwandeln ­können. Beim Schreiben wie im Leben gilt es, fantasiebegabt Visionen zu entwickeln, sie auszudrücken und zu kommunizieren. Deshalb ist es uns ein politisches Anliegen, das großartige kreative Potenzial der niederösterreichischen Jugend zu fördern. Der vorliegende Band der Schriftstücke gibt uns Recht, diesen Weg eingeschlagen zu haben. Wir gratulieren von Herzen.

Eine unserer Initiativen war die ­Gründung der Niederösterreichischen Kreativakademie. Begleitet von

Unser Dank gilt allen Referentinnen und Referenten für ihren ­großen Einsatz und ihre Verbundenheit, den Eltern für ihre Unterstützung und dem Team der Niederösterreichischen Kreativ GmbH für sein Engagement. Den Leserinnen und Lesern wünschen wir viel Vergnügen mit den vorliegenden Schriftstücken!

Dr. Erwin Pröll Landeshauptmann

Mag. Wolfgang Sobotka Landeshauptmann-Stellvertreter

1


INHALTSVERZEICHNIS HOLLABRUNN

2

Schreibakademie Hollabrunn

5

Gerhard Ruiss & Elisabeth Schöffl-Pöll

7

Georgina Frasl

8

Clarissa Hasenberger

16

Fiona Kircher

18

Lena Kircher

21

Janina Lörinczi

31

Diana Melody

37

Mattea Schneider

41

Jan Waldhart

43

Kathrin Wilfinger

47

Sophie Winkler

49

HORN

Schreibakademie Horn

53

Rudolf Aubrunner

55

Elliot Chan

56

Kerstin Fischer

59

Angelika Freitag

69

Fabian Stummer

78

Crystal Tiki

83

Gemeinschaftsarbeiten

87


MÖDLING

Schreibakademie Mödling

115

Gertraud Klemm & Markus Tobischek

117

Elodie Arpa

118

Lara Drakos

122

Bianca Fellner

128

Aleksa Lazovic

134

Robin Reisenauer

136

Anika Suck

141

Teresa Wawra

144

WAIDHOFEN AN DER YBBS

Schreibakademie Waidhofen an der Ybbs

149

Dr. Peter Bubenik & Evelyn Schlag

151

Simone Müller

152

3


4


SCHREIB AKADEMIE

HOLLABRUNN Klasse Elisabeth Schöffl-Pöll & Gerhard Ruiss

5

DIE SCHÜLER_INNEN Georgina Frasl Clarissa Hasenberger Fiona Kirchner Lena Kirchner Janina Lörinczi Diana Melody Mattea Schneider Jan Waldhart Kathrin Wilfinger Sophie Winkler


Schreibakademie HOLLABRUNN

SCHREIBAKADEMIE HOLLABRUNN

6

Es gibt zahlreiche Schreibschulen in Österreich. Es gibt sogar einen Verband österreichischer Schreibpädagoginnen und Schreibpädagogen, der neben Kursen und Workshops zur Ausbildung zur Schreibpädagogin oder zum Schreib­ pädagogen Lehrgänge zur Schreibausbildung anbietet. All diese Schulen setzen Erfahrungen im Schreiben und Veröffentlichen voraus und sollen zur Weiterbildung oder als Einstiegshilfen in den Literaturbetrieb und in den literarischen Markt dienen. Literaturwerkstätten oder Schreib­seminare, in denen Schülerinnen und Schüler ihre literarischen Fähigkeiten ausprobieren und zur Herstellung von eigenen literarischen Texten anwenden können, gibt es, bis auf die Niederösterreichische Schreib­akademie, keine. Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Es genügt nämlich nicht, eine Schreibwerkstatt für Schülerinnen und Schüler ins Leben zu rufen, von der man nicht von vornherein sagen kann, dass sie der Fertigstellung, Vermittlung und Veröffentlichung von literarischen Texten dient, sondern bei der sich die Beteiligten in literarischen Schreibformen erproben sollen, ohne dass deren Gelingen und ein praktischer Nutzen garantiert werden kann. Es braucht Zeit, Geduld und Kontinuität, um eine solche Einrichtung aufzubauen, von der wenige Soforteffekte ausgehen, mit der aber umso mehr Dauereffekte erzielt werden können. Das zentrale Anliegen der Schreib­ akademie in Hollabrunn ist die Begleitung bei der Persönlichkeitsentwicklung und Persönlichkeitsentfaltung. Welchen Platz das literarische Schreiben in späteren Jahren bei den einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern einnimmt, ist von sekundärer Bedeu-

tung. Wichtig ist das Aufmerksamwerden auf sprachliche Gestaltungsmöglichkeiten und Besonderheiten bei ihren Anwendungen in unterschiedlichsten Zusammenhängen. Das „Talent“ dazu ist bei den meisten Jugendlichen grundsätzlich vorhanden, die Schreib­ akademie ist dazu da, um es abzurufen. Das Bedürfnis nach einem persönlichen Ausdruck und die Lust an eigenständigen Formulierungen sind in irgendeiner Form bei jeder und jedem anzutreffen, die Schreibakademie bietet die Möglichkeit, auf die Suche nach ­ihnen zu gehen und jenseits der Schreibkonventionen und Schreibkonfektion zu eigenständigen Ausdrucksweisen zu finden.

Gerhard Ruiss, Referent der Schreibakademie Hollabrunn

Literatur wirkt wie ein Gong. Sie klingt nach. Wo Kreativität und Begabung sind, ist Zukunft. Unter diesem Motto investieren wir Referierenden Einsatz, Fantasie und Arbeitskraft in die junge Generation und wollen sie auf dem Weg zu eigenstän­digen Persönlichkeiten begleiten. Die Preise und Stipendien, die die jungen Schriftstellerinnen und Schriftsteller erhalten haben, sind Ausdruck der Wertschätzung ihrer Texte. Wir dürfen erleben, wie die Kraft eigener Intui­tion innere Bilder in Schwingung bringen kann. Unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind gewissermaßen eine Familie, aber jede und jeder trägt eine eigene Handschrift. Ein Strauß Blumen, aber jede und ­jeder eine andere Blüte. Viele Geistesgaben, aber nur ein Geist. Von den ersten Schreibversuchen bis hin zur Endfassung ist es ein Stück intensiver Arbeit. Der Gedanke, dass das Endprodukt einer großen Hörer- und Leserschaft zu Verfügung stehen wird, beflügelt die Jugendlichen. Es ist bemerkenswert, wie kreativ junge Menschen mit Sprache umgehen, wenn man sie spielerisch an Literatur heranführt. Die Texte spiegeln vielfach tiefe Empfindungen wider und geben Einblicke in die unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Weiters begeben sich die Jugendlichen auf Zeitreise durch ihr ­tägliches Lebens- und Lernumfeld. So ist die Schreibakademie mit derselben Begeisterung wie am Beginn im siebenten Schaffensjahr angelangt und wird mittlerweile vom gesamten Umfeld in hohem Maße akzeptiert und geschätzt. Durch Lesungen außerhalb der Akademie und zahlreiche Foto­artikel wird ihr Schaffen mit Öffentlichkeitsinteresse verfolgt. So ist eine weitere gute Zusammenarbeit mit dem Land NÖ und der Stadtbücherei der Gemeinde Hollabrunn, in deren Räumen wir Quartier bezogen haben, langfristig gesichert.

Elisabeth Schöffl-Pöll, Referentin der Schreibakademie Hollabrunn


ELISABETH SCHÖFFL-PÖLL

1951 in Ziersdorf geboren, erlernte und früher ausgeübte Berufe: Schriftsetzer und Reprofotograf. Seit 1978 haupt­ beruflich Autor, Musiker, Schauspieler, Entertainer, Regisseur, Moderator, ­Vortragsreisender, Lehrbeauftragter, Interessensvertreter und Verfasser von Hand- und Sachbüchern zur Literatur. Erste literarische Veröffentlichung 1972. Erste kulturpublizistische Veröffent­ lichung 1978. Erster Lehrauftrag an ­einer österreichischen Universität 1984. Erste biografisch selbstständige literarische Veröffentlichung 1987. Erstes Bühnenengagement 1991. Seit 1982 Sprecher und Vertreter in beruflichen Angelegenheiten österreichischer Autorinnen, Autoren und Autorenorganisa­ tionen als Geschäftsführer der IG Autorinnen Autoren in Wien. Zuletzt erschienen: „Paradiese. Schöne Gedichte“ aus der Reihe „Neue Lyrik aus Österreich“, Band 1. Siehe auch Gesamtausgabe Gerhard Ruiss/Oswald von Wolkenstein (Lieder. Nachdichtungen).

1944 in Stoitzendorf geboren, ist seit 1985 als Dichterin und Schriftstellerin präsent. Sie schreibt sowohl in Schriftsprache als auch in Mundart, wobei den geistigen Hintergrund ihre intensive Referententätigkeit in der Erwachsenenbildung bildet. Ihre 30 Bücher finden sich dank des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst in Biblio­theken aller Kontinente.

Gerhard Ruiss wurde 2012 von Bundesministerin Claudia Schmied der Berufstitel Professor für seine Verdienste um die Kulturlandschaft ver­ liehen. Ebenfalls erhielt er eine Auszeichnung des Hauptverbandes des österreichischen Buchhandels.

Als Gastdozentin lehrte sie an Polens Germanistischen Hochschulen. Sie ist Absolventin der „Schule der Dichtung“ in Wien und Frankfurt, Klasse H. C. Artmann; ORF-Film-Dreharbeiten mit Stermann & Grissemann; Dreharbeiten für die Serien „Dolce Vita“, „Tatort“, „Julia“ und „Klinik unter Palmen“; Rolle im Erinnerungstheater Wien unter Elfriede Otto; Gründung der Edition und Literatur­ initiative DICHTERMÜHLE. Zuletzt erschienen: „allESPalette – ein Weinviertel-Lesebuch“ (Verlag Volkskultur NÖ); „Ein Kind vom Manharts­berg“; „Väter im Himmel“ (beide: Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra). Diplomarbeiten zum Werk wurden an der Pädagogischen Hochschule Tschenstochau sowie an der Universität Innsbruck verfasst. Elisabeth Schöffl-Pöll wurde für langjährige Erwachsenenbildung und Kulturvermittlung neben dem Silbernen Ehrenzeichen des ­Landes NÖ (2004) mit dem Goldenen Verdienstzeichen der Republik Österreich (2012) ausgezeichnet, im Bezirk Hollabrunn mit dem Titel „Frau des Jahres 2012“ geehrt.

SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie HOLLABRUNN

GERHARD RUISS

7


GEORGINA FRASL Studentin der Vgl. Literaturwissenschaft und Philosophie Blume: Sonnenblume Buch: Der Steppenwolf Baum: Apfelbaum Tier: Katze

8

Mit grüner Kreide

Riesen und Zwerge haben es schwer

Georgina Frasl

Schreibakademie HOLLABRUNN

1995 | Großmeiseldorf

Ein Gesicht zwischen Mauern Kalte Tränen auf heißem Stein Mit grüner Kreide darüber gemalt Alte Spuren zu verdecken

Die Menschen sagen, es gibt sie nicht. Doch die Menschen haben keine Ahnung. Diesen Gedanken fühlt Maja jeden Tag. Denn die Welt ist für sie eine Spur zu klein. Jeden Morgen fürchtet sie, nicht mehr in die Schuhe des gestrigen Tages hineinzupassen. Ihre Hände sind manchmal so groß, dass sie gar nichts fassen kann. Sie wächst schnell über sich hinaus und träumt bis in die Wolken. In der Schule ist sie eingeklemmt in ihrer Bank wie ein fleischgewordenes Stück Papier. Ihr bleibt nichts anderes übrig als wunschzudenken. Maja wächst mit ihren Träumen. Sie träumt vom Fliegen. Sie träumt sehr oft. Dabei kann sie gar nichts dafür, wenn sie oft kühl, fremd, apathisch und abgehoben auf andere wirkt. Sie schaut über die Menschen, weil ihre Seele bis in den Himmel gebaut ist. Dabei fühlt sie sich innerlich ganz klein. Dann rückt sie in ihrer Schulbank zusammen, wenn man ihr eine Frage stellt. Dann weint sie, wenn niemand sie sieht. Dann unterdrückt sie ihren Schmerz. Dann will sie so sein, wie sie nach außen hin wirkt.

Ein Gesicht bemüht sich zu einem krampfhaften Lächeln zwischen Mauern Doch dahinter fallen kalte Tränen auf heißen Stein Und darüber wird gemalt Mit grüner Kreide

Doch die Balance zu halten zwischen Ebbe und Flut fällt zunehmend schwerer. Die Maske beginnt zu bröckeln. Die Schönheit schwindet. Dann scheint sie oft wie völlig verschwunden. Dann fällt sie in der Schule kaum noch auf und ihr Schatten ist lebendiger als sie selbst. Dann hat sie Mühe, sich selbst noch zu finden. Riesen und Zwerge haben es schwer.


Broken beauty

Was Omer erzählt

Blood runs down to the depth of your soul Red planet A war is still fighting in you Broken beauty Your wounds burn A red hole in the sky Your children Two little diamonds Spreading death and fear You are still A loving mother Broken beauty My dear

Da sitzt jemand. Eine Gestalt, die man kaum wahrnimmt. Ein Mensch, der noch lebendig ist, aber kaum noch lebt. Sein Name ist Omer.

Denn du bist stärker Als der Hunger Stärker als die Schmerzen Schenk den Qualen Kein Gehör Atme wieder tief Und lass dich nur Das Atmen spüren Lebe trotzdem

Omer hat gar nicht registriert, von der Lehrerin angesprochen worden zu sein. Jetzt hat sie ihr Opfer gefunden. Paradoxerweise wählt sie nur ihn aus, weil er gerade noch ebenso realitätsfern wie sie gewesen war. Irgendwoher muss jeder seinen Sündenbock fangen, um nicht in der eigenen seelischen Untiefe zu ertrinken. So tut es auch die Lehrerin und der Klassenkamerad und überhaupt die ganze Welt mit Omer. Nach oben ducken, nach unten treten. Auf Omer treten. Die Spitze eines Papierfliegers dockt an seine Stirn. „Da is nix drin, Frau Lehrerin“, lässt ein bodenloser Dümmling hören. Doch der Dümmling hat richtig gezielt. Genau auf Omers Stirn, genau in Omers Herz. Den Rest der Stunde hören alle begeistert zu, welche Geschichten Homer erzählt hatte. Doch niemand hört zu, was Omer zu sagen hätte. Niemand schert sich um Omer. Niemand will verstehen, was Omer erzählt.

Und gerade deswegen Lasse Langmut walten Halte durch

SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie HOLLABRUNN

Halte durch Steht heute auf Der Kühlschranktür Bald gibt es Wieder was Zu essen Verzage nicht

„Würdest du mir bitte meine Frage beantworten? Omer?!“ Omer spürt, wie sich die Luft um ihn herum verändert. Elektrische Hitze baut sich über ihm auf. Sein Atem wird steinern in den pochenden Lungen.

9

Georgina Frasl

Notiz

Die himmelheiligen Augen starren stumm und traurig wie er selbst auf die moosgrüne Schultafel nieder und hoffen, einen tieferen Sinn hinter den Lettern zu erkennen, die die Lehrerin einhämmert. „Homer“ steht da an der Tafel. Der große griechische Dichtergott Homer prangt in stolzer Schrift am Bord.


Schreibakademie HOLLABRUNN

Sag ich’s oder sag ich’s nicht? Ich habe noch nie viel geredet. Meist öffne ich den Mund nur, um zu atmen. Aber wenn ich reden will, dann versuche ich, etwas zu sagen, etwas auszudrücken – mich auszu­ drücken. Ich will nicht einfach nur drauflos plappern, blind mit Worten jonglieren, die jemanden hart im Herzen treffen könnten. Gesagtes soll einen Sinn haben und nicht spurlos in die Welt geschleudert werden.

kalten Boden nicht wieder. Deshalb hasse ich die Schule – eine Institution der Öffentlichkeit, ein Geschenk der Gesellschaft. Gesellschaft. Ich hasse die Gesellschaft und bin Teil einer solchen. Ich hasse mich selbst. Ich sollte angeben mit dem Wissen, mit den Atlanten von Worten, die ich in all den Jahren gesammelt, und mich selbst in den Mittelpunkt rücken und egoistisch sein und voreingenommen wie diese ganze verdammte Welt, die mich umzingelt und in die Knie drückt. Ich versuche, etwas zu sagen, doch atme dabei nur das Gelächter der Meute ein, ihre Dummheit und den bodenlos zerfleischenden Hass, der mich aufreißt und mit meinen eigenen Fingern auf mich zeigt.

Ulkigerweise fühl ich mich auch manchmal wie solch gehasste Worte. Ich identifiziere mich mit meinem Feind. Wir sind beide abstrakt, hässlich und irgendwie unnütz.

Ich will etwas sagen, doch heraus kommt nur dröhnendes Staccato, dass mir die Lunge schmerzt. Nicht ein Wort versteht man.

So geht es mir immer und überall. Ich falle auf, und wenn ich nicht auf­ falle, falle ich hart und finde mich am

Ich bin nur ein wildes Tier, das in seinem Zoo ums Überleben kämpft. Ich werde begafft, weil jedermann mit rinnenden Lefzen auf mein sogenanntes Sprechen wartet, nur um die ekligen Mäuler aufzureißen, zu lachen. Ich will etwas sagen, doch ich sag es lieber nicht.

Georgina Frasl

10

Der Mann im andern Haus Der Mann im andern Haus ist immer so freundlich. Er winkt und bringt Kuchen vorbei. Er hat sich eine hübsche kleine Welt aufgebaut. Vorstadt­leben, weißer Gartenzaun, hinreißende Frau. Aber manchmal kann er nachts nicht schlafen, weil er glaubt, etwas drücke ihm die Luft ab. Als würde alles nur darauf warten, langsam einzustürzen. Sich auf ihn drauf zu stürzen. Er weint, und mit ihm schmilzt seine Zuckerwelt, seine schöne Fassade.

wieder auf. Doch was keiner sieht, ist, die Normalität bringt ihn um. Macht ihn verrückt. Spielt ihn gegen sich selbst auf.

Doch am nächsten Tag lächelt er mehr als je zuvor. Grüßt die Nachbarn, streichelt seinen Hund, macht nur Komplimente. Baut alles von Neuem

Und alle glauben, er meint es so. Aber in Wahrheit ist seine Haut zerstört und die Fassade bröckelt. Er ist verrückt. Verliert die Kontrolle. Und manchmal kann ich ihn am Sonntag sogar lachen hören.

Denn was zu Beginn noch nett war, kann sich sehr schnell ändern. Und jetzt bewegt sich alles so schrecklich gleichmäßig im Takt der Uhr, im Takt seines Herzens: kein Streit, keine Affären, nicht mal kleine gesundheitliche Ungereimtheiten, nichts. Nur, dass dieses Nichts alles ist, was seine Welt ausmacht. Ich frage mich, was er in sein Tagebuch schreibt. Was er noch versucht, festzuhalten. Worüber er schreibt, wenn jeder Tag gleich ist. Ja, der Mann im andern Haus ist immer so freundlich. Denn er winkt und bringt Kuchen vorbei.


Was bleibt

Mühlen-Anekdote

Meine Finger sind klamm vor Kälte, aber ich schreibe. Sie haben mich hier ausgesetzt, draußen, im Industriegebiet einer Stadt. Ich bin eine von wenigen Überlebenden. Sie wissen – ich werde nichts sagen, denn ich bin stumm. Stumm von zu vielen Schreien, stumm von Betäubungen, stumm von dem, was man Leben nennt.

Nur Geduld. Mit der Zeit wird aus Korn Mehl.

Bettelnd sitze ich am Straßenrand. Ein bisschen Nahrung, ein wenig Geld, um wieder einen Tag zu überleben. Sonst bleibt mir nur das Atmen. Das, was alles aufbaut. Und mein Tagebuch, ein zerknülltes Heft, das mich noch halbwegs zusammenbaut. Das kann mir keiner nehmen.

Für einen Grabstein auf dem „Lustigen Friedhof“ Die hier liegt hat viel geschrieben. Jetzt lässt sie sich wie Mehl durchs Siebchen sieben.

Lieber Jonas, ich wäre eine Lügnerin, zu sagen, es ginge mir gut. Alle Studien, die ich durchgeführt habe und durchführen habe lassen – vollkommen umsonst. Ich habe Dinge bewiesen, festgefahrenen Glauben und vermeintliche Fakten widerlegt. Ich habe hart gearbeitet, denn die Wissenschaft ist mein Leben. Doch das Resultat, worauf alle meine Testungen abzielen, bleibt ein von der Regierung gehütetes Geheimnis. Die Ergebnisse entsprechen nicht den Wünschen der Machthabenden. Ich muss also verfälschen, die gesamte Menschheit betrügen. Ich ziehe ab beim jährlichen Anstieg des Meeresspiegels, lüge über die Dicke des Polarkreises und beim Grad der Schmelze. Stell dir vor, ich habe sogar die Zahl der verstorbenen Eisbären wie durch Zauberhand reduziert! Früher war ich einmal eine hervorragende Wissenschaftlerin. Ich stamme aus einer geachteten Familie – vollkommen egal. Man sollte meinen, die Wahrheit wäre dem Menschen zumutbar, doch anscheinend können wir mit dem Schmerz ja doch nicht leben. Ein Lügengerüst tut niemandem weh und es versetzt niemanden in Panik. Aber was, wenn es einmal in sich zusammenfällt? Was oder wen reißt es mit sich, abgesehen von meiner Karriere? Die Umwelt, unser aller Lebensraum, ist in Gefahr, denn die Menschen handeln nicht, wenn ihnen Honig ums Maul geschmiert wird. Bitte schreib mir. In Liebe – Gina

Schreibakademie HOLLABRUNN

Weiß nicht, wer meine Eltern sind. Ich kenne diese Welt nicht. Alles, was ich kannte, war die Klinik. Ich bin allein.

Brief einer Aufdeckerin

11

Georgina Frasl

An mir wollten sie sich die Finger nicht schmutzig machen. Ich bin egal. Setzt sie aus, interessiert keinen, die stirbt sowieso. Ich kenne niemanden.

SCHREIB AKADEMIE


Fülle

Vierzeiler Fünfzeiler Fünfzeiler Dreizeiler

Kein Brot in der Not Nur Angst Ein Schrei

Ich habe keine Angst. Du versuchst zu schreien, aber wir sind still und sie hören uns trotzdem.

Der fast lebt Fast Nur wir sind still

Krank Aber du hoffst noch Denkst an Brot und Wein

Wenn ich an Wein denke, fällt mir ein, dass bald der Winter kommt und die Reben leer sein werden. Wenn ich den Kopf hebe, sehe ich den Himmel.

Du hoffst, dass es dich füllt Und dein Kopf nicht mehr So leer sein muss

Leben nach dem Brot. Sich alles einteilen und in den Pausen neues Leben tanken.

12

Zwischen Festland und Meer

Georgina Frasl

Schreibakademie HOLLABRUNN

Und nichts Das die Leere füllt Still und leis und

Wenn ich jetzt gerade an Brot denke, fällt mir ein, wie wir früher immer alle gemeinsam eines backten und es dann im ganzen Haus so herrlich roch.

Im Capitol rennen die Menschen. Sind sie sportlich oder ungeduldig? Sind sie einsam und laufen vor etwas davon? Gehetzt atmen sie flach und schauen ständig auf die Uhr. Ameisenstadt. Sie leben laufend. Oder nennen das, was sie tun, Leben. Karriere machen, immer höher, immer schneller, immer weiter. Geldgier, Konsum. Süchtig nach Anerkennung. Ihre Welt bleibt flach, uninspiriert, leer. Ein ewiges Hamsterrad. Und sind die Menschen dann noch Menschen, wenn sie längere Zeit arbeiten, als mit ihren Familien zusammen zu sein? Beim Betrachten dieses einsamen Bildes, dieser vielen einzelnen einsamen Bilder, hilft nur noch die Hoffnung. Die Zuversicht. Der Wunsch, dass es noch etwas anderes gibt. Dass Glück keine Illusion ist. Dass niemand eine Insel sein muss. (nach Johannes Mario Simmel)


Geschichten

Diesen Abend war es wieder soweit. Die Kleinen wollten nicht aufhören zu fragen. Und nachdem die Mutter aus ihrer Stube trat mit verquollenen Augen, wollten sie nicht schlafen. Da verspürte die Mutter sofort den Reiz, wieder zurück in ihre Stube zu gehen, den Kopf zu senken und zu beten. Doch dann fiel ihr etwas ein, das ihre liebe Mutter immer angewendet hatte, als sie selbst nicht einzuschlafen vermochte. So setzte sie sich ans Fußende des Bettes ihrer Kleinen und begann, eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Vom Mond und den Sternen und davon, dass alles gut gehen würde. Doch als sie fertig erzählt hatte, war der Jüngste immer noch putzmunter. Er beharrte darauf, eine Gruselgeschichte zu hören und bekräftigte sein Argument damit, dass die anderen Kinder im Dorf

Seine Mutter erzählte aus ihrem Gedächtnis heraus eine Geschichte, die ihr in ihrer Jugend von pubertierenden Buben erzählt worden war, um sie zu ängstigen. Und, sie musste zugeben, sie erzählte sie auch ein bisschen deshalb, weil sie ihrem Sohn einen Schrecken einjagen wollte und ihn zu motivieren pflegte, nur noch Gutenachtgeschichten hören zu wollen. Die Geschichte handelte nämlich von einem Ungeheuer, einer Art verteufeltem Geisterwesen, das es sich zum Beruf gemacht hatte, kleine Kinder zu stehlen, die nicht artig gewesen waren. Als die Mutter zu Ende erzählt hatte, starrte ihr Sohn sie aus aufgerissenen Augen an. Die Mutter grinste und wünschte ihrem Kind eine erholsame Nacht. Als sie bereits einen Schritt zur Tür gemacht hatte, fragte der Sohn mit erstickter Stimme nach einer Kerze. Die Mutter stellte ihm eine weiße, langstielige Kerze neben das Bett. Dann ging sie schlafen. In der Stube der Kleinen flackerte die Kerze, und sie warf einen unheimlichen, verzerrten Lichtschein in die Ecke des Zimmers. Der Kleinste hörte, wie draußen der Wind aufkam und ein Ast ans Fenster schlug. Plötzlich meinte der Kleine, sein Herz bliebe stehen. Denn es ertönte ein gleichmäßiges Poltern. Die Mühle war wieder erwacht. Der Kleine lag verängstigt im Bett, denn da hörte er etwas wie mit Krallen über den Fußboden schleifen. Am nächsten Morgen, als die Mutter erwacht war, schaute sie zu ihren Kleinen. Doch in der Stube fand sie nur den Älteren. Ihr Jüngster war weg.

SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie HOLLABRUNN

Und dies bringt uns zu einer gewissen Mutter und ihren beiden Kindern, die damals in einer Mühle am Fluss lebten. Der Vater war in den Krieg gegangen, und so musste die Mutter sich um alles sorgen. Natürlich auch um ihre Kinder, die noch sehr klein und noch sehr ungeduldig mit allem waren. So fragten sie andauernd, wo denn der Vater sei und warum er sie allein gelassen habe. Ob er wiederkomme. Und als die Mutter daran dachte, mit welchem Verlust ihre Kinder aufzuwachsen hatten, konnte sie nur in ihr Zimmer gehen und ihr Gesicht in den Händen vergraben.

sich ständig solch Geschichten erzählen würden und er der Einzige sei, der noch nie von einer gehört hätte. Und als die Mutter sich nach einigen Versuchen, ihn zum Einschlafen zu bringen, geschlagen gab, lauschte der Bursche aufmerksam.

13

Georgina Frasl

Schon vor langer Zeit, als die Elektrizität noch nicht entdeckt und der Buchdruck noch nicht erfunden war, gab es Geschichten. Gruselgeschichten, Abenteuergeschichten, aber auch Gutenachtgeschichten.


Schreibakademie HOLLABRUNN

Georgina Frasl

14

Romeo und Julia 2.0

Der Wald

Auch Diktatoren haben Gefühle. Bestes Beispiel: Manu Hernandez, Sohn des aktuellen Kuba-Machthabers. Durch „Volksbewachung“, wie es die kubanische Regierung offiziell bezeichnet, also Verfolgung von Demokratiebefürwortern, kam eine fatale Affäre ans Licht.

Wenn ich mich selbst nicht mehr hören kann, gehe ich zu einem Freund, der meine Stille zu schätzen weiß.

Durch angebliche Foltermethoden gelang es der Exekutive, einem Freund der politischen Aktivistin Arietta Cervantes brodelnde Informationen zu entlocken. So soll HernandezSprössling Manu mit Arietta eine enge Beziehung führen. Man kann sich vorstellen, was das für ganz Kuba bedeutet: Straßenkriege und eine unheimliche Schande. Manu Hernandez sitzt derzeit in Haft und ­Arietta Cervantes soll hingerichtet werden. Unverstanden von ihren jeweiligen politischen Mitstreitern kommt man ihnen nur mit Verachtung entgegen. Doch anderweitig gehen Menschen auf die Straße, um zu demonstrieren! Sie erkennen, dass Kuba selbst in seinen totalitären Spitzen noch Leute hat, die ganz normal sind und menschliche Gefühle haben. Manu Hernandez – implodiert – wie eine Bombe, die das Machtzentrum Kubas von innen heraus zerstört.

Wenn ich Abstand brauche, gehe ich zu einem Freund, der mir Freiheit schenken kann. Wenn ich Angst habe, gehe ich zu einem Freund, der meine Ungeheuer versteht. Wenn ich keine Kraft mehr finde, gehe ich zu einem Freund, der mich wieder gebiert. Wenn ich mich selbst nicht mehr hören kann, Wenn ich Abstand brauche, Wenn ich Angst habe, Wenn ich keine Kraft mehr finde, gehe ich zu einem Freund, der meine Stille zu schätzen weiß, der mir Freiheit schenken kann, der meine Ungeheuer versteht, der mich wieder und wieder gebiert.

Wenn ich an Brot denke … … fällt mir ein: Wir werfen es weg, wenn es zu trocken ist, während andere alles für Brot geben würden. Leben nach dem Brot: Es wird kein Leben nach dem Brot geben, da Brot das Wichtigste für uns ist. Wenn ich an Wein denke … … fällt mir ein: Es ist ein großes Wunder, wie jeder Wein seinen eigenen Geschmack hat. Wenn ich meinen Kopf hebe … … sehe ich ein Bücherregal mit vielen verschiedenen Buchrücken.


Ein Abschied

Die Augen der Menschen

Du bist gegangen Und hast nur Trauer zurückgelassen Nur Tränen und Schmerz

Die Augen der Menschen gewinnen neues Licht wenn der Frühling sie im Herzen sticht

Dort, wo du lagst ist nur Kälte und Angst Ich bin so wütend Und traurig Und still Mir ist kalt Ich habe Angst Du bist gegangen Du bist verschwunden Und ich bin noch immer da

Selbstoffenbarung

Die Welt ist wieder aufgewacht Es wird endlich Tag nach einer viel zu langen Nacht Der Mensch steht unter Strom

Schreibakademie HOLLABRUNN

Dort, wo du warst ist nur Stille Nichts als Stille

Die Knospen schlagen auf gegen des Winters alte Tränen Indes verstummt sein langes Gähnen

Schon steh ich auf, schon lauf ich hin, zu meines Lebens neuem Sinn Verneige mich vorm aufreißenden Himmel

15

Denn die Augen der Menschen gewinnen neues Licht wenn der Frühling sie im Herzen sticht

Georgina Frasl

Du bist verschwunden Hast dich nicht einmal verabschiedet

Es tut nur ein bisschen weh, die Schönheit, die ich seh

Schreiben macht die Seele leichter. Selbst wenn ich irrsinnige Worte aneinanderreihe, so drücken diese doch meine Gefühle aus. Auch wenn ich sie nicht verstehe, helfen sie mir, mich selbst zu verstehen. Durch mein Schreiben wachse ich. Ich werde erwachsen und erziehe mich selbst.

SCHREIB AKADEMIE


CLARISSA HASENBERGER Blume: Schneeglöckchen Bücher: Totenhauch, Die Nacht ist voller Schreie, Das Wispern der Gräber Baum: Kirschbaum Tier: Delphin

16

Frohmut

Angst

Clarissa Hasenberger

Schreibakademie HOLLABRUNN

2002 | Hollabrunn

Frohmut beim Tun. Warum?

Ist ANGST etwas Gutes? Was ist ANGST? Ist ANGST ein Gefühl?

Darum! Warum darum?

Oder ist ANGST nur eine dämliche Einbildung? Angst ist Angst. Aber Angst ist auch Mut – oder? Ist ANGST ANGST? Braucht man ANGST? Muss man ANGST haben, um MUTig sein zu können? Eines weiß ich: ANGST kann einem ANGST machen!


Ich bin Ich

Handys unter sich

Was bin ich? Wo bin ich? Wie bin ich? Weswegen bin ich dort? Warum bin ich hier? Wer bin ich? Ich bin Ich. Wieso bin ich Ich?

H: Hallo, wie geht es dir? H 2: Gut! Und dir? H: Ausgezeichnet. Ich habe eine wundervolle Besitzerin!

H 2: Das hätt’ ich auch gerne! Ich habe nur eine grausliche, abgegriffene pinke Hülle. Jeder lacht mich damit aus. H: Das tut mir leid. Meine Besitzerin spielt jeden Tag Spiele auf mir und steckt mich jede Nacht an die Steckdose an, besser, ich bekomm’ jeden Tag Energie. H 2: Ich warte manchmal ein paar Monate, bis sie mich mit Power versorgt. Und schon gar nicht wird auf mir gespielt. Du bist einfach besser und toller. Ich bin nur ein Drrrrrreck. Bieb*Bieb*Bieb* H: Nein, das bist du nicht. Und ich bin auch nicht besser. Doch das hörte das zweite Handy nicht mehr, denn der Akku war leer.

SCHREIB AKADEMIE

17

Clarissa Hasenberger

H: Du Arme! Meine Halterin hat mir sogar eine Hasenhandyhülle aus London mitgebracht.

Schreibakademie HOLLABRUNN

H 2: Du Glückliche! Meine Besitzerin ist unerträglich. Sie klebt kitschige rosa Aufkleber auf mich, und sie behandelt mich wie den letzten Dreck.


1995 | Hollabrunn Blume: Primel Zeitung: Heute Baum: Ahorn Tier: Eichhörnchen

18

Ich muss nur noch kurz die Welt retten; Alkoholmissbrauch

Fiona Kirchner

Schreibakademie HOLLABRUNN

FIONA KIRCHNER

Die Tür flog krachend zu. Ich sah zu den Scherben, die den Fußboden bedeckten. Und ich sah die Scherben meiner zerbrochenen Ehe. Mir wurde schwindelig, und ich ließ mich an der Wand zu Boden. Mit einer Hand fasste ich mir an die Stirn, mit der anderen griff ich nach rechts und bekam den kühlen, beschlagenen Flaschenhals zu fassen. Es war die einzige, die sie noch ganz gelassen hatte. Ich wollte es nicht, aber es tat so unendlich gut! Ich führte die Flasche an meinen Mund und versuchte, meine Probleme und mein Gedächtnis zu löschen. Doch eine Flasche half da nicht. Dazu war ich zu verzweifelt. Ich musste hier raus. Hier waren zu viele ­Erinnerungen. In meinem Kopf hörte ich die zittrige Stimme meiner kleinen Tochter, während ich aus dem Haus trat. Sie fragte mich, wohin ich gehen und wann ich

wiederkommen würde. Die Stimme war auch ein bisschen ängstlich. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob sie nur in meinem Kopf war. Hatte sie sich nicht hinter der Wand auf der Treppe versteckt? Hatte ich sie nicht angeschrien, weil sie gelauscht hatte? Ich wusste es nicht mehr. Alles war verschwommen bis auf einen Fleck in der Mitte meines Blickfeldes, und alles schwankte hin und her, oder war ich es, der taumelte? Alles war für ein paar ­Sekunden verzerrt, und ich versuchte vergeblich, den Schleier über meinen Augen wegzublinzeln. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Hatte es wirklich gereicht mit einer Flasche – ja, was war das ­eigentlich – meinen Verstand zu trüben? Ich vertrug ja sonst auch so viel! Etwas fiel mit einem dumpfen Geräusch auf das Gras im Vorgarten, in dem ich mich anscheinend befand. Panisch fuhr ich herum und versuchte, meiner Umgebung einen Namen zu geben und herauszufinden, was auf die nasse Erde gefallen war. Ich verlor das Gleichgewicht und spürte auf einmal, ohne nur einen winzigen Hauch von Selbstkontrolle über meinen Körper zu haben, das feuchte Gras unter mir. Ich bekam die Glasflasche in meine Hand, die unter der Kühle des Gefäßes zu prickeln begonnen hatte, und hielt sie mir unmittelbar vor meine Augen. Unwillkürlich musste ich kichern, obwohl mir nicht nach Lachen zumute war. Ich versuchte angestrengt, das


SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie HOLLABRUNN

erfüllte meinen Bauch. Ich verzog das Gesicht und warf die durchsichtige Flasche ins Gebüsch. Ich zog mich an einem Baum hoch und beschloss, einen Spaziergang zu machen. Die Straßen waren wenig befahren, das war gut so, sonst würde mir der Kopf explodieren. Die Luft war eisig und schnitt mir ins Gesicht … zu kalt für Schnee. Ich wankte Richtung Stadt und bog schluss­ endlich in eine dunkle, etwas nach Verwesung duftende Seitengasse. Nur langsam passten sich meine Augen der düsteren Umgebung an. Eine einzige Straßenlaterne am Ende der kleinen Sackgasse versorgte sie mit Licht. In einem Eck ragten hohe Mülltonnen aus der Erde. Putz bröckelte von der daneben stehenden Hauswand. Beißender Gestank stieg in fast sichtbaren Schwaden aus dem Gulli. Es war wie in einem klischeehaften Krimi. Plötzlich fiel ich über etwas, das auf dem verschmutzten Asphalt lag. Ich klopfte mir Kieselsteine von meiner Jacke und wischte mir mit einem Ärmel Dreck vom Gesicht. Auf einmal tippte mir jemand auf die Schulter. Zuerst realisierte ich diese Berührung nicht, doch dann wirbelte ich ängstlich herum. Wollte schon zuschlagen, doch mir wurde klar, dass das in diesem Zustand erfolglos bleiben würde, als meine Faust ins Leere traf. Ich erblickte einen Mann mit einer schmuddeligen Mütze, die er bis zu seinen dunklen Augen gezogen hatte. Er trug einen knielangen Mantel, der mit weißen Staubflecken übersät und am Ende etwas zerrissen war, und abgenutzte Schuhe. Ich starrte ihm ins Gesicht, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich gerade ziemlich dumm aus der Wäsche schauen musste, denn hinter seinem unzähmbaren Bart konnte ich ein breites ­Grinsen erkennen. Der Typ öffnete den Mantel – er zog zu meinem Glück keine Pistole hervor, sondern eine grüne Weinflasche. Er musterte mich noch einmal gründlich mit seinen etwas traurigen Augen, machte auf einem Fuß kehrt und brummte: „Und ich dachte schon, du bist ein Bulle!“ Er nahm auf dem Gehsteigrand Platz und fixierte einen Punkt im Nichts. Ich bewegte mich nicht, denn wer sagte, dass dieser verdammt beängstigende, bärtige Mann kein Dieb war? Nein, noch schlimmer: ein Mörder?! Nach einer gefühlten Ewigkeit fiel sein Blick wieder auf mich. „Setz dich! Du kannst auch was haben!“ Ich wollte ihn nicht reizen, deshalb tat ich es ihm gleich. Er reichte mir ein anderes Getränk. „Is’ nich’ vergiftet …“ Ich nickte … er war

19

Fiona Kirchner

Etikett zu entziffern, doch es raste blitzschnell vorbei, sobald ich meine Augen bewegte. Ich konnte nur einige Buchstaben erkennen. Der erste Buchstabe war ein verzerrtes T. Plötzlich … Schwarz … Dunkelheit umschloss mich und riss mich in einen tiefen Abgrund … Immer tiefer … Unendlich … Das Licht wurde immer kleiner, je weiter ich hinuntergezogen wurde, bis die Klauen der Schwärze auch noch den letzten Punkt Licht in sich aufsogen und in düstere Finsternis verwandelten … Verloren … Der letzte Ausweg mit einem Atemzug verschlossen … ewige schwarze Gleichheit … für immer … wie ein Universum … mein Universum … Ich liebte es, obwohl ich es hasste! Als ich aufwachte, lag ich immer noch vor unserem Haus. Mein Kopf drohte zu zerbersten, und meine Ohren dröhnten. Bei jedem Geräusch musste ich schlagartig zusammen­ zucken. Ich konnte nicht so lange bewusstlos gewesen sein, denn es war noch immer pechschwarze Nacht. Ich rieb mir die Stirn und musterte die umgekippte Flasche. Mit meinem Erwachen verschwand meine taube Schutzschicht, und ich konnte wieder besser sehen. Die alkoholische Flüssigkeit war ­Tequila und ein bisschen davon glitzerte noch im Mondschein. Traurigkeit überfiel mich. Das war immer so. Ich starrte hoch auf mein dunkles Haus. Kein Licht brannte und zeigte mir ein Lebenszeichen von meiner Frau und meiner Tochter. Nur ein leuchtender Weihnachtsstern mit einem Schweif erhellte Emilies ­Zimmer. Was hatte ich getan? Sie hatte doch nichts damit zu tun!! Ich langte wieder nach der Flasche und setzte sie an meinen Mund. Der Alkohol floss meine Speiseröhre hinunter, und ein warmes Gefühl


Schreibakademie HOLLABRUNN

echt gut – oder war ich so offen wie ein aufgeschlagenes Buch? „Was tust du hier? Musst du nicht längst neben deinem Kind sitzen und ihm Geschichten erzählen? Solltest du nicht vor deinem stinkteuren Fernseher sitzen und die Nachrichten durch deine verdammte rosa Brille verfolgen? Wie diese Welt leidet? Es ist alles ein Spiel … du kannst nicht entscheiden, wie und wann du anfängst oder wann es wie endet! Ich habe schon längst verloren … alles, was du siehst, sind Felder, wo du weiter kannst … aber Vorsicht! Es gibt auch Fallen, bei denen du wieder zurückrutscht. Manche spielen ungerecht … schummeln … manche können nicht anders. Man kann es nicht ändern, das alles ist Teil deiner Spielfigur!! Also warum bist du nicht daheim, einer von ihnen … den Gewinnern … die keine Verlierer sein müssen. Nicht so wie ich. Ja verdammte Scheiße, wieso

bist du hier und trinkst mit einem Penner, der schon längst nur mehr zusieht, weil alles besser ist ohne die Loser?“ Er hatte mich keines Blickes gewürdigt. Aber es reizte mich, dass er von mir dachte, dass ich einer von denen war … ein Schnösel? „Weil ich schon lange nicht mehr so einer bin!! Jeden Abend schlafe ich neben unzähligen Flaschen ein und wache neben ihnen auf, nicht neben meiner Frau! Ich rede mit ihnen, nicht mit meiner Tochter … ich brauche nicht mal den Fernseher aufzudrehen, um Leid zu sehen, ich brauche einfach in den Spiegel zu sehen und mir zuschauen, wie ich in der Erbärmlichkeit ertrinke!!“ „Ja, da hast du jedenfalls Recht, Säufer sind erbärmlich! Warum tust du es, wenn du es weißt?“ „Weil … weil ... weil ich dieses Gefühl zu hassen liebe, dieses Gefühl von Freiheit, es ist so einfach, man muss einfach loslassen, dann geht es von selber, nichts kann dir etwas anhaben, du bist unverwundbar!“ Der Mann holte die nächsten Flaschen unter seinem Zaubermantel hervor und schlug die Deckel am Randstein ab. „Alter, du brauchst unbedingt Hilfe! Von jemandem, der nicht so ist wie du!!! Solchen Menschen wie dir darf man nicht ausweichen, man muss ihnen helfen!“ Er nahm einen tiefen Schluck und stand auf. „Was tust du?“ „Ich könnte dir helfen, aber ich muss noch kurz die Welt retten, danach komme ich zu dir!“ Und er ging.

20

Fiona Kirchner

Mars Mars, blutrote Stille Stille, nur leises Rauschen, als wäre er in Wasser getränkt! Mars, schwungvolles Glitzern Glitzern, 1000 Sterne, riesig Aber doch nur ein Punkt Ein Name auf einer Liste in unserem Wortschatz! Mars, einsamer Mörder Mörder, wenn er uns nicht die Luft rauben würde Uns nicht zurück zwänge!

SCHREIB AKADEMIE

Mars, schützender Bruder Bruder, Phobus & Deimos, Bewahrer des Schreckens, ehrfürchtige Furcht!


LENA KIRCHNER 1997 | Hollabrunn Schreibakademie HOLLABRUNN

Begabtenstipendiatin 2013 des Rotary Club Klosterneuburg

Ich bin allein.

Ich habe niemanden, der mir hilft!

21

Du willst nicht bei mir sein! Du bist lieber nur für dich! Nie darf wer bei dir sein. Am liebsten bist du allein.

Ich betrete das Klassenzimmer. Die Blicke der anderen durch­löchern mich. Ich spüre den Hass in jedem ihrer Blicke. Er lässt mich kalt, denn ich weiß, dass ich nicht wie sie bin. Ich bin anders. Ich bin schüchtern und sehr klein für mein Alter, und ich habe keinen einzigen Freund. Ich weiß nicht, warum ich so bin wie ich bin. Oft wollte ich mich schon ändern, aber nie hat es geklappt! Ich muss einfach damit leben, auch wenn es nicht leicht ist. Ich höre, wie sie über mich lachen, immer und immer wieder, spüre, wie sie mich verletzen, wie sie mich fertigmachen wollen. Warum ich? Jeder Lacher, jede Beleidigung tut so schrecklich weh! Äußerlich sieht man es mir nicht an, denn ich versuche dennoch stark zu bleiben, aber in meinem Inneren sieht es ganz anders aus, es zerstört mich nach und nach. Ich kann das alles niemandem erzählen. Ich habe ja keine Freunde, und meiner Familie geht es ebenso. Ich bin alleine, alleine mit meinen unendlich vielen ­Problemen. Ich habe niemanden, der mir hilft, niemanden, der mich vor gemeinen Beleidigungen schützt, einfach niemanden. Es ist unbeschreiblich schmerzhaft, wie ich fertiggemacht werde, wie brutal meine Mitschüler sein können. Sie lassen mich jeden Tag spüren, dass sie mich nicht in der Klasse haben wollen. Und das alles nur, weil ich nicht so bin wie sie.

Lena Kirchner

Blume: Tulpe Zeitschrift: Hey! Baum: Lärche Tier: Hund

Ich mag dich aber seh’n! Will zu dir steh’n! Sag, hör mein Flehn! Ich geh? Magst du mich nicht? Stör’ ich nur? Ist das der Grund dafür?


Du

Starporträt

Du weißt alles über mich, jedes noch so kleine Geheimnis Du trägst es in dir Hütest es wie einen Schatz

Ich stehe vor einem riesigen Haus. Ein Haus, das von außen anders wirkt. Langsam gehe ich den steinigen Weg zur Villa entlang. Sie können sich nicht vorstellen, wie wunderschön der Garten des etwas anderen Hauses ist! Ich bin fasziniert, noch nie habe ich etwas so Schönes gesehen! Ein Sonnenstrahl fällt auf die Eingangstür. Er wirkt wie ein Zeichen. Ein Zeichen,dass dieser Ort, an dem ich mich gerade befinde, etwas ganz Besonderes ist. Ich klingle. Eine liebliche Stimme begrüßt mich und bittet mich einzutreten. Ich bin nervös. Bald wird sie vor mir stehen. Sie, die ich sonst nur aus dem Fernsehen und den Nachrichten kenne. Sie, die schon so viel erreicht hat. Sie, die einfach einer der größten Stars der heutigen Zeit ist. Die automatische Wohnungstür öffnet sich, und ich stehe mitten in einer großen Empfangshalle. An einer Wand sehe ich all ihre Preise, Auszeichnungen und Anerkennungen ausgestellt. Mir bleibt bei diesem Bild, das sich mir bietet, wortwörtlich der Mund offen stehen. Plötzlich höre ich Schritte. Sie kommt. Ich drehe mich um und sehe sie. Sie trägt ein langes rotes Kleid, ein Kleid, das einfach unglaublich mit ihrem hüftlangen blonden Haar harmoniert. Ich werde freundlich mit einer Umarmung begrüßt und auf die Terrasse gebeten. Kaum Platz genommen, beginnt sie auch schon fließend zu reden. Mit breitem Lächeln erzählt sie mir bereitwillig von ihrer Kindheit und ihren künstlerischen Anfängen. Ihre Stimmung verschlechtert sich erst, als ich sie über ihre Jugend befrage. Sie erklärt mir, wie schlimm es war, als berühmte Jugendliche zu leben. Wie schrecklich es aber auch jetzt noch ist, ständig von Fotografen verfolgt zu werden. An einen Satz kann ich mich noch genau erinnern. Ein Satz, der mich sehr zum Nachdenken gebracht hat: „Was würde ich nur alles geben, um einen Tag wie ein normaler Mensch leben zu können! Glauben Sie mir: Sie wissen gar nicht, wie schön Ihr Leben ist! Aber was soll ich machen?“ Berühmtsein hat eben doch nicht nur positive Seiten. Nach diesem Satz verabschieden wir uns noch mit einer Umarmung, und schon stehe ich wieder vor der Prachtvilla, dieses Mal mit dem Rücken zu ihr. Aber ihre Sätze hallen immer noch in meinem Kopf.

Schreibakademie HOLLABRUNN

Bin ich traurig, bist du für mich da Weiß ich nicht weiter, hilfst du mir aus meinem Tief

Lena Kirchner

22

Du schaffst es immer wieder, mich auch ohne Worte zu berühren Du schaffst es, mich mit meinen eigenen Worten aufzuheitern Du weißt mehr, mehr als jeder andere auf dieser Welt Du bist mein bester Zuhörer, besser als jeder andere. Danke Danke, dass es dich gibt. Was würde ich nur ohne dich tun? Ohne dich – mein Tagebuch.

Frühling Die Welt liegt in Trümmern Es herrscht Stille Die Welt ist zerstört Es fehlt der Wille Aus der Not Kommt ein Blümchen Es ist wunderschön rot Aus der Not Kommt Hoffnung Die Hoffnung in Rot

Bewegung Steh nicht hier und warte auf Wunder! Beweg dich und handle!


denke. Sie ­wollen, dass ich töte. Sie wollen, dass ich das Leben von anderen, die nicht genauso denken oder sind wie sie, auslösche. Wer gibt mir das Recht? Jeder Tote wird gefeiert! Es ist fast so, als wäre der Krieg ein großes Fest. Wenn, dann ein Fest der Schande. Ein Fest der Feigheit. Ich hoffe, all das nimmt bald ein Ende. Langsam schwinden meine Kräfte. Ich ertrage es einfach nicht mehr. Es gibt keine Nacht ohne Schüsse. Es gibt keinen Tag ohne ­Schüsse. Wie konnte sich all das so entwickeln? Warum waren wir so naiv, so dumm? Ich fühle mich schuldig. Schuldig für all das Elend. Ich weiß, dass ich nicht dafür verantwortlich bin. Ich weiß, dass es nicht meine Schuld ist. Trotzdem quält mich jeden Tag dieselbe Frage: „Warum?“ Sie sind doch genauso Menschen wie wir, sie haben dasselbe Recht auf Leben! Was macht sie zu schlechteren Menschen? Ich werde diese Helden nie verstehen! Werde ihre Taten nicht nachvollziehen können! Niemand darf dich finden, ich trage dich immer bei mir. Erfährt wer von dir, bedeutet das meinen Tod. Wir werden es schaffen. Du gibst mir die Kraft. Ich möchte leben!

Wahrheitstag

Politischer Kommentar

Wir alle lügen Wir alle betrügen Auch wenn es nur eine kleine Lüge ist Du schnell als Lügner abgestempelt bist

Alle TV- und Rundfunk-Nachrichten berichten derzeit über ein und dasselbe Thema, nämlich die Verschuldung unseres Landes. Der Staat hat kein Geld mehr, die Pensionen zu sichern, darum muss das Volk immer mehr Steuern zahlen. Steuergeld, das die Regierung ohne Rücksicht auf die Bürger ausgibt für Dinge, die wir nicht benötigen. Dinge, die wir uns einfach nicht mehr leisten können. Heutzutage kommt gleichsam jedes Kind mit einem Haufen an Schulden zur Welt. Kinder, die nichts mit der Finanzwelt zu tun haben, denen ein schönes, schuldenfreies Leben zustehen sollte. Es ärgert mich, wie egal diese Situation der Regierung ist. Die zwei Parteien, die an der Macht sind, haben kaum sinnvolle Ideen, und wenn das so weitergeht, werden noch mehr große Konzerne pleitegehen und damit viele Mitarbeiter ihre Jobs verlieren. Ich kann euch versprechen: Wenn sich nicht bald etwas ändert, wird sich unser Land nach und nach selbst zerstören. Denn wer will in einem Land voll von Problemen leben?

Gibt es jemanden, der nie nach Lügen riecht Der immer nur die Wahrheit spricht Aus dessen Mund nur Wahres kommt Und der sich in der Wahrheit sonnt? Wir sind noch nicht so weit Für die volle Wahrheit nicht bereit Solange wir das noch nicht sind Man ab und zu eine Lüge in den Mund nimmt

23

Lena Kirchner

20. November. Es ist kalt. Schon jetzt macht sich der Winter deutlich spürbar. Der Winter, den ich hoffentlich noch erleben werde. Jedes noch so kleine Geräusch lässt mich erstarren. Jeder Schritt könnte falsch gewesen sein. Was ist das für ein Leben? Ein Leben, in dem jede Tat, jede Geste, jeder Gedanke deinen sicheren Tod bedeuten kann. Ich habe Angst. Jeden Tag sehe ich, wie normale Menschen einfach so erschossen werden. Wie unsere sogenannten Helden unser Land vom „Abschaum“ befreien. Wie sie töten, als wäre es was ganz Alltägliches. Wenn das Helden sind, bin ich froh, kein Held zu sein! ­Niemand darf erfahren, dass ich so

Schreibakademie HOLLABRUNN

Tagebuch eines Andersdenkenden


Schreibakademie HOLLABRUNN

Lena Kirchner

24

Unsere Erde

Wasser

Meine Großmutter erzählt mir oft, wie die Erde früher war. Von eiskalten Wintern mit meterhohem Schnee, von nicht enden wollenden Sommern, die bis in den Oktober hin andauerten.

Ein Tropfen folgt den anderen. Immer mehr Wasser fällt zu Boden. Regen. Unwetter. Es hört nicht mehr auf. Von Tag zu Tag die gleiche Situation. Die Bäche werden voller. Die Menschen panischer. Knöchel­tiefes Wasser in der ganzen Stadt. Sandsäcke sollen sie retten. Erste überflutete Keller. Trauer. Erinnerungen, vom Wasser verspült. Alles kaputt. Feuerwehrmänner versuchen, alles rund um die Häuser zu retten. Vergebens. Das Wasser ist stärker. Die Tränen der Menschen vermischen sich mit den Regentropfen. Überschwemmung. Nichts, was man dagegen tun kann. Das Einzige ist Abwarten. Die Hoffnung auf besseres Wetter. Man muss zusehen, wie ein Lebensabschnitt zerstört wird. Das Schlimmste ist, dass man nichts tun kann. Ein Sonnenstrahl beendete das Unwetter. Hoffnung auf Trockenheit. Hoffnung auf normalen Alltag. Alles ist wieder wie früher. Fast. Die Erinnerungen werden bleiben: Die Erinnerungen an die zerstörerische Kraft des so harmlos ­scheinenden Wassers.

Ich sitze vor dem Fenster und blicke hinaus. Es hat sich so viel verändert! Die Erde ist nicht mehr das, was sie einmal war, und sie wird sich weiterhin verändern. Und wer ist schuld? Wir, die Bewohner dieser Erde. Wir zerstören nach und nach unseren Platz zum Leben. Die meisten kümmert das nicht, da ihnen die Zukunft egal ist. Ich aber habe Angst vor der Zukunft. Ich habe Angst, dass meine Kinder einmal in einer schrecklichen Welt aufwachsen, einer Welt, die ihre Eltern zerstört haben. Werden meine Kinder noch erfahren, was Schnee ist, oder werden bis dahin alle Gletscher geschmolzen sein und ein Winter wird nicht mehr existieren? Keiner weiß das so genau. Warum? Weil keiner den Mut hat, es auszusprechen. Weil niemand einen Blick in die Zukunft wagen will, da es einfacher ist, vor alledem die Augen zu verschließen. Mich ärgert das Verhalten mancher Erwachsener, denn so werden wir nie etwas verändern können. Die Gletscher hören nicht auf zu schmelzen, wenn man nur darüber redet. Wir müssen handeln, damit unsere Kinder und Enkelkinder die Chance haben, auf der gleichen schönen Erde aufzuwachsen wie wir.

Jeder hat es Jeder hat es – und doch ist man unzufrieden: Seins ist besser. Ihrs ist schöner. Es ist wie in jedem Bereich heutzutage. Egal, welches man hat, man ist unzufrieden. Viele definieren sich nur über dieses Ding. Ist es gut – fühlt man sich genauso. Ist es schlecht, dann ist das Selbstbewusstsein im Keller. Aber warum? Warum ist ein solch kleines Ding aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken? Waren die Leute ohne dieses unglücklich? Konnten sie ohne dieses Ding nicht richtig leben? Nein! Sie waren glücklich. Warum? Weil sich auch ohne dieses Ding, Handy genannt, ein wunderschönes Leben führen ließ. Nicht so wie heute, wo das Handy aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken ist.


Wunschwelt

Es ist dunkel Dunkel – bis auf ein kleines Licht Ein Licht, das die Dunkelheit erhellt Ein Licht, das uns Wärme schenkt

Wir hören auf zu streiten Kommen zusammen Spüren den Frieden Den Frieden des kleinen Lichtes

Ich schließe meine Augen und beginne zu träumen. Ich betrete meine Wunschwelt, in der alles so ist, wie ich es haben will. Es gibt keinen Krieg, keinen Streit, keine Feindschaften. Jeder versteht sich mit den anderen, egal, ob schwarz oder weiß, denn es kommt nicht darauf an, welche Nationalität man hat. Egal, wie unterschiedlich wir aussehen, wir sind alle doch gleich! Alle achten auf ihre Mitmenschen, es gibt keinen Neid und keine Eifersucht. ­Niemand wird wegen seines Aussehens verspottet. Es gibt kein Schönheits­ideal, denn jeder Mensch ist auf seine persönliche Art und Weise schön. Es ist auch völlig egal, wie viel Geld man hat, Hauptsache, es geht einem gut, und man ist glücklich. In dieser Welt werden auch die Älteren von den Jüngeren respektiert. Alles dort ist einfach wunderschön. Doch dann öffne ich meine Augen und bin wieder in der Realität. Ich sehe Krieg, Streit, Eifersucht, all das, was in meiner Wunschwelt niemand kennt. Manchmal bin ich traurig, dass wir so geworden sind, dass wir unsere Mitmenschen nicht mehr respektieren. Denn alles könnte so schön sein, so schön wie in meiner Wunschwelt.

Es ist kalt

Die alte Mühle

25

Ein Tropfen fällt vom Himmel Das Wasser verändert sich – es wird fest Der Tropfen wird zur Flocke

Einsam, auf einer großen Wiese neben einem kleinen Bächlein, steht eine wundersame alte Mühle. Eine Mühle, die schon so viel gesehen hat, die von all den harten Wintern gezeichnet ist. Jeder Riss hat seine eigene Geschichte, jedes Stück abbröckelnde Fassade seine eigene Erzählung. So viel ist hier schon passiert! Früher war die Mühle in Gebrauch, um Korn zu Mehl zu mahlen. Sie war die wichtigste Einrichtung, die die Menschen früher besaßen. Sie war alles für sie! Krieg um Krieg wurde sie verteidigt. Verteidigt, als ginge es um Menschenleben. Trotzdem trug sie Schäden davon, Schäden, die auf alle ihre Erlebnisse aufmerksam machen. Schäden, die sie einzigartig machen. Jetzt hat die Mühle keine Verwendung mehr. Keinen interessieren mehr die Erlebnisse der alten Mühle. Nur selten verirrt sich noch jemand in ihre Richtung, betritt sie und kann all den Geschichten lauschen, die sie erzählt, kann mit der Mühle die Zeit zurückdrehen lassen, kann ein Stück Geschichte erleben. Dieses Gebäude hat seine besten Zeiten schon hinter sich, hat viel erlebt. Hier, wo sie vor Hunderten Jahren erbaut wurde. Hier, wo sie stehen bleibt, bis sie zerfällt. Hier, wo alles begann, wird auch alles enden. All die spannenden ­Geschichte, all die Erzählungen werden mit ihr verschwinden. Auf einer großen Wiese, neben einem kleinen Bächlein, da wo die wundersame alte Mühle steht, wird dann nichts sein.

Lena Kirchner

Wir kommen zusammen, starren auf das Licht Fühlen die Wärme Sind geborgen Es nimmt uns die Angst Umschlingt uns Erwärmt uns Wiegt uns in Geborgenheit

Die Leute werden fröhlicher Vorbei ist der Regen Vorbei die traurige Zeit Unsere Welt wird weiß Unsere Laune verbessert sich Er ist hier Jetzt ist er endlich hier Der so lange ersehnte … Schnee

Schreibakademie HOLLABRUNN

Friedenslicht


Schreibakademie HOLLABRUNN

Wenn du meinst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her

Lena Kirchner

26

Wie an jedem schönen Sommertag spielte ich mit meinem Bruder im Garten. Ich lief fröhlich immer weiter und weiter – bis ich auf einmal stolperte. Ich spürte, wie mein Knie schmerzte und ich Blut verlor. Tränen schossen mir aus den Augen, ich begann nach meinen Eltern zu rufen. Als sie mich sahen, blickte ich in ihre voll Sorge steckenden Gesichter. Sofort hob mich mein Papi auf und brachte mich ins Auto. „Wir fahren ins Krankenhaus, so können wir sicher sein, dass nichts Schlimmeres passiert ist“, hörte ich meinen Vater besorgt sagen. Ich wurde sofort in die Notaufnahme gesteckt und von einem lieben Arzt versorgt. „Du musst dir keine Sorgen machen, du hast dir nur die Knie aufgeschürft“, beruhigte er mich mit freundlicher Stimme. „Trotzdem nehmen wir dir noch etwas Blut ab, damit wir sicher sind, dass du wirklich fit bist.“ Nach einem kleinen Stich war alles vorbei und ich fuhr wieder mit nach Hause. Einige Tage später läutete das Telefon meiner Mama, und ich sah an ihrem Gesicht, dass es sich um nichts Gutes handeln konnte. „Was ist los?“, fragte ich sie. „Ich weiß nicht so genau, wir müssen sofort ins Krankenhaus kommen, irgendetwas stimmt nicht!“ Dort wurden wir schon erwartet. Ich musste draußen bleiben, während meine Eltern mit den Ärzten redeten. Durch die Glasscheibe konnte ich sehen, wie meine Mutter zu weinen begann. „Warum? Was ist mit mir los?“, schoss es mir durch den Kopf. Ich saß auf einem Plastikstuhl im Warteraum, und die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Plötzlich sah ich, wie sich meine Mutter erhob, Richtung Tür kam und mich rief: „­ Leonie, komm bitte herein!“ Ich hörte Traurigkeit in ihrer Stimme. Ich wurde in ein Behandlungszimmer gebracht, und mir

wurde noch einmal Blut abgenommen. Auch wurde ich abgetastet. Der Arzt wandte sich meiner Mutter zu: „Ihre Tochter muss hier bleiben, wir werden sie gleich in ein Zimmer bringen. Wir müssen so schnell wie möglich mit der Chemotherapie beginnen, der Krebs ist zwar noch im Anfangsstadium, aber nur so können wir ihn ­besiegen.“ Krebs?!? Aber ich fühle mich doch gesund! Warum ich? Ich bin doch erst 12 und noch zu jung zum Sterben! „Mama, die haben sich bestimmt vertan, ich bin doch gesund. Fahren wir jetzt bitte nach Hause!?“ „Mein Schatz, du hast den Doktor gehört. Ich kann es auch nicht glauben, aber wir müssen es akzeptieren, dein Vater holt schon deine Sachen von zu Hause“, schluchzte sie. So saßen wir etwas später in meinem Zimmer, keiner sagte etwas. Wir saßen nur da. Keiner sprach ein Wort. Ich begann zu weinen, meine Eltern ebenfalls. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so verweilten. Für mich spielte Zeit ohnehin keine Rolle mehr. Ich werde sterben, vielleicht erst in ein paar Jahren, aber ich werde den Kampf verlieren. Jeder weiß das, glaube ich. Ein Arzt betrat den Raum. Auf seinem Namensschild konnte ich den Namen Dr. Freier lesen. „Und wie geht es dir?“, wollte er freundlich wissen. Ja wie sollte es mir ergehen? Ich habe gerade erfahren, dass ich sterbenskrank bin. Wie wird es mir wohl gehen, dachte ich, aber alles was ich sagte war: „Na ja …“ „Ob du willst oder nicht, wir müssen mit der Chemotherapie beginnen.“ Ich bekam eine Nadel in meine Hand gestochen, und los ging es. Es war schrecklich. Ich weiß nicht wie oft, aber ich übergab mich mindestens zwei Mal. Und das soll in meinem restlichen Leben mein Tagesablauf sein? So soll ich meine Jugend verbringen? Im Krankenhaus mit Krebs? Ich begann schon wieder zu weinen. Die nächsten Wochen bestanden aus Schmerzen, Tränen und ­Trauer. Meine Freunde und Verwandten besuchten mich, ich bemerkte, wie sie mich ansahen. Mich, ein Häufchen Elend ohne Haare, ohne Hoffnung. Sie versuchten mich aufzuheitern, aber vergebens. Nichts und niemand würde das schaffen. Ich fühlte mich von Tag zu Tag schwächer. Ich konnte bald nicht mehr aus dem Bett. Jeden Tag diese Therapien, die Infusionen, die Schmerzen. All dies machte mir zu schaffen. Eines Tages belauschte ich ein Gespräch zwischen meinen Eltern und Herrn Doktor Freier. „Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber die Niere Ihrer Tochter droht jederzeit zu versagen. Wir brauchen unbedingt eine Spenderniere.“ „Nehmen Sie eine von mir oder von meinem Mann!“, rief meine Mutter besorgt. „Das geht nicht, Sie beide kommen als Spender nicht infrage!“ „Nein, wie lange wartet man auf eine solche Niere?“ „Wir wissen es nicht, aber Leonie ist die Erste auf der Spenderliste“, sagte der Doktor. Sie merkten nicht, dass ich


Als ich eines Tages von meinem Bett aus auf den Gang blickte, sah ich viele Kinder, die miteinander spielten und lachten. All sie hatten das gleiche Schicksal wie ich, mit einem kleinen Unterschied: Sie versuchten sich dadurch nicht unterkriegen zu lassen. Sie wollten leben, und dafür kämpften sie. Sie versuchten das Beste aus ihrem Schicksal zu machen. Und ich? Ich hatte mich schon am ersten Tag meiner Krankheit aufgegeben, war mir sicher, dass mein Leben bald enden würde. Es war wie ein kleiner Funken Licht, der sich in meiner dunklen Welt breit machte. Ein Stückchen Hoffnung in meinem verloren geschienenen Leben. Es gab mir Kraft zu kämpfen: um mein Leben, meine Zukunft, um mich. Ich hatte Hoffnung, und das, obwohl meine Niere immer schwächer wurde und sich kein passender Spender fand. Trotzdem kam wieder ein wenig Leben in meinen schwachen Körper zurück. Ich glaube, die Ärzte und meine Eltern bemerkten meinen plötzlichen Lebenswillen. Ich lachte wieder, redete normal, alles war wieder ein wenig wie früher, außer natürlich, dass der Krebs in mir steckte.

Völlig in Gedanken versunken, bekam ich gar nicht mit, dass mein Bett schon in Richtung OP-Saal gerollt wurde. Ich sah lauter grüne Gestalten, die hektisch auf- und abrannten. Und die sollten mir mein Leben retten? Da waren sie wieder, die Zweifel. Mein Überlebenswille war wie weggeblasen. Ich begann zu weinen. Inzwischen war ich im OP. Ein Mann redete mit mir, ich verstand ihn nicht. Ich war nur mit mir beschäftigt. Ein Stich – und ich war weg. Ich habe keine Ahnung, wie die Operation verlief. Das nächste, das ich wahrnahm, war mein Zimmer. Der Ort, in dem ich schon fast ein Dreivierteljahr meines Lebens verbracht hatte. Der erste Gedanke war: „Ich lebe, ich habe es geschafft!“ Erst dann bemerkte ich meine unglaub­ lichen Schmerzen. Mir wurde übel und ich übergab mich. Ich schrie auf, ein Arzt eilte zu mir, aber ich konnte nicht aufhören zu schreien, die Schmerzen waren einfach zu stark für mich. Erst nach einer Infusion waren sie halbwegs auszuhalten. Meine Eltern sprachen mit dem Arzt, aber ich war zu schwach zum Lauschen. Ich schloss die Augen und begann einzuschlafen. In nächster Zeit sollte das mein Hauptzustand sein. Schlafend an mein Bett gefesselt und hin und wieder diese nicht auszuhaltenden Schmerzen. Nach einer Woche hatte ich mich halbwegs von der OP erholt und ich schöpfte schon wieder etwas Hoffnung. Von Tag zu Tag wurde ich etwas lebendiger. Die Chemotherapien wurden immer schwächer, bis ich eines Tages erfuhr, dass ich es geschafft hatte. Der Krebs war besiegt und das nach genau 299 Tagen. Ich werde leben, ich habe eine Zukunft. Nie wieder diese Schmerzen. Ich habe gewonnen, so glücklich wie in diesem Moment war ich noch nie. Durch all das habe ich gelernt, dass du dich nie aufgeben darfst, egal, wie aussichtslos deine Lage ist, du musst kämpfen und dein Schicksal selbst in die Hand nehmen, nur so kannst du siegen. Nicht nur ich, jeder kann das schaffen, denn Krebs ist schon lange kein Todesurteil mehr.

Schreibakademie HOLLABRUNN

Es verging eine Woche nach der anderen, aber mein Zustand verschlimmerte sich immer mehr. Seit meinem ersten Tag hier zählte ich die Tage, ich war mittlerweile bei 130 Tagen angelangt, aber sie kamen mir wie drei Jahre vor.

„Leonie, wir haben sie!“, hörte ich meine Mutter voller Freude rufen. „Wen oder was habt ihr denn?“, sagte ich verwundert. „Die Niere, du wirst es schaffen, wir wissen das!“, sagte meine Mutter. Ich konnte es nicht glauben, auch wenn es nur ein, wie man sagte, kleiner Anfang war und der Eingriff natürlich auch seine Risiken barg. „Ich schaff das, ich schaffe alles …“, schrieb ich unzählige Male auf ein Blatt Papier. Irgendwie musste ich mir ja Mut zureden. Ich stand kurz vor einem riskanten Eingriff, der mehrere Stunden dauern sollte. Zweifel machten sich in mir breit. Werde ich überleben, geht es mir dann besser? Die Ärzte versicherten mir das alles, aber das müssen sie ja. Das ist ja ihre Aufgabe. Ich hörte doch die Angst in ihren Stimmen und sah auch ihre besorgten Gesichter. Ich fragte mich wieder einmal, warum ich, warum nicht wer anderer? Das alles sollte endlich ein Ende haben.

27

Lena Kirchner

sie hörte, darum waren sie überrascht, als ich schrie: „Nein, ich will das alles nicht, lasst mich nach Hause, lasst mich sterben, das alles hat doch gar keinen Sinn, ich werde sterben, wir alle wissen es, erlöst mich von meinen nicht endenden Schmerzen!“ Da waren sie wieder, meine ständigen Wegbegleiter, die Tränen. Ich sah in ihre Gesichter, aber ich konnte keine Gefühlsregung wahrnehmen. Sie wissen es also auch, ja klar, jeder weiß es.


Schreibakademie HOLLABRUNN

Lena Kirchner

28

Politische Rede

Abenteuerroman, 356. Folge

Morgen ist es soweit, es ist Wahltag. Heute steht noch meine sehr wichtige Rede am Programm. Ich trete an das Rednerpult und beginne zu sprechen: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Ich freue mich sehr, heute hier zu sein und zu Ihnen sprechen zu dürfen. Setzen Sie morgen das Kreuz hinter meinen Namen, denn nur so können wir zusammen die Welt retten!“ So ein Blödsinn! Als ob ich das auch nur ansatzweise schaffen würde! Egal, ich glaube, sie kaufen es mir ab. „Meine Partei und ich werden viel verändern. Wir werden die Steuergelder senken und noch mehr Geld in die Zukunft unseres Landes stecken, nämlich in unsere Kinder. Sie werden alles erhalten, um ihre Kindheit unvergesslich zu erleben, denn Kinder sind alles für mich!“ Und wieder so ein Schwachsinn. Ich hasse Kinder! Aber das, was ich über sie gesagt habe, scheint jedenfalls zu gefallen! Dann lüg’ ich halt weiter. „Wenn Sie mich wählen, wird alles besser! Also setzen Sie bitte das Kreuz morgen neben meinen Namen, um Ihren Kindern eine gute Zukunft zu bieten!“ Endlich fertig mit der Lügengeschichte. Der Sieg ist mir so gut wie sicher!

Tag 300 auf der Insel. Ich bin immer noch hier – alleine. Ich habe keine Hoffnung mehr, hier irgendwann wegzukommen. Meine Beine tun weh, trotzdem muss ich weitergehen und etwas Essbares suchen, Ich habe mich schon längst aufgegeben, warum auch nicht, ich bin auf einer Insel, alleine, und das schon so lange. Ich sollte mich nur hinlegen und auf den Tod warten, dann wäre all das hier endlich vorbei! Ich lege mich auf den weißen Sand und beginne zu träumen, von einer Welt, die mir so vertraut ist, von meiner kleinen Welt, die ausgelöscht wurde, als das alles hier begonnen hat. Wie schon etliche Male zuvor, überlege ich mir einen Fluchtplan, ich zeichne alles in den Sand. Kurz bevor ich meinen Plan vollende, kommt eine Welle und schwappt alles davon, ich war kurz davor, aber das Wasser hat wieder einmal mein Leben komplett verändert. Das Wasser, mein ewiger Feind. Eine Träne kullert meine Wange hinab. Meine Tränen vermischen sich mit dem salzigen blauen Meer. Ich werde hier sterben, vielleicht nicht heute, aber sicher bald. Ich will nicht mehr, ich will nicht hier festsitzen und warten, warten auf nichts.

SCHREIB AKADEMIE

Tatbeschreibung Eine Frau sitzt wimmernd auf einer Parkbank. Um sie herum herrscht Chaos. Ein leerer Kinderwagen steht auf der Wiese, aber es gibt keine Spur von einem Kind. Es regnet. Der Park ist leer bis auf die Frau, die die Stille mit ihrem Wimmern durchbricht. Immer wieder gibt sie einen Schrei von sich. Einen Schrei voller Trauer, aber auch Wut. Ein Mann nähert sich ihr. Sie zuckt zusammen und kreischt los. „Ich bin Polizist. Was ist passiert? „Mein Baby! Er hat mein Baby.“ „Wer hat es? Wie sieht er aus? „Mein Baby, mein armes kleines Baby!“ „Sie müssen mir erzählen, was passiert ist und wie der Mann aussah. Einfach alles, was geschehen ist. Ich weiß, es ist schwer für Sie, aber nur so können wir Ihnen helfen!“ „Okay. Also ich wollte mit meiner kleinen Tochter im Park spielen, sie war so glücklich und wollte für mich Blumen pflücken. Ich setzte mich inzwischen auf die Parkbank. Es ist alles meine Schuld! Ich hörte Schritte, aber ich sah den Mann nicht, ich hörte nur seine Stimme, die Stimme eines Mörders???“ Sie schluchzte los. Ohne noch etwas zu sagen, steht der Polizist auf und geht. Die Frau ist wieder alleine. Alleine mit ihren Gefühlen, alleine mit dem Schmerz, möglicher­weise ihre Tochter für immer verloren zu haben!


Es heißt immer, Liebe ist rot Aber bedeutet Rot nicht Schmerz Bedeutet Liebe Schmerz?

Ich sitze hier und denke an dich. Wie gerne würde ich dich noch einmal in den Arm nehmen, mit dir reden über alles, was mich bedrückt. Ich möchte dein Lächeln sehen, dein Lächeln, mit dem du die Welt verändern konntest! Das Lachen, mit dem du jeden in deinen Bann gezogen hast! Es gab so viel Trauer in deinem Leben, trotzdem warst du immer so fröhlich. Wenn du geredet hast, hast du mich tief innen berührt, deine sanfte Stimme voller Optimismus! Jetzt ist sie verstummt für immer. Ich werde dich nicht mehr sehen, nie wieder! Verdammt, ich vermisse dich!

Warum verliebt man sich, wenn dann nur Schmerz folgt? Verliebt man sich in den Schmerz? Wer sich verliebt, wird verletzt Wer verletzt wird, hat Schmerzen Ist das der Sinn der Liebe?

Angst Ich habe Angst Angst vor der Zukunft Angst vor dem späteren Leben Was wird aus der Welt Aus unserer Welt Wenn die Helden nicht mehr sind? Kommen neue? Neue Helden zum Bewundern? Damit wir wieder etwas zu tun haben? Eine neue Gestalt, die nicht besser ist als wir und Held genannt wird? Ist das ein Held? Wenn ja, müssten wir doch alle Helden sein! Oder?

Es ist einfach schwer … In jeder Klasse gibt es eine Person, zu der alle aufschauen, die alle bewundern, die alle mögen. In meiner Klasse bin diese Person ich. Es ist ein tolles Gefühl, von jedem gemocht zu werden, aber trotzdem ist es nicht immer einfach, beliebt zu sein. Jeder erwartet Tag ein Tag aus, dass ich irgendeinen Blödsinn anstelle, dass ich die Lehrer provoziere … Und darin liegt das Problem, diese Person bin ich nicht. Ich weiß nicht, wie ich so geworden bin. Ich weiß nicht, wie ich zu meinem neuen Ich gekommen bin. Anfangs war es wirklich schön, aber nach und nach konnte ich mich nicht mehr damit identifizieren. Ich konnte mich mit mir nicht mehr identifizieren. Ich habe versucht, wieder normal zu werden, habe aufgehört, zu provozieren und mich mehr auf die Schule konzentriert. Nach und nach haben sich sogenannte Freunde von mir abgewandt, haben mich alleine gelassen. In diesen Zeiten konnte ich sehen, wer meine wahren Freunde waren! Ich hatte keine mehr. Ich war alleine. Ich wurde in der Schule besser, bekam dafür Lob, meine Eltern waren stolz auf mich, aber dennoch war ich nicht glücklich, denn es gab niemanden, der zu mir aufschaute und mich bewunderte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. So wurde ich wieder wie früher, bekam zwar schlechtere Noten, aber meine „Freunde“ kamen wieder zurück und bewunderten mich. Ich brauche das einfach, um mich gut zu fühlen, um mich stärker als andere zu fühlen. Auch wenn das nicht mein wahres Ich ist. Es ist sehr schwer, in der Schule seinen Platz zu finden, es ist schwer, so zu sein, wie die anderen es wollen. Es ist einfach schwer, Schüler oder Schülerin zu sein ...

Schreibakademie HOLLABRUNN

Abschied

29

Lena Kirchner

Liebe


Schreibakademie HOLLABRUNN

Übermut Großmut Kleinmut Frohmut Wagemut Wehmut Wankelmut Demut Gleichmut Langmut Heldenmut Edelmut Wehmut

Lena Kirchner

30

Es ist Sonntag. Regen prasselt gegen die Fensterscheibe. Mein Kopf ist leer. Meine Augen sind rot. Heute ist es soweit. Ich muss Abschied nehmen. Abschied von einem sehr wichtigen Menschen, einem Menschen, der mich immer unterstützt hat, der mich mein ganzes Leben lang begleitet hat. Ich denke an die schönen Zeiten zurück, es ist, als ob es erst gestern gewesen wäre. Ich höre ihre Stimme, sehe ihr friedliches Lächeln. Ein Lächeln, wie es das kein zweites Mal auf Erden gibt! Ich weiß, sie war schon alt, aber sie war doch noch gesund! Sie wollte doch noch so vieles erleben, lernen, wie wir, die Jugend von heute, so leben. Warum gerade sie? Warum so knapp nach ihrem Geburtstag? Hat Gott es so gewollt? Damit sie alle noch einmal sah? Damit sich noch alle Verwandten verabschieden konnten?

Ich stehe auf dem Friedhof. Immer noch regnet es. Es scheint, als wäre auch Gott traurig. Als würde er sich unserer Stimmung anpassen. Ich sehe Menschen, die ich nie zuvor gesehen habe. Sie sprechen mir ihr Beileid aus. Ich bringe nur ein schluchzendes „Danke“ hervor. Der Pfarrer redet über ihr Leben. Ich kann nicht zuhören. Er weiß nichts über sie. Er liest von seinem Zettel ab. Als ob ihr gesamtes Leben auf einen A4-Zettel passen würde!

Warum?

Verliebtheit

Warum bedeutet Trauer immer Schmerz? Ist es nicht schmerzhaft genug, zu trauern, schmerzhaft genug, zu weinen? Es schmerzt einfach!

Es ist Montag – Schule. Ich mache mich fertig und begebe mich auf den Weg zur Schule. Das alte graue Gebäude erwartet mich schon. Ich gehe auf meinen Platz, packe meine Sachen aus und warte, bis der Unterricht beginnt. Plötzlich fällt mein Blick auf einen großen, hübschen Jungen. Ich kenne ihn nicht. Mein Blick ist wie erstarrt auf seinen makellosen Körper gerichtet. Mein Herz beginnt wie wild zu pochen, und meine Gedanken spielen verrückt. Ist er neu? Oder habe ich ihn bis jetzt einfach nicht bemerkt? Ich sehe, wie er zu mir herüberblickt. Dennoch höre ich nicht auf, ihn anzustarren. Sein wunderschöner Körper setzt sich in Bewegung. Er kommt in meine Richtung. Meine Atmung wird schneller, meine Handflächen werden nass. Ich erinnere mich, dass man diesen Zustand Verliebtheit nennt.

Es schmerzt, jemanden Wichtigen zu verlieren. Einfach so – ohne Abschied zu nehmen. Ohne sich nochmals für alles zu entschuldigen Ohne einfach „Lebe wohl“ zu sagen.

Wir stehen vor ihrem Grab. Mit Tränen in den Augen verfolge ich, wie sie langsam ins Grab gelassen wird, wie sie immer weiter von mir weggeht. Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr unterdrücken, ich beginne zu weinen. Ein Fremder in Schwarz drückt mir eine Rose in die Hand. Ich werfe sie ins Grab, auch eine Träne fällt von meiner Wange auf ihren Sarg. Ich werde sie nie wiedersehen, kann nie mehr mit ihr über frühere Zeiten reden. Sie ist weg, einfach so. Sie wird immer einen großen Platz in meinem Herzen haben. Ich werde sie nie vergessen. Nie!!!


JANINA LÖRINCZI Schreibakademie HOLLABRUNN

2003 | Hollabrunn Blume: Tulpe Buch: Zeitung; alles Baum: Trauerweide Tier: Pferd

Reich – berühmt – beliebt

Viele haben Übermut, manchen tut das sogar gut. Doch viele überschätzen sich, zu denen zähle leider ich!

Reich – berühmt – beliebt – Ob es das überhaupt gibt? In Gold baden – Kaffee statt Maden – In einem Haus leben, so groß wie ’ne Stadt Ich sag’s auch gleich, das hab’ ich echt satt. Alles ist öd – alles blöd, immer nur auf der Bühne steh’n und niemals in ein Gasthaus gehen! Ich sag’ euch, täglich geb’ ich Autogramme, und diese Weile ist echt lange. Hör gut zu: Nimm meinen Beruf nicht an, sonst hast du dir selbst unrecht getan!

Was soll ich nur dagegen tun? Der Übermut, er will nicht ruh‘n! Mutig wollt ich immer sein, doch bin ich dafür noch zu klein! Übermut tut selten gut, Doch viele haben es am Hut! In der Familie, draußen im Freien, kann deswegen Feuer speien!

31

Janina Lörinczi

Mut

Ist es überhaupt so schlecht? Oder hab ich sogar recht?

SCHREIB AKADEMIE


Die Zeit

Riesen und Zwerge haben es schwer

Manchmal ist die Zeit so knapp, dann fühlt man sich so richtig schlapp.

Zink ist ganz klein. Wenn er sich auf die Zehen stellt, ist er gerade einmal so groß wie eine niedrige Kommode. Das genaue Gegenteil ist Strunk, er ist der Erzfeind von Zink. Er hat Schultern wie ein Schrank und ist fast so groß, dass er die Decke berührt. Die zwei gehen in derselben Schule in dieselbe Klasse und sitzen sogar in der Bank nebeneinander. Trotz alledem verstehen sie sich kein bisschen! Zum Beispiel am Montag gab es bei den beiden Krach. Strunk rempelte unabsichtlich Zink, dieser empfand das als böse Absicht und gab gleich einen Rempler zurück! Manchmal denke ich bei mir: Manche Menschen können eben keine Freunde werden!

Man will einen Schritt weiter gehen, doch die Zeit hat’s nicht eingesehen.

Schreibakademie HOLLABRUNN

Schritte vor – Schritte zurück – Die Zeit bringt manchmal gar kein Glück!

Janina Lörinczi

32

Die Wahrheit Die Wahrheit kann einem zum ­Verhängnis werden. Sie kann sich richtig wild gebärden. Man sollte sie nicht allzu sehr ver­wenden, sonst könnte man früher verenden!

Sport

Ich hoffe, wir kriegen keinen Wahrheitswahn, sonst fängt die Peinlichkeit erst an!

Denn ich will nicht! Ich will nicht!

Hallo, ich heiße Amelie und bin fünfzig Jahre alt. Ich betreibe wenig Sport, und mir ist immer kalt! Alle Menschen sagen, ich sei ziemlich dumm, ich wärme mich nicht auf und laufe nicht herum!

Doch eines weiß ich ganz gewiss, dass die Zukunft die Wahrheit ist!

Das können die andern nicht versteh‘n! Ich kann mich auch nicht altern seh‘n! Ich will alt werden und gesund bleiben, doch muss man dafür Sport betreiben?

Aufstehen

Buch „So schmeckt das Weinviertel“ von Elisabeth Lust-Sauberer und Elisabeth Schöffl-Pöll

Egal, wo und wie du ausrutscht, ob auf einer Bananenschale oder im feuchten Gras! Denk daran, dass es weitergeht. Und dass du die Chance hast, wieder aufzusteh‘n!

Ich nehme das Buch zur Hand und stelle mir schon vor, wie ich meine Familie mit den leckersten, einheimischen Rezepten ­erfreuen werde. Ich hoffe, das Buch wird meinen Erwartungen entsprechen. Aber ich vertraue so sehr darauf, dass ich es einfach nehme und die Bücherei verlasse! Zu Hause angekommen, schlage ich die erste Seite des Buches auf, und zu meinem Entsetzen steht dort: „Die Wolfsbrüder“! O nein! Ich habe das falsche Buch genommen! Ich hätte wohl doch einen Blick auf seinen Inhalt werfen sollen!


Mir brennt es unter den Nägeln, was kann ich auch dafür? Die Wahrheit klingelt förmlich schon laut an meiner Tür.

Traumwelten Irgendwo, da wo Himmel und Erde sich vereinen und sich zu einem unglaub­lichen Naturschauspiel verbünden, dort ist der Punkt, wo das Leben zum Wunder wird und das Unmögliche wahr wird. Dort fühlt man sich, als ob man fliegen könnte, und wer weiß, ob das dort nicht wirklich geht. Aber leider gibt es diesen Ort nur in meiner Fantasie, und kein anderer kennt dieses Land voll von Sorglosigkeit. Obwohl ich das weiß, bin ich mir sicher, dass alles, was man sich wirklich wünscht, eines Tages wahr wird.

„Juhu“, rufe ich, „heute Nacht beginnt ein neues Jahr!“ Meine Mutter nickt nachdenklich. „Freust du dich denn gar nicht?“, frage ich sie. Sie schüttelt den Kopf und dreht sich um, um weiteren Fragen zu entkommen. Ich ziehe es vor, mich zurückzuziehen, um über Mamas Verhalten nachzudenken. Immer wieder kommt mir die gleiche Erklärung dafür. Nämlich dass die Welt untergehen wird. Schnell stürze ich zu meiner Mum und rücke sofort mit meiner Befürchtung heraus. Ich frage sie: „Bitte, sag es ehrlich: Wird dieses Jahr die Welt unter­gehen?“ Sie lächelt mich an, klärt mich auf, und als sie fertig ist, komme ich mir reichlich dumm vor. Denn sie hat einfach nur eine Verabredung mit einer Freundin, der es zurzeit nicht so gut geht. Deshalb kann sie Silvester nicht mit mir verbringen. Und nach diesem kleinen Missverständnis denke ich mir, dass man alles hinterfragen sollte, denn würden das alle machen, wäre das Wort „Missverständnis“ ein Fremdwort.

Weltuntergangsrede Liebe Leute, die hier anwesend sind! Ich möchte euch heute erklär‘n! Eine rosa Wolkenwelt hätt’ jeder gern. Doch die bittere Wahrheit möcht’ keiner hör’n!

Schreibakademie HOLLABRUNN

Mir brennt es unter den Nägeln, soll ich es wirklich erzählen? Wenn ja, darf ich niemanden mit meinem Wort verfehlen!

Das Missverständnis

33

Janina Lörinczi

Mir brennt es unter den Nägeln

Die Welt sagt mit ernstem Gesicht „Man darf mich nicht zerstören!“ Die Autos und Busse verschmutzen die Luft, Keiner riecht mehr Mutter-Welts-Duft! Versteht ihr denn nicht, wir werden bald sterben Und keiner wird das Gebliebene erben! Die Menschen ertrinken in hohen Wellen, Andere finden kaum noch Quellen! Doch die meisten sterben an Kriegen! Die Menschen sind echt blöde Ziegen! Bald werden wir keine Luft mehr bekommen! Wir haben uns wohl ziemlich übernommen!

SCHREIB AKADEMIE


Schreibakademie HOLLABRUNN

Janina Lörinczi

34

Was Anatol erzählt

Wehe dem, der nicht lügt

Ich sehe in seine unendlich traurigen Augen. Ich frage ihn: „Willst du etwas erzählen?“ Er starrt mich nur hoffnungslos an. Mir wird ganz kalt; ich spüre, dass er anders ist als alle anderen Menschen. Seine Augen sind strahlend, aber trotzdem wirkt er nicht hoffnungsfroh. Ich wiederhole meine Frage. Er wirft mir einen verzweifelten Blick zu. Ich überlege, ob er wohl stumm ist, und beginne, auf ein Blatt Papier zu ­schreiben, dass ich ihm nichts Böses will und dass er mir alles anvertrauen kann. Dann schiebe ich den Zettel zu ihm hinüber. Er sitzt gekrümmt da, als er mit zitternder Hand fehlerhaft schreibt: „Ich von Syrien komme. Eltern meine gestorben in Krieg, Geschwistern auch.“ Besorgt blicke ich ihn an. Seine Geschichte geht aber noch weiter. Er schluchzt leise, als er weiterschreibt: „Ich geflüchtet mit Gruppe. Dann hierher gekommen.“ Nachdem er den Satz beendet hat, schlage ich ihm vor, am Nachmittag in den Park zu kommen. Er willigt ein. Ich denke mir: Was in einer Pause so alles passieren kann!

Die Welt ist an allen Ecken und Enden verlogen und falsch. Es gibt keinen Winkel, der ohne Schuld ist. Überall schwindeln sich die Menschen etwas vor. Selbst weiß man oft gar nicht, dass man lügt, denn man glaubt, es wäre richtig. Manchmal verleugnet man sich sogar vor sich selbst. Man redet sich aus, etwas Falsches getan zu haben und überspielt es, bis man es vergisst.

Der rote Planet Der Mars, er rastet unentwegt, hat sich im Leben nicht bewegt. Er hat zwei Kinder – Furcht und ­Schrecken, pass auf, wenn sie die Zähne blecken! Die grünen Marsmännchen – oder auch blau Gibt es sie überhaupt? Man weiß es nicht genau!

Man kann diesen Kreislauf mit einem Regentropfen vergleichen. Völlig rein ist er zuerst mit anderen Tropfen in einem See verbunden. Die Sonne lässt ihn verdunsten und zu einer Wolke aufsteigen. So fliegt er über Städte, und in seine Wolke mischen sich nun Abgase und Schmutz. Aus dem reinen Tropfen ist nun eine ­verdreckte Umweltgefahr geworden. Langsam regnet die Wolke ihre Schmutztropfen ab, und diese bleiben als Lacke auf dem ­Boden liegen. So ist es auch bei uns. Wir zerstören uns mit unseren Lügen selbst, bis auch wir zu einem Häufchen Dreck werden.

Wasser, das Elixier des Lebens Eines Tages, ungefähr im 12. Jahrhundert, kam eine Frau mit unnatürlichen Schwellungen am ganzen Körper zu einem alten, erfahrenen Arzt. Dieser rief, als er sie sah, sogleich aus: „Weib, Sie sehen schrecklich aus. Trinken Sie doch von diesem frischen Wasser aus dem Dorfbrunnen!“ Das tat sie zugleich, und die Schwellungen verschwanden. Eines Tages, ungefähr im 18. Jahrhundert, kam ein schrecklich aussehender Mann zu einem der frühen Ärzte. Als der Arzt ihn sah, rief er: „Oh, Sie sehen schrecklich aus! Trinken Sie doch einen Schluck von diesem äußerst gesunden Quellwasser!“ Das tat der Mann zugleich, und nach ein paar Minuten sah man in seinem Gesicht wieder Farbe. Heute morgen besuchte ein Kind seinen Hausarzt. Es war völlig verkrüppelt. Der Arzt sprach: „Trink einen Schluck aus dieser Wasserflasche!“ Das tat es sogleich, und plötzlich sah es wieder normal aus. Daraus sollte man lernen, dass Wasser das Elixier des Lebens ist. Viele Menschen schwören auf starke Tabletten oder Pflanzensäfte. Aber Wasser ist die beste Medizin! Denn es kommt von unserer Mutter, der Natur.


aufbaute. Hinter den ebenfalls verschneiten Büschen kam ein zweiter Hase mit seinen Jungen hervor. Die beiden erwachsenen Hasen begrüßten sich mit einer zärtlichen Umarmung. Auch dieses Bild war unendlich friedlich, so friedlich, dass es fast wehtat und sich zu einem unendlichen Schmerz aufbaute. Doch warum tut es mir weh, das zu sehen? Weil Tiere Weihnachten so friedlich verbringen, diese Liebe spüren, Verbindung zu Hoffnung und Licht? Wir Menschen haben das nicht – oder zumindest nur sehr wenige –, dieses Licht, das uns zur Hoffnung führt. Aber warum können wir das nicht erreichen? Weil wir tief in uns nicht an diese Magie glauben. Denn Menschen glauben nur das, was sie sehen, angreifen oder riechen können. Auf Gefühle vertrauen sie selten. Leider.

Erde

Der Retter

Unter uns ist sie zu seh’n, dicht besiedelt – wunderschön. Doch würde sie nicht unten steh‘n, würden wir einfach untergeh‘n.

Ich sehe ihn über mir, den Sternenhimmel. Beeindruckend und doch zugleich fürchterlich beängstigend. Ich sehe sie unter mir, die Erde. Sie ist furchtbar und bedeckt mit Pflanzen, doch auch sie ist eine Gefahr.

Untergeh‘n im großen All, mal schwerelos, mal freier Fall. Doch würden wir nicht auf ihr steh‘n, so würd’ es ihr viel besser geh’n.

Ich sehe ihn neben mir, doch er ist Himmel und Erde zusammen. Er braucht Mond und Sonne nicht zum Überleben. Er ist unabhängig von der Welt, doch sie braucht ihn. Ja, es hört sich komisch an, aber ich kenne ihn nicht. Doch ich will, dass es diesen Jemand gibt. Einer, der unabhängig von der Erde ist. Jemand, der Mond und Sonne und Himmel und Erde zugleich ist. Doch leider weiß ich, dass es ihn nicht gibt. Verträumt und mit Tränen in den Augen schaue ich wieder hinauf zu den Sternen. Doch plötzlich, auch wenn es nur ein Bruchteil einer Sekunde war, war es da.

Keiner würd’ sie mehr belasten, sie müsste nicht länger um Rohstoffe fasten. Hoffentlich weiß sie über die ­Bekümmertheit der Menschheit Bescheid! Wenn nicht, dann sagen wir jetzt: ES TUT UNS LEID!

Mitten in der Masse aus Sternen leuchtete ein Licht auf. Und obwohl es nur für den Bruchteil einer Sekunde leuchtete, es war da. Und man merkte sofort, es war Mond, Sonne, Himmel und Erde zugleich, und trotzdem war es unabhängig von ihnen. Und ich denke auch heute noch, dass es kein Zufall war, dass es auf die Erde zusteuert.

SCHREIB AKADEMIE

35

Janina Lörinczi

Ein Hase hoppelte vergnügt über das verschneite Gras. Der Schnee glänzte silbern in der Sonne. Alles war unendlich friedlich, so friedlich, dass es fast wehtat und sich zu einem unendlichen Schmerz aufbaute. Diesen verspürte aber nicht der Hase. Er war in der Zwischenzeit stehen geblieben und drehte sich um, als würde er etwas oder jemanden suchen. Auch dieses Bild wirkte unendlich friedlich, so friedlich, dass es fast wehtat und sich zu einem unendlichen Schmerz

Schreibakademie HOLLABRUNN

Was ist Weihnachten?


Sprüche

Eine missglückte Nachricht

Die schönste Zeit des Lebens ist die, in der man es lebt, wie man es leben will.

„Ihr Krebs ist wieder ausgebrochen“ steht da auf dem blanken weißen Zettel. Er stammt aus dem Ärztezentrum. Ich bin mir sicher, dass es jetzt aus ist. Und damit meine ich mein Leben. Ich bin ein Mensch, ein Mensch wie jeder andere auch, doch nur mit diesem Unterschied, mit diesem Unterschied, dass mein Leben vergeudet ist. In Gedanken besitze ich schon keine Haare mehr, die mir wegen der vielen Chemotherapien verloren gehen werden. Ich muss Hoffnung bewahren!

Schreibakademie HOLLABRUNN

Die wunderbaren Zeiten kommen dann, wenn das Glück weit entfernt scheint und man sich fühlt, als würde einem das Pech hinterherlaufen. Dann ist eine kleine Freude immer doppelt so schön.

Janina Lörinczi

36

Manchmal steht die Welt für mich auf dem Kopf. Doch dann überlege ich, ob nicht ich es bin, die auf dem Kopf steht.

Was heißt Zukunft? Was heißt Zukunft?, fragen sich alle. Sie rückt näher wie eine drohende Kralle.

Kaum habe ich diesen Gedanken ausgesprochen, klingelt es an der Tür. Ich mache verwundert auf. Verwundert, weil ich weder Freunde noch Verwandte habe. Doch vor der Tür steht ein Mann, seriös gekleidet. Die einzige Unebenheit auf seinem Körper scheint eine dick angeschwollene Beule auf seinem kahl geschorenen Kopf. Verlegen drückt er herum. Und rückt dann mit der Wahrheit heraus. „Der Zettel, gnädige Frau …“, begann er, „er gehört mir …!“ Über mein Erstaunen vergesse ich, ihn ernsthaft zu bemitleiden. Ich schlage einfach die Türe zu, und die Welt ist für mich wieder in Ordnung.

Doch dennoch wird sie uns nie erreichen, solange nicht, bis wir selbst erbleichen. Sie steht vor uns wie ein offenes Tor, für Probleme hat sie kaum ein Ohr. Viele Menschen wollen sie erforschen, doch das Gift der Zukunft wird sie zermorschen. Deswegen lassen wir die Finger von ihr, sie ist wild wie ein tollwütiges Tier. Dann lassen wir uns eben überraschen, doch keiner will von der Zukunft naschen.

SCHREIB AKADEMIE


DIANA MELODY Schreibakademie HOLLABRUNN

2000 | Mühlbach am Manhartsberg

Was mein Handy über mich erzählt Mein Handy weiß, welche Termine ich hab. Es weiß auch, welche SMS ich meinen Freundinnen schreib. Es kann sehr nützlich sein. Ich kann damit telefonieren, Spiele spielen und noch mehr. Es hilft mir auch manchmal. Zum Beispiel, wenn ich etwas Wich­ tiges zu Hause vergessen habe, das ich für die Schule brauche, kann ich meine Mutter anrufen, damit sie es mir ­bringen kann. Oder wenn der Bus nicht kommt oder nicht gewartet hat, kann ich telefonieren. Das Telefonieren ist super! Manchmal kann mein Handy auch nervig sein. Zum Beispiel, wenn mich viele Freundinnen auf einmal anrufen oder SMS schreiben. Ich hoffe, ich hab mein Handy noch länger!

Unglück

37

„Schneller, schneller! Fahr schneller“, beschwerte sich die junge Studentin Lisa bei ihrer Mutter. „Ich muss so schnell wie möglich zum Bahnhof, bevor der Zug abfährt!“ Am Bahnhof angekommen, stürmte Lisa aus dem Auto, nahm ihre Tasche und rannte los. Sie sah den Zug, mit dem sie fahren musste, schon am Bahnsteig. Lisa rannte schnell zu dem Automaten, bei dem man sich die Fahrkarten kaufen konnte. „Schneller, schneller“, dachte sie bei sich. Als sie die Karte in der Hand hatte, lief sie die Stiegen hinunter und auf der der anderen Seite wieder hinauf. Sie wollte gerade zu der Waggontüre laufen, als sie plötzlich auf einer Bananenschale ­ausrutschte. Sie hörte hinter ihr eine Stimme. „Oh, tut mir leid! Diese Schale hab ich fallen lassen!“ Die Frau half Lisa auf. Doch das war Lisa egal. Was wichtiger war, ist, dass sie den Zug ­verpasst hatte.

Diana Melody

Blume: Tulpe Zeitschrift: Bravo Baum: Kastanie Tier: Katze


Schreibakademie HOLLABRUNN

Diana Melody

38

Liebe Mitmenschen!

Weltwahrheitstag

Der Klimawandel ist schlimmer geworden! Im Sommer ist es heißer als in den letzten Jahren! Die Gletscher schmelzen! Wir Forscher haben heraus­gefunden, dass vielleicht die österreichischen Gletscher in vierzig bis sechzig Jahren geschmolzen sind! Flüsse könnten vielleicht in ein paar Jahren austrocknen! Aber was können wir dagegen tun? Und wer ist daran schuld? Die Antwort auf diese Frage ist: der Mensch! Mit den Abgasen von Autos oder Fabriken zerstört der Mensch seine Umwelt! Genauso wie mit dem ganzen Müll! Die Menschen schmeißen Flaschen, Müllsäcke oder anderen Unrat auf die Straße oder in verschiedene Gewässer! Das ist nicht nur für uns Menschen gefährlich, sondern auch für die Tiere! Doch was können wir dagegen tun? Denken wir an unsere Umwelt! Schützen wir sie! Ihre Forscherin Diana Melody!

„Liebe Leute, begrüßen Sie mit mir Lisa Adams!“, sprach die Moderatorin der Show „Stars ganz groß!“. Lisa Adams war noch nicht sehr berühmt, doch dieser Tag sollte das ändern. Lisa war nur bekannt dafür, dass sie gut singen kann. „Lisa, setz dich! Ich werde dir ein paar Fragen stellen!“, sagte die Dame zu dem jungen Mädchen. „Also Lisa, du bist dafür bekannt, dass du gut singen kannst. Stimmt das?“ „Ja, ganz genau“, antwortete Lisa. „Deine Stimme ist ein bisschen heiser. Trink doch einmal von dem Wasser! Besser?“, fragte die Moderatorin. Lisa nickte. „Also meine nächste Frage: Wie alt bist du?“ Lisa trank noch mal von dem Wasser, dann meinte sie: „Ich habe in meinem letzten Interview gesagt, dass ich erst 14 bin, aber in Wahrheit bin ich schon 16.“ „Interessant. Also Lisa, hast du Geschwister?“ „Ja, hab ich! Zwei Brüder und eine Schwester. Sie waren aber früher immer gemein!“ „Warum?“ „Weil sie mir das Spielzeug weggenommen haben!“ „Welches Spielzeug?“ „Na ja, ich hab bis zu meinem 14. Lebensjahr mit Puppen gespielt! Und mein Bruder meinte, ich wäre zu alt dafür, und hat meine Lieblingspuppe weggeschmissen!“ „Aha, aber mit 14 Jahren noch mit Puppen spielen ist ja peinlich, oder?“ „Ja, deswegen darf es auch keiner erfahren!“ Das Publikum lachte. „Und was ist mit deiner Schwester?“ „Ach, mit der hab ich immer gestritten, mehr nicht.“ „Was meinst du mit immer gestritten?“ „Naja, wir haben uns gegenseitig die Polster auf den Kopf gehauen und die Bücher und …“ „Okay, das reicht – und was ist mit Haustieren?“ „Ich hatte nur einen Papagei, aber die Katze meiner Schwester hat ihn gefressen.“ „Oh. Und Lisa, gefällt dir unsere Show? Bist du gern hier?“ „Nein!“ „Was heißt NEIN?“ „Na ja, ich würde viel lieber mit meiner Freundin ins Kino gehen.“ „Aber durch uns wirst du berühmt!“ „Eigentlich wollte ich nicht berühmt sein!“ „Wieso?“ „Na ja, eigentlich habe ich nur bei einem Karaoke- Wettbewerb den 15. Platz gemacht.“ „Aber deine Lieder, da singst du immer so schön, sagen alle!“ „Nein, das bin ich nicht! Das sagen alle nur, dass ich es bin!“ „Und wer singt deine Lieder?“ „Meine Mutter! Aber ich kann euch gerne etwas vorsingen!“ „Nein, bitte nicht! Okay, liebe Leute. Das war Lisa Adams! Wir sehen uns bei der nächsten Show! Guten Abend!“

Ihr lieben Menschen bitte, Ihr wollt doch nicht, macht mich nicht kaputt! Dass es immer über 30 Grad hat! Ich bin bald nicht mehr da, Also bitte, liebe Menschen, wenn ihr nichts Gutes tut! Ändert euch jetzt bald, im Sommer bin ich wärmer, dann werde ich im Sommer warm im Winter kühl ich nicht ab. Und bin im Winter kalt.

Brot und Wein

SCHREIB AKADEMIE

Brot und Wein ist für manche fein, für andere doch wie ein schwarzes Loch. Ein paar wissen nicht, was es heißt, und das ist ziemlich dreist. Doch andre schmeißen es weg, ganz einfach in den Dreck.


In unserem Ort lebt ein kleiner Junge. Er ist sehr übermütig. Er glaubt immer, alles besser zu können und zu wissen. Eines Tages gab es ein Fußballspiel am Sportplatz. Viele Leute waren gekommen. Für mich war das Spiel nicht so wichtig. Meine Freundinnen und ich spazierten währenddessen ein paar Meter weiter zu einem Holzhaufen. Er war ziemlich hoch, aber das war egal. Wir turnten und spielten darauf. Auf einmal kam der kleine Junge und sagte: „Ich will auch da rauf!“ Wir warnten ihn und sagten, dass es für ihn zu gefährlich sei. Doch er hörte nicht auf uns. „Sei nicht so übermütig, sonst verletzt du dich noch!“, warnte ihn meine Freundin. Doch es war zu spät. Der kleine Junge hatte schon eine Hälfte des Haufens hinter sich, als er plötzlich wie ein Stein den Haufen hinunterrollte. Als er unten angekommen war, hüpfte er auf. Er starrte uns an. „Das ist nichts für kleine übermütige Kinder!“, hörte ich meine Freundin schreien. Der kleine Junge drehte sich um und rannte wütend zum Sportplatz.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag konnte man in Wien Stars aus aller Welt bewundern. Unter anderem sah man den Rapper Sido. Man konnte auch andere Stars wie zum Beispiel Selena ­Gomez oder Pink treffen. Es war eine besonders lange Nacht. Die Stars feierten bis in die frühen Morgenstunden. Diese Nacht hatte auch ihren guten Zweck, denn das Geld für den Eintritt wird dem SOS Kinderdorf und „Nachbar in Not“ gespendet. Die Nacht hatte aber auch ihre schlechten Seiten. Ein paar Jungs wie zum Beispiel jene von „One Direction“ haben sich sehr gestritten und wurden deshalb mitten in der Nacht vor die Tür gesetzt. Wenn wir noch mehr Informationen von der Starnacht erhalten sollten, ­werden Sie diese im nächsten Magazin lesen können.

Schatten von gestern Wenn es einen Menschen gibt, der einem nicht so wichtig erscheint, doch wenn dieser Jemand fort ist, wie fühlt man sich dann? In diesem Fall fühle ich mich schlecht. Sehr schlecht. In einem Moment, in dem ich fröhlich war, wurde ich von Trauer umgeben. Wieso musstest du gehen? Wollte Gott es so? Was passiert jetzt mit deinem Haus? Wird es für immer verlassen sein? Ich weiß, dass du schwer krank warst, aber gab es keine Heilung? Wieso musste es so kommen? Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Schatten von gestern holen mich ein.

Meine Geheimnisse kennst nur du. Ich kann dir alles anvertrauen, du erzählst nichts weiter. Du kennst meine schönsten und meine schrecklichsten Momente. Wenn es Geheimnisse oder Situationen gibt, die ich keinem Menschen ­ver­raten will, vertraue ich sie dir an. Ich kann dank dir in die Vergangenheit sehen. Doch manchmal, wenn ich die Einträge von gestern oder anderen Tagen lese, würde ich am liebsten zu weinen beginnen. Ich kann lesen, was ich falsch oder richtig gemacht habe. Es gibt Momente, wo ich deine Seiten rausreißen oder ­durchstreichen würde. Doch dann würden die Erinnerungen fehlen. Ich schreibe auch meine Träume und Wünsche in dich hinein. Du weißt auch über meine Freunde Bescheid oder über meine Eltern und Verwandten. Diese werden dich von außen betrachten können. Mir ist es egal, wie sehr sie betteln, sie werden nie ­erfahren, was in dir steckt! Top secret. Das steht auf meinem Tagebuch. Jeder will wissen, wie der Inhalt ist, besonders meine Freundinnen aus der Schule. Keiner weiß allerdings, was in dem kleinen Buch, das täglich auf dem Tisch neben meinem Bett liegt, verborgen ist. Ich will, dass es auch so bleibt. Nur ich kann lesen, was in diesem Buch steht. Schließlich habe ich die Schlüssel dazu.

Schreibakademie HOLLABRUNN

Die Starnacht

39

Diana Melody

Übermut beim Spiel


Schreibakademie HOLLABRUNN

Diana Melody

40

Lieber A4-Notizblock

Ein Missverständnis

Seit gestern sitze ich hier. Auf kaltem Stein. Beim Erforschen dieser Höhle ist etwas schiefgegangen. Die Höhle ist eingestürzt. Jetzt bin ich allein hier drinnen. Weggesperrt von der Zivili­ sation. In der Höhle ist es kalt und feucht. Ich habe Glück, dass meine Taschenlampe noch funktioniert. Als wir diese Höhle untersuchen wollten, stürzte sie einfach ein. Die anderen Forscher wurden von Steinen erschlagen. Ich weiß nicht, wie lange ich noch leben werde. Ich bin froh, dass ich dich nicht verloren habe so wie mein Handy, das unter den Trümmern liegt. Wie schon erwähnt, weiß ich nicht, wie lange ich noch auf dieser Erde leben werde. Es könnte die Höhle jederzeit einstürzen und mich unter den Steinen begraben. Wenn es nicht so passieren sollte, werden mir Vorräte ausgehen. Meine Zeit auf dieser Erde läuft ab. Ich bin froh, dass ich meine Situation aufschreiben konnte.

Sue bekommt von ihrer kleinen Nichte zu Weihnachten jedes Mal einen Zettel, worauf sie schreiben soll, was sie sich wünscht. Doch heuer hat ihre Nichte gerade die Schreibschrift gelernt. Für Sue ist es heuer gar nicht leicht. Als eines Tages der Brief ankam, wunderte sich Sue. Sie entzifferte den Brief ihrer Nichte so: „Liebe Tante Sue! Ich habe heuer viele Wünsche zu Weihnachten und zwar: ein neues Kleid für meine Barbiepuppe, ein Tuch über Tiere, ein neues Paar Locken, ein Tofftier, eine Puppenmaus und für meinen Mund einen Tauknochen.“

Du kannst keinen Ozean überqueren, indem du nur aufs Wasser starrst „Du kannst keinen Ozean überqueren, indem du nur aufs Wasser starrst.“ Doch was soll dieser Spruch bedeuten? Soll er bedeuten, dass man nichts erreichen kann, wenn man nichts dafür tut? Oder soll er bedeuten, dass man vor etwas Großem Angst hat und diese nicht einfach so überwinden kann? Oder doch etwas ganz anderes? Man kann sich viele Bedeutungen ausdenken. Doch welche ist richtig und welche falsch? Und wie kann man das herausfinden? Vielleicht gibt es bei einem solchen Spruch kein Richtig oder Falsch. Vielleicht passen mehrere Bedeutungen dazu.

Die Frau wunderte sich über die Wünsche. Da war der Tag. Heiligabend war da und Sue fuhr mit einem Sack voller Geschenke zu ihrer Nichte. Dort angekommen packte die Tante die Geschenke aus. Sie packte ein Barbiekleid, ein Stofftier mit einem Tuch, eine Perücke, ein Hemd mit einer Vier darauf, eine Spielzeugmaus und einen Spielzeugknochen aus. Ihre Nichte sah sie verwundert an. Sue meinte: „Ich weiß nicht, was du gemeint hast, weil ich deine Schrift nicht lesen konnte. Aber ich hoffe, es passt.“ Auf einmal fing das kleine Mädchen an zu lachen und sagte: „Ach, Tante! Ich lese dir den Brief noch mal vor: „Liebe Tante Sue! Ich habe heuer viele Wünsche zu Weihnachten und zwar: ein neues Kleid für meine Barbiepuppe, ein Buch über Tiere …“ Die Tante kniete sich neben ihre Nichte hin: „Es tut mir so leid! Das war ein Riesen-Missverständnis!“ Das kleine Mädchen erwiderte: „Macht nichts, Tante! Aber das nächste Mal rufst du an, wenn du meine Schrift nicht lesen kannst!“ „Ja, mach ich!“ Danach mussten alle lachen.

SCHREIB AKADEMIE


Schreibakademie HOLLABRUNN

MATTEA SCHNEIDER

Wer eintritt durch die Tür und über die Schwelle, der soll glücklich werden auf die Schnelle.

Was ich dem Bürgermeister sagen will

41

Herr Bürgermeister, ist es denn so leicht, einen Job, wie Sie ihn haben, auszuführen? Ich meine, es gibt doch sicher Leute, die Sie darum beneiden. Oder? Und diese Sticheleien aus den anderen Parteien! Fängt man da nicht zu verzweifeln an? Herr Bürgermeister, wir sind stolz, endlich einmal ein junges, nettes Oberhaupt zu haben. Man merkt Ihre Bemühungen. Lassen Sie sich nicht unterkriegen, denn Sie erledigen Ihren Job grandios!

Mattea Schneider

1998 | Hollabrunn


Wald, Natur

Wetter, Wetter, spinne nicht!

Wald, Natur, die grüne Schönheit – und sie ist nicht weit. Felder, Sträucher Wiesen, Bäume – schöner Platz für uns’re Träume.

Die Wolken alle sind so dicht! Das alles mag ich nicht!

Im Frühling grün, im Herbst rot, gelb, orange. Ein perfekter Platz für uns mit ’ner Melange.

Lieber hätt’ ich Sonnenschein! Dann wär mein Leben wieder fein. Kein Regen hier – kein Regen da! Das ist toll, JAJA, JAJA.

Schreibakademie HOLLABRUNN

Lieber Opa! Ich wünschte, du wärest noch am Leben und ich hätte dich noch länger bei mir! Die Zeit war so schön! Du hast alles für mich ­gemacht! Wenn ich nach dem Abholen vom Kindergarten im Kofferraum liegen wollte, hast du es mir erlaubt. Wollte ich eine neue Barbiepuppe haben, bist du mit mir ins Spielzeuggeschäft ­gefahren und hast sie mir gekauft. Du hattest von Geburt an nur eine Hand, doch das war mir egal, denn für mich warst du trotzdem ein Vorbild. Ich könnte so viel schreiben, aber ich möchte dir nur eines sagen: Ich hab dich lieb und werde dich nie vergessen. Deine Mattea

Mattea Schneider

42

SCHREIB AKADEMIE


JAN WALDHART Schreibakademie HOLLABRUNN

1999 | Hollabrunn Blume: Vergissmeinnicht Zeitung: Heute Baum: Eiche Tier: Fuchs

Mein drittschönster Schultag ausgesetzt war. So stand ich also da, voller Vorfreude und Erwartungen, endlich das Wissen zu erhalten, mit dem es auch mir ­möglich sein würde, bei Erwachsenen zu punkten. Dann kam der zweitschönste Schultag. Ich hatte vier Jahre Volksschule hinter mich gebracht, war glücklich, voller neuer Erwartungen auf das Gymnasium und nahm, mit den wohl ähnlich geröteten Wangen, aber jetzt erheblich längerem Haar und coolerer Kleidung, mein Abschlusszeugnis entgegen. Das mit dem Punkten bei Erwachsenen war nicht mehr so toll, aber natürlich wurde auch dieser Moment mit Fotos festgehalten. Und jetzt der drittschönste Schultag. Der, um den es ja eigentlich gehen sollte. Tja, da muss ich in die Zukunft blicken. Sicher sind die geröteten Wangen, ein Top-Anzug und die langen frisierten Haare. Es wird der Tag sein, an dem ich voller Stolz mein Maturazeugnis entgegennehmen werde und voller noch neuen Erwartungen einem Studium entgegenblicke. Ich rechne mit einem weiteren Fototermin und, ich werde endlich punkten, beim Mitreden. So stelle ich mir das jetzt einmal vor. Ihr könnt mich dann ja in fünf Jahren fragen, ob es vor dem drittschönsten Schultag noch einen drittschöneren schönsten Schultag gegeben hat.

Jan Waldhart

Letztens wurde ich gefragt, was denn mein drittschönster Schultag gewesen sei. Zuerst war ich etwas verdutzt und meinte, wie kommt man denn auf so eine Frage? Doch dann begann ich, mir Gedanken darüber zu machen, und fand eigentlich nur eine wirkliche Erklärung. Der drittschönste Schultag kann nur beim erstschönsten beginnen und über den zweitschönsten führen. Der erstschönste Schultag, ganz klar, jener Tag, an dem ich mit einer riesigen Schultüte, prall gefüllt mit mir noch nicht bekannten Köstlichkeiten, neu eingekleidet, mit viel zu kurzem Haar, weil der Friseur nicht auf meinen Vater gehört hatte, sondern lieber nervös mit seinen Angestellten diskutierte, und roten Wangen in unserem Vorgarten der Fotolust meiner Eltern

43


Schreibakademie HOLLABRUNN

Spuk in der Schule

Jan Waldhart

44

Man sagt, in diesem Haus spukt es. Dieses Haus, das über die Jahr­ hunderte von einer Raststation für durchreisende Kuriere zu einer Polizei­ station mit Gefängnis und dann zu einem Gerichtshof ausgebaut wurde, beherbergt nun unsere Schule. Und hier spukt es, sagen die Alten. Alle hundert Jahre, immer am 13. 11., würde etwas Unerklärliches passieren. Ein Gespenst, das alle Anwesenden in Angst und Schrecken versetzt. Etwas, das noch nie zum Tode, aber doch zu Herzrasen und Atemnot geführt hat. Und nun war es wieder soweit: 13. 11. 2013. Der Tag, vor dem sich schon alle Professoren samt Direktion fürchteten. Seit Wochen hat man Maßnahmen und Regeln festgelegt, die es erlauben sollten, alle Eventualitäten an Ereignissen auszuschließen. Dem Gespenst diesmal jede Gelegenheit zu nehmen, erneut zuzuschlagen. Pläne wurden geschmiedet, die es erlauben sollten, das Böse endlich aufzudecken, ja wenn möglich sogar dingfest zu machen. 13. 11. 1813, der Tag, an dem Professor Ohnegnade samt Stuhl in Front seiner Schüler zusammengebrochen war. Eine Schmach, die, wie man später herausgefunden hatte, durch eine Termiteninvasion und nicht durch Böswilligkeit eines rachsüchtigen Schülers verursacht wurde. Über­ natürlich bezeichnete man dieses Vorkommnis. 13. 11. 1913, der Tag, an dem Frau Professor Quäler beim Betreten des Klassenzimmers so unglücklich auf ein loses Brett auf dem Fußboden gestiegen war, dass dieses mit voller Wucht in die Höhe schnellte und Frau Quäler in bester Ringkampfmanier minutenlang außer Gefecht setzte. Auch hier konnte klar nachgewiesen werden, dass der Nagel, der das Brett an seinen Platz halten sollte, ange­ rostet war und somit seinen Zweck

verloren hatte. Die markante Nase der Professorin war allerdings für ewig entstellt, und man behauptet zu wissen, dies hätte ihren Geruchssinn und somit das Erriechen von besonders faulen Schülern für immer zerstört. Wie der Nagel hier rosten konnte, das fand allerdings nie eine Erklärung. 13. 11. 2013, Frau Professor Strenger betritt wie immer schwungvoll das Klassenzimmer, setzt sich auf ihren Stuhl und lässt listig die Blicke über die Klasse schweifen. Jede böse Absicht sollte sofort erkannt werden. Keiner sollte Gelegenheit haben, auch ihr die Schande der vergangenen Ereignisse zuzufügen. Die Klasse jedoch, die Strenge von Frau Professor Strenger gewohnt, wagte es kaum zu atmen. Keiner wollte als verdächtig angesehen und somit zu einer der gefürchteten Wiederholungen zur Tafel gerufen werden. Endlose Sekunden vergingen, bis Professor Strenger sich langsam erhob, ein Stück Kreide in die Hand nahm und zur Tafel schritt. Keinem fiel auf, dass sich ein Faden ihres Wollrocks am Sessel verfangen hatte, was zu einem langsamen Auftrennen des Rockes führte. Rasch war der vorher knöchellange Rock bis auf Kniehöhe geschrumpft und erbarmungslos lief der Faden höher und höher. Ein leises Raunen ging durch die Klasse, das sich langsam zu einem immer lauter werdenden Gekicher steigerte. Das wiederum veranlasste Frau Professor Strenger, sich ruckartig von der Tafel weg zur Klasse zu drehen, was den letzten Rest des Wollrocks zur endgültigen Auflösung brachte. Erst jetzt bemerkte Frau Professor den kühlen Luftzug um ihre Beine, und ein erschrockener Blick nach unten offenbarte ihr das ganze Ausmaß an Peinlichkeit. Der untere Teil ihrer Kleidung war bis auf die Unterhose verschwunden. In höchster Panik schnappte sie sich die Grönlandkarte, welche neben der Tafel hing, und verdeckte den entblößten Bereich. Flucht­artig, von dem Gegröle der Klasse begleitet, lief sie aus dem Klassenzimmer und direkt ins Lehrerzimmer, wo sie geschockt und wortlos auf einen Sessel fiel. „No, da hättens jetzt aba liaba die Afrikakortn nehmen solln. Die wär vielleicht wärmer gwesn“, sprach Herr Besenrein, begleitet von einem tiefen Lachen, während er das Zimmer betrat. Unter Tränen berichtete Frau Professor Strenger dem Schulwart Besenrein, was soeben vorgefallen war. Ungläubig schüttelte der den Kopf und reichte der von Wein­krämpfen geschüttelten Strenger die Decke aus dem Erste-HilfeSchrank. Da soeben die Pause begann, kamen nun nach und nach die restlichen Professoren aus ihren Klassen, um im Lehrerzimmer die Pause zu genießen. Alle lauschten mit schreckensgeweiteten Augen dem furchtbaren Bericht von Professor Strenger. In den tröstenden Worten lag aber auch Erleichterung darüber, dass nicht sie zum Opfer des Jahrhundertfluchs geworden waren. Nachdem sich Frau Professor Strenger von diesem Schock etwas erholt hatte und ihr die geborgte Latzhose von Herrn Besenrein die gewohnte Sicherheit zurückgab, beschloss sie, nicht die Unter­ suchung der Schulkommission abzuwarten, sondern es selbst in


Was passiert mit uns?

Sage Vor langer Zeit lebte einst ein Mann in einer Mühle. Er wurde von allen Leuten geschätzt, da er sehr nett und freundlich zu jedermann war. Doch immer am vierten Montag eines Monats wurde er unruhig. Er ging kaum vor die Tür und ließ auch niemanden zu sich. In diesen Nächten drangen seltsame Geräusche von der Mühle nach draußen. An den darauffolgenden Tagen war der „Spuk“ vorbei, und der Mann verhielt sich wie immer. Da keiner wusste, was jedes Mal in der Mühle passierte, wurde ein tapferer Bursch auserkoren, um das Geheimnis zu lüften. Am vierten Montag im Monat November war es wieder soweit. Die Geräusche aus der Mühle waren unerträglich. Vollen Mutes schlich er nahe an die Mühle heran und blickte durch das kleine Fenster. Da sah er, wie sich der Mann in einen Werwolf verwandelte. Dieser witterte den Burschen, sprang durch das Fenster und verschlang den tapferen Burschen. Von diesem Tage an waren beide nie wieder gesehen, und die Mühle bekam den Namen „Wolfsmühle“.

So kann man sich irren! Gedankenverloren schlendere ich von meinem Kinobesuch nach Hause. Ich bin so glücklich und erheitert über den guten Film, dass ich nicht merke, wie ich in eine dunkle Gasse einbiege. Fahles Mondlicht schimmert durch die Gasse. Eine merkwürdige Stille umgibt mich. Aber nein! Was ist das? Schweißgebadet blicke ich um mich. Schritte! Was ist das bloß? Eine Hand berührt mich an meiner Schulter! Ich gebe einen gellenden Schrei von mir. Eine Stimme sagt: „Keine Angst! Ich werde dir nichts tun.“ Langsam wende ich meinen Kopf zur Seite. Es ist … mein Freund. Schlaf­ trunken öffne ich meine Augen. Ich war im Kino eingeschlafen, und er weckt mich zum Nach-Hause-Gehen. Nun ja, so lustig war der Film wohl doch nicht!

Schreibakademie HOLLABRUNN

Ich stehe am Nordpol. Schreckliche Szenen spielen sich vor mir ab. Eisbären töten ihren Nachwuchs, um überleben zu können. Karibus quälen sich ausgehungert durch die Tundra. Ich sehe Polarfüchse, die nur noch Haut und Knochen sind … Plötzlich schrecke ich hoch. Es war nur ein Albtraum. Doch dieser könnte bald, sehr bald sogar, Realität werden … Schmelzendes Eis in der Arktis, Klimawandel, Naturkatastrophen. In Wirklichkeit stecken wir, ohne es zu wissen, mittendrin …

45

Jan Waldhart

die Hand zu nehmen, die Sache ein für allemal aufzuklären. So wartete sie das Ende des Unterrichts ab und ging, ausgestattet mit ihrem Vergrößerungsglas, in die Klasse zurück. Genauestens begann sie, den Sessel zu untersuchen. Irgendwo musste es doch einen Hinweis geben, der ihr die Erklärung für dieses Missgeschick geben konnte. Zum wiederholten Male glitt sie nun schon, mit dem Auge am Vergrößerungsglas klebend, über die Sitzfläche und konnte nichts Verdächtiges feststellen. Schon wollte sie aufgeben, da entdeckte sie eine leichte Unebenheit. Beim genaueren Betrachten war klar zu erkennen, dass ein kleiner Holzspan von der Sitzfläche abstand. Der Wollrock hatte sich wohl im Span verfangen und in weiterer Folge so zur Auftrennung geführt. Also doch wieder ein Ereignis, dass eindeutig dem Jahrhundertfluch zugesprochen werden musste. Damit waren die Untersuchungen abgeschlossen und wurden eingestellt. Der Vorfall wurde genauestens in dem geheimen Buch, das im Tresor der Schule aufbewahrt wurde, dokumentiert, um so, etwa in hundert Jahren, an die Gefahren dieses 13. 11. zu erinnern und dem Gespenst den Garaus zu machen. In seiner Dienstwohnung jedoch saß Herr Besenrein bei einem kühlen Glas Bier. Zufrieden nahm er einen langen Schluck. Nachdem er das Glas abgesetzt hatte, schrieb er mit zittriger Schrift in ein verstaubtes dickes Buch: „13. 11. 2013. Zum dritten Mal ist es mir nun gelungen, die Macht über die Lehrerschaft auszuüben. Ein weiterer Spuk des Gespenstes Besenrein ­HOHOHO …“


Schreibakademie HOLLABRUNN

Jan Waldhart

46

Klimaerwärmung

Was ich überhaupt nicht mag

Ich stehe am Nordpol, das Eis schmilzt, es schmilzt uns buchstäblich unter den Händen weg. Schreckliche Szenen spielen sich vor mir ab. Eisbären töten ihre Jungen, um genug zu essen zu haben. Karibus streifen ausgehungert durch die Tundra. Ich sehe Polarfüchse, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen … Abrupt schrecke ich hoch! Schweißgebadet erkenne ich … Es war nur ein furchtbarer Alptraum! Doch dieser könnte bald, sehr bald schon real werden. In Wirklichkeit sind wir, ohne es zu wissen, schon mittendrin.

Ich hasse Kleidung EINKAUFEN!!!! Mann, ist heute wieder ein Tag. Meine Mutter schleppt mich zum Einkaufen, um mir Kleidung zu kaufen (würg). Sie sucht ein gelbes Hemd mit rotem Karomuster für mich aus und fragt: „Gefällt dir das? Ist doch hübsch, oder?“ Ich will sagen: „Nein, bitte nicht!“ Stattdessen höre ich mich sagen: „Ja, nett, gefällt mir ganz gut.“ Und nun sitze ich da und schreibe diese Worte in meinem gelben Hemd mit rotem Karomuster …

Trauriger Regenwurm Eine Regewurmfrau weint. Fragt die Nachbarin: „Warum weinst du?“ Sagt die Regenwurmfrau: „Ach, es ist wegen meinem Mann. Er ist beim Angeln.“

Mars Orbis pictus – gemalte Welt Vom Universum wurde er geboren Von Römern und Griechen zum Kriegsgott erkoren Der rote Planet wird er genannt Ist als der Erde-Nachbar bekannt Kleine Männchen sollen dort leben Wir danach streben Sie zu sehen Doch nur Raumfahrzeuge ins Orbit gehen!

Entstehungsgeschichte des Kontinenten ­EURASIKA In ein paar Millionen Jahren wird es passieren. Der Kontinent Afrika driftet immer weiter nach Norden, langsam schiebt er sich vorwärts, Millimeter um Millimeter, bis er Europa berührt, um zu einer Landmasse zu verschmelzen. Auch Asien bewegt sich u ­ naufhörlich gegen Westen, und so vereinen sich Europa und Asien (Eurasien) mit Afrika und lassen einen neuen Kontinent entstehen: Eurasika. Neue Gebirge erheben sich drohend über fruchtbare Täler. Riesige Seen und sich schlängelnde, schier endlos breite Flüsse formen eine Landschaft, die kühnste Träume nicht ersinnen können. Tiere, die im ehemaligen Afrika lebten, beginnen sich nun in ­Eurasika anzusiedeln, und eine Vielfalt an neuen Lebewesen ­entsteht. Menschen aller Rassen vereinen sich zu einer starken Gemeinschaft, die Neid und Hass vergessen lässt und ein fried­volles Nebeneinander ermöglicht. Einzelne Staaten gibt es nun nicht mehr, Grenzen sind aufgehoben, und jeder kann leben, wo er will. Die Sprachen vermischen sich, und es entsteht eine neue völkerverbindende Sprache: eurasikaisch. Menschen, die arbeitslos waren, finden nun neue, gut bezahlte Jobs, da die Infrastruktur und die Ressourcen der früher verschiedenen Kontinente nun vereint in einem großen Kontinent besser genutzt werden können. Die Verschiedenheit der Kulturen der ehemaligen Kontinente wird nun durch die Durchmischung bereichert und schafft somit weiterführende Verbindungen zwischen den Menschen. Das ist meine Vision, wie es aussehen wird, wenn Afrika in Millionen von Jahren tatsächlich andockt. Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, wie das wäre?


KATHRIN WILFINGER Schreibakademie HOLLABRUNN

1999 | Wullersdorf Blume: Lilie Buch: Warrior Cats Baum: Birke Tier: Schmetterling

Weltwahrheitstag

Ich bin wie ich bin. Das kann mir keiner nehmen. Ich lache laut. Ich tanze gern. Ich liebe halt das Leben. Du kannst mich nicht verändern. Kannst mir nichts befehlen. Denn ohne mich, das weiß ich, da würde dir was fehlen.

Ich kann nichts dagegen tun. Ich will es nicht. Ich will es leugnen, es schönreden. Doch es geht nicht. Etwas zwingt mich zur Wahrheit, bringt mich dazu, nicht zu lügen. Ich weiß nicht, was es ist. Eine Stimme, tief in mir, sie flüstert mir zu, dass es falsch ist zu lügen. Ich kann nicht anders. Sie wollen es doch gar nicht hören, wollen die Augen vor der Wahrheit verschließen. Und ich lasse es zu? Lüge ihnen eine Welt vor, die sie haben wollen? Doch sie ist nicht so, sie existiert nicht. Sie ist anders, ganz anders.

47

Kathrin Wilfinger

Ich bin wie ich bin

SCHREIB AKADEMIE


Schreibakademie HOLLABRUNN

Kalenderspruch

Er liegt am Boden. Er ist kalt, hart und ungemütlich. Tränen finden ihren Weg seine Wange hinunter. Wie konnte es so weit kommen? Er war doch immer oben. War auf der Sonnenseite des Lebens. Und jetzt? Jetzt ist er ganz unten ­angelangt. Am Abgrund. Nur wegen einem kleinen Fehler. Ein Ausrutscher. Wie auf einer Bananenschale.

Der alte Mann sieht den jungen Mann ihm gegenüber stumm an. „Was willst du, Alter?“, höhnt der Junge. „Hast du dein Leben bis jetzt wirklich gelebt?“, fragt der Alte ihn mit gebrechlicher Stimme. Seine Arme und Beine sind schwer, seine Augen fast blind, und überhaupt sieht er nicht gerade danach aus, als ob er viel Geld hätte. Seine Kleidung hängt in Fetzen seinen Körper hinab. Die weißen Haare stehen wirr vom Kopf. „Natürlich“, dröhnt der junge Mann. „Ich hab’ in meinem bisherigen Leben mehr erreicht als du in deinem. Ich habe viel Geld, zwei Häuser, vier Sportwagen und ein Privatflugzeug. Ich hab’ alles, was mein Herz begehrt. Und du? Du hast nichts, versteckst dich in deiner armseligen Hütte mit den Lumpen vor den anderen. Du bist alt, allein und arm.“ Da schaut ihn der alte Mann wieder lange an, ohne etwas zu sagen. „Armer Kerl. Du hast so viel, und doch hast du nichts. Was bringen dir all deine Reichtümer, wenn du niemanden hast, mit dem du sie teilen kannst?“, sagt der alte Mann traurig. „Pah“, erwidert der Junge gehässig. „Du hast mir nichts zu sagen. Ich bin besser als du. Sieh es ein.“ Der Alte antwortet mit ruhiger Stimme: „Irgendwann wirst du den Sinn meiner Worte erkennen. Und denk daran: Es ist besser das Leben zu vertiefen, als es zu verlängern.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und lässt den jungen Mann einfach stehen.

Kathrin Wilfinger

48

Bananenschale

SCHREIB AKADEMIE


SOPHIE WINKLER Schreibakademie HOLLABRUNN

2001 | Hollabrunn

Mut

Die Hexe in der Mühle

49

Der Mann stand vor den Trümmern seines Hauses, das der Hurrikan zerstört hatte. Er wartete auf ein Zeichen des Lebens. Er traute sich nicht das Haus oder eher das, was übrig geblieben war, zu betreten. Er konnte seine Kinder und seine Frau nicht leiden sehen. Und was, wenn sie tot waren? Doch da schlich sich ein Gedanke, ein Gedanke, der seiner Familie womöglich das Leben gerettet hat, in seinen Kopf. Was, wenn sie noch lebten? Heldenmutig rannte er los. Er suchte überall. Unermüdlich und von einer Kraft getrieben, die man Mut nennt, suchte er die Trümmer ab.

Vor langer Zeit, als die Mühlen noch das Land zeichneten, dachten die Leute, dass oben in den Bergen, im Mühlenrad, eine Hexe säße. Wie sonst würde das Getreide sofort zu Mehl werden, außer durch dunkle Zauberkraft? Ständig zogen mutige Bauernburschen hinauf, um die Hexe zu besiegen. Doch stets um Mitternacht, wenn die immer wechselnden Besitzer der Mühle den Vorgang des Mahlens zustande brachten, rannten die Helden ins Tal hinunter und berichteten immer dasselbe: Im Mühlenrad säße eine Hexe mit ­grünen Augen und spitzen Nägeln und einem fauchenden, unmenschlichen Lachen. Ihr Hut wäre auch verhext und tänzelte immer wild umher. Eines Tages zog wieder ein junger Knecht aus, der nicht so stark war wie die anderen, jedoch mit Proviant: mit einer Flasche Milch und Brot. Um Mitternacht setzte er sich vor das Mühlenrad, begann seinen Proviant zu verspeisen und wartete. Doch da sah er die Hexe, und es war alles wahr, auch die grünen Augen – und sie fauchte laut! Im selben Moment stürzte sie sich auf ihn. Die Katze schleckte die ausgeschüttete Milch genüsslich auf und funkelte den Knecht mit ihren grünen Augen an. Stolz marschierte dieser nach Hause. Die Katze bekam eine Stelle als Mäusefängerin am Hof, und der Bauernjunge bekam die Müllers­tochter zur Frau.

Sophie Winkler

Blume: Rose Buch: Wuff Baum: Apfelbaum Tier: Hund

Müllerweisheit Jeder muss sein verbranntes Brot alleine essen!


Schreibakademie HOLLABRUNN

Sophie Winkler

50

Brot

An einem schönen Wintertag …

Wenn ich jetzt gerade an Brot denke, denke ich an harte Rinde und gute Butter. Wenn ich an Wein denke, fällt mir ein, dass ich gerne wüsste, wie Wein schmeckt. Wenn ich den Kopf hebe … sehe ich die Decke der Bibliothek. Leben nach dem Brot ist Satt-Sein.

Wein

… ging Linda zur Tür, um die Zeitung zu holen. Doch an diesem Morgen legte der Zeitungsmann die Zeitung nicht vor die Türe, sondern drückte sie ihr mit den Worten „Lesen Sie die Seite über die Gletscherspalte!“ in die Hand, danach stieg er auf seinen Roller und verschwand. Mit offenem Mund starrte ihm Linda nach. Dann ging sie rasch ins Haus und schlug Seite 8 auf. Dort fand sie einen Brief: Liebe Linda! Ich bin es, Thomas, und hoffentlich geht es dir besser als mir, denn ich bin einer von vielen Skifahrern, die in einer Gletscherspalte gefangen sind. Unsere einzige Verbindung zur Außenwelt ist ein Helikopter, der uns jeden Morgen mit Essen und Trinken versorgt und uns Decken bringt. Ich weiß nicht, wie lange ich noch durch­ halten kann. Ich hoffe, dieser Horror ist bald vorbei.

Wein ist rot So rot wie der Tod Doch er ist das Leben Christi Blut wird uns gegeben

Ein Tier in der Schule

In Maßen genossen wird kein Blut vergossen Doch zu viel des Guten lässt ihre Seele bluten Ihr Leben wird zerstört Das Nichts ist’s, was sie betört.

Die drei Klassen der Menschen Zwei Kinder raufen sich, ein anderes geht vorbei und schaut nicht hin. Dann kommt ein drittes und schaut eine Weile zu. „Ich sollte etwas tun“, denkt es sich. Doch dann wird es ihm zu kompliziert, und es geht weiter. Ein wenig später kommt wieder ein Kind dazu und trennt die Raufbolde. In diesem Moment fällt mein Blick auf einen Kalender. Dort steht: „Die ganze Menschheit teilt sich in drei Klassen: Menschen, die unbeweglich sind, Menschen, die beweglich sind, und die, die sich bewegen.“

Nach einem langen Tag legte sich Micky endlich in sein Bett. Er zog seinen neuen Kater Garfield fester an sich und schlief ein. Als Micky am nächsten Morgen aufwachte, sprang er hurtig aus dem Bett. Was war das Erste, das ihm auffiel? Er war doch groß genug, vom Bett zu steigen! Doch als er in den Spiegel sah, wurde ihm schlecht, besser gesagt, er würgte einen Haarballen hervor. Er war eine Katze! Aber nicht irgendeine Katze, er war Garfield! „Na ja, bis auf mein Aussehen ist ja alles normal. Ich rieche schlecht, und es juckt mich überall“, sagte, besser gesagt, miaute Micky fast erleichtert. „Meine Mutter darf mich nicht so sehen“, dachte Micky. „Micky! Steh auf! Frühstück ist fertig!“ „O nein“, miaute Micky. So schnell er konnte, sprintete der Kater oder der Mensch, nein, der Mensch im Katzenkörper in die Küche, genau an Mickys Mutter vorbei. Schnell schnappte er seine Deutsch- und Mathe-Bücher, raste zur Tür und – blieb in der Katzenklappe stecken. Seufzend zog der seinen Kopf aus der Klappe heraus. Da erblickte er das offene Fenster – und da kam auch schon der Bus, wie ein orange getigerter Blitz raste er hinter dem Fahrzeug her. In der Schule angekommen, versteckte er sich im Rucksack seines Freundes Roland. Als dieser im Klassenzimmer war, sprang Micky auf seinen Platz und starrte ruhig auf die Tafel, ohne auf die erstaunten Blicke der Mitschüler zu achten. Doch als Micky bemerkte, dass auch die Lehrerin ihn anstarrte, fragte er bissig: „Na, noch nie eine Katze gesehen?“ „Wer ist denn hier eine Katze? Ich sehe nur ein zwölf­ jähriges Kind, das rote Haare hat und eindeutig zu viel Selbst­ bräuner verwendet hat.“


Professor Tutnix marschiert in die Schule. Er ist glücklich, denn alle seine Schüler haben die Matura ­geschafft. Das erste Mal nach zehn Jahren!!!! Wenige Meter vor ihm lässt eine Frau eine Bananenschale fallen. Professor Tutnix ist ganz versunken in sich selbst. Er träumt von seinem Urlaub in Griechenland. Plötzlich tritt er auf die Bananenschale und rutscht aus. Die Maturaarbeiten fallen in den Dreck.

Am Weihnachtsabend saß ein Bettler in London auf der Road Street. Er war eingeschneit, und seine vom Fieber rote Nase hatte er in den verdreckten Mantel gegraben. Er fror, und niemand beachtete ihn. Er war ein Nichts auf dieser großen weiten Welt. Ein Menschenleben, das den nächsten Tag nicht mehr sehen würde. Doch vielleicht war es gut zu sterben? Sein Leben hatte keinen Sinn mehr. Er blickte in den Himmel, und über ihm schien der Vollmond. Als er den Blick senkte, stand ein hässlicher Streuner vor ihm. Sein Fell war verdreckt und zerzaust. Dem Tier hing ein unerkennbarer Fetzen aus dem Maul. Der Bettler beugte sich zu dem Hund, um zu sehen, was er im Maul trug. Es war ein aufgerubbelter Lottoschein. Unter dem Dreck wurde eine Zahl sichtbar. Eine Millionen Pfund. Seine Augen wurden glasig … In diesem Moment drehte sich der Hund um und stürzte los. Der Bettler raffte sich auf und rannte dem Streuner nach. Nicht jetzt! Er durfte den Lottoschein nicht verlieren. Er rannte und rannte, schließlich blieb der Hund stehen. Er stand vor der Lotterie. Der Mann blickte dem Hund in die bernsteinfarbenen Augen und nahm ihm den Schein aus dem Mund. Er betrat die Lotterie. Er öffnete die Tür in ein neues Leben. Als er aus der Lotterie trat, die Taschen voller Geld, rief er laut: „Es ist Weihnachten!“ Viktor Parker blickte den Hund an und sagte: „Wir zwei schaffen das!“ Twice und sein Herrchen gingen durch die dunklen Gassen Londons, doch in ihren Herzen war es warm. Twice – das heißt „zu zweit“!

Nichts Das Eis schmilzt, die Gletscher sinken. Die Menschheit lebt einfach weiter und denkt nicht mal nach. Die Wüsten wachsen, doch sonst wächst nichts. Alles verschwindet. Und da bleibt nichts. Die Erde ist erschöpft. Wir beuten sie aus. Doch niemand merkt es. Die Autos verpesten unsere Luft. Niemand will ihren widerlichen Duft riechen. Die Ernte fällt aus und nichts gedeiht. Bis zu einem Wunder ist der Weg noch weit. Doch wovon willst du leben, Mensch, wenn die Erde verzagt???

Hollabrunn, 1. 11. 2001 Ich mag Hunde Du bist dämlich Wir wohnen in einem Haus Sie sind reich

Was mein Handy über mich erzählt Hallo, ich bin ein Samsung Galaxy Ace, und auf meinem Bildschirm ist das Foto eines Hundes, das am 30. 6. 2013 um 17 Uhr aufgenommen wurde. Meine Halterin schreibt viele SMS. Jeden Morgen um sechs muss ich sie aufwecken. Dienstags und samstags erscheint auf meinem Bildschirm das Wort Hundeschule. Am meisten telefoniert sie mit ihren Freundinnen. Meine Halterin ist gut abgerichtet, ich muss nur pfeifen – und schon lädt sie meinen Akku auf. Oder wenn ich sie aufwecken muss, springt sie sofort aus dem Bett und drückt auf „ablehnen“. Wahrscheinlich, damit ich mir meine Lautsprecher nicht wund krähe. Ich weiß sehr viel über meine Halterin, weil sie es ja mir immer aufschreibt. Aber wenn ich alles aufschreiben würde, würde sie mir sicher den Akku rausnehmen.

Schreibakademie HOLLABRUNN

Das Weihnachtsmärchen

51

Sophie Winkler

Die Bananenschale


Schreibakademie HOLLABRUNN

Sophie Winkler

52

Der Mars

Straßenbefragung

Du warst frei und unentdeckt Doch du hast dich nie versteckt Benannt bis du nach dem Kriegsgott Mars Viele bissen für deine Entdeckung ins Gras

Frage: Was denken Sie über die Politik? A: Ich bin mit dieser Frage überfordert! B: Die Politik? Die wird immer blöder! Die streiten sich nur alle, die Parteien, das ist nicht gut für das Volk. Ich hoffe, dass sich was ändert! C: Politik ist etwas Wesentliches! Man sollte sich dafür interessieren! D: Eine Katastrophe. E: Politik ist wichtig! Man muss aber ehrlich sein. Und Meinungen müssen ernst genommen werden! F: Politik ist für mich enttäuschend. Sie braucht eine traditionelle Haltung in Sachen Bildung. Die Politik hat/braucht keine Farbe. Die Ministerin ist ein Schmarren. Ich als Lehrer würde sogar Prüfungen ablegen! Die Neos sind vernünftig, aber die FPÖ(!!!) ist sehr unvernünftig. Sie verbreitet Unwahrheiten über das heute sehr einflussreiche Internet. G: An der Politik bin ich nicht interessiert. Das ist ein einziges Theater! Außerdem wird eine einzelne Stimme eh nicht gehört. Wir: Aber wählen gehen Sie schon, oder?! G: Natürlich gehe ich wählen, manche Parteien sind ja gar nicht sooo schlecht … H: Das Land braucht bessere Gesetze! Die Politiker sollten mehr für das Volk da sein. I: Was ich über die Politik denke? Gar nichts mehr! J: Ich denke Positives mit kritischen Anmerkungen: Ich bin gegen die Korruption und ebenfalls gegen „Freunderlwirtschaft“. Wir: Danke für Ihre Meinung und Offenheit!

Du hast zwei kleine Söhne Phobos – Deimos ich nicht verhöhne! Doch bald schickte man auf dich, Mars, Roboter Denn wir brauchen dich wie das Ei den Dotter! Wenn die Erde versagt Besiedeln wir dich – Doch wir haben dich nie Gefragt

Der Alltag eines Stars Morgens weckt sie auf ein goldener Wecker, Diener machen das Frühstück ganz lecker! Drei Stunden Styling im Bad Doch schöner sind sie auch danach nicht grad. Shoppen geh’n sie drüben in Paris, Einheimische Shopping-Center sind für sie Verlies. Termin beim Schönheitschirurgen um 16 Uhr Neue Nase und keine Falten nur. Beim Dinner gibt’s leider nur Barsch, Das Promileben ist echt für’n Arsch!!!

(Sophie Winkler/Janina Lörinczi)

Wolfsbruder (Erarbeiten eines Klappentextes) Als kleines Mädchen wird Iona von einer Wölfin verletzt und ihr Vater tötet den Wolf. In letzter Minute wirft die Wölfin ein Junges, und das Blut der Wölfin spritzt in Ionas Wunden. Von dem Moment versteht sie Wölfe und bekommt den Auftrag, den Wolfswelpen wie ihren Bruder zu behandeln.

(Sophie Winkler/Janina Lörinczi)

SCHREIB AKADEMIE


SCHREIB AKADEMIE

HORN Klasse Rudolf Aubrunner

53

DIE SCHÜLER_INNEN Elliott Chan Kerstin Fischer Angelika Freitag Fabian Stummer Crystal Tiki


SCHREIBAKADEMIE HORN

Schreibakademie HORN

Es gibt uns, hier in Horn, offiziell seit dem Herbst 2010, denn vorher haben wir uns ein Semester lang inoffiziell, einmal wöchentlich, getroffen und ­unsere Schreibstunden absolviert. Man weiß in der Stadt, dass es uns gibt, weiß, dass hier talentierte, interessierte und engagierte junge SchreiberInnen von 14 bis 18 Jahren am Werk sind, die auch öffentlich schon aus ihren Werken vorgelesen haben. Wir konnten, dank der großzügigen finanziellen Unterstützung der Stadtgemeinde Horn und der Umsetzung durch den Herausgeber der weithin bekannten und renommierten „Edition Thurnhof“, Toni Kurz, im Juni des Jahres 2011, beim Abschlussfest der Niederösterreichischen Kreativakademien in Horn, einen Sammelband mit dem Titel „Leidenschaften“ präsentieren, mit ­unseren Texten und dazu passenden Illus­trationen von SchülerInnen der Malakademie. Man hat ihr, der Literatur, bereits in den turbulenten sechziger ­Jahren des vergangenen Jahrhunderts, den Totenschein ausstellen wollen, immer und überall wurde vom „Tod der Literatur“ gesprochen, doch man hatte, voreilig, stürmisch und blind, wie man war, die Rechnung ohne die Literatur selbst gemacht, denn sie – der Speicher und das Archiv der menschlichen Ängste, Träume, Sehnsüchte, Begierden, Bestandsaufnahmen und Fantasien vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeit – lebt noch immer, wird noch sehr lange leben und gibt, dank der jungen SchreiberInnen hier in Horn, wie auch in den anderen Schreibakademien Niederösterreichs, ­kräftige Lebenszeichen von sich und wird das auch weiterhin tun.

54

Als eindrucksvoller Beweis dessen mögen – neben den Einzel­ beiträgen der SchreibschülerInnen – die von uns, in konsequenter Gemeinschaftsarbeit, von September 2013 bis April 2014 entstan­ dene Kriminalerzählung „Hotel Excelsior“, die Gedichte, Prosatexte und Mikrodramen dienen, in denen wir verschiedenste formale, sprachliche und inhaltliche Experimente durchgeführt haben.

SCHREIB AKADEMIE


Geboren 1958 in Altenburg/NÖ, Matura in Horn, Arbeit in verschiedenen Berufen, seit 2005 freier Schriftsteller; seit September 2010 Leiter der Schreib­ akademie NÖ in Horn; seit Februar 2011 Leitung einer Schreibgruppe im Therapiezentrum Gars/Kamp; seit 2003 Arbeit an der mehrtausendseitigen, noch unveröffentlichten Romantetra­ logie „Der Ernst des Sterbens“; Lesungen (Wien, „Alte Schmiede“); Publika­ tionen in Zeitschriften („Literatur und Kritik“); zuletzt „Lecram, Ich, Marcel; Hommage à Proust“ (Edition Thurnhof, Horn, 2010).

Über die Arbeit mit meinen SchreibschülerInnen: „... Wir sind einander, aus verschiedenen Richtungen, Zeiten und Köpfen kommend, begegnet, haben uns, vorerst einander noch fremd, langsam kennengelernt und gehen nun, schreibend, ein Stück des Weges miteinander, wir reisen, ausgehend von berühmten Eröffnungssätzen, immer wieder durch die Literaturgeschichte, durch Bücher und die Lebensgeschichten von AutorInnen, wir analysieren die Worte und die Struktur von Gedichten und Prosatexten, denn so wie Schreiben Lesen heißt, heißt Lesen auch Schreiben, und wir schreiben jede/jeder in seiner Einsamkeit, für sich, wir schreiben aber auch miteinander, Prosa oder Gedichte, wir lernen von­ einander und beeinflussen uns gegenseitig, ich nehme jede/jeden dort auf, wo sie/er gerade steht, wie sie/er gerade schreibt, und versuche, wenn sie/er es notwendig hat, ihr/ihm weiterzuhelfen und sie/ihn zu ermutigen, um weiterzukommen, weiterzureisen, weiterzuschwimmen im unendlichen Meer der Buchstaben, Wörter und Sätze, versuche, den Blick auf die Wirklichkeit, auf literarische Werke, auf die Sprache und auf die Form zu schärfen, jede/jeder soll, nach jeder Stunde, etwas Neues erfahren haben und mitnehmen, und sollte mir das ­alles, auch nur teilweise, also in Ansätzen, gelingen, so habe ich mehr erreicht, als ich mir, in meinen Träumen, zu erhoffen wagte ...“

Schreibakademie HORN

RUDOLF AUBRUNNER

55


56

Über mich

Mein Beizeich

Elliot Chan

Schreibakademie HORN

ELLIOT CHAN

Ich heiße Elliott Chan und schreibe seit meinem sechsten Lebensjahr. Mit 15 trat ich der Schreibakademie Horn bei und entdeckte die Lyrik.

Ein vermodernder Baum Steht seit vielen tausend Jahr an dem­selben Orte Altert kaum Und fristet ein Dasein fern von Ausdruck oder Worten Seine Blätter scheiden zur Dürre dahin Aus seinen Ästen weicht das Leben Er existiert ohne jeglichen Sinn Für die Unendlichkeit und darüber hinaus An einem Orte, fern von Raum und Zeit, Ist für ihn nah Was für uns unendlich weit Und was von uns noch niemand sah Obwohl ich schon dort gewesen An diesem Ort, der so fern des Alls, Wo existieren keine Wesen Und der Klang ist fern des Schalls Denn in den Gedanken Wird das eigene Universum kreiert Und während andere Welten schwanken, Ist es diese Unerreichbarkeit, die ewig existiert


Echtes Leben

Kein Erachten

Wie der Tau an manch kaltem Wintermorgen So eisig kühl verlassen So werden die Sorgen Ihr Sein nicht mehr erfassen

Schenkest du in einem Moment verharrter Augenblicke Kein Erachten gegenüber den Bäumen und Flüssen Du, Schöpfer

Kein Erblassen Voll Ehrfurcht in neue Zeiten Neue Wunder so fatal neu erfassen Und in die Zukunft leiten Probieren nicht messbare Zeit zu verstehen Den Horizont erweitern Über alle Grenzen gehen Und mit gedanklichen Elevationen erbauen neue Leitern Und jeden Tag aufs Neue Erkennen, erfassen, probieren Bis meine Zeit aufhört zu existieren

Der Titanen große Pläne zerstöret Der Pyramiden Konstrukt mit Gelassenheit durchschaut Festhalten, nicht abtreten willst du Keine Erlösung schenkend arbeitest du in die Unendlichkeit Das Leben gewaltig wie ein donnerndes Geröll Und zugleich schwach wie ein alter Mann, der vor dem Sterben steht Ansicht ist es Darum fürchte ich nicht des Lebens Zügeln So einzigartig wie jedes Sandkorn, jeder Augenblick in die Zeit gefallen Wie ein schwerer Felsen große Eindrücke mitreißend Der Mensch und nicht Stock und Stein sich zeitlich zu verändern weiß Darum mutet derselbe Ort, Obwohl er über die Jahre geblieben gleich, Nun an, als wäre er von einer anderen Welt

Der Jaguar Festgehalten in einem endlosen Tunnel Meine Ängste erstrecken sich in einem Schatten Im Ort ohne Licht Ich laufe wie ein Jaguar hinein in das Schwarz Nur manchmal Erkenne ich Lichter Bodenlose Türme

Brennendes Wasser Sehbare Luft Geplagt und gepeinigt zerspringen meine verseuchten ­Gedanken zersplittern in tausend Scherben Jede einzelne explodiert in einem Urknall, Der andere Existenzen Mein Schicksal spüren lässt Die Uhr ohne Takt schlägt die Stunde Null Und Todesangst entfesselt sich in den Hüllen des Geists

SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie HORN

Totale Stille Im Raum des Seins Glasklarer Wille Wird mit der Reinheit eins

Werden die Berge zu Sand Die Ozeane zu Regentropfen Bei deiner einzig leichten Berührung

57

Elliot Chan

Totale Isolation Im Raum zwischen Zeit und Realität Jeder Klang jeder Ton Mit absoluter Einzigartigkeit versehen

Spiegelt sich all das Leben in deinen Prophezeiungen Habe ich keine Furcht diese kristallene Kugel fallen zu lassen


Schreibakademie HORN

Elliot Chan

58

Nur für Augenblicke

Wenn das Individuum

Heldenhaft ist jener Der in den Finsternissen seines ­Lebens Den schwarzen Abgründen Den Blick auf das weite Meer wirft Nur die Tugend liebend

Wir alle basieren auf unserer eigenen Galaxie Die Wahrnehmung, die Welten ändern mag, Ist bei jedem Individuum Komplett verschieden und deshalb neue Welten schaffend

Alle Ängste durch einen Tunnel ­begleitend Wie Motten das Licht Das Ende manisch sucht Bis man angelangt ist

Tiefe Nacht so finster Alle Wesen und Orte erscheinen mir auf eine fast göttliche Weise Unerreichbar

Und dich gefunden hat, du großes Glück Und die Palme jenem winkt Doch denkt man gewollt zurück Wird das Unheil einen auch in den Träumen verfolgen?

Mir ist als ob nur ich das Zentrum Und in dieser Nacht Wenn ich irrend kein wahres Leben finde Es keine Seele wird

Angst sei einem alles Nur für Augenblicke Das Haupte bewohnend Die Gedanken ersetzend Die für das Individuum als alle Welt bestehen Als wäre alles, was man jemals erlebt Nie geschehen Als hätte man, vor diesem Moment, Im Herzen niemals gelebt

Fast schon, als ob nur ich existierte Und alle Personen und Wesen Einfach in der Nacht erstarrten und verschwänden Sah ich manch vertrauten Ort mit Kinderaugen Anders als er sich mir jetzt offenbart Erlöschen sich meine Hoffnungen, Die mir sentimental in meinen Träumen erschienen Erkennt man das Wahre Das Licht am Ende des Tunnels, der nie enden mag, Und in einer endlosen Spirale leitend, Bevor man es, für wahr glaubend, sehnsüchtig erreicht, alles Leben zurückführt und im Herzen auch Totes mit sich trägt Doch es spielt keine Rolle Denn wenn der Mensch stirbt Ändert das nichts im Universum Nichts geht verloren

SCHREIB AKADEMIE


Was ist Schreiben?

59

Schreiben ist Arbeit, aufwenden von Zeit, aufwühlend, vielfach kritisch betrachtet, manchmal gelobt, oft hinterfragt, analysiert, unverstanden. Trotzdem ist es für mich eines der befreiendsten Gefühle der Welt.

Kerstin Fischer

17 Jahre alt. Stier. HAK-Schülerin. Launisch, unberechenbar, selbstlos, stur, begeisterungsfähig, ehrlich, loyal, nachdenklich, humorvoll, emotional, zielorientiert, pessimistisch.

Schreibakademie HORN

KERSTIN FISCHER

Das Hineindenken in eine völlig andere Welt, diese möglichst detail­getreu in schönen fließenden Sätzen nieder­zuschreiben, um einen Film im Kopf zu erzeugen, der es möglich macht, einen staunen zu lassen, der Realität zu entfliehen, etwas anderes als das Leben kennen zu lernen. Möglicherweise erschafft man somit eine neue Welt, in die man sich retten kann, wenn der Moment ausweglos scheint und der Tag trist und grau, im unmöglichen Chaos endet. Schreiben ist Leidenschaft.


Schreibakademie HORN

Schwarz – Weiß

Kerstin Fischer

60

Ich schloss die Augen. Die letzten Tränen suchten ihren Ausweg. Ich ließ ihn nicht zu. Vor meiner Familie wollte ich einfach nicht mehr weinen, keine Schwäche zeigen. Nicht vor Mum und Dad, nicht vor Mary und auch nicht vor Tim. Unbewusst krallen sich meine Hände in die dünne Bettdecke, die sich wie Papier anfühlte auf meiner Haut, ein Schauer nach dem anderen ließ mich erzittern. Und als eine warme und zugleich kalte Hand über meine Stirn strich, zuckte ich zurück. Sie wussten doch, dass ich keine Berührungen ertragen konnte. Nicht jetzt, nicht mehr. Das Beruhigungsmittel wirkte, die ersten weißen Sternchen tanzten vor mir auf und ab, dann wurde alles schwarz. Wie durch eine Nebelwand, die alle Geräusche verschluckte und abdämpfte, hörte ich meine Schwester leise kichern. Mein Bruder stieß einen spitzen Schrei aus, wie er es so oft getan hatte, als Mary oder ich ihn kitzelten. Früher natürlich. Früher, als ich noch nicht krank war, sich meine Mutter nicht stundenlang um mich kümmern musste und wir alle Zeit ­hatten für das Nesthäkchen Tim. Damals, als mein Dad mir gerade das Fahrradfahren beibringen wollte und ich ständig Angst hatte, dass er mich loslassen würde. Als wir alle jeden Sonntag zusammen gesessen sind, Memory oder Mensch ärgere dich nicht gespielt hatten und meine Schwester über ihren Kakao gemeckert hatte, weil er nicht süß genug war. Früher. Beim Klang der Stimme meiner Mutter zucke ich zusammen und suche nach ihr und ihren wunderschönen blauen Augen, wofür ich sie schon immer beneidet habe. Wie ich sie vermisse, meine Mum. Die Mum, die noch über alles lachen konnte und für jeden Spaß zu haben war, die noch nicht mit einem

von Sorgenfalten geprägten Gesicht den Tag bestritt und schon beim ersten Kaffee darüber nachdenken musste, ob es der letzte für mich sein könnte. Schon damals hatte ich mich immer schon früher aus dem Bett geschlichen und gewartet, bis sie in die Küche kam, nur um ihr einen guten Morgen zu wünschen und sie zu umarmen. Ich wusste, dass sie das beruhigte. Es wurde zu einer Art Ritual, und jedes Mal, wenn ich nicht erschien, wusste meine ­Mutter sofort, dass etwas nicht stimmen konnte. Außerdem waren es für mich die schönsten Stunden des Tages, einfach dazusitzen mit meinem Lieblingskakao in den Händen, gegenüber von meiner Mum und schlicht und einfach nur zu reden. Irgendwann, ich kann mich noch gut erinnern, begann sie mir kleine Marshmallow­ würfelchen zu schneiden und sie mir in den Kakao zu werfen, wie wir es in den amerikanischen Filmen immer gesehen hatten. Ich weiß heute noch, dass ich sie anfänglich immer misstrauisch herausgefischt und begutachtet habe, bevor ich sie einzeln in den Mund gesteckt und zerlutscht habe. Was meiner Mutter natürlich immer gut gefallen hat, da ich sie nie gekaut habe. Wirklich nie, ich habe immer gewartet, bis sie mir auf der Zunge zergehen. Ich weiß nicht, ­warum, vielleicht weil ich meiner Mutter ein Lächeln aufs Gesicht zaubern wollte. Es machte sie glücklich, wenn sie sah, dass ich an etwas Freude hatte. Ach, Mum, ich liebe dich. Durch den dichten Nebel erblickte ich eine Hand, ich konnte jedoch nicht zuordnen, wessen es war. Erst, als sie meine erreichte und umschlang, konnte ich fühlen, dass es die von meiner Mutter war. Überrascht strich ich sanft über ihre Handfläche und wunderte mich, warum mir diese Berührung nichts ausmachte, nein, ich genoss sie sogar. Ich blickte nach oben, dorthin, wo ich ihren Kopf vorzufinden hoffte, und wurde nicht enttäuscht, sie lächelte mich liebevoll an und sagte etwas. Jedoch verstand ich nicht was, ich sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten. Leicht traurig schüttelte ich den Kopf und zuckte mit den Schultern. Sie jedoch lachte nur ­erneut und strich mir mit der linken Hand durch mein Haar. ­Erschrocken darüber, dass sie nicht über ein Meer aus Stoppeln fuhr, tastete ich selbst über meinen Kopf und fühlte mein ehemals langes karamellfarbenes Haar wieder, dass mir sogar bis zu den Schultern reichte. Dann sah ich an mir selbst herab und betrach­ tete das weiße Kleid, das ich anhatte. Wie ich es vermisst hatte. Es war mein Lieblingskleid gewesen, als ich mich noch schön fand. Ich hatte es jeden Tag getragen und bin vor meinem Spiegel stolziert, als wäre ich eine Ballerina. Dann kam der Tag, als meine Haare stellenweise immer lichter wurden und ich meinen eigenen Anblick nicht mehr ertragen wollte. Zu dieser Zeit hatte ich mich und meinen Körper fast schon gehasst. Nur mein Dad hatte mich immer wieder ermuntert und mich seine kleine wunderschöne Prinzessin genannt. Ich hatte es geliebt, wenn er mich so nannte, und war dann immer auf seinen Schoß geklettert und wollte, dass er mir von früher erzählte, von den Zeiten, in denen er noch jung


Als ich Tims Gelächter hinter mir zu hören glaubte, drehte ich mich um, noch immer Mums Hand haltend, und freute mich, dass der Kleine auf mich zugerannt kam und sich an meinem Arm fest­klammerte wie ein Äffchen. Auch Dad kam auf uns zu und legte mir und Tim, der zwischen uns stand, seinen Arm beschützend um die Schultern. Dankbar lächelte ich ihn an und kuschelte mich zum ersten Mal seit Monaten wieder an ihn. Ich genoss den Geruch nach seinem Lieblings­ aftershave, der sich mit dem leichten Geruch nach Farbe mischte und mich an sein Atelier erinnerte. Liebevoll gab

Jetzt wusste ich auch, woher ich diesen Weg kannte – früher war ich jeden Sommer mit Mary hier gewesen. Ach Mary, manchmal habe ich wirklich vergessen, dass du eigentlich meine Schwester bist und nicht meine beste Freundin. Ich glaube, ich habe dir ­damals jedes kleinste Detail, das in meinem Leben passiert ist, erzählt. Ich weiß noch, damals, als Mum mich das erste Mal mit­ genommen hat zum Einkaufen und sie dir gesagt hat, dass du auf mich aufpassen sollst. Du jedoch hast mich nur angegrinst, sofort meine Hand genommen und bist mit mir davongelaufen, bis zu den Rolltreppen, vor denen ich zu große Angst hatte, um sie zu benutzen. Für mich war es etwas ganz Neues, dass sich Treppen automatisch bewegten, und so sah ich einfach eine ganze Weile nur zu, wie die Menschen um uns herum mal hinauf- und mal hinabfuhren, und das ganz ohne die geringste Spur von Furcht. Du hast damals einfach meine Hand gehalten und gewartet, weil du es geahnt hast, du hast genau gewusst, dass ich es schaffen würde. Ich war dir dankbar, und als ich die ersten unsicheren, tapsenden Schritte gemacht und gemerkt hatte, dass nichts Schlimmes passieren würde, sprang ich mit einem letzten erlösenden Satz auf die erste Treppe und riss dich erbarmungslos mit, was dich zum Lachen brachte. Verwundert hatte ich dich damals angesehen, ich verstand nicht, warum dir deswegen zum Lachen zumute war, aber ich war glücklich, weil du es warst. Als ich schließlich deine Arme spürte, die sich von hinten um mich schlangen und in eine Umarmung zogen, wusste ich, dass alles gut werden würde. Der Weg, auf dem wir uns noch immer befanden, wurde auf einmal stetig heller erleuchtet und schien mich zu sich zu ziehen. Ich blickte mich um und merkte, dass sie hinter mir stehen geblieben sind. Mum neben Dad, ihre Arme liebevoll auf Tims Schultern, Mary neben Tim. Ein letzter fragender Blick genügte, ihr würdet mich ab hier nicht weiter begleiten. Ich nickte euch dankend zu, die ersten Tränen perlten über mein Gesicht, tropften zu Boden. War es ein Abschied für immer? Ich wollte nicht gehen, es gab noch so viel, was ich erleben und tun wollte, mit euch. Ihr jedoch habt eure Hände gehoben, mir alle zugelächelt,

Schreibakademie HORN

er mir einen Kuss auf die Stirn, nahm anschließend meine rechte Hand in seine linke, und so gingen wir ein Stück. Mum, ich, Dad und Tim zwischen uns. Der Nebel schien sich endlich zu lichten, und langsam konnte ich sogar erkennen, dass wir auf einem Wanderweg unterwegs zu sein schienen. Mit der Zeit kam mir dieser Weg immer bekannter vor, ein Fluss folgte nebenbei seinem eigenen Ziel, links gesäumt von dichtem Grün und rechts von verschiedenen Feldern, die im Moment keine Früchte trugen. Weiter vorne zeigte sich ein umzäuntes Gebäude, dass mir früher immer Angst gemacht hatte, nachdem Mary mir eingeredet hatte, dass es dort spuken würde. Seitdem hatte ich immer einen großen Bogen ­darum gemacht, jetzt jedoch, in Begleitung meiner Familie, schien es wie ein normales Wohnhaus, was es schließlich auch war. Ich lachte leise über meine eigene Dummheit.

61

Kerstin Fischer

war und volles Haar hatte, wie er immer betonte. Er übertrieb natürlich meistens und erzählte mir von den abenteuerlichsten Geschichten, die ihm einfielen und das nicht zu knapp. Ich hatte Dad immer bewundert für seine Kreativität, und nicht nur einmal war ich ihm unerlaubter­weise in sein Atelier gefolgt, um ihm beim Zeichnen zuzu­sehen. Manchmal nahm er mich Huckepack auf seine Schultern und ließ mich an einer richtigen Staffelei malen, er lobte mich jedes Mal, obwohl ich wusste, dass es nie etwas Besonderes war, das ich gezeichnet hatte. Und doch machte es mir immer eine Freude, wenn er zu übertreiben begann und damit prahlte, dass ich der Picasso des 21. Jahrhunderts sei. Ich liebte ihn dafür. Er schaffte es immer, meinen Tag zu retten, wenn ich schon dabei war, wieder ins Bett zu kriechen und die ganze Welt zu hassen. Aber auch Tim schaffte es immer wieder, wenn er mit seinem kleinen Gokart, dass durch Dads Engagement Gummireifen hatte und somit keinen Lärm machte, in mein Zimmer rollte und so tat, als wäre er mein Prinz, der mich mit seinem Auto erobern wollte. ­Natürlich spielte ich sein Spiel immer mit und ließ mich von ihm durch das Haus kutschieren, nicht jedoch, ohne ihn danach fast zu Tode zu ­kuscheln.


gewinkt, und ich trat mit einem letzten geflüsterten „Ich liebe euch“ in das Licht und dachte darüber nach, warum ihr alle so glücklich und zufrieden seid, obwohl ich gehen muss. Dieser Gedanke zerriss mich innerlich, und ich kämpfte mit den Tränen, bis mein Widerstand zusammenbrach, ich allen meinen Gefühlen ihren Lauf ließ und … aufgab.

Unglaublich Ich sehe die Welt Nicht mehr als richtig Mehr falsch als wahr, Mehr verschwommen als klar, etwas sonderbar? Auf den Kopf gestellt, Verdreht, vertauscht, Voll Misstrauen und Täuschung. Vergessener Respekt zwischen den Worten, Ungesagter Neid, verlorenes Vertrauen Kann man euren Worten denn noch trauen?

Schreibakademie HORN

Erklär mir nicht, du weißt es besser, Vielleicht ergeht es dir nur so, Denk darüber nach, Sieh doch über das Normale hinweg, Die Welt scheint nur perfekt. Erkenne die Dinge, die sonst verborgen sind, Sieh genau hin, lass dich nicht täuschen, Mit klaren Augen die Wirklichkeit sehen, Die Menschen, die sich dir nicht in den Weg stellen, Die, die dir ausweichen ohne viel Wellen, Oder kleine Naturschönheiten, die du sonst ignorierst.

Kerstin Fischer

62

Verstehst oder siehst du die kleinen Dinge? Erkennst du das Wunder hinter dem Sein, die Vollkommenheit der Dinge, die verborgen scheint? Und dieses Denken, kann doch nicht sein, Egozentrisch, egoistisch, kleinlich, auf den eigenen Vorteil aus, übertrieben und verlogen, bis der Status in der Gesellschaft errungen ist. Warum regiert euch der Hass? Der Hass, der alles niedermacht, Die Liebe beendet, die Freundschaft zerteilt, Brüder entfremdet und Familien entzweit, Vergessen die Liebe, geboren der Neid, Durchzogen von Wut und Angst vor dem Fremden, Entblößt unter kleinlichem Denken. SCHREIB AKADEMIE

Den Egoismus beenden, gemeinsam besinnen, Freude schaffen, hinter die Dinge sehen, analysieren und verstehen.


SIE

Es kommt mir vor, als hätte ich mindestens Jahre geschlafen. Trotzdem bin ich so müde, dass ich nicht einmal

versuche, die Augen zu öffnen. Ich kann noch nicht einmal meine Finger bewegen oder meinen Kopf zur Seite drehen, weil die Müdigkeit noch immer meine Knochen zu durchdringen scheint. Als ich kurz den Geräuschen um mich herum lausche, stelle ich fest, dass es sich anhört wie in einem Krankenhaus und, wie um das zu bestätigen, wird eine Tür aufgerissen, und es hört sich an, als würde eine ganze Fußballmannschaft hereinstürmen. Auf einmal fühle ich, wie Bewegung in meine Hand zu kommen scheint, jedoch ist es nur die von jemand anderem, die meine gehalten hat. „Es tut mir leid, wir können eine Milzruptur leider nicht ausschließen. Jedoch konnten wir feststellen, dass zwar die Kapsel und das Milzgewebe verletzt sind, die Blutung jedoch nicht besonders stark ist, da nur kleinere Blutgefäße betroffen sind“, ertönt wieder die tiefe Stimme. „Und was kann man dagegen tun?“, fragt sie mit müder Stimme und trotzdem siegt die Besorgnis. „Wir werden es per Ultraschall kontrollieren und abwarten. Die Blutung wird oft durch die körpereigene Blutgerinnung gestoppt. Ist dies nicht der Fall, wird operiert. Im schlimmsten Fall müssen wir die Milz entfernen“, erklärt er in einem wissenden Ton und ich kann ihn schon jetzt nicht ausstehen. „Kann … kann sie daran sterben?“, setzt sie mit dünner Stimme fort, und ich höre sofort, dass sie den Tränen nahe ist. „Das können wir sicher ausschließen, da die Milz nur eine Verletzung von Grad 2 erlitten hat“, fügt der Mann hinzu, und dieser Aussage folgt von scheinbar jeder Richtung ein zustimmendes Murmeln. Was ich nicht mitbekomme, ist, dass sie nickt und sich die kitteltragenden Möchtegern-Ärzte zur Tür begeben. „Oh Schatz, bitte wach doch auf, ich liebe dich doch“, ohne Vorwarnung schluchzt sie schließlich los, klammert sich an meine Arme und legt den Kopf auf meine Schulter. Mich durchzuckt ein Schmerz. Keiner, der mit meinen äußeren Verletzungen zu tun hat. Ein stetiger Stich ins Herz, der mich – so scheint es – an etwas erinnern will, aber ich weiß beim besten Willen nicht, woran. Ich höre noch, wie die Tür erneut aufgeht und jemand in typischen Krankenschwestern-Clogs-Schritten ins Zimmer kommt. Dann vernehme ich sie erneut direkt neben mir und lausche, während sie etwas auszutauschen scheint. Kurz nachdem sie gegangen ist, merke ich, dass sie mir ein Schmerzmittel verabreicht hat, und genieße das Gefühl, während sie verschwinden, bevor mich der Schlaf erneut übermannt. Als ich das nächste Mal aufwache, fühle ich mich zwar noch immer, als hätte mich gerade ein LKW überfahren, aber trotzdem irgendwie besser. Ich schaffe es sogar, meine Augenlider anzuheben und versuche zu blinzeln, aber es hilft nicht viel, meine Sicht ist so verschwommen, dass ich mich fühle, als würde ich durch Brillengläser sehen mit zu starken Dioptrien. Mein Hals kratzt und mein Mund ist noch immer ausgetrocknet. Seltsamerweise habe ich das Gefühl, als würde ich bei lebendigem Leibe verdursten, aber letzt-

63

Kerstin Fischer

Ich höre Stimmen. Zwar nur leise, aber sie sind da. „… es wird eine Zeit dauern, aber es wird alles gut verheilen“, meint eine tiefe Stimme. „Was ist mit inneren Verletzungen?“, fragt jemand mit einem sanften Unterton besorgt. „Sind großteils auszuschließen. Keine gröberen Verletzungen oder Blutungen“, fährt die Männerstimme fort und stoppt abrupt. „Aber?“, unterbricht die weibliche mit zunehmender Panik. Ihre Stimme kommt mir so bekannt vor. „Aber wir können eine Milzruptur leider noch nicht ausschließen“, höre ich ihn sagen. „Was heißt das?“, fragt sie hysterisch. „Dass wir zusätzlich zum Ultraschall noch eine Computertomografie machen werden, um sicher­zugehen“, antwortet der Mann. „Ich weiß, dass es schwer für sie ist, aber ich muss sie bitten, den Raum jetzt zu verlassen“, weist er sie noch an, und ich höre, wie sie unter lautem Protest hinausgeschoben wird. Und da weiß ich plötzlich, wem die Stimme gehört: meiner Freundin. Sofort will ich schreien, dass sie sie hierlassen sollen. Bei mir. Ich brauche sie doch. Doch mit einem Mal fühlt sich mein Körper an, als wäre jeder einzelne Knochen gebrochen. Mein Schädel fühlt sich an, als würde jemand einen Nagel nach dem anderen hineinrammen. Ich fühle mich wie ein einziger lebendiger brennender Schmerz. Wie wenn ich in Flammen stehen würde und niemand versuchen würde, etwas dagegen zu tun. Meine Augen sind so schwer, dass ich sie nicht öffnen kann, und mein Mund ist ausgetrocknet. Ich bin müde, spüre eine solche Erschöpfung in mir. Langsam dämmere ich zurück in einen mit Alpträumen behafteten Schlaf.

Schreibakademie HORN

(Ausschnitte aus einem größeren Projekt)


Schreibakademie HORN

Kerstin Fischer

64

endlich siegt dieses unangenehme Kratzen, und ich beginne zu husten. Man könnte die Schmerzen, die daraus entstehen, so beschreiben, als wäre ich schlimm erkältet. Diese Art von Erkältung, bei der man glaubt, bei jedem Husten zu krepieren. Immer und immer wieder. Aufgrund dessen und gemischtmit der Tatsache, dass ich das Gefühl habe, Blut zu husten, verkrampft sich mein gesamter Körper, und mich durchzucken solche Schmerzen, dass mir ein leises Wimmern über die Lippen kommt. Ich reiße meine Augen auf und tue mein Bestes, den Würgereiz zu unterdrücken, aber der metallische Geschmack, der sich unaufhaltsam in meinem Mund ausbreitet, unterstützt mich nicht gerade dabei. Und als ich schon glaube, an meinem eigenen Blut zu ersticken, weil ich es nicht schaffe, mich zu bewegen aufgrund der Schmerzen, die mich bei jeder Bewegung durchzucken, regt sich etwas neben mir. „Claire? Schatz?“, höre ich ihre besorgte Stimme, und sofort beugt sie sich zu mir, nur um erschrocken zurückzuweichen, als sie das Blut sieht, das ich auf meiner Decke verteilt habe beim Husten. „Oh nein, oh Gott …“, flüstert sie und schnellt hoch, um hinauszulaufen und jemanden zu holen. Ich derweil schließe meine Augen, bin augenblicklich wieder erschöpft und das Einzige, das ich mir wünsche, ist nicht zu sterben. Dann sind schnelle Schritte auf dem Flur zu hören, und die Tür wird erneut aufgestoßen. Die tiefe Stimme reißt mich aus meinem Scheintod. „Schwester, bringen Sie ein Glas Wasser!“, herrscht der Arzt irgend­ jemanden an. Ich kann nicht erkennen wen, ich fühle mich, als wäre ich gerade dabei zu erblinden. Und schon spüre ich kalte Hände, die sich unter meinen Oberkörper schieben und mich aufrichten, bevor mir jemand einen Plastikbecher an die Lippen hält, sie fast schon gewalttätig aufreißt und mir den Inhalt ohne Rücksicht auf Verluste

runterkippt. Natürlich verschlucke ich mich und huste erneut, wobei ich die Umstehenden mit einem leichten Sprühnebel bedenke und ich mich hingegen erneut zusammenkrümme wie ein verletztes Tier. „Was tun Sie denn da?“, ertönt ihre aufgebrachte Stimme neben mir und schlingt ihre Arme um meinen Hals, als würde mir das helfen. Ich versuche zu schlucken, aber mein Hals fühlt sich an wie zerfetzt. Mit einem Mal mischen sich alle Schmerzen miteinander und übermannen mich erneut. Ich fühle mich einfach hilflos und hänge in ihren Armen fest, die mir trotz aller Wärme keine Beruhigung schenken. Rund um uns herrscht heilloser Aufruhr und ich kann die einzelnen Bewegungsabläufe und Geräusche nicht zuordnen. Das Einzige, das ich wirklich mitbekomme, ist, dass mir irgendjemand die Decke entreißt, weil ich mich mit meinen Händen daran klammere, und mich erneut zudeckt. Es kommt mir vor wie Stunden, bevor die Schmerzen endlich auf magische Art und Weise nachzulassen scheinen. Trotzdem fühlen sich mein Herz und mein Hals an wie malträtiert. Vorsichtig schlucke ich, merke, dass das Wasser tatsächlich geholfen hat, und bin froh, dass mir sofort wieder jemand einen weiteren Becher an die Lippen hält. Ich trinke gierig, wie ein Verdurstender in der Wüste. Dieser Vorgang wiederholt sich eine Zeit lang, und währenddessen kehrt wieder Ruhe ein, die nur durch mein gelegentliches Husten und ihr Schluchzen unterbrochen wird. Schließlich bin ich erschöpft, ausgelaugt. Der Haufen Ärzte verschwindet wieder von der Bildfläche, und ich bleibe mit ihr zurück. Sie flüstert mir so lange beruhigende, belanglose Phrasen zu und streicht mir immer wieder die Haare aus der Stirn, bis ich ruhiger werde und meine Lider schwer werden. Schon nach wenigen Sekunden bin ich eingeschlafen. […] Ohne Vorwarnung wird die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen, und ich starre entsetzt die Ärzte an, die sich in einer unglaublichen Menge hier hereindrängen. Das war also die Fußballmannschaft von vorhin. Wow. „Oh, Sie sind alleine?“, fragt der Arzt mit der tiefen Stimme, die ich schon kenne, und kommt zu mir, um mir nicht gerade gefühlvoll mit der einen Hand die Augenlider auseinanderzuziehen und dann mit einer Stablampe hineinzuleuchten, dass ich Angst habe, mich wieder zu fühlen, als würde ich erblinden. Ich nicke, da ich keine Möglichkeit habe zu antworten mit einem dieser Holzstäbchen im Mund, die Ärzte so gerne verwenden, um bei den Patienten fast einen Brechreiz auszulösen. „Sie sehen sehr mitgenommen aus. Wie fühlen Sie sich?“, stellt er weiter seine Fragen, und der Rest seiner Gefolgschaft wuselt mit wissendem Blick um mich herum. „Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, abgesehen davon, dass ich mich fühle, als würde mir jemand Nägel ins Gehirn hämmern und ich nicht mal zum Pissen aufstehen darf, eigentlich ganz gut, ja“, sage ich sarkastisch und zucke zurück, als er meinen eingegipsten Arm in die Höhe hält. „Das sind doch gute Neuigkeiten,


Zurück bleibt nur ein junger gut aus­ sehender Mann, der nicht so aussieht, als wäre er wirklich schon Arzt. Wir schauen uns eine Weile an, während ich mir Gedanken mache über meine Wunden. Ich taste mit meiner linken, unversehrten Hand zuerst über meine Stirn zur Platzwunde, die inzwischen einer Beule gleicht, und dann begutachte ich den rechten Arm. Das ist mein erster Gips. Hey, wer will unterschreiben? Haha, lustig Claire. „Kann man hier irgendwo telefonieren?“, frage ich ihn schließlich, und er schiebt sich mit einer Hand die blonden Haare aus der Stirn, bevor er

„Aber hey, hier, du darfst gerne meines haben“, sagt er irgendwann und zieht ein Smartphone aus der Tasche, das er mir reicht. „Ehrlich?“, frage ich verwundert und nehme es entgegen. „Ja, solange du es schaffst, es nicht aussehen zu lassen wie deines, gerne“, meint er und grinst. Ich bemerke, dass er sich über die Lippen leckt. „Danke“, sage ich. „Du siehst übrigens nicht aus wie ein Arzt.“ „Liegt vielleicht daran, dass ich kein Arzt werden will“, erwidert er. „Mein Vater ist hier Chefarzt, und er ist grade dabei, meine Zukunft zu planen.“ „Oh“, verkünde ich meinen nicht gerade intelligent wirkenden Kommentar und widme mich dann dem Handy. „Soll ich in der Zwischenzeit rausgehen?“, fragt er mich, und ich nicke dankbar, woraufhin er auch schon hinausmarschiert. Schnell nehme ich wieder den Zettel zur Hand und tippe die ­Nummer ab. Es tütet drei Mal, bevor jemand abnimmt. „Bredl?“, höre ich eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung fragen. „Ähm … hier ist Claire“, sage ich, weil ich sie nicht erkenne. „Oh, Claire! Wie geht es dir, warum warst du heute nicht in der Schule?“, fragt sie sofort, und ich atme erleichtert auf, als ich erkenne, dass es die Frau Bredl ist, die ich erreichen wollte. „Ich … ich hatte einen Unfall, ich bin im Krankenhaus“, erkläre ich die Situation. „Wirklich? Oh mein Gott, was ist denn passiert?“ „Das ist eine lange Geschichte, Frau Bredl …“ „In welchem Krankenhaus bist du?“, fragt sie noch, und als ich ihr den Namen genannt habe, unterbricht sie die Leitung. Oh, danke. Für das Mitgefühl. Keine drei Sekunden später kommt auch schon wieder der blonde Arzt ins Zimmer geschritten, und ich händige ihm das Handy aus. „Und, wieder alles okay?“, fragt er und setzt sich auf einen Stuhl neben dem Bett. Ich schüttle nur den Kopf und frage mich, was er von mir will. „Kann ich dir irgendwas bringen, Claire?“, fährt er fort und ich überlege kurz, woher er meinen Namen weiß, bis mir einfällt, dass er natürlich meine Krankenakte kennt. „Naja, ein paar Beruhigungstabletten und einen Lebensratgeber vielleicht?“, antworte ich sarkastisch. „Da hat wohl wer schlechte Laune“, bemerkt er, und sein Grinsen verschwindet. „Nein, nur keine Lust auf Gesellschaft. Ich find’s echt lieb von dir, das mit dem Handy und alles, aber ich wär jetzt lieber allein …“, erkläre ich ihm und lehne mich zurück in die Kissen.

Schreibakademie HORN

antwortet. „Ja, draußen im Flur, aber das wird nichts“, sagt er und lächelt mich verschmitzt aus dunkelblauen Augen an. „Ach, und wieso nicht?“, frage ich und will die Arme vor der Brust verschränken, was nicht funktioniert, da mich die Schmerzen sofort an meinen gebrochenen rechten Arm erinnern. „Tja, deshalb und weil du nicht aufstehen darfst“, meint er achselzuckend. Als Antwort starre ich ihn böse an. Verdammte Krankenhäuser.

65

Kerstin Fischer

immerhin haben Sie den Unfall überlebt, nicht?“, lächelt er mich an, während er mit seinen kalten, mit Gummihandschuhen über­zogenen Händen an meiner linken Oberkörperhälfte in der Nähe meiner Brust herumtastet. „Ja“, sage ich nur und lasse das rest­ liche Prozedere über mich ergehen. Dann steht er vor meinem Bett und sieht mich an. „Ihre Milz scheint nicht so viel abbekommen zu haben, wie anfangs gedacht. Wir werden Sie später zu einem weiteren Ultraschall abholen, um uns wirklich sicher zu sein. Einverstanden?“, fragt er unnötigerweise, obwohl ich dagegen wohl nichts tun kann, also nicke ich nur. „Außerdem haben Sie eine leichte Gehirnerschütterung erlitten, eine Platzwunde nahe der linken Schläfe und Ihr rechter Arm ist gebrochen. Die paar Schrammen, die Sie abbekommen haben, sehen schlimmer aus, als sie sind. Sie werden wieder ganz die Alte, nur Geduld“, zählt er mir meine Leiden auf, und ich bin im ­Moment über das Ausmaß des Unfalls und meiner Verletzungen so geschockt, dass ich ihn mit offenem Mund anstarre. Er jedoch lässt sich nicht beirren und geht mit seinen Kollegen hinaus, sie lassen mich alleine.


Schreibakademie HORN

„Ach so klar“, sagt er und geht, er wirkt beleidigt.

Kerstin Fischer

66

Jetzt liege ich hier und ertrinke im Selbstmitleid. Ich merke, dass mich seine Anwesenheit zumindest von meinen Schmerzen abgelenkt hat, die jedoch jetzt, da ich alleine bin, wieder mit voller Wucht zurückkommen. Warum habe ich sie nicht angerufen? Alles, was ich jetzt will, ist ihre Stimme zu hören. Noch nie zuvor habe ich mir sehnlicher gewünscht, dass sie bei mir wäre. Meine Hand nehmen und mir so lange sagen würde, dass alles gut wird, bis der Arzt kommen und versprechen würde, dass ich entlassen wäre. Zum ersten Mal seit Langem kann ich ihre Abwesenheit wirklich wahrnehmen. Ich rolle meinen Körper, so gut es geht, zusammen, als wäre ich ein Baby im Mutterleib, schlinge meine Arme – oder besser gesagt nur den linken – um meine Knie und versuche, die hämmernden Schmerzen in meinem Schädel zu verdrängen. Zeitgleich laufen mir die Tränen die Wangen hinunter und versickern in dem kratzigen, viel zu sterilen Bettzeug. Ich weiß nicht, wie lange ich überhaupt so daliege. Die Zeit scheint nicht zu vergehen. Immerhin habe ich nicht ein Mal die geringste Ahnung, wie spät es überhaupt ist beziehungsweise wie lange ich in diesem Krankenhaus schon liege. Können ja immerhin schon Tage sein. Mehr als ein paar Gesprächsfetzen und die Tatsache, dass ich Blut gehustet habe, weiß ich schließlich nicht. Sofort kommen mir meine zerfetzten, blutverschmierten Klamotten in den Sinn und mir wird schlecht. Ich erinnere mich an die letzten Sekunden im Auto vor dem Unfall. Die grellen Lichter, das knirschende Geräusch beim Zusammenprall. Die darauffolgende Gänsehaut lässt nicht lange auf sich warten, und ich beginne wieder zu zittern. Mich

überkommt ein Gefühl der Angst, obwohl ich doch hier sicher bin. Im Krankenhaus. Es ist doch vorbei. Trotzdem fühle ich, wie sich mein Körper den Zeichen der Erschöpfung hingibt. Der Stress der letzten Tage war einfach zu viel für mich, ich resigniere, hoffe, dass es besser wird. Irgendwann geht die Tür erneut auf und ich höre zwei Personen hereinkommen. „Sie können jetzt nicht einfach so reingehen, es ist keine Besuchszeit“, höre ich eine ­Schwester keifen. Sofort habe ich das Bild von der unfreundlichen, demotivierten Krankenschwester vor Augen, die mir die Infusion gestochen hat, und das nicht gerade zärtlich. „Lassen wir sie das am besten selbst entscheiden, wie finden Sie das?“, antwortet Frau Bredls Stimme. Schon kommt sie um die Ecke, sodass sie in meinem Blickfeld steht, und ich richte mich erfreut auf. „Frau Bredl!“, rufe ich glücklich aus. „Sehen Sie? Ich denke, meine Anwesenheit ist hier erwünscht“, sagt sie in Richtung Krankenschwester und läuft die restlichen Schritte auf mich zu. Die Schwester schnauft noch einmal höchst unwillig, geht dann aber und lässt die Tür extra laut ins Schloss fallen. Untypisch für eine Lehrerin beugt sie sich zu mir hinunter und zieht mich in eine Umarmung. Ich will gar nicht wissen, wie ich im Moment aussehe. Was sie jedoch nicht zu stören scheint. Sie hängt ihren Mantel auf, nimmt auf dem Stuhl neben meinem Bett Platz und wischt mir zu guter Letzt mit einem Taschen­tuch die übrigen Tränen vom Gesicht. „Ach Claire, was ist denn passiert?“, fragt sie schließlich, nachdem ich mich etwas beruhigt habe. Noch einmal erkläre ich, dass es eine wirklich lange Geschichte ist, aber sie lässt sich dadurch nicht beirren, und so erzähle ich ihr alles. Ich lasse nicht ein Detail aus und bin froh, dass sie mich ausreden lässt und mich nicht ein Mal unterbricht. Sie wartet, bis ich geendet habe, dann sagt sie: „Es tut mir so leid, Claire“, und nimmt mich einfach in den Arm. Einen Moment lang verstehe ich die Situation nicht einmal selbst. Ich liege im Krankenhaus, weil ich einen Autounfall nur knapp überlebt habe, und hänge in den Armen meiner Französischlehrerin, die mich scheinbar nur zu gut versteht – und trotzdem fühle ich mich wohl und irgendwie geborgen. Ich vergesse alles um mich herum. Verdränge die Tatsache, dass mein Kopf pocht, als hätte ich ihn gegen die Wand gerammt, ignoriere den Schmerz, der sich an meiner linken Seite zu Wort meldet. Obwohl er mir die ganze Zeit über nicht aufgefallen ist, weiß ich, dass es meine Milz ist. Wie schlimm ist es also wirklich? Sterben kann ich daran ja nicht, hat zumindest der Arzt gesagt. Aber täuschen die sich nicht auch mal? Was ist, wenn ich hier wirklich gerade die letzten Minuten mit ihr verbringe und ich vielleicht bald sterbe? Ist das möglich? Müsste ich dann nicht schon viel schlimmere Schmerzen haben? Oder werden die nur von den Schmerzmitteln überdeckt? Immerhin habe ich keine Ahnung, wie viel und was ich überhaupt bekommen habe. […]


Mein junger Transporteur begibt sich zur Tür, klopft an und wartet. Obwohl ich teilnahmslos die Decke über mir anstarre und mir vorstelle, das grelle Licht dort oben würde mich vielleicht irgendwann erlösen, bemerke ich, dass er mich ansieht. Ich denke, dieses Gefühl, angestarrt zu werden, hatte jeder schon Mal. Ich meine, wenn man sich fühlt, als würden diese Blicke Löcher in den eigenen Körper brennen und du es einfach spürst, dass dich da

Wie ich das hasse. Ich fühle mich wie eine Zahnpastatube, die aufgerollt und ausgequetscht wird. Es kommt mir vor, als würde er die Sonde mit jedem Mal tiefer in mein Fleisch drücken, und ich beiße meine Zähne zusammen. Ist ja nicht so, als würde das wehtun. Von meinem Arzt mit Namen Auer ist jedoch nicht viel zu vernehmen als ein gelegentliches „Hmm“, „Mhm“ oder „Oho“, was nicht sehr informativ ist. Also versuche ich, irgendwie unauffällig Blickkontakt herzustellen, und räuspere mich dann. „Also?“, frage ich, und er presst mir die Sonde zur Antwort nur noch fester in die Seite. Ich stöhne auf. Es nervt auf Dauer, nichts zu erfahren. Immerhin könnte ich gerade im Sterben liegen und weiß nichts, außer dass irgendwas mit meiner Milz nicht stimmt und dass der Rest meines Körpers nicht besser aussieht. Irgendwann wendet er sich zur Seite, wischt sorgfältig die Sonde ab und hängt sie fast zärtlich zurück an seinen Platz. Na, da mag wohl wer seinen Beruf. Er wirft mir einen Stapel dieser widerlichen kratzigen Papiertücher zu und lässt mich wieder einmal alleine. Wow, hey, danke für die Info. Wütend nehme ich ein paar und versuche, mich so gut es geht sauber zu machen, was nicht einfach ist mit nur einer Hand – und das auch noch als Rechtshänder. Ich fühle mich leicht behindert. Ist ja nicht so, als würde sich dieses Zeug auch mit zwei Händen schlecht reinigen lassen. Genau in dem Moment, als ich es einfach

Schreibakademie HORN

irgendjemand ansieht. Ein paar Sekunden lang ignoriere ich diese Tatsache, doch dann halte ich es nicht mehr aus und blicke abermals in seine Richtung. „Ist irgendwas?“, frage ich eine Spur zu aggressiv und beäuge ihn misstrauisch. „Nein“, sagt er schlicht und legt den Kopf etwas schief. Ich fühle mich von seinem Blick etwas taxiert, trotzdem halte ich dem stand und tue es ihm gleich. Dadurch vergesse ich, dass ich eigentlich auf ihn wütend sein sollte, aber ich merke, dass er wirklich schöne Augen hat. Es waren so richtig tiefblaue. Wie ein Eismeer, auf dem es schneit. Es schien, als würden wir uns nur dadurch unterhalten, dass wir uns ansehen. „Thomas?“ „Was?“, er reißt sich von meinen Augen los. „Du kannst sie jetzt hereinbringen“, sagt sein Vater, der Chefarzt, in geschäftigem Tonfall und hält ihm die Tür auf. Während ich noch immer irgendwo zwischen hier und jetzt bin, umrundet der blonde Thomas mein Bett und schiebt mich in den Raum an einen bestimmten Platz, den ihm der Arzt befehligt. Anschließend geht er hinaus, und sein Vater nimmt neben mir auf einem Hocker Platz. Auer, lese ich auf einem Schild an seinem Kittel. Stand das da schon die ganze Zeit? Er erklärt mir, wie ich mich hinzulegen habe, und ich drehe mich auf die Seite und ziehe das Nachthemd, das ich scheinbar vom Krankenhaus bekommen habe, hinauf, sodass er meine Milz betasten kann. Ich glaube, bis jetzt wusste ich nicht einmal, was eine Milz ist beziehungsweise wo sie ist. „Also Claire, du weißt, das Gel ist kalt – also Achtung“, sagt er und drückt mir schon, so wie es sich anfühlt, die halbe Tube auf meine linke Oberkörperhälfte. Ich zucke leicht zusammen. Es ist scheißkalt, verdammt.

67

Kerstin Fischer

„Ist das deine Art, Patienten zu behandeln?“, frage ich ihn zynisch und mir wird schlecht, weil er mich in einem extremen Tempo durch die menschenleeren Flure schiebt. „Was meinst du?“, sagt er und hält an, um an mir vorbei zum Lift zu gehen und am Knopf zu drücken. „Ach, intime Momente stören und den Leuten ein schlechtes Gewissen machen, dass sie heimgehen?“, antworte ich und stiere aus meiner liegenden Position zu ihm hinauf. „Sorry, Anordnung vom Chef“, sagt er, zuckt mit den Schultern, und ich runzle die Stirn, als mir sein kühler Tonfall auffällt. Mit einem „Pling“ gehen die Aufzugstüren auf und er schiebt mein Bett hinein. Ohne einen weiteren Kommentar wählt er, ohne hinzusehen, einen weiteren Knopf aus. Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Sagt er die Wahrheit? Sicher bin ich mir nicht, also sage ich einfach nichts und gebiete meinen aufwallenden Aggressionen Einhalt. Ein bisschen hatte er ja schon Recht, ich sollte wohl nicht allzu aufgewühlt sein bei der Untersuchung. Vielleicht verfälscht das die Ergebnisse oder so? Kann das sein? Ich habe keine Ahnung. Und während ich meinen Gedanken nachhänge, schiebt er mich unermüdlich aus dem Lift hinaus und weiter über die einzelnen Gänge. Nach einiger Zeit frage ich mich, wo er mich hinbringt, aber bevor ich ihn fragen kann, hält er auch schon an. Mein Zeitgefühl ist sowieso im Arsch.


Schreibakademie HORN

Kerstin Fischer

68

aufgeben will, steht Thomas vor mir und nimmt mir die Tücher weg, um mit einem richtigen Handtuch die Sauerei zu entfernen. Ich murmele ein leises Dankeschön, aber er zuckt nur mit den Achseln und ist schon dabei, mich abermals auf den Flur zu ­schieben. „Viele Informationen bekommt man hier nicht, was?“, versuche ich ein Gespräch zu beginnen. „Na ja, die kriegst du morgen bei der Visite“, erklärt er mir. „Das heißt, ich muss die Nacht im Unklaren darüber verbringen, ob ich vielleicht sterben werde?“, frage ich entsetzt. Da beginnt er zu lachen. „Also das kann ich dir sagen, sterben wirst du sicher nicht, Claire.“ „Sehr beruhigend, danke“, bemerke ich, lache jedoch nicht. Er ignoriert meinen sarkastischen Unterton und drückt seelenruhig auf den Aufzugknopf. „Es kann nichts Schlimmes sein, wenn du keine Tomografie machen musst“, fügt er hinzu, und da fällt mir ein, was er vorhin gesagt hat. „… falls Komplikationen auftreten.“ „Oh, also ist das ein gutes Zeichen?“ „Ein sehr gutes, ja“, er lächelt, und jetzt lächle ich einfach mit. Die letzten Meter zu meinem Zimmer verbringen wir schweigend, und nachdem er das Bett an seinen alten Platz zurück­ gestellt hat, sagt er mit einem Blick, den ich nicht deuten kann: „Es ist schon spät, Claire. Schlaf ein bisschen, ich glaube, das war alles ein bisschen viel für dich.“ Ich nicke und warte, dass er geht, aber er bleibt stehen. Schon will ich ihn fragen, was los ist. Ohne ein weiteres Wort beugt er sich zu mir, sodass sein Gesicht kurz vor meinem zum Stehen kommt, und er küsst mich – kurz, sanft, schnell. Und bevor ich irgend­ etwas von mir geben kann, ist er auch schon aus dem Zimmer. Was war das denn jetzt?

So nah, so fern Und wieder sitz ich hier, Allein ohne dich, Wieder träume ich, Wie’s wär‘, dein zu sein, Hand in Hand mit dir zu gehen, Alles mit dir zu teilen, Zu wissen, du bist wirklich mein. Ich kann mir so viel wünschen, Glücklich werd‘ ich dennoch nie, Denn all das Glück, was nützt es ohne dich? Die größte Frage, die man stellt, wieso? Ja, warum, warum liebe ich dich so? Ich komme nicht los von dir Jeder Tag ausgefüllt mit Gedanken An ein Uns – realitätsfern und aussichtslos Und der Hoffnung, dich zu sehen Wenn auch nur für Augenblicke Die viel zu schnell vergehen Mein Leben will ich mit dir teilen, Einfach bei dir sein, Deine Stimme will ich hören, Und in deinen Armen liegend deine Lippen schmecken, Dich will ich berühren, deinen Körper spüren Tag für Tag vergeht Keiner, ohne dich zu vermissen Oder zu merken, wer an meiner Seite fehlt Nacht für Nacht schlaflos Angst allein zu sein Morgens und abends Mein erster und letzter Gedanke Stunde um Stunde Größere Sehnsucht nach dir

SCHREIB AKADEMIE


Schreibakademie HORN

ANGELIKA FREITAG

Ich bin immer ich bitte nicht zu lang!). Nun zum Schreiben. Ich liebe schreiben, weil ich da tun kann, was ich will. Ich kann einen Mord begehen, ich kann Amor spielen und andere lieben lassen. Ich kann mir Menschen nach meinen Vorstellungen erstellen. Man spielt mit dem Leben anderer, was eigentlich blöd klingt, aber es ist so. Ich schreibe mit Vorliebe Fantasy. Realistisches ist nicht meins. Viele finden es auch merkwürdig, dass ich morgens schreibe, aber das ist für mich voll normal. Und seit ich in diesem Jahr in der Schreibakademie mit meiner Freundin sozusagen die Evolutionsstufe des Schreibens einige Schritte (angeberisch) aufgestiegen bin, finde ich noch mehr Gefallen daran. Ich finde, wenn man Spaß hat, ist es am Anfang gar nicht so entscheidend, ob du gut schreiben kannst oder nicht, denn wenn du einfach immer weitermachst, wirst du irgendwann immer besser. Meine erste Geschichte ist wirklich so ein Mist. Die lohnt es sich gar nicht zu lesen. Aber jetzt schreibe ich Geschichten, die viel Lob kassieren. Und das nur, weil ich die Freude nicht verloren habe und durch Erfahrung immer besser geworden bin. Ich verstelle mich eben nicht und bleibe immer ich.

Angelika Freitag

Ich bin immer ich. Auf den ersten Blick normal, im ersten Gespräch völlig durchgeknallt und nach ein paar mehreren Gesprächen lustig, manchmal nervig, ich glaub auch voll angeberisch und hilfsbereit. Ich habe langes braunes Haar, und meine ebenfalls braunen Augen sollen angeblich in der Sonne bernsteinfarben leuchten. (Okay?) Aber im Großen und Ganzen könnte man sagen, ich bin ein Würfel (blöder Vergleich, aber mir ist nichts Besseres eingefallen). Man muss alle meine Seiten kennenlernen, und dann kann man entscheiden, ob man mich mag oder nicht. Ein paar von meinen Freundinnen haben ein Jahr gebraucht, um mich zu mögen, also lasst euch ruhig Zeit. Ich kann warten (aber

69


Schreibakademie HORN

Der Ort

Angelika Freitag

70

Ich bin an einem Ort. Es ist still. Dunkel­ heit umgibt mich, aber ich habe keine Angst. Trotz meiner Ungewissheit weiß ich, dass ich auf etwas warte. Ein Licht, ein Geräusch vielleicht, es kümmert mich nicht. Ich fühle mich leicht, als würde ich schweben. Ich warte. Doch plötzlich spüre ich Boden unter meinen Füßen. Er ist weich. Es ist Gras, auf das ich mich setze. Ich berühre es mit meinen zarten kleinen Fingern. An der Stelle, an der ich es berühre, wächst eine Blume hervor, eine Rose. Ihre Blüte ist so zart, und ihre Dornen lassen mein Blut das Gras rot färben. Ich spüre keinen Schmerz, sondern beobachte nur, wie plötzlich Licht die Dunkelheit erhellt. Es kommt von der dicken Flüssigkeit, die von meinem Finger tropft. Schnell breitet es sich aus, und ich sitze nun in einem Lichtermeer. Vergnügt sehe ich zu, wie das Licht seine Farben ändert. Rot zu blau. Blau zu grün. Grün zu gelb und immer so weiter. Jetzt war es auch nicht mehr still. Der Klang von fließendem Wasser dringt an mein Ohr, und ich sehe einen Fluss aus goldener Flüssigkeit entstehen. Der Anblick fasziniert mich. Mein junger Verstand kann der Versuchung nicht widerstehen. Meine Finger spielen mit dem Wasser, lassen Tropfen durch die Luft fliegen. Ich bemerke nicht, dass genau an den Stellen, an denen die Tropfen landen, grün leuchtende Sprosse aus der Erde wachsen und zu riesigen Bäumen heranreifen. Das Licht des Grases erlischt langsam, und die einzige Lichtquelle ist der goldene Fluss. Doch dessen Rauschen ist nun nicht mehr das einzige Geräusch an diesem Ort. Eine Nachtigall mit strahlend blauem Gefieder hat es sich auf einem Ast gemütlich gemacht und lässt ihr wunderschönes Lied hören. Als ich einen flüchtigen Blick in ihre Richtung werfe, sehe ich, welche Farbe das Gefieder hat, und bin erfreut, da das der erste blaue Vogel ist, den ich je gesehen habe.

Aufmerksam höre ich ihr zu, obwohl ich immer noch mit dem ­Wasser beschäftigt bin. Es dauert nicht lange, bis auch viele andere Vögel in das Lied einstimmen und als großer Chor Freude und Glück verbreiten. Mein Interesse für die Vögel ist nun doch gänzlich geweckt, und ich werfe den Vögeln auch nicht mehr nur flüchtige Blicke zu. Ich taumele mit wackeligen Schritten zu einem kleinen Felsen, der sich mir als Sitzgelegenheit anbietet. So höre ich den bezaubernden Klängen zu und bemerke nicht, dass plötzlich ein kleiner Fuchs um meine Beine schleicht. Man könnte meinen, dass der Fuchs die Vöglein verspeisen will, aber so ist es nicht. Er legt sich gemütlich unter den Baum der Nachtigall und lauscht ebenfalls. Und wieder ist der Fuchs nicht der Erste. Hasen, Igel, Bären, Rehe, Wildschweine, Eichhörnchen und viele andere gesellen sich dazu, alle friedlich gestimmt. Es fällt mir nun auf, wer mir Gesellschaft leistet und klatsche begeistert in die Hände. Ein kleines Häschen bemerkt meine Freude. Es hüpft zu mir her und kuschelt sich auf meinen Schoß. Ich streichele es sanft, wie ich es von meinen Eltern gelernt habe. Stolz hatten sie mich gelobt, als ich verstanden habe, dass man mit Tieren sanft umgehen müsse. Das Häschen, wie es sich so wohlfühlt, genießt es. Dieser Ort gefällt mir. Liebe Häschen, die Vögel singen ihre wunderbarsten Lieder und der Bär kuschelt mit dem Lamm. Hier ist alles in Ordnung. Doch traurig muss ich fest­ stellen, wie alles um mich herum verschwindet und ich in die harte Realität zurückgeworfen werde. Ich liege in einem Bett. Ein stetiges Piepen an meiner Seite dringt an meine Ohren. Das klingt nicht wie der wunderschöne Gesang der Vögel. Genervt öffne ich die Augen. Ich bin in dem Raum, den ich nur zu gut kenne. Meine Mama nennt diesen Raum „Krankenzimmer“. „So heißen Räume, in denen Menschen mit Krankheiten unter­ gebracht werden, genau wie du“, hat sie mir erklärt. Schmerzen in meiner Brust quälen mich, und ich fasse mir ans Herz. Ich trage ein eigenartiges Kleid. Meine Mama sitzt neben dem Bett, auf einem Stuhl. Sie sieht müde, aber glücklich, erleichtert und verweint aus. „Guten Morgen, Mäuschen. Gut geschlafen?“, sagt sie mit rauer Stimme, die ich gar nicht von ihr gewöhnt bin. Ich nicke als Antwort. „Mami, warum tut mir die Brust so weh?“, frage ich sie. Nun sieht sie eher wieder traurig aus. „ Weißt du noch, wir sind öfter zum Doktor gegangen, weil dein Herz ein Problem hat?“, fragt sie vorsichtig. Ich nicke wieder. Ihr steigen jetzt Tränen in die Augen. „Und ich und Papi dachten, wir würden dich vielleicht verlieren, wenn wir nicht einen netten Menschen gefunden hätten, der dir sein Herz gibt. Und so haben wir dein Herz mit dem eines anderen getauscht“, erklärt sie. Ich bin verwirrt. „Geht das denn?“, frage ich sie verblüfft. Diesmal nickt sie als Antwort. Die Tür öffnet sich, und eine Frau in weißem Mantel betritt den Raum. „Na, Anne, sind wir wieder wach?“, fragt sie mich freundlich. „Ja, bin ich. Mama hat gesagt, ich habe jetzt ein anderes Herz, und sie hätten mich vielleicht verloren. Was heißt das?“, frage ich die liebe Ärztin mit den Sommersprossen.


Die Zeitreise

71

Angelika Freitag

Florenz, 18. März 2014, 12:00 Uhr: Wild flogen die Vögel davon, als die Kathedrale Santa Maria del Fiore zwölf Uhr schlug. Es war ein Tag wie jeder andere. Touristen schwirrten durch die Straßen, machten Fotos und füllten die ­Restaurants. Die Einheimischen versuchten, in ihren kurzen Mittags­pausen ihre laut knurrenden Mägen zu beruhigen, und die Teenager, die keine Schule hatten, machten es sich mit einem kalten Eis an diesem milden Tag am Neptunbrunnen bequem und quatschten über die Dinge, über die sie nun mal so redeten. Weiter entfernt, in einer engen Gasse, in der nicht einmal zwei Personen nebeneinander stehen konnten, befand sich ein bau­ fälliges, altes Waisenhaus. Hinter den dreckigen und brüchigen Fenstern regte sich kaum ein Schatten. In dem matten Sonnenlicht tanzten Staubkörner durch die Luft. Peppino, der Hauskater, schlich über die knarrenden Holzdielen. Gelangweilt ließ er sich auf der hölzernen Stiege nieder und putzte sein bis auf die weichen vier Pfoten schneeweißes Fell. Er war sozusagen noch neu in diesem Haus. Es war erst drei Wochen her, dass er von Clara, der Hausherrin, adoptiert worden war, aber dennoch bildete er sich bereits ein, dass er über alles wachte und ihm keiner etwas anhaben konnte. Mit eisernem Blick wachte er über das Haus. Keine Maus konnte sich seinem Blick entziehen. Plötzlich hörte er ein frustriertes Stöhnen. Peppinos Ohren stellten sich auf, da er als Katze selbst bis in die hintersten Winkel des alten Gebäudes hören konnte. Sofort schlich er los, um die Ursache des Stöhnens zu ermitteln. Von seinen Schnurrhaaren geführt, näherte er sich dem letzten Raum des Ganges im zweiten Stock. Zu seinem Glück stand die Tür einen Spalt breit offen, wodurch er in das kleine, staubige Zimmer schlüpfen konnte. Es war schlicht eingerichtet. Ein Bücherregal an der Wand, in dem kaum noch Platz frei war, ein metallenes Bett, dessen Matratze ungefähr so gemütlich wie ein Stein zu sein schien, und ein Schreibtisch aus üblichem Buchenholz, vollgestopft mit Papier und Schulbüchern. Davor, in einem aus dunklem Birkenholz bestehenden Sessel, der übrigens genauso hart wie das Bett war, saß ein Mädchen. Ein gewöhnliches Mädchen. ICH. Mit langem schwarzem Haar, das ich willkürlich zu einem Zopf zusammengebunden hatte und, wie es in Florenz üblich war, gebräunter Haut. Eigentlich war ich nicht hässlich. Nicht übergewichtig, kaum Pickel und schlank. Doch warum war ich an einem so angenehmen Tag nicht draußen, schloss mich den anderen Jugendlichen an und redete über Make-up und Nagellack? Tja, da gab es ein Problem. Ich hatte keine Freunde, und diese angeblich coolen Teenies liebten es, mich „Missgeburt“ zu nennen, was den Coolnessfaktor in meinen Augen weit runterschraubte. Warum hatte ich keine Freunde, fragt ihr euch? Meine Augen waren der sogenannte „Makel“ in diesem lieblichen Gesicht. Auf den ersten Blick waren sie gar nicht so ungewöhnlich. Braune Augen. Was sollte man daran aussetzen? Doch wenn man näher hinsah,

Schreibakademie HORN

(Beginn einer längeren Erzählung) Kapitel 1 Sie lächelt. „Das heißt, dass du schon bald für lange Zeit ohne Schmerzen leben kannst“, sagt sie. Das verstehe ich. Schon lange leide ich unter Schmerzen. Manchmal in der Nacht tut mir meine Brust so sehr weh, dass ich ganz laut schreie. Die Ärztin setzt sich an die andere Seite des Bettes. Manchmal späht sie vorsichtig in die Richtung, in der meine Mutter sitzt. „Ich möchte dich etwas fragen, da es mich interessiert. Hast du etwas geträumt, als du jetzt geschlafen hast?“, fragt sie. Diese Frage verwirrt mich wieder aufs Neue. Warum will sie so was wissen? „Ja, ich glaube schon“, antworte ich perplex. Sie nickt, als Zeichen, dass sie verstanden hat. „Gab es in diesem Traum viel Licht?“, fragt sie. Jetzt bin ich erstaunt. „Das stimmt!“, rufe ich. Sofort fange ich an, meinen Traum neu zu erzählen. „… alles war dort in Ordnung. Alle hatten sich lieb. Sogar der Bär hat ein Lämmchen gestreichelt“, beende ich mit einem Lächeln. Die Ärztin nickt wieder. Sie erhebt sich und zieht meine Mami sanft aus ihrem Sessel und führt sie zu den Fenstern im Raum. Sie flüstern etwas. Das macht mich wütend, da ich es hasse, wenn man etwas vor mir geheim hält. Ich will unbedingt wissen, wovon sie sprechen, also lausche ich ganz aufgeregt. Ich kann nicht viel hören, aber ein paar Wortfetzen verstehe ich. „Unglaublich … mit fünf Jahren … fast gestorben … zurückgekommen.“ Mehr verstehe ich nicht, und ich kann mir auch keinen Reim daraus machen. Aber es ist mir egal. Wenn es etwas mit dem Traum zu tun hat, muss es etwas Schönes sein. Denn so viel Licht wie in meinem Traum sieht man nicht oft im Leben. Der Ort, der anfangs dunkel war und dann durch die Liebe des Menschen, der mir das Herz geschenkt hatte, erhellte wurde. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Mensch etwas mit diesem Licht zu tun hat.


Schreibakademie HORN

Angelika Freitag

72

bemerkte man, dass goldene Sterne die Iris beider Augen durchzogen. Kleine goldene Narben, die ich als kleines Kind noch bewundert hatte. Doch als wäre das nicht genug, befanden sich in meinen Pupillen auch noch zwei verschiedene Runen. Ich wusste nicht wie, aber aus irgendeinem Grund konnte ich sie lesen. Zwei kleine Wörter, über die ich immer gerne nach­ gedacht hatte. Raum und Zeit. Oft hatte ich darüber nachgedacht, was es mit ihnen wohl auf sich hatte. Ich kümmerte mich schon lange nicht mehr um sie. Am liebsten würde ich sie vergessen. In meinen Augen waren die Sterne wunderschön. Ich konnte einfach nicht verstehen, wieso die anderen sie so missbilligten. Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken daraus zu verbannen und um mich weiter auf das Geschichtsbuch, das vor mir lag, konzentrieren zu können. Doch ich wurde wieder unterbrochen, als Peppino auf meinen Schoß hüpfte und sich an meine ihn jetzt streichelnde Hand schmiegte. „Du hast es leicht. Du kannst den ganzen Tag nur faul auf der Haut liegen, aber ich sitze mutterseelenallein hier und rede mir ein, dass ich Geschichte lernen müsste. Aber wenigstens liebst du mich noch“, sagte ich, während ich die Stelle am Kopf zwischen seinen Ohren kraulte. Er schnurrte zustimmend. „Wenigstens einer. Das ist ein Anfang“, dachte ich mir. Da ich sowieso nichts anderes mehr vorhatte, schlug ich das Geschichtsbuch, mit Peppino auf dem Schoß, auf. Vor mir erblickte ich zwei Seiten, vollgedruckt nur mit Fakten. Genervt blätterte ich, bis mich das Bild einer Frau innehalten ließ. Es war nicht die Frau selbst, sondern das, was sie anhatte, das mich faszinierte. Ein wunderschönes smaragdgrünes Kleid aus weicher Seide, die, wie ich dem Buch entnehmen konnte, aus Indien stammte. Es war am Oberkörper eng geschnitten, wurde aber ab der Taille

weiter. Über dem dunkelgrünen Stoff war ein fast durchsichtiger, luftig-leichter Stoff angebracht. Sanft fuhr ich mit dem Finger über das Bild und dachte daran, wie der seidige Stoff sich an meiner Haut anfühlen würde. Ich stellte mir vor, wie elegant und edel ich in ihm aussehen würde. Wie man mich bewunderte trotz meines, wie man es auch nett ausdrücken konnte, „Fehlers“ in meinen Augen. Ein fragendes Miauen kam von dem kleinen Wollknäuel auf meinem Schoß, da ich aufgehört hatte, ihn zu streicheln. „Du kannst wohl nie genug kriegen, was?“, fragte ich den Kleinen und stupste ihn spielerisch auf die Schnauze. Mit seinem Maul schnappte er nach meinem Finger, packte ihn sanft, aber immer noch kräftig, und biss an ihm herum, was ich kaum spürte. Sanft wand ich mich aus seinem Griff, woraufhin er sich auf meinen Schenkeln zusammenrollte. Ich wollte gerade weiterblättern, als ich ein kleines Schmuckstück bemerkte, das unter dem Berg an Papier auf dem Schreibtisch lag. Dieser Gegenstand war mir so vertraut. Es war die Kette meiner Mutter. Meiner verstorbenen Mutter. Es war eine Silberkette, mit einem Sternenanhänger aus Bernstein. Man hatte mir erzählt, dass sie diese Kette wegen meiner Augen gekauft hatte, da sie die Sterne darin einfach wunderschön fand. Vorsichtig, als könnte sie zerbrechen und alle Erinnerungen verlieren, nahm ich sie in meine Hand. Ich hasste diese Kette, aber andererseits konnte ich ohne sie nicht leben. Drei Jahre. Ich war drei Jahre alt, als es passierte. Diese Tatsache machte es für mich noch unerträglicher, denn ich konnte mich nicht an meine Eltern erinnern. Sanft, wie kurz vorher bei dem Bild, strich ich mit dem Finger über die glatte, kalte Oberfläche des Steins. Er konnte mir zwar nicht helfen, mich zu erinnern, aber er verlieh mir das Gefühl, nicht allein zu sein, als ob dieser Stein ebenfalls ein Auge sei, das über mich wachte, als wären meine Eltern bei mir. Dieser Gedanke machte die langen Stunden der Einsamkeit etwas erträglicher, aber dennoch machte er mich immer wieder meines Schicksals bewusst. Ich war ein Kind, ohne Eltern, ohne Freunde, ohne Liebe. Einsamkeit war nicht etwas, an das man sich so leicht gewöhnen konnte. Einsamkeit, die mich Nacht für Nacht im Schlaf quält, mich zwingt, weinend einzu­ schlafen, bis ich wieder von einem Alptraum erwache und das Ganze von vorne anfängt. Einsamkeit ist das Schlimmste auf der ganzen Welt. Und meine Eltern hatten mich allein gelassen. Allein, ganz allein, in einer kalten, lieblosen Welt. Florenz, 17. Dezember 2000, 20:03 Uhr: Es war ein Donnerstagabend im Dezember. Es war nur noch eine Woche bis Weihnachten. Im ganzen Land herrschte festliche Stimmung. Die Erwachsenen kauften eifrig Geschenke und Plätzchen. Andere, die sich von dem Weihnachtsstress erholen wollten, ­wärmten ihre frierenden Körper mit einer Tasse heißen Glühwein. Während die dampfende Flüssigkeit die Kälte aus den Menschen vertrieb, schlummerte ein kleines Kind geschützt in seinem Kinderbett. Dieses Kind war ich. Ich hatte ruhig geschlafen, unwis-


Es war spät, als sie von dort weg­ fuhren. Die Nacht war kalt, und der Schnee lag überall. Auf Dächern, Bäumen, Wiesen, Autos, überall eben. Der Wind war eisig, kalt und schlug gegen das Auto. Die Straße war vereist und rutschig. Meine Eltern waren noch gut gelaunt von der Feier und freuten sich darauf, ihre Tochter wiederzu­ sehen. Doch dann passierte es. Laut der Polizei war etwas großes, kein Reh, kein Bär, niemand wusste es, vor das Auto gesprungen. Mein Vater trat mit dem Fuß fest auf die Bremse, doch auf der eisigen Straße rutschten die Reifen über das Eis, und das Auto begann, sich zu drehen. Er versuchte das Auto zum Stehen zu bringen, aber es war zu spät. Sie schlitterten einen Abhang hinunter. Das Auto drehte sich mehrmals. Meine Eltern wurden wild durcheinander geschleudert, was bereits schwere Verletzungen hervorrief. Und dann, als das Auto am Ende des Hügels angelangt war und stark demoliert stehen blieb, waren sie tot. Nach dem Vorfall sollte ich zu einem meiner Verwandten ziehen. Die wollten mich aber nicht, da sie meinten, meine Augen würden ihren Ruf ruinieren, oder irgendetwas Ähnliches. Laut ihrer Aussage entsprach ich ihren Normen nicht. Viele von ihnen hielten meine Augen für eine Krankheit. Einen Gendefekt.. Das Schlimmste war: Mit der

Und so wurde ich in mein neues Zuhause gebracht, in das Waisenhaus Felicitas, das Waisenhaus des Glücks. Dieser Name war so unpassend, dass es fast lächerlich war. Wenn es hier Glück gab, dann war es so gut versteckt, dass ich es nicht finden würde. Ich musste vierzehn Jahre ohne eine Mutter leben, die einem sanft übers Haar streicht, wenn man weint, und einen auf die Stirn küsst, und ohne einen Vater, der einen immer aufbaut und viele Geschichten erzählt. Angeblich liebte mein Vater es, Geschichten zu erzählen. Der Gedanke schmerzte, und ich wusste noch nicht einmal, wie sie aussahen. Ich besaß kein Foto und hatte auch nie eines gesehen. In meinen Alpträumen sah ich immer eine Frau und einen Mann, von denen ich dachte, es wären meine Eltern. Aber darüber konnte ich nur spekulieren. Eines stand jedenfalls fest: Ich war allein und würde es auch immer bleiben. ICH, Stella Luce, das einsame Mädchen aus dem Waisenhaus. Ich wollte nicht länger darüber nachdenken. Manchmal fand ich es selbst schon lächerlich, wie sehr ich in Mitleid baden konnte. Mit einem Funken Hoffnung, Bilder zu finden, die ich nicht bereits schon in und auswendig kannte, da unser Lehrer nie etwas weiterbrachte. Doch es war kein Bilderbuch, in dem ich schmökerte, deswegen fand ich eine Doppelseite über Napoleon vor. Schnell las ich mir den Text über sein unglaublich „interessantes“ Leben durch, bis ich an der Stelle seiner Krönung ankam. Dunkel hallten die Erinnerungen an die Wörter Signore Manzonis, meines Geschichtslehrers, in meinem Kopf wider. „Bis in einer Woche dann“, hatte er am letzten Tag vor der freien Woche, die uns netterweise zugestanden hatte, gesagt. „Ich würde empfehlen, euch über Napoleon schlauzumachen, denn es könnte sein, dass ihr vielleicht einen Test darüber schreiben müsst.“ Mit einem Lächeln hatte er die aufbrausende Klasse begutachtet, als sich Paolo, der Spaßvogel der Klasse, wieder einmal zu Wort meldete: „Ach, kommen Sie schon, Manzi. Über den kleinen Wicht gibt es doch sowieso nichts zu wissen“, rief er, woraufhin die ganze Klasse zu lachen begann. Signore Manzonis Lächeln verharrte starr, und ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte er gelassen: „Ich würde mir deine Sprüche lieber sparen, Paolo. Denn über diesen kleinen Wicht habe ich schon viele Fragen im Kopf, die immer mehr werden, wenn du nicht bald die Klappe hältst. Ich an deiner Stelle würde mir also überlegen, was ich sage.“ Daraufhin sank Paolo langsam und mit knallrotem Kopf wieder auf seinen Sessel zurück, während ihn die ganze Klasse mit unterdrücktem Gelächter, aber auch vorwurfs­vollen Blicken, anstarrte, da er jedem von ihnen mehr Fragen beim Test eingebrockt hatte, oder wenigstens eine Drohung. Und Signore Manzoni war nicht einer, der Drohungen schnell wieder vergaß, sondern sie in die Tat umsetzte. Kurz darauf hatte die Glocke ­geläutet, und seitdem hatte ich das alles vollkommen vergessen. Somit hatte ich letztendlich doch eine Beschäftigung, aber da ich

Schreibakademie HORN

Francesca, eine Freundin meiner Eltern, passte auf mich auf. Es war ein ruhiger Abend. Meine Eltern ihrerseits waren auf einer Geburtstagsfeier eines Bekannten. Es war eine große Feier. Die Leute aßen sich die Bäuche voll und benebelten ihre Köpfe mit Alkohol. Meine Eltern hatten viel Freude auf dem Fest, sie ahnten auch nichts von der großen Katastrophe.

Zeit glaubte ich das sogar. Dass ich von einer Krankheit befallen war. Dass ich ein Parasit war.

73

Angelika Freitag

send, was noch passieren würde, und unwissend, dass mein Leben sich vollkommen verändern sollte.


Schreibakademie HORN

nur noch zwei Tage übrig hatte, beschloss ich, so schnell wie möglich die wichtigsten Informationen in mein Hirn einzubrennen. Langsam flüsterte ich die wichtigen Informationen vor mich hin. „Krönung Napoleon Bonapartes am 2. Dezember 1804, Notre Dame …“ In meinem Kopf wiederholte ich das Ganze noch einmal, um mir alles gut merken zu können. Ich kniff die Augen zusammen, versuchte mir die Zahlen und Namen zu merken. Lernen war eigentlich etwas, das mich vollkommen zur Verzweiflung treiben konnte, aber was blieb mir anderes übrig?

Angelika Freitag

74

Als ich die Augen wieder öffnete, überkam mich ein starkes Schwindelgefühl. Mein Hals wurde trocken, und ich hatte plötzlich das Gefühl, ich müsste verdursten. Hilflos, ohne eine Möglichkeit, den Kreisel in meinem Kopf zu stoppen, erhob ich mich stark schwankend aus meinem Sessel. James, der auf so etwas nicht gefasst war, sprang in hohem Bogen von meinem Schoß und sprintete mit einem erschrockenen Fauchen in den Spalt, durch den er gekommen war. Mit verkrampften Fingern umklammerte ich die Schreibtischkante. Meine Sicht war so verschwommen, dass ich kaum noch etwas sehen konnte. Und dann war es soweit. Meine Beine gaben nach, und ich fiel rücklings zu Boden. Ich erwartete, den harten Boden unter meinem Rücken zu spüren, aber hatte mitten im Fall plötzlich das Gefühl, als würde ich schweben, bis ich unerwarteterweise wieder Boden unter meinen Füßen spüren konnte. Meine Augen waren immer noch geschlossen, aber durch den eiskalten Luftzug, der über meine Haut fuhr und mir eine Gänsehaut verpasste, wusste ich, dass ich nicht mehr in meinem Zimmer stand. Und da ich von Natur aus sehr neugierig war, öffnete ich die Augen, nicht gefasst auf das, was ich sehen würde.

Meine Umgebung unterschied sich ziemlich von meinem Zimmer. Es war eine Kirche. Ich stand unter einem Buntglasfenster, dessen verschiedene Farbtöne meine Haut in ein wunderschönes Farbmuster tränkten. Der lange Mittelgang, dessen Seiten von Sitz­ bänken gesäumt waren, war so lang, dass die Tür am anderen Ende ganz klein wirkte. Ich erkannte sie sofort, von dem Bild, das ich vor Kurzem noch in meinem Geschichtsbuch gesehen hatte. Notre Dame. Ich stand in der Mitte von Notre Dame. Interessiert wanderte mein Blick nun zu den Gotikfenstern und den hohen Wänden, bis ich bemerkte, was eigentlich um mich herum geschah. Ich sah Touristen, die um mich schwirrten und eifrig Fotos knipsten, und kleine Kinder, die drängend an den Händen ihrer Mütter zogen, und Teenager in meinem Alter, die gelangweilt in der Gegend umherstanden, aber es war, als hätte man eine Rückwärts-Taste gedrückt. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, wanderten sie an mir vorbei, und ich stand unsichtbar da und schaute mit offenem Mund einfach zu. Sie bewegten sich in richtig schnellem Tempo nach hinten. Selbst die Sonne schien auf- und unterzugehen. Tage vergingen, Messen wurden abgehalten, mit mir mittendrin. Ich wohnte Touren durch die Kirche bei. Es wurde umgebaut oder eher ent-umgebaut, oder wie man das nennen sollte. Die bearbeiteten Risse im Stein tauchten wieder auf, wurden aber auch immer kleiner, bis der Stein wieder so glatt und neu war, dass das Licht der Sonne, das durch die hohen Fenster fiel, reflektierte. Lampen und Lichter, die durch elektrisches Licht strahlten, wurden zu Kerzen. Auch Handys wurden immer altmodischer, bekamen ­wieder Tasten, dann Antennen und verschwanden dann gänzlich. Der Saal füllte und leerte sich, Touristen, die Jeans und T-Shirts mit teuren Jacken trugen, wurden zu 90er-Ladies und -Gentlemen, die Kleidung trugen, die 2014 niemand anziehen würde, dann ­kamen die 80er, 70er, 60er und 50er, die Menschen hatten zuerst immer grellere Outfits an, dann aber wurde es schlicht und edel, und dann kamen, ich wusste nicht wann, aber ich schätzte so um die Zeit des 19. Jahr­hunderts, ­Personen in eleganten Kleidern und Uniformen, die ganz vorne beim Altar standen, und unter ihnen jene in lumpenähnlichen, nicht eleganten Kleidern. Plötzlich wurden Girlanden und Banner auf- statt abgehängt, und überall verstreute man Blumen am Boden. Die Menschen in der Kirche wurden immer mehr, nicht so wie bei den Touristen. Sie versammelten sich, als ob in Kürze etwas Großes passieren würde. Bauern stellten sich an die Seite und die, die es sich leisten ­konnten, setzten sich nebeneinander in die Bänke und sahen mich an. Zuerst war ich überrascht, bis ich merkte, dass sie nicht mich ansahen, sondern, dass ich einfach nur mitten im Geschehen stand und sie einfach durch mich hindurchsahen. Ich drehte mich um, da ich auch herausfinden wollte, welchen Feierlichkeiten ich hier beiwohnte. Ich sah den, wie ich anhand der Kleidung erkennen konnte, Papst, der zwei Personen Kronen vom Kopf nahm und wieder auf einem


Ich war es nun, die sich bewegte. Ohne meine Beine zu bewegen, flog ich wie von allein auf einen Platz in der Bank in der vordersten Reihe. Dort saß ich, und plötzlich schien die Zeit wieder zu laufen, aber diesmal in normaler Geschwindigkeit. Der Lärm der jubelnden Leute zerdrückte mein Trommelfell, was von den laut schellenden Turmglocken nicht gemildert wurde. Reflexartig presste ich mir die Hände auf das schmerzende Trommelfell. „Kann es wirklich sein? Bin ich von meinem Zimmer aus gerade in die Vergangenheit gereist?“, dachte ich mir. Doch auf diese Fragen würde ich keine Antwort bekommen. Denn ich erkannte niemanden, der bemerkt hatte, dass gerade ein Mädchen aus dem 21. Jahrhundert zurück zum Anfang des 19. Jahrhunderts gereist war. Falls das doch kein Traum war, aber das war wohl im Moment die unwahrscheinlichste ­Lösung, denn ein Traum war das sicher nicht. Das Nächste, das ich bemerkte, als ich an mir herunterblickte, war das Kleid, das ich jetzt anhatte. Es war nicht irgendein Kleid, es war das Kleid, das ich vorhin erst betrachtet hatte. Der smaragdgrüne Stoff umschmeichelte meine Figur, und ich sah so elegant aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Als ich mir an den Kopf griff, merkte ich, dass meine Haare ebenfalls zu einer Frisur hochgesteckt waren, so wie es fast alle Frauen getan hatten. Ich konnte mir mein breites Grinsen nicht verkneifen. Eine Frau neben mir in einem sehr weiten roten Kleid, deren Haare elegant zurückgebunden und mit Rubinen geschmückt waren, was auf einen Adelsstand hinwies, bemerkte mein Kleid. „Ihr Kleid ist wunderschön. Dieser Stoff. Wer ist euer Schneider?“, fragte sie mich immer noch lächelnd. Ich wollte ­gerade antworten, als mir etwas auffiel. Sie sprach französisch. Ich konnte sie verstehen. Für mich hörte es sich eher an, als würde sie italienisch mit französischem Akzent reden. Nachdem ich ­meine Verwunderung abgeschüttelt hatte, fiel mir ihre Frage ­wieder ein. Die Frau war nun sichtlich verwirrt, da ich zögerte. Schnell stammelte ich das Erstbeste, das mir einfiel. „Ähm … ich habe eine eigene Schneiderin … die … ähm, schneidert mir alle Kleider, die ich habe“, sagte ich und strich mir nervös eine Strähne, die sich aus meiner Hochsteckfrisur gelöst hatte, hinters Ohr. Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Ich glaube, ich muss die mir mal ausborgen“, erwiderte sie und kicherte leise. Langsam war ich mir immer sicherer, dass das ein Traum sein musste. Ich konnte nicht in Frankreich sein und auch noch 1804 und dabei auch noch ­fließend französisch sprechen. Mein Gehirn war überfordert. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Abzuwarten bis die Krönung vorbei war, schien mir im Moment die beste Option. Fanfaren verkündeten den Anfang der Zeremonie. Gespräche verstummten und alle Blicke richteten sich auf das kaiserliche Paar. Dieses näherte sich langsam, aber mit großen Schritten dem Altar. Vor diesem stand der Papst, zu seiner Linken und Rechten Bedienstete, die auf samtenen Kissen die beiden Kronen balancierten.

Schreibakademie HORN

wie eingefroren. Blütenblätter, die verstreut wurden, hingen in der Luft. Alles war erstarrt, bis auf mich.

75

Angelika Freitag

Kissen platzierte, und wie diese sich rückwärts gehend dem langen Gang entlang der nun geöffneten Tore Notre Dames näherten. Und als ich genauer hinsah, verstand ich endlich, dass es Napoleon Bonaparte mit seiner – wie ich im Geschichtsbuch gelesen hatte – Frau Josephine war. Es war nicht schwer, ihn wiederzuerkennen. Die Porträts, die ich von ihm gesehen hatte, trafen ihn perfekt, und außerdem hatte er das prunkvollste Gewand der ganzen Gesellschaft an: eine strahlend weiße Uniform mit einigen Abzeichen darauf. Obwohl die Zeit schnell zurücklief und er sich immer weiter von mir entfernte, konnte ich die Einzelheiten seines Gesichtes genau ausmachen. Die markante Nase, das runde Gesicht, die hinterlistigen braunen Augen. Seine Frau Josephine hingegen hatte kaum etwas mit ihm gemein, außer, dass sie schwarzes Haar hatte, das zu einer typischen Kaiserinnenfrisur hochgesteckt worden war. Sie hatte eine elegante Nase, sie war nicht zu groß und auch nicht zu klein, genau perfekt, ihre strahlend blauen Augen erkannte ich als zwei strahlende Punkte in der Ferne, als sie schon sehr weit von mir entfernt war. Doch selbst von dieser Entfernung aus konnte ich die Lebensfreude sehen, die sie ausstrahlten. Sie sah auch viel jünger neben Napoleon aus, was den Kaiser irgendwie noch älter aussehen ließ, als er sowieso schon war, denn, wie ich ebenfalls in meinem Geschichtsbuch gelesen hatte, war er eigentlich um einiges älter als die junge Königin. Ihre Umhänge, oder was das war, trugen einige Personen, die ich im Vorbeigehen bemerkt hatte und zwar auch elegant gekleidet waren, aber die Garderobe des Kaisers nicht überbieten konnten. Als Napoleon und Josephine bereit standen, um in die Kirche einzutreten, schien die Zeit stehen zu bleiben. Die lächelnden, klatschenden und jubelnden Gesichter waren nun


Schreibakademie HORN

Angelika Freitag

76

Eigentlich hätte ich diese nicht als Kronen bezeichnen können. Es waren zwei goldene Kränze. Der Papst hatte die Hände gefaltet und murmelte ein kurzes Gebet, bis er sich wieder der Menge an Menschen zuwandte und eine lateinische Phrase sprach. Napoleon seinerseits lächelte während­dessen vergnügt der Menge zu, während seine Frau starr zu Boden oder geradeaus starrte.

nahm er sie wieder und machte einen weiteren Versuch, doch diesmal blieb die Krone dort, wo sie hingehörte, und sofort war der peinliche Zwischenfall vergessen. Trotz des vielen Puders auf dem Gesicht der Kaiserin, merkte man eine leichte Rötung auf ihren Wangen, doch ihre wunderschönen Augen verloren ihr Strahlen nicht, was stark davon ablenkte. Sie erhob sich, und nebeneinander standen sie da, hielten sich an den Händen und ließen sich feiern. Den Menschen im Raum war es gleichgültig, dass der Kaiser sich selbst gekrönt hatte. Ich selbst wusste nicht einmal, warum das so ein Skandal sein sollte. Laut dem Geschichtsbuch war das ein großer Schock. Wen aber interessierte das schon?

Als sie vor dem Papst innehielten, sprach der seinen lateinischen Satz zu Ende. Und auch ihn konnte ich verstehen. Jedes einzelne Wort. Und ich lernte noch nicht einmal Latein in der Schule. Nun war es amtlich. Ich war entweder vollkommen durchgeknallt, oder ich träumte wirklich. „Sieht der Kaiser heute nicht einfach göttlich aus?“, flüsterte mir die Dame neben mir zu. Ich schenkte ihr ein knappes Lächeln und wandte mich wieder dem Geschehen zu. In dem Moment, als der Papst die Hände hob, um Napoleon die Krone aufzusetzen, ließ dieser ihn innehalten. Der Papst beugte sich vor, um zu hören, was der Kaiser von ihm wollte. Leise flüsternd verlangte der Kaiser nach der Krone. Widerwillig legte der Papst sanft die Krone in Napoleons Hände. Als dieser ihm mit einer Geste zu verstehen gab, weiterzumachen, tat dieser wie ihm geheißen, doch jetzt leuchtete ein Funken Misstrauens in den Augen des Papstes auf. Wirres Gemurmel wanderte durch die Menge, als der Kaiser, begleitet von den lateinischen Zeilen, quälend langsam die Krone selbst auf den Kopf setzte. Das Gemurmel wurde immer lauter, aber der Kaiser lächelte zufrieden, als hätte er das erwartet und gewollt. Mit diesem Lächeln nahm er auch die Krone der Kaiserin in die Hand. Ebenfalls elend lang dauerte es, bis die Krone auf Josephines Kopf niedergesetzt war, aber die Krone schien nicht zu passen, denn sie rutschte an ihrem Kopf herum. Peinlich berührt

Napoleons Blick wanderte fröhlich durch die Runde, bis sein Blick mich erfasste und sein Lächeln verschwand. Die Männer und ­Frauen warfen mir fragende Blicke zu. Jetzt fingen sie an, über mich zu reden. Die Frau im roten Kleid, die vorher noch an mir geklebt war wie eine Klette, rutschte ein Stück von mir ab. Als hätte der Kaiser mit seinem Blick einen Fluch auf mich gelegt, sahen sie mich an, zeigten auf mich. Das war mir peinlich und unangenehm. Ich selbst merkte, wie klein ich wurde, und die Wärme, die sich in meinem Gesicht ausbreitete, verriet mir, dass ich rot wurde. Der Kaiser kannte mich doch gar nicht. Was war das Problem? Der Kaiser merkte, dass er zu viel Aufmerksamkeit auf mich lenkte und lächelte wieder, aber sein Lächeln war nicht mehr ehrlich, es war gespielt, da er innerlich vor Wut kochte. Viele von den Starrenden wandten ihren Blick von mir, aber ebenso viele warfen mir von der Seite misstrauische Blicke zu. Mir wurde immer unwohler zumute. Das war wohl dieses Gefühl, wenn man am liebsten im Boden versinken würde. Dieses wurde nicht gemildert, als der Kaiser mit einer kaum vernehmbaren Geste eine bucklige, in Schwarz gekleidete Person zu sich heranrief. Als diese aus dem Schatten der Säulen hervortrat und mit gebücktem Gang an die Seite Napoleons eilte, konnte ich erkennen, dass es ein Mann war. Er hatte fettiges, schwarzes Haar, das ihm matt ins Gesicht fiel, und seine grauen Augen hatten einen hinterlistigen Funken. Sein Gewand war eine schlichte Robe, eine Art sehr weiter Mantel, welcher seine schmächtige Figur verstecken sollte. Von seinem Gang her und seinem Aussehen verglich ich ihn in Gedanken mit dem Glöckner von Notre Dame. Passen würde es. Doch mir verging der Spaß daran, Witze über den Mann zu machen, als dieser seine kalten Augen auf mich richtete. Er lächelte verräterisch, als Napoleon ihm etwas ins Ohr flüsterte, aber sein Blick blieb starr auf mich gerichtet. Mit einer tiefen Verbeugung verschwand er wieder im Schatten. Ebenfalls, da sie nicht blind waren, richteten die Anwesenden wieder ihre Blicke auf mich. Es war fast beängstigend. Plötzlich fühlte ich mich noch unwohler, und ich musste den Drang, einfach wegzurennen, unterdrücken, aber ich wusste, dass ich hier nicht sicher war. Fast meinte ich immer noch, die kalten Augen des Mannes durch die Menge der anderen Blicke auf mir ruhen zu spüren. Verzweifelt versuchte ich, meine Gedanken zu sammeln und einen Ausweg zu finden. Verzweifelt versuchte ich in Gedanken


Napoleon und Josephine stiegen jetzt in eine prunkvolle Kutsche, die mit elegant geschwungenen goldenen Linien verziert war. Ebenfalls schmückten goldene Rosen den von Schimmeln gezogenen hölzernen Kasten, aus dessen Fenstern das frisch gekrönte Kaiserpaar winkte. Die Menschen waren begeistert, als wären sie Götter, verehrten sie den Kaiser und die Kaiserin. Darüber konnte man nur den Kopf schütteln. Innerlich war ich froh, dass es in Italien keine Kaiser mehr gab, falls es überhaupt welche gegeben hatte. So tief wollte ich nicht sinken, dass ich einen einzelnen Menschen derart vergöttere. Das war einfach nicht meine Art. Obwohl ich unsichtbar in der Menge stand, spürte ich den durchdringenden Blick Napoleons auf mir ruhen. Meine Nackenhaare stellten sich auf, und meine Knie begannen zu zittern. Langsam merkte ich auch, wie meine Stirn feucht wurde. Dann fuhr die Kutsche ab, und der Kaiser löste seine kalt leuchtenden Augen von mir. Ich seufzte erleichtert. Aber ein Teil in mir war immer noch starr vor Misstrauen und Angst. Die Menge löste sich all­mählich auf, und ich wusste, dass wenn ich mich nicht schnell unter eine Gruppe mischte, ich schutzlos ausgeliefert wäre. Ich sah, wie mehrere Patrizier zusammen die Straße entlanggingen, da sie anscheinend in derselben Gegend wohnten. Ich löste mich aus meiner Angststarre und versuchte, mich unter die Jugendlichen in der Gruppe zu mischen. Doch ich sollte es nicht bis zu ihnen ­schaffen, da mich eine große, feste Hand an der Schulter packte und mich zu Boden warf. Mit schmerzendem Becken blickte ich auf die Person vor mir. Es war ein Mann. Er hatte breite Schultern, war groß, und seine dunkle, rauchige Stimme ging mir durch Mark und Bein. „Im Namen des Kaisers, Sie sind festgenommen!“, sagte er.

SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie HORN

Ich mischte mich unter die Menge, da ich das Gefühl hatte, wenn ich zurückbleiben würde, könnte der gruselige bucklige Mann hinter mir auftauchen und wer weiß was tun. Mit jedem Schritt, den wir uns dem Ausgang näherten, hatte ich das Gefühl, schutzloser zu werden. Meine Blicke wanderten nervös durch den Raum, suchten jeden Schatten ab. Meine Nackenhaare stellten sich auf bei dem Gedanken an den verächtlichen Blick des Kaisers und den hinterlistigen Blick des (wie ich vermutete) Beraters Napoleons. Wie ein dressiertes Raubtier, das endlich sein Opfer verstümmeln ­durfte. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken.

Nun schritten wir über die Schwelle der Kirche, und ich wusste nicht, ob ich mich jetzt sicher fühlen oder noch mehr Angst haben sollte. Die schützenden Mauern Notre Dames lagen hinter mir, aber dennoch konnte ich mir nicht sicher sein, was mir in den dunklen Schatten der Kirche aufge­lauert haben könnte.

77

Angelika Freitag

irgendwie wieder in mein Zimmer zu kommen. „Bitte, bitte bring mich nach Hause. Bitte, bitte, bitte“, schrie ich in meinem Kopf. Ich wusste, dass Napoleon bemerkt hatte, wie viel Angst ich hatte, wodurch sein Lächeln nur noch breiter wurde. Er fühlte sich sieges­ sicher und dachte, er hätte seine Aufgabe erfüllt. Und das Blöde war, ich wusste immer noch nicht, wieso. Mit seiner Frau Josephine, die er immer noch an der Hand hielt, begab der Kaiser sich wieder in Richtung Ausgang. Die Menschenmenge schwärmte hinter ihnen her, wie ­räudige Hunde. Die Bänke leerten sich, und zum Glück vergaßen die Menschen das Mädchen, das vom Kaiser miss­billigt wurde, wieder.


Schreibakademie HORN 78

Über mich

A little glimpse of paradise

Fabian Stummer

FABIAN STUMMER

Fabian Stummer, geboren 14. 10. 1996: ich schreibe seit meinem sechsten Lebensjahr, vorwiegend Prosa, bin zurzeit Schüler an der FW Horn, werde aber dieses Jahr abschließen. Ich bin Liebhaber von Literatur, Film, Theater, Kunst, Kultur, Sprache, Musik, Geschichte und schwarzem Humor. Leicht exzentrisch. Schreibe am liebsten nachts, da ich um diese Zeit am kreativsten bin und ich mich in der Stille am besten konzentrieren kann. Versuche, meine Dialoge und Charaktere immer so realistisch wie möglich zu gestalten, soweit es meine Ideen zulassen. Ich bin mittlerweile eines der ältesten Mittglieder der Schreibakademie Horn, freue mich aber jede Woche aufs Neue auf unsere Schreibstunden.

I awake. I’ve been sleeping for far too long. I am lying in my bed in my small hut, wrapped in my grey sheets that are still warm from my body. The only source of light is a small candle in a brazen candlestick that burns with a small flame next to my bed on a simple stool. The walls of my hut are of wood, old and grey and rotten. No windows, no furniture, just a door right across my bed which is of the same wood as the walls are. I leave my bed and slowly start walking towards the door as I feel a light dizziness but I steady myself by grasping the handle of the door. I gently open the door and the golden light of the sun enters my hut. As I make my first footsteps outside I feel the moist and cooling grass under my feet which give me a light, tickling sensation. I look into the distance and see hills of green grass everywhere, flowers, countless in number and colour. I see insects that are flying through the sky, some big, some small but all of them with different yet distinct colour patterns on their wings and bodies. I see ones glowing like amber or amethyst; some are green as trees, white as milk or red as blood. The sky is turquoise yet also shines slightly golden through the myriads of sunbeams that colour the clouds. I feel a fresh breeze on my skin that makes my body shiver in sweet delight and so I start walking, eager to see more of this promising world. I pass by the green hills filled with flowers and hear the buzzing sounds of the insects flying all around me. Behind the hills I find a long path downwards into a sort of valley with large trees. I can see


Schreibakademie HORN

lake is surrounded by mountains of blue with white tops that reach high into the azure sky seemingly scratching the white clouds. And at the other end of the lake I can hear and see something and as we get closer I can make out what it is too. It is a fair! There are people dancing and singing and making music on flutes and drums. I cannot wait to leave my boat when I reach the shore and finally I can see the fair in its entirety. There are red fires burning high, beautiful human beings, old and young, all dancing and singing and eating and drinking and joyously chatting alike. They are clad in silk, linen and velvet in lighter and darker shades of crimson, azure and yellow. They eat from tables that have grown out of the ground, you can see their roots in the earth which are filled with crockery and cutlery made of silver. I can see chicken on their plates, the ribs of a lamb, along with cutlets of dear, boar, veal, pork, beef and many others all looking delicious. Their cups are filled with a bright blue fluid which I believe to be wine for the air is filled with the smell of it. I walk on and on listening to the music and looking at all the jolly people enjoying their life which seems almost careless to me. Before I can give it another thought however I have already walked too far and all the people are only silhouettes, their chatter only distant mumbling and their music seems worlds away. I now walk on, next to me is just green grass but I have not even noticed until now that the sun has set. And as I realise it has set, so it rises again however not golden as before, now it is pink and it colours the whole sky the same, just a lighter shade. It rises and reveals to me, not far ahead, small trees, however those trees are unlike the ones I have seen before. They are not as high and not as many but most of all, they have no leaves and are golden and silver, and from their branches hang jewels as big as apples or pears would have been. Rubies, saphires, emeralds, topazes, amethysts, ambers and bright diamonds in black and white. And the pink light of the sun is reflected by them and makes for a staggering sight as myriads of little beams of light shine onto the jewels and from them to other ones creating a sort of net of light beams. I walk on as my eyes wander from one jewel to the next and are stunned by the beauty of each and every one of them. After I have left them behind I have to close my eyes for a moment so that they may rest themselves from all the bright lights and colours but never once do I stop walking. I have walked for quite another while when the sun sets again but not far from where I am, there is a light and the sound of women laughing and giggling and also the splashing of water. When I come to the source of the laughter I am no less astonished as I have been when I walked past the jewel trees. Even though the sky is a dark blue, I can make everything out as if the sun was shining. There are lots of pools of water, some joined with others some a bit from them. In them and around them are countless women, bathing, dancing, singing, fooling and running around with each other, giggling and laughing full of gayety. All of them are of a beauty that is breath taking although they all look different. Some have skin as white as ivory and others skin bordering on a pitch black. There are tan ones, pale ones and some whose skin is more of a red and

79

Fabian Stummer

from afar that the trees however have leaves in all sorts of colours much like the flowers. Some are green; others cyan or lilac and I even spot a few that are a dark greyish blue. When I finally reach the woods in the valley and pass through them I see many animals in them. But unlike the colourful trees through which the sun now shines brightly, those animals all have white fur with silver eyes that are bright and give them a sort of innocent look. There are foxes and lynxes, horses and stags with their fawn, bears and boars even some birds of different shapes and sizes in the trees. And I see wolves too. Slowly I walk on looking at those odd creatures which are not minding me but go on living together in harmony and peace, none of them eating the flesh of another. I am sure that if I delved deeper into the woods I would find more of those wondrous beasts but my path leads me on for I know that there is still much to discover on my road of curiosity. I leave the woods and its inhabitants behind and as I pass by the last tree I find myself at a lake with water shining bright in the light of the sun. There is also a small purely white jetty which seems to be made out of marble, on its shore and next to it a little boat made out of ebony with beautiful engravings that glow in a shade of scarlet. As I come closer I see that the lake’s water that seemed so bright from afar is clear as crystal and you can even see to the ground of it. The waters are populated by fish which truly give an astonishing sight. Their scales are the colours of rainbows but there are not few in each colour, No, every one of them is a little rainbow for itself conjoined with the other scales. I slowly sit into the boat; however I discover that it has no oars. Just as the thought crosses my mind however, the boat, much to my surprise and delight, starts moving by itself. While it crosses the lake I look around at the beautiful scenery for the


Schreibakademie HORN

others whose skin seems almost a bit yellow. Some have black hair, some a dark brown and some a lighter one, there are all kinds of shades of blonde, varying from almost ashen to pure white and others with red hair too. Some have curls, some wavy hair and some completely straight hair. Some are thin and some are more corpulent but all of them are beautiful and perfect in their own sense. What makes them all alike however is the fact that none of them are wearing any clothes, so that their bare breasts and buttocks are visible. When I have left them behind I reach a cliff but as I come closer to the edge, clouds come closer to it as well, however from the other end and seem to form stairs for me to walk on. I cautiously step onto the first one to find that they are soft like a

mattress but still give enough resistance that I can walk on them and will not sink down. As I walk higher and higher into the sky I feel warm wind on my skin getting more vigorous as I am getting higher but it is still not staggering me. I breathe in the fresh air which makes my whole body feel alive and overflowing with strength as I ultimately reach a little plateau high up. However as I look into the distance, I see many more things; mountains higher than the ones I have seen, woods, huger than those I have walked through and there are cities too, lots of them and each seems to be made entirely out of a different kind of jewel. And as I stand there and wonder whatever would await me there and what I would discover, exploring these places, what I would see, smell, hear and feel, I realise that I have only seen a little glimpse of this paradise full of sheer endless wonders and I cry a single tear. Then I turn and run. I run down the clouds and past the beautiful women in their pools, I run past the jewel trees and through the fair, I swim through the lake and then run again through the colourful woods with their animals and finally through the hills with their flowers and insects. I run on and on until I come to my hut. I walk inside, shut the door and get into the bed. And as I wrap myself into the grey sheets and turn to the side, I sob and sob until I fall asleep.

Fabian Stummer

80

Der Abgrund Der Regen prasselte laut und schwer auf das Deck der HMS Courage, als Reginald Burdon sich auf den Weg in seine Kajüte machte. Der Regen war eisig kalt, klatschte ihm auf die Schultern, als wollte er ihn in die Knie zwingen, doch Burdon bemerkte es kaum, denn er war an den vielen Regen gewöhnt und ging seelenruhig unter Deck, hinab in seine Kajüte. Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett, schlüpfte erst aus seinen Stiefeln und dann aus seinem Mantel. Er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, stand auf, streckte sich und ließ sich anschließend aufs Bett fallen. „Verdammter Hurensohn!“, murmelte Reginald. Dieser Bastard, wie Reginald seinen Kapitän nennen musste, hatte doch tatsächlich beschlossen, ihn drei Tage nachdem sie Portsmouth erreicht hatten, wieder auf See zu schicken.

Caroline würde außer sich sein vor Wut, Traurigkeit und Sorge, wusste er doch, dass sie, obwohl sie es nicht gern zeigte, jedes Mal, wenn er wieder auf See musste, voller Angst war, denn schließlich, so sagte sie immer, könnte auf See stets etwas passieren. Und wer würde sich dann um sie und Thomas kümmern? Er lächelte bei dem Gedanken an den kleinen Thomas, der jetzt fünf war und doch noch keine starke Beziehung zu seinem Vater aufgebaut hatte. Es war jedoch ein bitteres Lächeln, das da über seine Lippen zog. Er liebte Thomas mindestens genauso sehr, wie er Caroline liebte. Aber der Junge fühlte sich nicht zu ihm hingezogen, wenngleich er stets glücklich war, wenn sein Vater wieder nach Hause kam. Reginald hatte dieses unangenehme Gefühl der Hilflosigkeit, wenn er versuchte, mit dem Jungen zu sprechen oder an ihn ranzukommen. Es war, als hätte der Junge so etwas wie eine Mauer gegen ihn aufgebaut, hinter der er zwar manchmal hervorspähte und damit seinem Vater ein wenig Hoffnung machte, aber nur, um dann möglichst schnell wieder dahinter zu verschwinden. Reginald hatte den Jungen nie geschlagen, nicht einmal mit ihm geschrien oder ihn grob behandelt. Auch Caroline behandelte er stets gut und mit Respekt, und so hatte er ihm nicht den geringsten Grund gegeben, ihn so zu ignorieren und so kalt zu behandeln. Reginald drehte sich auf dem Bett zur Seite und presste sein Gesicht in das Kissen, als


Er wollte schon wieder unter Deck gehen, als er, auf der anderen Seite des Schiffes, etwas Seltsames entdeckte. Er ging schnellen Schrittes quer über das Deck und starrte ins Meer hinaus, als seine Augen plötzlich auf das trafen, was er schon zuvor gesehen hatte. Er hielt sich an der Reling fest und fühlte, wie ihn ein eiskalter Schauer packte. Dort draußen sah er, wie ein kolossaler, menschlich aussehender Oberkörper aus dem Wasser ragte. Er war, aufgrund seiner Farbe, kaum auszu­ machen, denn diese war fast ebenso pechschwarz wie das Meer, erschien ihm jedoch eher einen schwachen Grünstich zu haben. Er war komplett mit Schuppen bedeckt, die im Mondlicht leicht glitzerten, was wohl ursprünglich seine Aufmerksamkeit für das Biest geweckt haben dürfte, das seine riesigen Arme vor der Brust überkreuzt hatte und so, vollkommen

Er riss sich von dem Blick des Monsters los, machte einige Schritte zurück und rannte so schnell er konnte zu der Schiffsglocke, ­während er, aus seinen Augenwinkeln heraus, das Untier nicht unbeobachtet ließ. Er packte den Strick der Glocke, zog mehrere Male heftig daran, und das Läuten machte ihm schon fast wieder Mut, denn er wusste, wenn seine Kameraden eintreffen würden, wäre er nicht mehr allein mit dem Ungeheuer. Er schloss seine Augen für einen Moment, während das Läuten der Glocke noch in seinen Ohren hallte, nur, um sie dann wieder aufzureißen und seinen Blick auf das furchtbare Monster zu werfen. Er erstarrte und fühlte, wie ihm kalter Schweiß an der Schläfe hinunterrann. Das Monster bewegte sich nun, zu Reginalds großem Entsetzen, auf seinen Tentakeln vorwärts gleitend, schnurstracks auf das Schiff zu. Die Tentakel waren dick, kräftig und schienen sehr lang zu sein. Reginald konnte sie nicht in ihrer vollen Länge sehen, jedoch war er sich ganz sicher, dass das Biest jede Menge davon hatte. Es näherte sich, bei seinem Gleiten immer schneller werdend, und hatte die Strecke, die ursprünglich zwischen ihm und dem Schiff gelegen hatte, in derselben Zeit zurückgelegt, die die anderen Seemänner gebraucht hätten, um an Deck des Schiffes zu ­kommen. Und dann geschah es auch schon. Das Biest hob einen seiner riesigen Tentakel aus dem Wasser, während die wenigen Matrosen, die bereits an Deck waren, alle, wie angewurzelt, dastanden und zusahen, wie der schwarzgrüne Riesen-Tentakel langsam auf den Mast des Schiffes zuschwang und ihn wie ein Streichholz entzweibrach. Reginald konnte gerade noch: „NEIN!“, brüllen, doch es war zu spät. Das Biest hatte den Mast einfach abgebrochen, hochge­ hoben und fortgeworfen, so wie es ein Kind mit einem Stock tun würde. Das rief in Reginald unweigerlich Gedanken an Thomas und damit auch an Caroline hervor. Reginald fasste sich wieder, doch zu seinem Erschaudern musste er mitansehen, wie die Bestie, mit ihren kleineren und dünneren Tentakeln, vier von Reginalds Kameraden mühelos ergriff. Einen von ihnen starrte sie einfach nur an, er schrie auf, dann packte sie ihn und warf ihn weit von sich fort, hinaus ins Meer. Einen anderen drückte sie unter Wasser, und die zwei übrigen verschlang sie genussvoll, und zwar einen nach dem anderen. Dabei konnte ­Reginald einen Blick auf die Zähne des Biests werfen, die lang, scharf und dünn waren. Er konnte nicht zählen, wie viele es waren, denn da hatte es die zwei Matrosen auch schon im Maul und

Schreibakademie HORN

Als er wieder aufwachte, merkte er plötzlich, wie stickig es in seiner Kajüte war. Er stand auf, schlüpfte schnell in Hose und Jacke, zog seine Stiefel wieder an, warf zuletzt seinen Mantel über und ging dann an Deck, um sich an die Reling zu stellen. Der Regen hatte sich gelegt, und die See war jetzt ruhig. Anhand des Standes des Mondes, der sich goldgelb im Wasser spiegelte, schloss er, dass es jetzt wohl gegen zwei Uhr Früh sein ­musste.

reglos, auf die nächtliche See hinaus starrte. Was ihn am meisten in Angst versetzte, war der Fischkopf, der auf dem Körper des Monstrums majestätisch thronte. Doch als hätte die Bestie seinen Blick bemerkt, wandte sie langsam ihren Kopf in seine Richtung und ­starrte Reginald aus ihren großen schwarzen bedrohlichen Fischaugen an, und da war es Reginald, wenn er in diese Augen sah, als ob er in einen bodenlosen Abgrund hinab blickte.

81

Fabian Stummer

wollte er schreien, doch er hatte nicht die Kraft dazu. Sobald er wieder nach Hause kam, würde er lediglich drei Tage für seine Familie haben. Nicht genügend Zeit, um sich mit Thomas zu beschäftigen oder zu versuchen, an den Jungen heranzukommen. Reginald zog seine Jacke und Hose aus, warf sie auf den Boden, zog die Decke bis zum Kinn hoch, wickelte sich in sie ein, dachte noch ein wenig an seine Familie und schlief dann langsam ein.


Schreibakademie HORN

Fabian Stummer

82

schloss dieses wieder. Man konnte noch die schrillen Schreie von einem der beiden hören, aber dann merkte man, wie die Kiefer des Untiers zusammenklappten und die Schreie im selben Moment verstummten. Ein Kauen, Würgen und schließlich ein Hinunterschlucken waren noch zu sehen, dann musste Reginald sich übergeben. Er versuchte einen Schritt zurück zu machen, stolperte jedoch und fiel auf die Knie und auf die Hände. Er drehte sich sofort auf den Rücken und lag nun am Boden, während er hilflos zusehen musste, wie das Monster seinen größten Tentakel wieder erhob und ihn mit einer schnellen Bewegung auf das Schiff fallen ließ. Die HMS Courage war zwar ein Kriegsschiff gewesen, aber nun schlug der fette Tentakel ohne viel Mühe durch die Bretter und ließ eine tiefe Schneise im Schiff zurück. Und dann sah Reginald, wie plötzlich ein weiterer, kleinerer Tentakel direkt auf ihn zukam, ihn packte und mühelos hochhob. Er wusste, dass jegliche Gegenwehr keinen Sinn mehr machte. Jetzt war alles vorbei. Die Bestie zog ihn an sich heran und nahm in dann, mit einer ihrer grässlichen Klauen, aus der Umklammerung des Tentakels heraus. Für einen Moment saß er einfach nur in der harten gekrümmten Klaue des Biests, und dieses führte ihn näher zu sich heran, bis er ihm direkt in die großen kalten schwarzen Fischaugen sehen konnte. Reginald konnte den stinkenden Atem des Biests hören. Langsam war er, ruhig, regelmäßig. Reginald sah aus den Augenwinkeln, wie seine anderen Kameraden über das Deck liefen, doch er wusste nicht warum, und einige standen überhaupt nur da und sahen tatenlos zu ihm hinauf. Und während er in den tiefen Abgrund, der sich in den pechschwarzen Augen der Bestie öffnete, blickte, schöpfte er wieder

Hoffnung. Er richtete sich mit letzter Kraft auf, starrte das Biest an und griff schließlich mit einer schnellen Armbewegung in seinen Mantel, zog sein Messer hervor und sprang. Er hielt das Messer in einer Hand, während er sich mit der anderen an dem glitschigen und schleimigen Gesicht des Monsters festhielt, und dann bohrte er schließlich das Messer tief in das pechschwarze Auge hinein. Er spürte ganz deutlich, wie heißes Blut aus dem Auge quoll, das Monster schrie, und er konnte den Schrei hören und fühlen, denn unter ihm hatte sich gerade der Schlund des Biests aufgetan, wie er an dem starken Geruch von Fäulnis und dem warmen Atem deutlich spüren konnte. Mit der letzten Willenskraft, die er in ­seinem Körper aufbringen konnte, zog er das Messer nach unten, um die Wunde noch zu vergrößern, ließ das Messer dort stecken und stieß sich vom Gesicht des Untiers ab. Er schloss die Augen. Thomas. Caroline. Er flog durch die kalte Nachtluft. Gleich darauf fühlte er bereits, wie ihm die kalte See ins Gesicht schlug. Er konnte nichts sehen, spürte nur, dass er im Wasser war, konnte aber nichts sehen. Nein, er schwamm einfach. Er musste weg. Weit, weit weg! Das Biest hatte wohl genug mit seinen Schmerzen zu tun. Es kümmerte Reginald nicht im Geringsten. Er glaubte nur, sein Brüllen hören zu können. Er schwamm, schwamm und schwamm, denn die Kräfte verließen seine Arme nicht, und er dachte nicht nach. Er tauchte unter. Nach einer Weile kam er wieder an die Oberfläche und sah nach hinten. Er konnte die HMS Courage noch immer sehen und auch das Biest, das brüllend zusammengekrümmt auf dem Schiff kauerte und sich das verletzte Auge hielt. Dann wandte er den Blick wieder ab und schwamm weiter. Weiter und weiter. Einfach nur weg von hier, so schnell wie nur irgendwie möglich weg von hier, weit weg, von diesem furchtbaren Ort des grenzenlosen Entsetzens ...

SCHREIB AKADEMIE


Ich

Was ich schon eher bin

83

Ich bin ein Mädchen, 14 Jahre alt und etwa 1,65 m groß, ich habe braune Augen, so dunkel, dass man die Pupille nicht mehr sieht, schwarze stark gelockte Haare und dunkle Haut.

Ich bin ein glücklicher Mensch. Grundsätzlich. Ich lache viel und erfreue mich auch an den kleinen Dingen des Lebens. Meistens. Trotzdem kann ich auch zu einem ungemütlichen Zeitgenossen werden. Manchmal. – Ich würde sagen, ich bin ein Mensch.

Crystal Tiki

Schreibakademie HORN

CRYSTAL TIKI

Aber all diese Dinge sind egal, denn sie machen mich nicht im ­Geringsten aus.

Das alles sind nur grundlegende Dinge über mich, denn was ich wirklich bin, werdet ihr hier nie herausfinden. Denn um einen Menschen in all seinen Facetten, Launen, Eigenartigkeiten, Einzig­ artigkeiten und Talenten kennen zu lernen, reichen selbst 100 Seiten geschriebenes Wort nicht.


An einem besseren Ort

Schreibakademie HORN

Ich bin dort, dort wo alles gut ist. Ich brauche nichts mit mir mit, denn dort, wo ich bin, ist alles für mich gemacht. Ich bin hier alleine, aber wenn ich will, rufe ich meine Freunde zu mir, und wir spielen gemeinsam. Wir laufen über die grünen weiten Wiesen, und endlos erstreckt sich der Horizont vor uns. Wenn die Nacht heranbricht und der riesige rot-orange Feuerball sich vor uns niederlegt und über uns der Mond die höchste Stufe des Nachthimmels erklimmt.

Crystal Tiki

84

Die Nacht bringt Kühle an unsere schuhlosen Füße, aber niemand friert. Niemand hat Angst vor der Dunkelheit, vor den Schatten, die hinter uns herlaufen. Und wir laufen weiter. Bis zum Sonnenaufgang, welcher der Welt seine Farbe zurückgibt, sie aus ihrem Schlaf holt und der unseren Augen ein Glitzern von unbeschreiblicher Schönheit gibt, als würde sich all das Gute dieser Welt in unseren Augen widerspiegeln. Meine Füße berühren den Boden, das grüne Gras spielt mit meinen kleinen Zehen. Es kitzelt, aber sticht nie. Ich vermisse nichts. Denn ich habe alles. Ich muss keine Sehnsüchte verspüren, keine Schmerzen und keine Angst. Selten habe ich noch Hunger, und wenn doch, dann klettere ich in die höchsten Baumspitzen und hole mir dort die süßesten Früchte. Meinen Durst stille ich an den Quellen, das klare kalte Wasser umspült meine

SCHREIB AKADEMIE

Beine, reinigt sie von der braunen Erde, vom Grün des Grases. Den Boden der Quelle kann ich nicht sehen, doch wenn ich tauche, sehe ich so vieles. Fische in allen Farben, in allen Formen. Sie schwimmen mit mir, bis ich wieder auftauche. Dann laufe ich weiter, bis ich in die Wüste komme, die Sonne ist hier noch viel stärker. Sie erhitzt den Sand unter meinen Füßen. Hier gibt es auch nicht viel Wasser, doch wenn ich den Schlangen folge, kann ich es finden. Manchmal ist es in kleinen Löchern, manchmal ist es in riesigen Höhlen. Es macht mir Spaß, danach zu suchen, ich könnte das für immer tun. Aber trotzdem ziehe ich weiter. Dorthin, wo die Bäume so hoch wie die Wolken wachsen. Dorthin, wo die Affen sich über die Lianen schwingen. Dorthin, wo der Tiger seine riesengroßen Spuren in der feuchten dunklen Erde hinterlässt. Wenn ich dort bin, singen mir, über meinem Kopf, tausend Vögel ihre Lieder. Die bunten Farben ihrer Flügel reflek­tieren das Licht der Sonne. Meine Augen sind schon fast geblendet von dieser Schönheit. Hier könnte ich bleiben, doch trotzdem gehe ich weiter. In Richtung des ewigen Eises, und immer noch begleitet mich die Sonne, sie prallt von den zahllosen Schneeflocken ab und bricht sich in den riesigen Eisbergen, die scheinbar schwerelos auf dem ruhigen, kristallklaren und tiefblauen Wasser treiben. Ich frage mich, ob auch sie eine Reise antreten wollen, in andere Gewässer, und ob sie sich wohl grämen, weil sie es nicht können. Lange warte ich auf eine Antwort von diesen glitzernden Eisgiganten, doch ich bekomme keine, also werde ich weitergehen. Ich laufe einen langen Weg entlang, beinah endlos scheint er zu sein. Viele Wochen gehe ich, tagsüber begleitet von der Wärme der hellen roten Scheibe am Himmel und nachts vom Mond und der angenehmen Kühle um meinen Körper herum. Dann bin ich an einem Strand, der gerade von Wasser geflutet wird. Als es sich zurückzieht, entdecke ich Muscheln, so viele auf einmal. Sie schimmern so wunderschön, vielleicht werde ich welche mitnehmen. Vielleicht brauche ich das auch gar nicht. Denn vielleicht bleibe ich für immer hier. Hier, an diesem Ort, an dem die Sonne niemals zu heiß scheint. Wo die Schatten mit dir tanzen, wo du niemals alleine bist.


wie vor die Geräusche aus dem Wohnzimmer, also bin ich noch nicht außer Gefahr. Plötzlich wird die Tür aufgerissen, mein Vater starrt mir mit hochrotem Gesicht in die Augen. Er ist wütend, sehr wütend. „Deine Lehrerin hat angerufen!“, brüllt er. „Du wirst immer schlechter in der Schule. Da muss ich mir noch nachsagen lassen, ich würde dich nicht gut erziehen und hätte keine Konsequenz. Ich werd dir gleich zeigen, was Konsequenzen sind!“ Mit großen schweren Schritten geht er auf mich zu, reißt mich an meinen Haaren vom Stuhl und schleudert mich mit voller Kraft gegen die Wand, ohne mich loszulassen. Dann schleppt er mich in den Flur und dreht meinen Kopf brutal zu dem Bild an der Wand. Wir drei, Mama, Papa und ich, glücklich vereint, auf einem großen Farbfoto. Bevor meine Mutter uns verlassen und mein Vater begonnen hatte, sich sein Gehirn wegzusaufen. „Glaubst du ernsthaft, sie wäre stolz auf dich? Glaubst du das wirklich?“ Auf diese Frage gibt es keine richtige Antwort. Nicht für ihn. Trotzdem hauche ich, mit meinem letzten Mut und letzter Kraft, ein Wort in mich hinein: „Ja!“ Ruckartig lässt er meine Haare los, um mich gleich darauf wieder grob am Arm zu packen. Dann schleift er mich zu meinem Zimmer, stößt mich hinein und schließt von außen die Tür ab. „So, und da drinnen bleibst du jetzt, bis du wieder weißt, wie man sich ordentlich benimmt!“ „Ja, Dad. Daddy, lass mich bitte wieder hinaus, bitte, bitte, ich werde auch brav sein, dein kleines braves Mädchen werde ich sein, so wie du es immer wolltest! Aber bitte, bitte sperr mich nicht wieder ein!“ Ich schreie, schreie, schreie, bis ich nicht mehr kann. Dann lehne ich mich gegen die Tür und lasse mich langsam an ihr heruntergleiten, bis ich auf dem Boden sitze, und ich schmiege meinen Kopf an meine Knie, lege meine Arme hilflos um meinen bebenden Körper. Schmecke Blut in meinem Mund. Diesen metallischen Geschmack, ach, wie gut ich ihn kenne. Mein Kopf pocht stark und schmerzhaft. Meine Kehle ist staubtrocken und gereizt. Aber hier komme ich nicht raus, um etwas zu finden, das meine Schmerzen stillt. Nichts. Wenn ich Glück habe, vielleicht in zwei Tagen. Meiner Lehrerin werde ich erzählen müssen, dass ich wieder krank war, und dass die blauen Flecken von einem Unfall stammen, weil ich wieder nicht aufgepasst habe, wo ich hingetreten bin. Sie werden es mir glauben. Oder auch nicht. Ich blicke zum Fenster, vielleicht könnte ich weglaufen. Aber nein, das wäre eine schlechte Idee. Die vielen Narben an meinem Körper beweisen das. Wohin sollte ich denn auch gehen? Hier bin ich zu Hause. So traurig es auch ist. Langsam richte ich mich wieder auf. Kurz lehne ich mich an die Tür, halte mich am Türstock fest, denn mir ist immer noch schwindelig. Plötzlich spüre ich etwas Feuchtes an meiner Wange. Es bahnt sich seinen Weg. Den Weg über die Wunden in meinem Gesicht. Dann gleitet es in meinen Mundwinkel und bleibt dort hängen. Eine Träne. Sie schmeckt sehr salzig.

85

Crystal Tiki

Ich warte. Warte, wie jeden Abend, auf das Unvermeidbare. Warte, warte auf meine größte Angst. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, werde es auch nie. Obwohl ich genau weiß, was jeden Abend passiert, fürchte ich mich immer mehr. Davor, was noch passieren könnte. Ich versuche, nicht daran zu denken. An die unzähligen furchtbaren Szenarien, die sich, Nacht für Nacht, in meinem Kopf abspielen. Ich versuche, mich nicht zum Weinen bringen zu lassen. Ich habe es Mama versprochen, kurz bevor sie wegging. Ich schüttle meinen Kopf, als könnte ich damit die Gedanken an sie los­ werden. Drücke mir die Hände auf die Augen, um sie vor der traurigen Realität zu bewahren. Da höre ich eine Tür ins Schloss fallen. Nein, nein, nein! Bitte nicht! Ich bin zu spät. Jetzt kommt es auf jede Sekunde an. Kaum im Flur sehe ich schon die stark torkelnde, plumpe, bullige Figur ­meines Vaters. Heute hat er wieder zu viel getrunken. Das ist nicht gut, nicht für mich. Ich gehe an ihm vorbei und schließe die Tür. Dann drehe ich mich um, bereit für das, was kommen wird, kommen muss. Und schon spüre ich ihn. Den kräftigen, brutalen, stark schmerzenden Schlag, der meine Schläfe aufplatzen lässt. „Du gehst in die Küche und machst mir sofort ein Steak! Und du bist besser schnell fertig, bevor das Spiel anfängt!“ Ich nicke kurz und eile gleich in die Küche. Jetzt darf ich keine Fehler machen. Zuerst braucht er sein „Willkommensbier“, dann kann ich anfangen, das Essen zu kochen. Ich stelle das Bier auf dem Tisch vor dem Fernseher ab. Werde nicht eines Blickes gewürdigt. Wie immer. Also begebe ich mich an meinen Platz hinter den Herd und koche das Essen. Auch dies stelle ich auf den Tisch. Dann gehe ich in mein Zimmer und versuche Hausaufgaben zu machen. Erfolglos. Ich höre nach

Schreibakademie HORN

Warten


Selbstmord

Schreibakademie HORN

ANNA SOPHIE PRISTON, WENN DU NICHT INNERHALB DER NÄCHSTEN 5 SEKUNDEN FIX UND FERTIG HIER UNTEN STEHST, DANN KOMM ICH HOCH UND ZERR DICH AN DEINEN HAAREN HIER RAUS, ICH WARNE DICH, FRÄULEIN, SPIEL NICHT ­LÄNGER MIT MEINER GEDULD!!!!!

Crystal Tiki

86

Das durfte doch wohl nicht wahr sein, jedes Mal kommen wir zu spät zur Schule, was macht sie nur so lange da oben? Jeden Morgen wecke ich sie pünktlich, und trotzdem ist sie nie fertig, wenn ich fahren will. Nun gut, hilft nichts, dann muss ich unser Prinzesschen eben holen. Ich stapfe die Treppen hoch und will grade die Tür aufreißen, als ich einen Zettel an der Tür bemerke. Mama, ich wollte dir schon lange etwas sagen, aber es hat sich nie über meine Lippen getraut. Als wir umgezogen sind und ich die Schule gewechselt habe, vertrug ich mich nie so gut mit meinen Mitschülern, und ich dachte immer, das ginge vorbei. Aber das tat es nicht, sie hassten mich jeden Tag bloß noch mehr. Und sie beleidigten mich fortwährend. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Er fühlte sich an, als würde er mich auffressen. Als könnte er all das ­Schöne, die guten Erinnerungen in mir, allesamt verschlingen. Aber er tat dies nicht auf schnelle Weise. Nein. Das ist mir nicht vergönnt. Er nahm sie mir langsam, eine nach der anderen. Er tauchte sie ein in schwarzes Licht,

und mit einem Mal war es, als wären sie nie dagewesen. Gute Gefühle, Gedanken, Worte. Ich kann mich nicht daran erinnern. Daran, jemals kind­liche Unwissenheit genossen zu haben, jemals sorglos gewesen zu sein, jemals geliebt worden zu sein, mich jemals geborgen gefühlt zu haben. Ich kannte diese Gefühle nicht mehr. Denn sie wurden mir alle genommen. Die Gefühle, die ich spürte, waren Angst, Panik, Verzweiflung. Diese Gefühle waren immer da. Immer. Ich musste sie jeden Tag empfinden. Ich habe versucht, mich dagegen zu wehren, aber je öfter ich es versuchte, desto mehr übermannten sie mich. Sie drängten mich in die Ecke und verhöhnten mich, lachten mich aus, demütigten mich, sie schlugen auf mich ein und sie verspotteten mich. Und sie gingen nicht wieder weg, seit dem Moment, an dem sie zum ersten Mal gekommen waren. Sie waren es, die mir Schmerzen zufügten, mich immer mehr schwächten, und als die Schwäche kam, gingen die schönen Dinge aus meinem Leben für immer fort. Und alles, was blieb, war diese unglaubliche furchtbare Leere, die immer mehr und mehr mit Schmerzen gefüllt wurde. Und ich konnte absolut nichts dagegen tun, so sehr ich mich auch danach sehnte. Danach, geliebt zu werden. Doch alles was ich durfte, war leiden. Aber ich will nicht, ich will nicht mehr leiden. Ich will flüchten, nur noch flüchten vor den Schmerzen, vor der Angst, vor der Panik, vor der Verzweiflung, vor meiner eigenen Schwäche. Aber ich bin nicht feige. Ich bin mutig und stark, wenn auch nicht mehr so wie damals. Ich habe nicht alles verloren. Noch nicht. Und ich werde vor allem nicht zulassen, dass ich an all diesen schrecklichen Dingen zugrunde gehe. Niemals. Denn nur ich selber, und niemand anders, darf über mein Leben entscheiden. Ich habe Tränen in den Augen. Ich wusste nichts von alledem. Ich hatte keine Ahnung, dass es ihr so schlecht ging. Und ich bin so stolz darauf, dass sie sich nicht unterkriegen lässt, dass sie ihr Leben jetzt wieder selber in die Hand nehmen will. Ich will sie nur noch umarmen und mich dafür entschuldigen, dass ich ihr nicht mehr zugehört habe. Dass sie mir nicht mehr vertrauen kann. Ich will sie beschützen. Ja, das will ich. Ich schließe die Tür auf und laufe mitten hinein in den Raum. Dort liegt sie auf ihrem Bett. Tot, aber – mit Augen voller Leben.

SCHREIB AKADEMIE


GEMEINSCHAFTSARBEITEN Schreibakademie HORN

der Schreibakademie Horn September 2013 bis Mai 2014

Hotel Excelsior Nachdem ich die Tür geschlossen und meinen schwarzen Koffer neben dem Bett abgestellt hatte, ging ich zum linken Fenster meines Hotelzimmers und sah nachdenklich hinaus auf die mir noch vollkommen fremde Stadt, über die dichte weiße Nebelschwaden hinweg zogen. Es waren einige Hochhäuser zu sehen, doch keine übermäßig großen Autobahnen, die von Autos und Lkws überquollen, und jede Menge Häuser und Geschäfte, alles, was eine Stadt wie diese wohl so braucht, anschließend griff ich in meine Mantel-Innentasche, zückte meinen Reisepass, klappte ihn auf und las in mich hinein, Name: Eric Jaeger, geboren: 5. 12. 1898; die restlichen Informationen ignorierte ich vorerst und versuchte, mich an meinen neuen Namen zu gewöhnen. Bis mich plötzlich ein leises Klopfen an

der Tür aus meinen Gedanken riss, worauf ich mich umwandte, leise und vorsichtig zur Tür schritt, so wie ich es seit jener schrecklichen Zeit damals gewohnt war, und fragte, wer draußen sei, um nach der Antwort die Tür misstrauisch zu öffnen und erfreut dieser blonden Frau in die Arme zu fallen, die mich schon seit Wochen nicht mehr in Ruhe ließ, um sie dann jedoch erbost und erschrocken von mir zu stoßen, sie anzuschreien, dass sie sofort verschwinden solle, um dann zurück in mein Hotelzimmer mit der Nummer 111 zu taumeln und die Tür sofort hinter mir zu verriegeln. Anschließend zog ich eine Zigarette aus meiner Sakkotasche, entzündete sie mit einem Streichholz und ließ mich seufzend auf das Bett fallen; ja, warum war Cassandra hier, und wie konnte sie wissen, wo ich zu finden gewesen war. Und so blies ich nachdenklich einen Rauchring nach dem anderen in Richtung Decke. Schließlich machte ich mich, es war schon später Abend, auf den Weg in die Stadt, streifte durch die finsteren und nebeligen Gassen, und die einzige Person, die mir über den Weg lief, war eine alte Frau, die langsam, deprimiert und scheinbar ohne Ziel vor sich hin spazierte. Immer wieder blickte ich mich um, ob mir nicht vielleicht doch schon wieder Cassandra auf den Fersen wäre, aber sie war es

Gemeinschaftsarbeiten

87

Eine düstere Kriminalgeschichte aus dem Amerika der 1930er Jahre


Schreibakademie HORN

Gemeinschaftsarbeiten

88

nicht; und da ich für den Rest des Abends nicht mehr vorhatte, betrat ich ein Lokal, auf dessen rotem Schild „Nacht-Bar“ stand. Ich wurde von einer gut gebauten Dame in einem sehr kurzen, ganz eng sitzenden, violetten Kleid begrüßt, deren rotblondes Haar bis zu ihren wohlgeformten Brüsten reichte, nicht jedoch ihre Brustwarzen, die durch das Kleid sichtbar waren, verdeckte; diese Dame war in ihren Gedanken wohl schon bei ihrer für sie typischen Dienstleistung, denn ein großes Des­interesse schrie aus ihren Augen heraus, während der Rest ihres Körpers überdeutlich „Komm, nimm mich sofort!“ zu sagen schien. Ich achtete jedoch nicht weiter auf den Ausdruck ihrer Augen und auch nicht auf ihren gut gebauten Körper, sondern ließ mich von ihr zur Theke führen, an der, zu so später Stunde, niemand mehr saß, und auch sonst schien das Lokal leer zu sein, doch diese Tatsache ignorierte ich vollkommen und setzte mich auf einen Barhocker, woraufhin mir der Barkeeper sofort einen Cocktail reichte, der mir vollkommen unbekannt war, und eine üppige, stark nach einem Fliederparfum riechende, dunkelhäutige Frau, mit halb entblößtem Oberkörper, ohne Kommentar auf meinem Schoß Platz nahm und ihre kräftigen muskulösen Arme um meinen Hals schlang. Unwillkürlich musste ich an mein früheres Hausmädchen Mary denken, was unweigerlich und sofort auch das Bild meiner Frau Lucy heraufbeschwor, 5000 Kilometer westlich von hier, die nicht die geringste Ahnung hatte, wo ich mich wirklich aufhielt. Plötzlich aber übermannte mich, dort an der Bar, mit dieser üppigen willigen Frau auf meinem Schoß, eine Art depressiver Schub, der sich wie ein brutaler Stich in meinem Herzen anfühlte, und dieser Schub brachte

mich augenblicklich dazu, die offensichtliche Prostituierte energisch von mir zu stoßen und innerlich fast komplett in diesem finsteren Schatten, der mich so plötzlich überfallen hatte, zu versinken und anschließend, ohne zu bezahlen, zur Tür des Nachtlokals zu stolpern, hinauszulaufen in die verlassenen Straßen und in den dichten Nebel und mich schließlich, vor hohen hässlichen verschmutzten Hochhäusern, auf eine Bank zu setzen, um mich von dem soeben Erlebten etwas zu erholen. Ich saß dort, wie gelähmt, und starrte minutenlang in den dichten unbeweglichen Nebel hinein, ohne einen konkreten Gedanken fassen zu können; kein Mensch kam vorüber, ab und zu fuhr ein Auto vorbei, und plötzlich lief eine schwarze Katze über die Straße; nach einer Viertelstunde etwa, ich spürte bereits die Kälte der Nacht, erhob ich mich schließlich und kehrte, mit schnellen ­Schritten, als wäre mir jemand auf den Fersen, ins Hotel Excelsior zurück, wo, zu meiner großen Überraschung und Verwunderung, Cassandra weinend vor meinem Hotelzimmer mit der Nummer 111 stand. Genervt blieb ich stehen, blickte einige Sekunden lang auf ihren zuckenden Rücken, den sie mir zuwandte, und ging dann mit energischen Schritten auf sie zu, um sie brutal von der Tür wegzu­ stoßen und anzufahren, was sie denn hier schon wieder zu suchen habe, warum sie mir nachgereist sei, worauf sie laut aufschluchzend vor mir in die Knie sank, wie sie es früher oft getan hatte, um mich zur Weißglut zu bringen. Wie damals schon meldete sich mein schlechtes Gewissen, und gleichzeitig überwältigte mich ein Ärger über mich selbst, dass ich schon wieder einzuknicken drohte; also floh ich, so schnell wie nur irgendwie möglich, vor ihr in das Zimmer, schlug die Tür zu und wollte gerade tief durchatmen, als auch schon einige dumpfe und laute Schläge gegen die Tür mich malträtierten und eine helle Frauenstimme hysterisch kreischte: „Mach jetzt sofort die Tür auf, sonst erfährt hier jeder, dass du hier bist, und das würde für dich wahrscheinlich nicht sehr angenehm sein! Hallo Leute, hört mal her, auf Zimmer 111 hat Sam Quartier bezogen …!“ – weiter kam sie nicht, denn ich riss in Panik die Tür auf, zog Cassandra herein, presste meine rechte Hand auf ihren Mund, um sie erst wieder herunterzunehmen, als ich sicher sein konnte, dass Cassandra sich beruhigt hatte; und da konnte ich ganz sicher sein, denn ich wusste, dass sie nur eines wollte, nämlich bei mir zu sein. Sie sah mich aus ihren dunklen Augen an und flüsterte: „Du hast es meinem Onkel versprochen, damals, erinnerst du dich?“ Ich starrte Cassandra entgeistert an und sagte mit leiser Stimme zu ihr: „Ach, bitte, Cassandra, beruhige dich doch vorerst einmal …!“, während in meinem Kopf die Erinnerungen wieder hochkamen, die Erinnerungen an Mr. Charles McQueen, Cassandras Onkel,


Ich setzte mich also neben Cassandra auf die breite braune Ledercouch, die vorne beim Fenster stand, legte meine rechte Hand zärtlich auf ihren linken Oberschenkel, eine Berührung, die sie vorerst gar nicht zu bemerken und die sie auch nicht zu stören schien; sie hatte zu weinen aufgehört; und so begann ich, und zwar ganz vorsichtig, sie über den plötzlichen mysteriösen Tod ihres geliebten Onkels, meines damaligen Chefs, Mr. Charles McQueen, zu befragen.

Die Stantons und McQueens hatten sich, da sie sich bei ihren krummen Machenschaften und Geschäften ständig in die Quere kamen, niemals leiden können, und so hatte mir Archibald Stanton, der Kopf der Schmugglerbande, im Geheimen angeboten, er würde mich großzügigst entlohnen, wenn ich ihm von Charles Plänen erzählen würde; doch McQueen war immer schon ein äußerst misstrauischer Mann gewesen und hatte, seine Nase war nämlich, was solche Dinge betraf, eine sehr feine gewesen, irgendwie Verdacht geschöpft; da ihm jedoch an meiner Zuverlässigkeit sehr viel lag, hatte er mir angeboten, mich als seinen Hauptpartner im Alkoholschmuggel einzusetzen, und ich hatte, hinsichtlich des großen Gewinns, sofort angenommen, weil mir auch, um meine Familie zu ernähren, gar nichts anderes übrig blieb; ja, ich hatte sofort und bedingungslos angenommen, Charles meine Treue versprochen und ihm versichert, mit ihm im Alkohol­schmuggler­ geschäft zusammenzuarbeiten. Mir war es damals, nach dem Treueversprechen und meiner Entscheidung für McQueen, sehr wichtig gewesen, auch gleich mit den Stantons gründlichst abzurechnen und sie als Konkurrenten für immer auszuschalten, sodass sie für uns in der Zukunft keinerlei Konkurrenz oder Bedrohung mehr darstellen konnten, denn es ist bekanntlich immer gut, wenn man zwei Fliegen mit einem einzigen Schlag erledigen kann; ich erledigte diese Angelegenheit also auf die Weise, dass ich die Stantons und einen ihrer geplanten Coups an die Polizei verriet, die die Stanton-Bande daraufhin sofort hinter Schloss und Riegel brachte, worauf McQueen und ich ruhig schlafen und unseren Alkoholschmuggel ebenso ruhig, und vor allem ungestört von lästigen Konkurrenten, abwickeln konnten. Da die Stantons somit für Jahre aus dem Spiel waren, hatten Charles und ich keine ernst zu nehmenden Konkurrenten mehr, und unser Schmuggelgeschäft florierte so prächtig wie nie zuvor, sodass Charles bald zu einem der mächtigsten und vor allem reichsten Männer im Schmugglergeschäft unserer Stadt wurde,

Schreibakademie HORN

Aber nun musste ich erst einmal mit dieser Situation, hier, auf Zimmer Nummer 111, im Bostoner Hotel Excelsior fertig werden. „Setz dich erst einmal hin, Cassandra“, sagte ich mit sanfter Stimme, um die Situation etwas zu beruhigen, denn ich musste selbstverständlich erst einmal herausfinden, was Cassandra über den plötzlichen Tod ihres Onkels, der schließlich auf mein ganz persönliches Konto ging, wusste; das war äußerst wichtig, denn irgendwelche unvorhergesehene, vielleicht sogar große Schwierigkeiten konnte ich mir nämlich bei dem äußerst heiklen Auftrag, der mich hierher ins Excelsior geführt hatte, auf keinen Fall leisten. Niemals.

Da ich nämlich, bis zu diesem Augenblick, überhaupt nicht wusste, inwieweit und wie genau Cassandra über das Ableben von McQueen im Bilde war, war mir natürlich sofort klar, dass ich in dieser Angelegenheit ­äußerst behutsam vorzugehen hatte, um mich nicht zu verraten, denn ihre wütende Drohung von vorhin, meine wahre Identität, hier im Excelsior, auffliegen zu lassen, verhieß mir nichts Gutes; mein geheimer Auftrag war äußerst heikel, wie gesagt, und verlangte dementsprechende absolute Geheimhaltung. Plötzlich kehrten Erinnerungen in mein Gedächtnis zurück, die ich längst verdrängt zu haben glaubte, Erinnerungen daran, wie mich Cassandras Onkel, der damals in einen groß angelegten Alkoholschmuggel verwickelt gewesen war, in einen riskanten Coup ein­geschleust hatte, bei dem ich allerdings, von allem Anfang an, vorgehabt hatte, ihn an eine mit McQueen konkurrierende und verfeindete Gangsterbande zu verraten.

89

Gemeinschaftsarbeiten

den Millionär, durch den ich sie kennengelernt und für den ich, vor einigen Jahren, gearbeitet und dessen Geld ich verwaltet hatte, aber nur, um mich seiner bald zu entledigen und mir dieses Geld, eine sehr hohe Summe war es gewesen, unter den Nagel zu reißen; alles Dinge, von denen meine Frau Lucy, die ja zu Hause bei den Kindern war, nicht die geringste ­Ahnung hatte. Cassandra war dann, immer wieder, bei uns zu Hause aufgetaucht, und das hatte mich schon damals sehr gestört und geärgert. Sie hatte dort nichts zu suchen gehabt! Und was konnte ich dafür oder meine Frau, dass Cassandra sich in mich verliebt hatte? Gar nichts.


Schreibakademie HORN

eine Tatsache, die letztlich auch sein Schicksal besiegelte und sein vorzeitiges Ableben durch meine Hand herbeiführte, denn wir beide waren, durch den Lauf der Dinge, ohne es allerdings selbst zu merken und uns diese furchtbare Tatsache einzugestehen, zu erbitterten Konkurrenten, um nicht zu sagen Todfeinden, ­geworden.

Gemeinschaftsarbeiten

90

Ich hatte noch oft an jenen Tag gedacht, der gleichzeitig denn ­Beginn und das Ende meiner früheren Existenz einläutete, denn seit dem Tag, an dem Charles durch mich sein Leben verlor, war mir die Rache seiner geschockten Familie in jedem Fall sicher. Nicht nur die Rache Cassandras, die mich, trotz meiner Frau Lucy und den beiden Kindern, John und Mary, abgöttisch liebte und die mir selbst den Mord an ihrem Onkel vergeben würde oder womöglich schon vergeben hatte, denn ob sie über meine Hand, die ich beim Mord an Charles McQueen im Spiel gehabt hatte, Bescheid wusste, darüber war ich mir, wie gesagt, keinesfalls im Klaren; und genau deshalb wollte ich jetzt, hier im Excelsior, versuchen, mehr darüber herauszufinden, und beschloss daher, und zwar ganz vorsichtig, mich an sie und an dieses für sie doch so delikate und durchaus schmerzhafte Thema heranzutasten. „Cassandra … Eine kurze Frage bitte, wenn du gestattest, meine Liebe … Bist du … Bist du so verstört wegen deines … deines ermordeten Onkels …?“, fragte ich in die zwischen uns entstandene Stille des Hotelzimmers hinein, die in ihrem hübschen Gesicht blasse, nachdenklich und gedankenverloren zugleich aus dem Fenster, in die Nacht hinausblickende Cassandra, die mir endlich, nach einigen mir endlos lange vorkommenden Minuten, ihren Kopf mit dem schwarzen Haar zuwandte und mich aus ihren dunklen, glänzenden, geheimnisvollen und sehnsüch­ tigen Augen anblickte.

„Nein, wegen meines verstorbenen Onkels bin ich nicht verstört, Sam, sondern eher wegen – dir!“, sagte Cassandra mit leiser und gleichzeitig hintergründiger Stimme. „Willst du mir nicht endlich einmal sagen, was du über den plötzlichen Tod meines ­Onkels wirklich weißt? Du bist schließlich, am Tag seines Todes, mehrere Stunden lang mit ihm zusammen im Büro gesessen. Am Abend, bis in die Nacht hinein, und ihr wart ganz allein …“ Plötzlich jedoch erstarrte ich und dachte an diesen merkwürdigen Abend, es war am vierten Tag nach dem Tod von Charles McQueen, ich war, um Mitternacht, nachdenklich auf meinem Bett gelegen, als Charles, den ich ermordet hatte, ganz plötzlich, wie eine Geister­er­scheinung, vor meinem Bett stand, sein Gesicht war beinahe halbiert, und Gehirnmasse troff aus seinem offenen Schädel, worauf ich, vor Angst, kurz erstarrte und mich dann sofort zur Seite, in Richtung der Wand drehte, um diese fürchterliche Gestalt aus dem Totenreich zu verdrängen, meine Augen schloss und vergeblich zu schlafen versuchte, bis endlich der Morgen anbrach. Dann wurde ich, hier und jetzt, im Zimmer 111 des Excelsior, von einem lauten mehrmaligen Klopfen gegen die Tür aus meinen finsteren Gedanken und Erinnerungen gerissen, worauf sich ­Cassandra erhob, leise sagte „Warte, bleib sitzen, ich gehe schon hin“, sich von der braunen Ledercouch erhob und in Richtung der Tür ging; ich sah genau hin, wie sie ihre kleine Hand auf die Türklinke legte, diese ein wenig nach rechts drehte, als plötzlich, von draußen, ein ohrenbetäubender Knall zu hören war, und das Nächste, das ich wahrnahm, war, dass Cassandra, mit einem ­schrillen Aufschrei, zu Boden sank und Rauch durch das Ein­ schuss­loch in der Tür hereindrang. Sofort griff ich nach meinem Revolver, den ich, seit meinen Tagen bei McQueen, immer an meinem Gürtel trug und der schon sehnsüchtig darauf gewartet hatte, endlich wieder einmal verwendet zu werden, sprang auf, machte drei Schritte in Richtung der Tür und erwiderte den von draußen gekommenen Schuss vorerst mit drei weiteren gezielten Schüssen in Richtung Tür, schoss dann aber weiter und ließ meinen rechten Arm erst wieder sinken, nachdem ich die Revolvertrommel leer geschossen hatte. Dann trat ich zur Seite, stellte mich rechts neben die Tür, lud schnell meine Trommel nach und begann plötzlich laut zu schluchzen, denn mir war schlagartig klar geworden, dass der Schuss nicht Cassandra, sondern mir, der ich nun Eric Jaeger war, gegolten hatte, und noch furchtbarer war für mich die Gewissheit, dass ich Cassandra niemals hätte zur Tür gehen lassen dürfen. Nachdem etwa fünf Minuten vergangen waren, in denen nichts weiter geschah, glaubte ich zu träumen, denn in der beängstigenden Stille hörte ich plötzlich, wie aus weiter Ferne, dass Cassandra leise stöhnte und atmete und somit noch am Leben war!


Ich hatte nur wenig Zeit, um diese Gestalt dieses mörderischen Eindringlings zu studieren, der einen langen schwarzen zugeknöpften Mantel trug, eine lange, aber dünne, tief liegende stahlblaue Augen und so schmale Lippen hatte, dass sie kaum zu erkennen waren, im nächsten Augenblick packte ich ihn schon an der Schulter, hielt ihn fest und drehte sein rechtes Handgelenk, so stark ich konnte, nach links, rammte meinen rechten Oberschenkel mit aller Kraft zwischen seine Beine, sodass er aufschrie, vor Schmerz kurz in die Knie ging, sein Gesicht verzerrte und das Messer fallen ließ, woraufhin ich ihn sofort zu Boden drückte, was zur Folge hatte, dass ihm sein Hut vom Kopf fiel und ich, nach einem kurzen und intensiven Augenblick des Überlegens, meinen rechten Ellenbogen, um ihn endgültig außer Gefecht zu setzen, mit voller Wucht und Kraft auf seinen kahlen

Ich schlug sofort die Tür zu, versperrte sie, und da ich mir sicher war, dass der mir vollkommen unbekannte Eindringling noch längere Zeit bewusstlos bleiben würde, kümmerte ich mich sofort wieder um die schwer verletzte Cassandra. Ich beugte mich über sie, drehte sie auf den Rücken und sah, dass dort, wo die Kugel Cassandra getroffen hatte, ihr hellblaues Kleid von Blut getränkt war, worauf ich sofort aus meinem Sakko schlüpfte, um es auf Cassandras Schusswunde zu pressen; dann dachte ich kurz über die mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nach, denn eines stand fest: Ich musste, um meinen Auftrag nicht zu gefährden, von dem bewusstlosen Fremden und der angeschossenen schwer verletzten Cassandra sofort weg, denn mir war klar, dass, wenn die Polizei hier eintreffen würde, man mich vermutlich sofort drankriegen und meine wahre Identität aufdecken würde, also beschloss ich, den Zimmerservice zu rufen, der Cassandra anschließend hier finden, sich um sie kümmern und auch einen Krankenwagen rufen würde, und dann war es für mich, das wusste ich genau, höchste Zeit, von hier abzuhauen. Nachdem der Zimmerservice eingetroffen war und Cassandra erstversorgt hatte, rannte ein Page ins Hotelfoyer, um die Rettung zu rufen; ich hatte in der Zwischenzeit meine Sachen gepackt, war ebenfalls in die Eingangshalle gelaufen und begann auszuchecken, sagte, dass ich, wegen einer traurigen Familienangelegenheit, nämlich einem Todesfall, sofort die Heimreise antreten müsste. Da dort noch niemand wusste, was auf Zimmer 111 wirklich ­geschehen war, gab es für mich beim Auschecken keinerlei ­Probleme; ich bemerkte nur die in der Eingangshalle panisch herumlaufenden und ungeduldig auf die Rettung wartenden Hotel­ angestellten, nahm meinen Koffer, ging an ihnen vorbei, hinaus in den dichten, undurchdringlichen, nieselnden Nebel, mit einem mulmigen Gefühl in meinem Innern, denn schließlich hatte ich die angeschossene, schwer verletzte Cassandra im Excelsior zurückgelassen, ja, zurücklassen müssen, doch ich hatte, so leid es mir tat, um mein Leben zu retten, keine andere Wahl gehabt. Ich ging, vorerst noch vollkommen ziellos und richtungslos, wie leicht benommen, den menschenleeren Gehsteig entlang, durch weiße Nebelschwaden, in meinen Trenchcoat gehüllt, meinen Hut tief ins Gesicht gezogen, den schweren Koffer in meiner rechten Hand, als ich schließlich an einer Telefonzelle vorbeikam, die mich sofort auf den Gedanken brachte, meinen Auftraggeber hier in Boston anzurufen, um weitere Anweisungen einzuholen; ich betrat die Telefonzelle, holte eine Münze aus meiner Geldbörse, warf sie in den Geldschlitz, wobei mir auffiel, wie kalt das Metall der Münze war; ich wählte die Nummer meines Auftraggebers Emanuel Fresange, eines Mannes mit französischen Vorfahren, von dem ich

Schreibakademie HORN

Ich wandte mich zur Seite, sah einen Schatten, hörte nur noch das Geräusch des aufklappenden Springmessers, bevor ich die rechte Hand dieser mir vollkommen unbekannten Person, die auf mich einstechen wollte, mit meinen Armen abwehren und so verhindern konnte, dass die blitzende Messerklinge in meinen schutzlosen Rücken oder in meinen Brustkorb eindringen konnte.

Hinterkopf sausen ließ, worauf er bewusstlos zu Boden sank und dort leblos liegen blieb.

91

Gemeinschaftsarbeiten

Erst dann bemerkte ich, dass ich den Atem angehalten hatte, schnappte begierig nach Luft, die irgendwie sehr dünn zu sein schien, meine rechte Hand mit dem Revolver entkrampfte sich langsam, dieser fiel mir aus der Hand, schlug dumpf gegen den Bretterboden, und so wieder zu Bewusstsein gekommen, vergaß ich alle Vorsicht und Angst, beugte mich hinab zu der offensichtlich schwer verletzten Cassandra, kniete mich hin, war wehrlos, als im nächsten Augenblick schon die Tür aufgestoßen wurde.


Schreibakademie HORN

so gut wie gar nichts wusste, also nicht einmal sicher sein konnte, ob das sein wirklicher Name war; nach kurzer Wartezeit und mehrmaligem Läuten wurde endlich der Hörer abgenommen, und ich hörte eine Frauenstimme „Hallo, wer spricht?“ fragen.

Gemeinschaftsarbeiten

92

„Hier spricht Sam ... Nein, hier ist Eric Jaeger. Ich möchte, wenn möglich, Herrn oder Monsieur Fresange sprechen. Es ist dringend, denn es handelt sich um meinen – Auftrag. Es gab da plötzlich, im Excelsior, gravierende Probleme, verstehen Sie … Sonst würde ich zu so später Stunde nicht mehr wagen, anzurufen. Es geht um neue Anweisungen, mein weiteres Verhalten, um diese Nacht … Ich weiß nicht, wo ich hin oder was ich tun soll … Darum geht es … Das ist kein Juxanruf oder Anruf aus Langeweile … Da geht es auch um absolute Geheimhaltung … Das ist nämlich kein Alltageauftrag …“, sagte ich mit gereizter und vorsichtiger Stimme zugleich und wartete, mit pochendem Herzen, nur darauf, dass ich endlich die Stimme von Fresange hören könnte, der plötzlich – ich erschrak fast dabei – aufgebracht in den Hörer und meine Ohren schrie: „Eric, reden Sie nicht lange um den Brei herum, ich bin nämlich schon müde. Erzählen Sie mir kurz und bündig, was im Excelsior geschehen ist, und befolgen Sie dann umgehend meine Anweisungen, verstanden?!“ „Ich habe ein 50-Cent-Stück eingeworfen und muss mich daher kurz fassen, Monsieur Fresange. Ich habe keine weiteren Münzen mehr, verstehen Sie? Gut. Also, hören Sie gut zu. Ich konnte den Auftrag noch nicht ausführen, da im Excelsior, wo ich, wie vereinbart, heute abgestiegen war, auf mich geschossen wurde, also man vor etwa einer halben Stunde versucht hat, mich umzulegen. Ich musste daher sofort auschecken und abhauen. Wenn die Polizei gekommen wäre, hätte ich einpacken können. Da wäre alles

aufgeflogen, Sie verstehen. Der neue Reisepass und so weiter und so fort. Das war alles. Ich weiß nicht einmal noch, wo ich den Rest der Nacht verbringen soll. Also brauche ich sofort Ihre weiteren Anweisungen!“, sagte ich. „Verdammt noch einmal, Mister J ­ aeger! Kaum sind Sie einen halben Tag oder weniger in Boston, und schon versucht jemand, Sie umzulegen. Kannten Sie den Mann? Nein? Auch egal. Sie müssen sich da irgendwie und irgendwo mit den falschen Leuten angelegt haben. Ihr Auftrag unterliegt doch absoluter Geheimhaltung. Ich hoffe, ich kann mich da auf Sie ver­lassen. Sollte das nicht der Fall sein, und das finde ich bald heraus, wissen Sie genau, wie ich in der Regel mit unzuverlässigen Leuten umgehe, die sich nicht an die strenge Geheim­haltung eines Auftrages gebunden fühlen. Mehr sage ich diesbezüglich nicht. Sie kennen sich aus. Na ja, scheiß drauf! Sie begeben sich jetzt erst einmal ins Hafenviertel, und zwar in die Prosperity Street Nummer 15. Dort fragen Sie die zuständige Dame einfach nach Eleonore. Ja, nach Eleonore! Und dort können Sie auch übernachten. Kein Problem. Ich gebe I­ hnen, bezüglich Ihres Auftrages, morgen Vormittag neue Anweisungen. Ich rufe Sie einfach in der Rezeption des Saloon an und informiere Sie dann über Ihren Auftrag. Ja, wir machen das so. Wir müssen nach dieser Schießerei im Excelsior äußerst vorsichtig sein, sonst könnte das …“, antwortete Fresange, als plötzlich, wie von mir erwartet, die Anrufzeit zu Ende war, worauf ich fluchte und den schwarzen Hörer wieder an den Apparat hing. Ich verließ die Telefonzelle, packte meinen Koffer und ging, ohne lange zu überlegen, in Richtung, da ich, von einem Besuch in ­Boston vor drei Jahren, noch ungefähr wusste, wo er sich befand; auch hoffte ich, dass ich, zu so später Stunde, noch ein Taxi würde erwischen können, als auch schon eines, ganz zufällig, aus dem dichten Nebel heraus, angefahren kam und ich sofort meinen rechten Arm hob, um den Fahrer heranzuwinken; ich stieg ein, übermittelte dem Fahrer mein gewünschtes Ziel, worauf dieser verschmitzt lächelte und ich versuchte, mich während der Fahrt von den furchtbaren Ereignissen der letzten Stunde etwas zu entspannen, was mir jedoch nicht gut gelang. Ja, mir gingen, als wir so, ganz langsam, durch den dichten Nebel fuhren, die verschiedensten Gedanken durch meinen plötzlich stark schmerzenden Kopf, weniger an den niedergeschlagenen bewusstlosen Eindringling, als an die arme, angeschossene, schwer verletzte, vielleicht gar schon verstorbene Cassandra, von der ich im Augenblick überhaupt nichts wusste, als wir auch schon, draußen waren dementsprechende Gebäude zu erkennen gewesen, in Hafennähe kamen. Eleonore? Ich wusste Bescheid. Als wir dann in die Prosperity Street einbogen, ich hatte mit dem Taxilenker kein Wort mehr gesprochen, schaute ich, so gut es ging, aus dem beschlagenen Wagenfenster, und der Anblick, der sich mir


Ich öffnete sie, und sofort schlug mir ein satter und schwerer G ­ eruch von Parfum, gemischt mit Schweiß, Alkohol und Rauch, ins G ­ esicht; ich befand mich hier in einem kleinen halbdunklen Vorraum, der nahtlos in den Hauptraum, also die aus altem schwarz lackiertem Eichenholz bestehende Bar, überging, in der sich, neben den hohen Barhockern, auch einige pinkfarbene Sofas befanden; der Boden hingegen bestand aus einfachen

Plötzlich betraten sieben Männer, in katholisch-geistliche schwarze Anzüge gekleidet, mit stoischer Miene, diesen kleinen Vorraum, sie waren alle sehr groß, etwa einen Meter neunzig, und kräftig gebaut, strahlten einen gewissen Ernst aus, und sowohl die Empfangsdame des Saloons als auch ich sahen sie sehr verwundert an, gespannt darauf, was sie hier zu suchen hatten. Ich beschloss daher, um nicht in irgend­eine brenzlige Situation hineingezogen zu werden, man konnte in einem Hafen- und Bordellviertel schließlich niemals sicher sein, den sieben schwarz gekleideten Herrn den Vortritt zu lassen, was sich am Ende als vollkommen richtig erwies, denn es stellte sich sehr schnell heraus, dass sie eine Bar namens Eden’s Paradise gesucht hatten, und so verschwanden sie so schnell, wie sie gekommen waren.

Schreibakademie HORN

Ich bezahlte den wieder verschmitzt lächelnden Taxifahrer, packte meinen schwarzen Koffer, stieg aus, und kaum hatte ich die ersten Schritte in Richtung Pecker’s Saloon gemacht, als mich auch schon einige dieser leichten Mädchen umringten und mich äußerst zudringlich, sich dabei ganz dicht an mich herandrängend, fragten, ob ich nicht vielleicht Lust hätte, mit ihnen aufs Zimmer zu gehen; ich schob sie jedoch energisch und laut zur Seite, ging schnell vorwärts im dichten Nebel und stand, im nächsten Augenblick, schon vor der breiten Eingangstür des Saloons.

schwarz-weißen Fliesen, die scheinbar neu waren; im Vorraum selbst stand lediglich ein Schreibtisch, hinter dem eine Dame mit einer immensen roten Lockenpracht und in einem tief ausgeschnittenen violetten Kleid saß, das ihre großen Brüste gerade noch dürftig bedeckte; sie trug dickes Make-up, von dem ihre grellroten vollen Lippen besonders hervorstachen, weiters mehrere Goldringe, Goldarmbänder und eine dicke Goldkette um den Hals, sie war sehr üppig gebaut, hatte ein sehr starkes Fliederparfum aufge­ tragen und hatte wohl schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel als die meisten Mädchen hier und war vielleicht, früher, selbst eine von ihnen gewesen; wer konnte das wissen? Niemand.

93

Ich verschwendete jedoch keinen Gedanken mehr an dieses merkwürdige Ereignis und trat deshalb näher an die parfümierte Empfangsdame heran, um sie nach Eleonore zu fragen, um als schlichte, aber unfreundliche Antwort zu bekommen, dass diese im Augenblick nicht im Hause sei, aber sich auch Elisa um mich kümmern könnte; ich dachte kurz nach, erinnerte mich an das Telefonat mit Fresange und sagte gereizt meinen Namen und den von Fresange, worauf die Dame sich höflich entschuldigte, auf ihren viel zu hohen Stöckelschuhen durch einen roten Perlenvorhang in einem Hinterzimmer verschwand, wo ich sie mit irgend­ jemandem flüstern und erschrocken „Was?“ sagen hörte. Kurz darauf kam sie wieder zurück und sagte, mit lauter, aber freundlicher Stimme, zu mir: „Folgen Sie mir bitte, Mister Jaeger. Alles in bester Ordnung“, wobei sie eine ungeduldige Geste mit ihrem rechten Arm vollführte, die wohl bedeutete, dass ich mich beeilen sollte, und sie führte mich, durch den roten Perlenvorhang, in das Hinterzimmer, wobei ich meine rechte Hand, in der linken hielt ich ja meinen Koffer, sicherheitshalber in Richtung meines Revolvers führte, man konnte ja, trotz des Telefonats mit Fresange, dem dieses Bordell vielleicht sogar gehörte, ich wusste es nicht, niemals wissen. Vorsicht ist nämlich immer besser als Vertrauen. Diese höchst einfache Formel hatte ich in meinem bisherigen Leben gelernt.

Gemeinschaftsarbeiten

da bot, ließ mich leise „O verdammt, Fresange!“ stöhnen, denn die Häuser da draußen waren, selbst zu so später Stunde, grell und bunt beleuchtet, und auf den schmalen schmutzigen Straßen gingen dünne Mädchen in dicken Mänteln auf und ab, unter denen sie jedoch, wie es ihr Geschäft erforderte, nur spärlich bekleidet ­waren; ja, dieser fiese Monsieur Fresange, der wahrscheinlich auch hier, bei den Prostituierten, seine geschickten, um nicht zu sagen schmutzigen Finger, mit im Spiel hatte, hatte mich doch tatsächlich in den Rotlichtbezirk der Stadt Boston geschickt; die Nummer fünfzehn war sehr leicht zu finden gewesen, denn ich sah sofort das grellrot erleuchtete Schild des Pecker’s ­Saloon, dessen Licht den Gehsteig und die Straße überflutete.


Schreibakademie HORN

Gemeinschaftsarbeiten

94

Als ich eintrat, vor der Empfangsdame, die mir den Vortritt ließ, zeigte sich mir ein kleiner, niedriger, kühler, halbdunkler und leerer Raum und an seiner Rückseite eine offene Tür, die offensichtlich in einen Keller hinabführte; niemand hätte mich zwingen können, in diesen Keller hinabzugehen, aber ich tat es, aus welchen Gründen auch immer, vielleicht war es nur meine chronische und unbezwingbare Abenteuerlust, dennoch, und zwar mit gezücktem Revolver; ich hatte mir, nach dem Telefonat mit Fresange, diesen „Bordellbesuch“ wahrlich viel einfacher vorgestellt; ich ging die dunkle Treppe hinab und stand dann plötzlich in einem schwach beleuchteten Kellerraum, an dessen feuchten und kühlen Wänden große Gemälde nackter, vollbusiger, in aufreizenden Posen daliegender Frauen mit großen Hinterteilen hingen. „Was manche verklemmte Typen sich so alles ansehen müssen, um doch noch einen hochzubekommen …!“, hörte ich plötzlich eine weibliche Stimme hinter mir, die so voll wie ein Glockenton klang, und im nächsten Augenblick wurde auch schon das grelle, mich schmerzhaft in den Augen blendende Deckenlicht angedreht, und ich drehte mich um und sah, zu meinem großen Staunen und zu meiner großen Freude und Verwunderung, eine attraktive Frau vor mir stehen; worauf ich sofort meinen Revolver sinken ließ und ihn zurück in meinen Gürtel steckte, denn ich war mir, rein instinktiv, ganz sicher, dass ich ihn hier nicht mehr brauchen würde; diese Frau war eben, aufgrund ihrer umwerfenden Schönheit, einfach „entwaffnend“: Sie trug ein halb­ langes, bis zu ihren schönen Knien reichendes, ganz enges, cremefarbenes Kleid, ihr kurzes, dunkelbraunes Haar war glatt und glänzend wie Seide, reichte ungefähr bis zur Halsmitte, ihre tief liegenden dunkel­blauen ­Augen

und ihre helle Haut standen in angenehmem Kontrast zu ihren rot geschminkten schmalen Lippen und ihrem dunklen Make-up; mich freundlich anblickend, stellte sie sich vor: „Guten Abend. Ich bin Eleonore. ­Stecken Sie den Revolver ein. Ich weiß Bescheid.“ Durch diese Worte beruhigt, sagte ich, den Koffer niederstellend, ihr meine rechte Hand reichend: „Freut mich sehr, Sie kennen­ zulernen, Eleonore. Mein Name ist … Eric … Eric Jaeger … Ich komme auf Empfehlung von Monsieur Emanuel Fresange zu Ihnen!“ Sie kam mit drei schnellen und geschmeidigen Schritten auf mich zu, musterte mich plötzlich mit einem scharfen Blick, den ich jedoch nicht deuten konnte, von oben bis unten und sagte dann: „Kommen Sie, Sam, machen wir uns doch nichts vor. Sind Sie sich wirklich so sicher, dass Sie Ihrer Vergangenheit einfach so entkommen können? Dass ich nicht lache …“, bevor sie mit augen­blicklich betörender Wirkung über mein Gesicht strich und, mir ein Glas Whisky reichend, von dem ich mir nicht erklären konnte, wo sie es her hatte, zu sprechen fortfuhr: „Ich weiß genau, warum du hier bist!“ Etwas an der Berührung durch ­Eleonores Hand gab mir das ange­nehme Gefühl, als würde warmer Wind über meine Wange streichen, und diese zärtliche Berührung erinnerte mich an meine sorglosen Kindheits­tage; ihr Charme, ihre Unverblümtheit und ihre Offenheit erregten mich, lang ver­misste Gefühle, die ich bei Lucy nur am Anfang unserer Ehe verspürt hatte. Oder mit Cassandra, deren sich immer mehr steigernder Liebeswahn mir allerdings, wie die Ereignisse im Excelsior deutlich gezeigt hatten, äußerst gefährlich zu werden begann. Wo hatte man sie hingebracht? War sie noch am Leben? Oder schon – tot? Ich wusste es nicht. Aber dort unten, in diesem merkwürdigen mit nackten Frauen geschmückten Keller von Pecker’s Saloon, hatte ich auch keine Minute Zeit, an die arme, vielleicht gar nicht mehr unter den ­Lebenden weilende Cassandra zu denken. „Danke für den Whisky, Eleonore, sehr freundlich. Der kommt mir gerade recht. Tut mir leid, aber ich kann mich nicht erinnern, Sie schon einmal irgendwo und irgendwann gesehen zu haben. Nein, nicht dass ich wüsste …“ „Natürlich kannst du dich nicht mehr erinnern, Sam, wie denn auch? Unsere letzte Begegnung liegt doch schon Jahre zurück, denk mal nach. Da konntest du gerade mal gehen, ohne ständig wieder hinzufallen. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Das können wir später besprechen. Das sind unwichtige Geschichten von vorgestern. Vollkommen belanglos, genaugenommen. Erklär mir bitte nur die groben Details deines Hierseins. Mehr will ich gar nicht.“ „Monsieur Fresange hat mich hierher, genau gesagt, hierher zu dir geschickt. Für diese Nacht. Er sagte, du könntest mir weiterhelfen.


„Dunkle Schlucht … Na ja, davon gibt’s hier wahrlich zur Genüge … Du weißt schon … Ich helfe dir. Keine Frage. Fresange hat mir ja den Auftrag dafür gegeben. Du bist ihm sehr wichtig. Du und der Auftrag. Das weiß ich, glaub mir … Würde ich dir nicht helfen, bekäme ich echte Problem mit ­Fresange, verstehst du? Ach … Gib mir auch einen kleinen Schluck Whisky … Ich habe kein zweites Glas hier … Es war ein langer anstrengender Tag heute, ein Tag mit vielen ange­ nehmen und unangenehmen Über­ raschungen …“

„Okay, Sammy, mein kleiner Liebling. Du tust mir ja so leid. Nimm dein schwarzes Köfferchen und folge mir. In meinem Zimmer habe ich genug ­Whisky.“ „Ich freue mich drauf!“ „Die Freude ist ganz auf meiner Seite!“ „In einem guten Moment kann sich ergeben, was man nie vorher gedacht im Leben!“ „Poeten mochte ich immer schon.“ „Shakespeare ist ein Poet, meine Liebe, oder Whitman. Ich aber sicher nicht. Ich habe, in letzter Zeit, ein paar Gedichte geschrieben. Aber die sind schlecht und somit nicht der Rede wert …“, antwortete ich, meinen schwarzen Koffer ergreifend, und sah zu meiner großen Überraschung, dass Eleonore eine kleine, von mir vorher nicht bemerkte Tür öffnete, die sich, zwischen zwei großen Gemälden nackter Frauen gut verborgen, befand; diese Tür führte direkt in eine für zwei Personen geeignete Aufzugskabine hinein. Trotz allem noch etwas misstrauisch, folgte ich Eleonore hinein in diese Kabine, betrachtete ihre zierliche schöne Hand, die mit unglaublich geschmeidigen und schnellen Bewegungen ein paar Knöpfe drückte, worauf ich, als sich der Aufzug in Bewegung setze, ein leichtes Ziehen in meiner Magengegend spürte, und schon einige Sekunden später öffnete sich die Tür wieder und wir verließen den Aufzug; wir standen jetzt in einem kleinen Raum, in dem sich, an einer Wand, ein runder Tisch befand, auf dem eine Flasche Whisky und ein paar Gläser standen. Wir blieben vor dem Tisch stehen, Eleonore schenkte uns zwei Whisky ein, die wir, dabei lachend und scherzend, schnell austranken; meine Gedanken und auch meine Blicke kreisten immer intensiver um Eleonore und ihre mich grenzenlos bezaubernde Erscheinung. Ich begann zu stottern: „E-E-Eleonore, hö-hö-hör mal, kö-kökönnen wir nicht endlich auf dein Zimmer gehen? Ich bin ehrlich gesagt schon ziemlich müde und brauche dringend Ruhe und Schlaf!“, worauf sie kokett ant­wortete: „Du kommst gleich zur Sache, was? Na schön.“ Ich zuckte mit meinen Schultern. Dann zwinkerte sie mir zu und sagte: „Komm mal mit, Sammy Boy!“ Wir verließen den Tisch und gingen, ich folgte Eleonore, wie ein Hündchen seiner Herrin, einen schwach beleuchteten Gang ent-

Schreibakademie HORN

„Bitte keine Faxen jetzt, Eleonore. Hauptsache, du hilfst mir rasch und weitreichend. Mehr will ich nicht. Alles um mich herum ist so finster und so kalt, und ich suche, in dieser Finsternis, nach einem Licht und vor allem nach einer Hand, die mich aus dieser finsteren Schlucht zieht. Ich habe vorgestern meine Familie verlassen, verstehst du? Mein früheres Leben existiert nicht mehr. Ich habe alles aufs Spiel gesetzt und kann somit auch alles verlieren … Zu Späßen bin ich also wahrlich nicht aufgelegt …“

„Sorry, Darling, aber mein Glas ist leer. Egal. Ja, machen wir, dass wir aus diesem perversen Lustkeller schleunigst wegkommen. Irgendwie ekelt er mich an. Nichts gegen schöne und üppige Frauenkörper, aber doch nicht in einem Keller! Übrigens mein Tag war auch nicht ohne, glaub mir. Die endlose anstrengende Zugfahrt und dann im Excelsior … “

95

Gemeinschaftsarbeiten

Ein, ein – geheimer Auftrag, verstehst du? Ja? Gut. Danke. Ich hatte, vor einer Stunde, äußerst große Probleme im Excelsior. Schüsse. Ich musste sofort weg. Nicht auszudenken, wenn ich aufgeflogen wäre. Mein ganzes Leben wäre verpfuscht gewesen. Ich brauche ein Nachtlager, Eleonore. Morgen früh gibt mir ­Fresange weitere Anweisungen. Mehr weiß ich auch nicht. Hier fühle ich mich sicher. Vielleicht ist man mir auf den Fersen. Ich weiß es nicht. Das Nachtlager? Geht das in Ordnung?“ „Die bloße Tatsache deines Hierseins und dein etwas nervöses und ängstliches Auftreten beweisen mir deine missliche Lage sehr deutlich. Sicher kann ich dir helfen, doch vielleicht nicht so, wie du es erwartest.“


Schreibakademie HORN

lang, an mehreren großen Spiegeln und an geschlossenen Türen vorbei, hinter denen laute und sehr eindeutige Geräusche zu hören waren; am Ende des Ganges hielten wir an, vor einer breiten dunkel­rot gestrichenen Tür, die Eleonore mit einem großen Schlüssel­bund aufsperrte.

Gemeinschaftsarbeiten

96

Sie hielt mir die Tür auf, und ich trat ein, stellte meinen schwarzen Koffer, der immer schwerer und schwerer geworden war, sofort neben der Tür ab; ich betrachtete die üppige Einrichtung des riesengroßen Zimmers, die sich aus einem äußerst breiten Bett, einer vergoldeten Badewanne und einem Kamin samt Bärenfell zusammensetzte; als ich mich kurz umwandte, sah ich, dass Eleonore die Tür zumachte, lächelnd auf mich zukam, ich spürte, voller Überraschung und Verwunderung, wie sie mich in Richtung des Bettes vorwärts schob und mich, vor diesem, plötzlich so heftig zu küssen begann, dass ich gar nicht anders konnte, als ihrem wilden Begehren nachzugeben, und im nächsten Augenblick sanken wir schon, uns leidenschaftlich umschlingend, auf das weiche Lager hinab. Am nächsten Morgen erwachte ich befriedigt, doch zugleich ergriff mich die große und dringliche Sorge, meinen wichtigen Auftrag vernachlässigt zu haben; doch im Endeffekt spielte es keine Rolle, denn was wirklich zählte, war das Jetzt, diese Nacht, die für immer in meiner Erinnerung präsent bleiben würde. Ich lag noch immer in Eleonores breitem weichem warmem Bett – oder war es bereits unseres? –, befand mich noch immer in ihrem Zimmer, das wegen des dichten Nebels, der über der Stadt lag, nur sehr spärlich erhellt war, woraus ich schloss, dass es früher Morgen sein musste, und unter der Decke spürte ich Eleonores nackten

Körper, dicht an meinen geschmiegt, ihre weiche Brust auf meinem Brustkorb ruhend. „Ich … Ich hätte hier eigentlich nur übernachten sollen, Eleonore, weißt du das? Das Weitere war nicht vorgesehen gewesen …“, sagte ich lächelnd zu ihr, ihr duftendes Haar küssend, meinen Kopf schüttelnd. „Aber … Es ist eben so gekommen, wie es kommen musste … Wie wunderschön du in deinem cremefarbenen engen Kleid ausgesehen hast … Nein, ich hätte dir niemals widerstehen können … Diese starke erotische Ausstrahlung deiner Gestalt und deines Gesichts hat mich sofort überwältigt … Aber gut … Heute ist heute … Und heute liegt ein äußerst anstrengender Tag vor mir, Eleonore, glaub mir … Ein Tag, von dem ich nicht weiß, was er für mich bringen wird … Zuallererst muss ich aber Fresange kontaktieren …“, sagte ich leise zu ihr und blickte nachdenklich in Richtung der Tür, neben der noch immer mein schwarzer Koffer stand, genau dort, wo ich ihn gestern Abend abgestellt hatte. „Ach, Sam, natürlich weiß ich das alles. Ich weiß doch, was da so läuft. Und ich weiß ein bisschen was über Fresange. Ja, so ist das. Und natürlich fällt es mir schwer, dich nach dieser wunderbaren Nacht einfach so ziehen zu lassen. Und nicht zu wissen, was mit dir geschehen wird. Aber ein Mann muss nun einmal tun, was ein Mann tun muss. Da führt kein Weg vorbei …“, antwortete Eleonore, stützte sich auf ihren rechten Ellenbogen, um mich aus ihren wunderschönen Augen anzusehen. „Was immer auch geschehen mag, Sam, du bist hier stets willkommen. Das wollte und musste ich dir unbedingt noch sagen, bevor du gehst.“ „Was immer auch geschehen mag, Eleonore, du und diese Nacht werden für immer in meiner Erinnerung bleiben, so wie ein riesengroßer Stein an einem Flussufer liegen bleibt. Für die Ewigkeit!“, sagte ich und meinte das auch vollkommen ehrlich. „Du magst zwar vorgeben, kein Poet zu sein, aber deine poetische Wortwahl beweist immer das Gegenteil!“, antwortete sie mit einem leisen Lachen, das wie wunderbare Musik in meinen Ohren klang, so wie eigentlich alle Worte, die sie mit ihren sinnlichen Lippen formte und denen sie stets den vollen Klang ihrer einzigartigen Stimme gab. „Ja, liebster Sam, komm wieder zu mir, sobald du kannst!“ „Was soll ich dir darauf antworten, mein süßer Liebling?“, sagte ich nachdenklich und drückte sie, ein letztes Mal, fest an mich, stieg aus dem Bett, ging zum Fenster, zog den schweren dunkelroten Samtvorhang zur Seite, sah hinaus auf die langsam erwachende Stadt, die noch genauso wie gestern bei meiner Ankunft, unter diesem dichten Nebel begraben lag. „Es hängt alles von meinem Auftrag ab, den ich aber noch nicht kenne. Er kann sehr sehr gefährlich sein, keine Ahnung, oder ziemlich harmlos, ich weiß es nicht …“ „Sam, denken wir lieber nicht an eine ungewisse Zukunft, bitte.


Warte erst einmal den Anruf von Fresange ab, und erledige deine Arbeit dann so sorgfältig, wie du es immer tust. Wie du alles tust!“, erklang ihre himmlische Stimme hinter mir, mich erfreuend, ermunternd und beruhigend zugleich.

McQueens verdammte Leute oder seine Bande haben uns aufgespürt und wollen uns alle aus­löschen! Hau ab, so lange du noch kannst! Sei vorsichtig! Sei …“

„Ja, es wird schon gut gehen. Es ist kurz vor neun. Ich gehe dann hinunter zur Rezeption, Eleonore, denn Fre­ sange hat mir gesagt, er würde mich dort anrufen, wegen weiterer Anweisungen …“, sagte ich, wandte mich vom Fenster ab und begann, in meine Kleidungsstücke zu schlüpfen.

Ich zweifelte keinen einzigen Augenblick daran, dass es für ­Fresange keinerlei Hilfe mehr gab. „Was sollen wir jetzt nur tun?“, schrie Eleonore hysterisch. „Beruhige dich, Liebling“, sagte ich leise, „Fresange ist am Ende, wie du siehst. Aber er hat uns noch gewarnt. Ein echter Gentleman, keine Frage. Er möge in Frieden ruhen. Wir müssen hier sofort weg! Sofort! McQueens Leute könnten schon auf dem Weg hierher sein! Ich weiß es nicht. Wir müssen weg, sonst legen sie uns beide auch noch um, los, weg!“ „Aber wohin sollen wir jetzt fliehen, sag mir das?!“ „Moment. Ich war vor Jahren ja schon einmal in Boston. Wir fahren zu dem verrotteten Schiffswrack am Hafen­ende, wenn es noch da sein sollte. Wenn nicht, müssen wir sonst irgendwo im Hafen untertauchen. Ich habe dort auch ein paar Weltkriegsgewehre versteckt. Damals. Keine Ahnung. Auf jeden Fall schnell weg von hier!“ „Ja, dann lass uns gehen! Wir haben wirklich keine Zeit zu verlieren, Sam!“ „Nein. Nur das Notwendigste mit­nehmen, schnell, schnell!“ „Mein Gott, er ist wirklich tot! Aber auf so etwas war ich nicht vorbereitet! Was soll ich nur anziehen?“ „Zieh schnell irgendetwas an, verdammt noch einmal, und beeil dich! Die Zeit läuft uns davon!“ „Sam, ich weiß, was du vorhast! Du willst dich den verdammten McQueens in einem finalen Kampf stellen! Bist du jetzt wahnsinnig geworden?“ „Lass das! Ich bin vielleicht nicht gerade mutig, aber sicherlich nicht dumm. Auch wenn ich keine Ahnung davon habe, wie viele von McQueens Leuten schon hinter uns her sind, so vermute ich doch nichts Gutes!“

„Mach’s gut, mein süßer Liebling“, sagte ich zärtlich und küsste sie zum Abschied lange auf ihre weichen Lippen. „Ich komme dann noch einmal herauf und sage dir, was mir Fresange mitgeteilt oder aufgetragen hat, ja?“ „Ja, tu das, Sammy Darling!“, flüsterte sie zärtlich. Gerade, als ich nach meinem schwarzen Koffer greifen wollte, wurde die Tür aufgestoßen und Emanuel Fresange, seine beiden Hände gegen eine stark blutende Bauchwunde gepresst, taumelte herein, starrte uns beide, die wir maßlos erschrocken waren, aus weit aufgerissenen Augen an und murmelte, wobei ihm das Blut aus dem Mund floss: „Es … Sein … Ich … Schnell … Diese verdammten Wichser … Verdammt … Ich konnte mich nicht mehr wehren … Aber du, Sam oder Eric oder Jaeger, oder wie du auch immer heißen magst, verdammt noch einmal … Aber du, hau schnell aus Boston ab! Schnell! …

Ich schlüpfte in meinen Mantel, setzte meinen Hut auf, nahm meinen schwarzen Koffer, ging zur Tür und sah ungeduldig zu, wie Eleonore sich fertig anzog und endlich ihre Handtasche ergriff. Ich nahm ihre Hand und zog sie aus dem Zimmer, wobei wir, von Ekel und Angstgefühlen gepackt, über Fresanges Leichnam hinweg stiegen; vorsichtig, denn schließlich hätten die McQueens ja schon im Bordell sein können, schlichen wir durch die halbdunklen totenstillen menschenleeren Gänge, bis wir endlich, von Eleonore geführt, vollkommen unbehelligt, zu einer kleinen Hintertür kamen, die ins Freie führte. Eleonore zeigte mir plötzlich einen Autoschlüssel, der zu dem Auto ­gehörte, das ihr vom Bordell, also höchstwahrscheinlich von

Schreibakademie HORN 97

Gemeinschaftsarbeiten

Nachdem ich fertig angekleidet war, trat ich zu Eleonore. Ich musste weg. Es war höchste Zeit. Einen Mann wie Fresange ließ man nicht warten! Schon gar nicht, wenn man sich in solche Abhängigkeit von ihm begeben hatte wie – ich!

Dann brach er, mit einem letzten Stöhnen und Röcheln, zusammen und blieb auf dem Boden, neben meinem schwarzen Koffer, in einer großen Blutlache, zusammengekrümmt liegen.


Schreibakademie HORN

Fresange, zur Verfügung gestellt worden war. Das Auto, ein geräumiger dunkelgrüner Ford, stand gleich um die Ecke. Meinen schwarzen Koffer warf ich auf die Rückbank. Eleonore setzte sich ans Steuer, und ich zeigte ihr den Weg zum Ende des Hafens, wo sich, zu meiner großen Erleichterung, noch das Schiffswrack, im Nebel kaum sichtbar, befand. Eleonore parkte ein, und wir liefen, meinen Koffer ließ ich im Auto zurück, zum Schiffswrack und betraten es, gingen unter Deck, in die einstige Küche.

Gemeinschaftsarbeiten

98

„Jetzt können wir nur noch warten …“, sagte ich nachdenklich, zog eine Schachtel Zigaretten aus meiner Manteltasche, bot Eleonore eine Zigarette an, was sie jedoch mit einem Hinunterschlucken und energischem Kopfschütteln ablehnte. Ich zündete mir eine Zigarette an, nahm einen langen und tiefen Zug, um mich zu beruhigen. Die beiden Weltkriegsgewehre waren verschwunden, wahrscheinlich von irgendwelchen hier eingedrungenen Strolchen gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft worden. Egal. Ich zog meinen Revolver aus dem Gürtel und entsicherte ihn. Ich war bereit. Es war ein großer Fehler gewesen, das sah ich nun ein, die M ­ cQueens unterschätzt zu haben. Aber sie waren sehr schlau gewesen und hatten sich, jahrelang, vollkommen ruhig verhalten, um mich zu täuschen. Wäre mein geheimer Auftrag vielleicht gewesen, gegen diese verdammten McQueen-Schurken vorzugehen? Ich wusste es nicht und würde es, da Fresange tot war, auch niemals erfahren. Da standen wir nun, in der kalten, finsteren, engen Küche, schweigend,

ängstlich und verzweifelt nebenein­ander, sahen, durch ein kleines Bullauge, auf die im dichten Nebel kaum wahrnehmbare See hinaus. „Ich habe uns hierher gebracht, Eleonore, ich weiß. Aber wo hätten wir sonst hin sollen? Keine Ahnung. Vielleicht war das alles nicht sehr klug von mir. Verdammt, verdammt, verdammt, so kann man von seiner düsteren Vergangenheit eingeholt werden … Meine Arbeit für diesen verdammten McQueen war der größte Fehler meines Lebens … Und dann mein … Wir können nur warten. Ich habe wahrlich kein gutes Gefühl im Bauch, was die nächsten Stunden betrifft …“, sagte ich leise zu der zitternden und in sich hinein schluchzenden Eleonore und legte meinen linken Arm um sie. „Ich will schnell weg von hier, bitte!“, sagte Eleonore plötzlich. Ich nahm ihre Hand, wollte Eleonore schnell aus der Küche und so in Sicherheit bringen, vielleicht nach hinten in den Maschinenraum, als wir plötzlich, von draußen, laute, schwere und dumpfe Schritte auf dem Schiffsboden hören konnten. Im nächsten Augenblick tauchte schon eine große Gestalt im Türrahmen auf, und wir konnten uns gerade noch hinter ein paar großen, in der linken Küchenecke aufgestapelten Kisten ver­ stecken, aus denen es stark nach Fisch roch; deutlich spürte ich, wie Eleonores Hand stark in meiner linken Hand zitterte. „McQueen hat seinen besten Mann geschickt! Verdammt! Ich muss ihn erledigen!“, zuckte es panisch durch meine zerfallenden Gedanken­bahnen. Ich ließ Eleonores Hand los, stürmte mit einem Schrei und mit gezücktem Revolver hinter den Kisten hervor, attackierte den Mann, feuerte noch einige Schüsse ab – als ich plötzlich einen heftig brennenden und bohrenden Schmerz in meinem Rücken verspürte. Man hatte mich von hinten angeschossen. Ich sah, dass McQueens Mann ebenfalls einen Revolver gezogen hatte. Im nächsten Augenblick jedoch verspürte ich bereits starken Schwindel, begann zu wanken und zu schwanken, ging in die Knie, sah noch, wie der Mann Eleonore brutal ergriff und festhielt, hörte ihre schrillen panischen Schreie, versuchte noch, meinen Revolver zu erheben, um dieses miese Schwein abzuknallen, doch ich war bereits viel zu schwach, um den Abzug drücken zu können. Mir schwanden die Sinne. Ich tauchte, vollkommen mühelos, in eine durchlässige, bodenlose, schwarze Wand ein.

SCHREIB AKADEMIE


Anhang zu „Hotel Excelsior“ mit Ergänzungen Zwei nachgelassene Gedichte Sam Millers

Fremdes Leben

Für Cassandra

Hoch über Himmelsgipfel Hin über Adlerpfade Thront glutrote Sonne Dereinst göttlich über die Welt Vernichtung will sie bringen; Wenn sie fremdgewollt Leben sandte Alles Erworbene, Gut und Böse Nimmt sie lachend an sich hinan. Verlassen ist sie; Im Herz aller Seelen so rein; sie ist; So wie sie es vermag zu glauben; das sein.

Cassandra, mein kaltes Herz. Durch Wälder und Städte bin ich gewandert Den Sinn gesucht Mein Herz, entzückt von dieser neuen Welt.

(Geschrieben am 24. November 1931)

Der Mann, den dein seliger Blick empfängt, sei nicht mehr betrübt. Nein, sein Herz sei ein Schatz der Freuden. So tauche hinab in dies tiefe Meer meines Lebens Und Wahrheit wird sich entschlüsseln, dort, wo der Gefangene, in sich selbst, am Abgrund kauert, in blanker Heuchelei (Geschrieben am 16. Mai 1932) Elliott Chan

Schreibakademie HORN

Hoch oben, wo die Sterne schlummern, und erdachte Schattenphantome verweilen, möge die Seele, die verloren auf Erden, göttlich im Seraphsflug heimwärts reisen.

99

Gemeinschaftsarbeiten

Keine Achtung würde sie; wenn hinter ihrer Feuerwand Eine Seele sich befände; schenken Ihr Haus wäre entfremdet, gar entstellt, Wenn die Sonne Menschen wäre.

Versklavt an Emotionen, Zeit nach Fantasie empfangen Nein! Nichts ist unendlich in dieser Welt.


Schreibakademie HORN

Tagebucheintrag von Lucy Miller, 23. Jänner 1933

Gemeinschaftsarbeiten

100

Liebes Tagebuch, es ist jetzt schon zwei Monate her, dass Sam gegangen ist. Ohne ein Wort hat er mich verlassen. Das war so niederschmetternd für mich gewesen! Ich konnte überhaupt nichts niederschreiben. Nicht einmal ein einziges Wort. Nicht einmal einen einzelnen Buchstaben. Was soll ich nur tun? Sag es mir, bitte! Aber nein, das kannst du nicht! Wie denn nur!? Vielleicht hat er doch etwas mit dieser Cassandra, dieser Nichte von diesem mysteriösen Charles McQueen angefangen, von dem ich niemals erfahren hatte, wer er wirklich gewesen war? Ich will gar nicht daran denken! Aber es wäre das Logischste. Sie lief ihm ja schon eine ganze Ewigkeit hinterher. Und als dann auch noch ihr Onkel, dieser McQueen, unter mysteriösen Umstanden plötzlich verstarb, ist sie total ausgeflippt. Ist jeden Tag vor unserem Haus aufgetaucht und wollte ihn sehen. John begann schon, Fragen zu stellen. Aber auch Sam hatte sich verändert, als ihre täglichen Besuche anfingen. Er war immer abwesend. Distanzierte sich

immer mehr von mir und John. Und dann holte ich eines Tages die Kinder von der Schule ab – und er war weg. Einfach weg. Einen lausigen Brief hat er mir dagelassen. Er liebe mich und es läge nicht an mir, stand in diesem. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Jeden Abend lege ich mich ins Bett und finde den Platz neben mir leer vor. Auch jeden Tag komme ich nach Hause und bekomme keinen zarten Kuss, verbunden mit einem spontanen Gedicht. Ich mache mir auch solche Sorgen. Die Menschen, mit denen er sich abgegeben hat, waren sehr zwielichtige Gestalten. Ich mache mir solche Sorgen, aber bin auch wütend, dass er es mir nicht einfach erklärt hat. Mein kleiner John ist auch so niedergeschlagen. Es tut mir im Herzen weh, ihn so verletzt zu sehen. Eigentlich ist er in einem Alter, in dem er nicht mehr zu mir ins Bett kommen sollte, aber jetzt tut er das fast jede Nacht. Wir fühlen uns so allein gelassen. Auch die kleine Mary. Wie soll das nur weitergehen? Und vor allem – wie soll es enden?!!! Ich weiß es nicht. Ich bin verzweifelt. Vollkommen. Und das viele Geld, das er mir dagelassen hat, kann mein schmerzendes Herz auch nicht beruhigen. Ich kann mir kein neues darum kaufen. Warum nur musste das alles so geschehen, lieber Gott, sag mir bitte, warum nur? Was habe ich getan? Womit habe ich das verdient? Ich kann das alles nicht verstehen … Niemals … Aber ich muss weiterleben, für meine Kinder … Meine täglichen Gebete … Ach Sam, wo bist du nur?? Komm zurück! Ich warte auf dich! Wenn dir nur nichts zustößt! Angelika Freitag

SCHREIB AKADEMIE


Szene

Fresange (Zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen Zug und antwortet, mit der Zigarette im Mund): Immer langsam, mein ­Junge. Ich rede nicht übers Geschäft, bevor ich nicht mindestens drei große Whisky getrunken habe. Wo bleibt nur dieser verdammte Kellner? Das Excelsior ist auch nicht mehr das, was es einmal war! Eleonore: Nun los, Monsieur Fresange, Sie haben uns extra hierher gebeten. Spannen Sie uns also bitte nicht länger auf die Folter. McQueen: Na los, Fresange, rück endlich raus mit deinem Geheimnis! Eric: Ja, ihr habt recht! Sie können Ihre Whiskys auch später trinken, Monsieur.

Eleonore (schüttelt genervt den Kopf und murmelt mehr zu sich als in die Runde): Was mache ich hier eigentlich noch? McQueen (zurückhaltend): Fresange, sagen wir so, wenn du es für mich finanziell wirklich interessant machen kannst, dann werde ich es mir über­legen. In einer Bar und vorschnell mache ich keine Geschäfte. Niemals. Eric (McQueen beipflichtend und mit dem Kopf nickend): Ja, Fresange, wenn für uns finanziell zu wenig herausschaut, gehen wir sicher kein Risiko ein, und die Sache ist für uns dann sofort erledigt. Fresange (ungläubig und dann energisch und den Kopf schüttelnd): Ihr Vollidioten solltet euch verdammt noch einmal glücklich schätzen, dass ich euch überhaupt so ein scheißgutes Angebot mache. Da ist mehr Geld für euch drin, als ihr jemals mit eurem Pokern, eurem Roulette und euren miesen Nutten machen könnt! Ich spreche da, meine Herren, von etwa 70 000 Dollar im Monat, wenn man die restlichen Erträge und Kosten nicht miteinbezieht. Also überlegt es euch verdammt noch einmal, überlegt es euch gut, bevor ihr Wichser mir so kommt! Und verdammt auch, wo bleibt denn der Kellner!? Eleonore (nun vollkommen genervt): Männer, würdet ihr mich bitte kurz entschuldigen? Ich gehe mir nur schnell die Nase pudern. (geht kopfschüttelnd hinaus) McQueen (zufrieden und listig zugleich): Na ja, mir gefällt ganz gut, was ich jetzt da höre, Mister Fresange. Treffen wir uns, wenn möglich, morgen Abend einmal im Pecker’s Saloon. Ich überschlafe alles noch einmal. Und wir können dann das Geschäftliche ganz genau besprechen. Fresange (ebenfalls listig): Würde mich freuen. Ja, würde mich sogar sehr freuen. Fabian Stummer, Elliott Chan, Angelika Freitag, Crystal Tiki, Rudolf Aubrunner

Schreibakademie HORN

Eric: Übrigens, ich bin heute zum ersten Mal hier, im Excelsior. Boston kenne ich nur flüchtig. Ein Besuch vor drei Jahren, glaube ich. Darf ich Sie fragen, warum Sie uns hierher gebeten haben, Mister Fresange?

Fresange (sieht ihn kurz, leicht verwundert und genervt an, sagt dann laut): Ungeduldiges Pack! Ach, was soll’s!? Charles, wir kennen uns nun schon so lange. Ich weiß, dass du ein verdammt guter Geschäftsmann bist. Also habe ich ein lukratives Angebot für dich. Hör zu. Du weißt, dass man zurzeit mit Alkohol am meisten Geld verdienen kann. Und ich weiß, dass du dafür zum einen die Mittel hast und dir zum anderen jegliche Skrupel fehlen. Kurz gesagt, ich will, dass du bei mir einsteigst. Die Nachfrage nach Alkohol ist ungebrochen und kaum zu befriedigen.

101

Gemeinschaftsarbeiten

Boston. Hotel Excelsior, Restaurant des Hotels mit angeschlossener Bar, gegen neun Uhr abends, 12. Dezember 1930, Fliesen aus schwarzem Marmor und schwarzem Quarz, burgunderrote Tapeten mit dezentem Muster, gedämpfte Beleuchtung, aus dem Hintergrund ein leises, melancholisches, von einer hellen Frauenstimme gesungenes Herz-Schmerz-Lied aus einem glänzenden, blank polierten Grammophon­ trichter, lange Bar aus dunklem Holz, sie ist heller beleuchtet als der übrige Teil des Lokals, einheitliche Tische, Stühle und Barhocker, mit burgunderroter Polsterung, etwa die Hälfte der Plätze ist besetzt, halb­lautes Stimmengemisch, an einem langen Tisch in der hinteren Hälfte des Lokals sitzen Eleonore, Charles McQueen, Emanuel Fresange und Eric Jaeger.


Schreibakademie HORN

Tagebucheintrag Cassandra Bedford, 13. September 1931 Dir, Tagebuch, heute habe ich Papas Bruder besucht. Ich hab ihm in seinem Büro einen Überraschungsbesuch abgestattet. Eigentlich hasse ich es dort. Da sind überall schmierige Männer in Anzügen. Mir kommt schon der Ekel, wenn ich nur dran denke, wie sie sowohl in der dunklen Gasse vor dem Gebäude, in dem sich das Büro befindet, als auch darin herumlungern. Diese Möchtegern-Mafiabosse mit ihren Hüten tief im Gesicht und den kubanischen Zigarren im Mund. Wie sie mich immer so dreckig angrinsen, wenn ich vorbeigehe. Ekelhaft! Ich will gar nicht wissen, was sie sich in ihren hohlen Köpfen da alles vorstellen. Lieber nicht. Mein großes Glück ist, dass ich die Nichte ihres Chefs bin. Also, wie gesagt, es ist schrecklich

dort. Eigentlich gibt es nur einen Grund, warum ich immer wieder dorthin gehe: SAM. Ach, Sam …! Sam ist so etwas wie die rechte Hand meines Onkels. Er leitet seine Buchhaltung und diese Dinge. Wofür da genau Buch geführt wird, ist mir schleierhaft, aber ich denke, dass ich das gar nicht so genau wissen will. Wenn ich komme, sitzt er meistens an seinem Schreibtisch vor Onkels Büro oder im Büro. Er ist sehr höflich, gebildet und anständig. Manchmal frage ich mich schon, was er in diesem Job zu suchen hat, ich meine, ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass die Dinge, mit denen mein Onkel sein Geld verdient, nicht gerade ehrenhaft sein dürften. Ja, das ist mir schon klar. Aber na ja, ich bin froh, dass er hier ist und ich ihn besuchen kann. Und auch Sam! Obwohl ich ihn jedes Mal nur kurz sehe, fühle ich mich doch jedes Mal mehr zu ihm hingezogen. Ich habe das starke Gefühl, er könnte der richtige Mann für mich sein. Dieses Mal wirklich. Das nächste Mal, wenn ich dort bin, werde ich ihn fragen, ob er mit mir etwas Zeit verbringen will, ich bin sicher, er wird Ja sagen. Gute Nacht! Ich setze morgen hier fort. Crystal Tiki

Gemeinschaftsarbeiten

102

Polizeiprotokoll vom 15. März 1933 Niederschrift mehrerer abgehörter Anrufe von Emanuel Marie Fresanges Privattelefon, am 14. März 1933, ­zwischen 9:22 Uhr und 21:12 Uhr, in Boston, Massachusetts 1. Anruf (9:22 Uhr), eingehend Fresange: Hallo? Case: (unverständliches Schluchzen) Fresange: Wer zur Hölle ist da? Case: (schluchzend) V-v-v-Vivien … Fresange: Vivy? Was zur Hölle ist denn los?? Case: (wieder unverständliches Schluchzen) Fresange: Hör mal, Vivy, beruhig dich doch erst mal. Nimm einen Schluck Whisky, und dann erzähl mir, was los ist, hmmm? Case: (schluchzend) D-die Schweine sind bei uns eingebrochen und ha ...

Fresange: (unterbricht sie) Welche Schweine? Wer? Wer ist bei euch eingestiegen? Case: (schluchzend) Es (Schluchzer), es waren Cuneos Leute und sie haben TFresange: (unterbricht sie erneut) Cuneo? Der verdammte Hurensohn! Ich wusste, dass man diesen Scheiß-Itaka-Wichsern nicht trauen kann. Wenn ich mit dem fertig bin, dann ... Case: (unterbricht ihn) Emanuel, jetzt hör mir doch erst mal zu! Die haben Tiffany vergewaltigt, verstehst du?? Meine 16-jährige Tochter vergewaltigt … J-jeder Einzelne … (beginnt erneut zu schluchzen) Fresange: Ach du … (Schweigen) Case: (Schluchzen) Fresange: H-hör mal zu, Viv, ich schick ein paar Männer vorbei, und die kommen dich und Tiff dann abholen, okay? Okay Viv? Geht das so? Case: (schluchzend) O-okay … Ich … Ich … (beginnt erneut zu schluchzen) Fresange: Schschsch, ist schon in Ordnung, Viv … I-ich sag Eve sofort, dass sie jemand vorbeischicken soll. Es wird alles wie ... Case: (legt auf)


3. Anruf (15:03 Uhr), eingehend Fresange: Ja? Dovizi: Emanuel? Fresange: Ja, Antonia? Dovizi: Hör mal, Emanuel, kannst du nicht zu mir kommen? Ich vermisse dich, Schatz. Fresange: Antonia, ich hab leider viel um die Ohren. Gespräche mit Geschäftspartnern, Papierkram, dann zum Bankdirektor, das Übliche eben. Du weißt ja. Dovizi: Ach, komm schon, Emanuel. Wir wissen doch beide, dass du nicht lang brauchen wirst ... Fresange: Was soll denn das jetzt wieder heißen? Dovizi: Ach, nichts. Vergiss es.

4. Anruf (17:44 Uhr), eingehend Fresange: Hallo? Unbekannt: (Schweigen) Fresange: Verdammt noch mal, wer zum Teufel ist da? Unbekannt: Wir hoffen, die Familie Case hat bekommen, was sie verdient ... (höhnisches Lachen) Fresange: Verfi... Unbekannt: (legt auf)

5. Anruf (17:45 Uhr), ausgehend Cotton: Ha ... Fresange: (unterbricht ihn) Ernie? Ernie, ich hab da etwas, das dringend erledigt werden muss, und ich will, dass das Ganze verdammt noch mal sauber über die Bühne geht. Hör zu. Heute Morgen hab ich einen Anruf von Vivien Case bekommen. Du weißt schon, das ist die, welche das Bordell in der Old Lincoln Street betreibt. Auf jeden Fall sind Cuneos Männer ziemlich brutal bei ihr eingestiegen. Meine Männer haben mir gesagt, dass der Großteil der Einrichtung hinüber ist und dass diese verfluchten Schwanzlutscher sogar zwei der Mädchen abgeknallt haben. Außerdem haben sie Viviens Tochter … Na ja, du weißt schon. Mehrere Male angeblich. Das muss unbedingt gerächt werden, verstehst du? Keine Gnade! Solche Sitten dürfen hier auf keinen Fall einreißen. Also, ich will, dass du deine Jungs umgehend zusammentrommelst und diese verkackten Itaker-Dreckskerle aus dem Weg räumst. Trefft euch einfach beim La Vita Nuova oder wie auch immer diese Scheißbar heißt, wo sich Cuneo mit seinen Schweinsköpfen immer rumtreibt. Oh, und wenn möglich, bringt mir Cuneo selbst mit. Lebend. Ich meine, eine ordentliche Abreibung könnt ihr ihm vorher schon geben, um ihn gefügig zu machen. Da habe ich nichts dagegen. Das will ich sogar. Ich hab mit dem Hurensohn noch eine ordentliche Rechnung zu begleichen. Der misslungene Schmuggel im vorigen Jahr, du weißt schon. In Boston. Wo sie Baker und Middleton geschnappt und Frazer umgelegt haben. So etwas vergesse ich nie. Alles verstanden? Cotton: Du bist der Boss, Emanuel. Wird gemacht.

Schreibakademie HORN

Ich habe nichts gesagt. Jetzt komm schon, Emanuel. Wie lange ist es denn schon her, dass du mich besucht hast, hmmm? Eine Woche? Zwei? Emanuel, komm schon. Ich brauche dich. Ich will dich. Fresange: Verdammte Scheiße … Dovizi: (lacht) Also, du willst mich doch auch. Jetzt komm schon, Emanuel. Fresange: Ich … Dovizi: Ich hab schon die richtigen Sachen an, weißt du? Nämlich gar nichts. Ich trage nur noch nackte, heiße, willige Haut. Und die ganz allein für dich, Darling … Fresange: (legt seufzend auf)

103

Gemeinschaftsarbeiten

2. Anruf (12:51 Uhr), eingehend Fresange: Verdammt noch mal, Ich bin grad beim Essen. Wer ist da? Mrs. Fresange: Emanuel, ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht anschreien. Fresange: (seufzend) Und ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht beim Essen stören … Außerdem hab ich dich nicht angeschrien, sondern ... Mrs. Fresange: (unterbricht ihn) Wie dem auch sei, ich wollte dich nur an Lillys Auftritt heute Abend erinnern. (sarkastisch) Sicherlich hast du daran gedacht, ja? Fresange: Verdammt noch mal, natürlich hab ich dran gedacht ich … Ich hab einfach viel um die Ohren, das weißt du doch. Hör mal, Janet, könntest du … Mrs. Fresange: (unterbricht ihn erneut) Könnte ich dort alleine hingehen? Ja, könnte ich und werde ich. Lilly hat hart dafür gearbeitet, und sie hat ein wenig Anerkennung verdient, wenn auch nur von einem Elternteil. Fresange: Ach, Janet, du weißt ja ... Mrs. Fresange: (unterbricht ihn wieder) Komm mir nicht mit „Ach, Janet!“, du weißt genau, wie enttäuscht Lily sein wird. Na ja, wie dem auch sei, bis später, Emanuel. (legt auf)


Schreibakademie HORN

Fresange: Ja. Gut. Ruf mich sofort zurück, wenn ihr Cuneo ­geschnappt und verprügelt habt. (legt auf)

6. Anruf (21:12 Uhr), ausgehend Dr. Mitchell: Mitchell am Apparat. Hallo? Fresange: Abe? Hey, hier ist Emanuel. Ich weiß, es ist schon spät, aber haben Sie kurz Zeit? Ich wollte nur kurz mit Ihnen reden. Dr. Mitchell: Ich hab immer Zeit für meine Patienten, Emanuel. Schießen Sie los. Fresange: Ja, also … Ich hatte einen langen Tag und verspüre jetzt, also seit einer halben Stunde, so starke merkwürdige Schwindelgefühle … Ich weiß nicht … Ich kann mir das nicht erklären … So etwas habe ich, bis heute, nicht gekannt … Hoffentlich ist das nichts Ernstes … Das hätte mir gerade noch gefehlt … Fabian Stummer

Gemeinschaftsarbeiten

104

SCHREIB AKADEMIE

Die plötzliche Abreise Heute war ein nebeliger, kühler und lichtloser Novembertag ­gewesen, wie es auch die anderen drei Tage vorher gewesen waren. Man konnte allen Bewohnern der Stadt G. im amerikanischen Mittelwesten deutlich anmerken, dass dieses trostlose Wetter schwer auf ihr Gemüt drückte. Alle schienen sich, wie Schlaf­ wandler, durch die Straßen und den Nebel zu bewegen, ganz gleich, ob Fußgänger oder Autofahrer. Oder wie Gespenster. Mit Sam Miller jedoch verhielt es sich ganz anders. Er hatte gestern Vormittag, endlich, den lange und auch ­sehn­süchtig erwarteten Brief von Emanuel Fresange, seinem geheimnisvollen Auftraggeber, samt seinem neuen Reisepass erhalten. Den Auftrag in Boston hatte Fresange, in dem beigelegten Schreiben, wie telefonisch angekündigt, grob umrissen. Sam Miller musste sich sofort eingestehen, dass der Auftrag ihn reizte und herausforderte. Er wusste selbstverständlich ganz genau, was das für sein weiteres Leben bedeutete, und versuchte seit gestern, seit dem Lesen des Briefes und seit dem Ansehen des neuen Passes, immer wieder, sich daran zu gewöhnen, dass er, sobald er in Boston, genau ­gesagt im Bostoner Hotel Excelsior, auf dem Zimmer mit der Nummer 111, eintreffen würde, nicht mehr Sam Miller, sondern Eric Jaeger heißen würde. „Ich bin und heiße von nun an Eric Jaeger!“, flüsterte er immer wieder und sah sein kantiges, knochiges, markantes Gesicht im Badezimmerspiegel an. Sam Miller war vor drei Wochen plötzlich von diesem Fresange, von dem er vorher kaum etwas gehört hatte, und zwar telefonisch, kontaktiert worden. „Ich habe schon einiges, und zwar Vielversprechendes, von Ihnen gehört, Mister Miller“, hatte Fresange gesagt. „Ich denke da etwa nur an Ihre solide Arbeit bei dem so ganz plötzlich und zufällig verstorbenen Mister Charles McQueen, wenn Sie wissen, was ich meine. Sind wir nicht einmal schon im Hotel Excelsior, im Dezember 1930, zusammengesessen, in der Bar? Sie und McQueen waren da, es ging um ein Angebot meinerseits, wenn ich mich recht ­erinnere ... Ich rufe Sie aus Boston an und hätte da, und zwar hier in Boston, einen äußerst interessanten und auch einträglichen Auftrag für Sie in petto, den ich Ihnen, allerdings nur in gröbsten Zügen, in einem Brief skizzieren würde … Inklusive einer völlig neuen Identität, Sie verstehen, und so weiter und so fort … Ich würde es mir sehr wünschen, dass Sie annehmen, Miller … Ich weiß im Fall McQueen nämlich weit mehr, als Sie glauben, und das könnte für Sie, unter Umständen, nicht ganz ungefährlich werden … Ich will Sie weder erpressen noch unter Druck setzen, mein Lieber,


Das war selbstverständlich lupenreine Erpressung gewesen. Nichts sonst. Miller wusste natürlich sofort, was es für seine Existenz bedeuten würde, wenn die ganze Wahrheit im Fall ­McQueen ans Tageslicht kommen würde. Das Ende. Sein Ende.

Kurz vor acht rief Burton an, zuerst ging Lucy zum Apparat, dann Sam. „Ich bin gleich wieder zurück, Liebling“, sagte er zu Lucy und schlüpfte in seinen Mantel. „Ich kann den Ärmsten doch nicht hängen lassen. Der weiß ja nicht einmal, wie ein Schrauben­ schlüssel aussieht! Ich lasse das Auto da und nehme mir ein Taxi.“ Er küsste sie noch flüchtig auf die Wange und trat hinaus auf den halbdunklen Gang.

Was aber sollte er nun tun? Annehmen, abreisen, verschwinden, sofort nach Boston fahren? Er hatte lange überlegt. Außerdem war Cassandra ständig vor seinem Haus aufgetaucht. Er fühlte sich, von mehreren Seiten, in die Enge getrieben. Eines Tages hatte er sich entschieden. Vor einer Woche hatte er schließlich Fresange angerufen und ihm mit­geteilt, dass er an dem Auftrag interessiert wäre. Nun, und gestern waren Brief und Reisepass eingetroffen. Es gab kein Zurück mehr. Er hatte seinen schwarzen Koffer in der Garage versteckt und ihn heimlich, wenn Lucy mit den Kindern wegging, mit den notwendigsten Sachen voll­gepackt. In seinem Büro hatte er, ohne Lucy davon zu informieren, vorige Woche bereits gekündigt. Außerdem hatte er eine große Summe Geldes auf der Bank abgehoben, und zwar für Lucy und die beiden Kinder, John und Mary. Sie sollten keine Not leiden. Und an diesem kalten und nebeligen Abend nun musste er weg aus G., um den Nachtzug in Richtung Boston zu erwischen. Er saß mit Lucy in der Küche und sprach mit ihr über die Kinder, die schon schliefen. Er hatte mit Mike Burton, einem Bürokollegen, ausgemacht, dass er ihn

Um sich noch von seinen Kindern verabschieden zu können, sagte er, durch die halb offene Tür, zu Lucy, er würde noch schnell ins Kinderzimmer gehen und nachsehen, ob alles in Ordnung sei. Das tat er auch. Mit Tränen in den Augen küsste er die bereits fest schlafenden Kinder auf ihre seidigen Wangen. Er ging hinunter in die Garage, nahm seinen schwarzen Koffer, den er unter einer alten Decke versteckt hatte, legte das dicke Kuvert mit den Geldscheinen auf den Fahrersitz seines Autos, wo Lucy es sicher finden würde. Aber er ließ ihr keinen Abschiedsbrief zurück. Dann verließ er das Haus, ging, durch den dichten, unbeweglichen, nieselnden Nebel vor bis zur nächsten Ecke, wo bereits das für acht Uhr fünfzehn bestellte Taxi auf ihn wartete. Es brachte ihn zum Bahnhof. In Fresanges Brief hatte sich auch eine einfache Fahrkarte nach Boston befunden. Also ohne Rückfahrt. Sam Miller betrat sein Schlafwagenabteil, hob seinen schweren schwarzen Koffer hoch und legte ihn auf den Gepäckträger. Pünktlich um neun Uhr zehn fuhr der Zug in Richtung Boston ab. Sam Miller saß beim Fenster und sah hinaus in die Finsternis, in der die letzten kleinen Lichter von G. zu sehen waren und schließlich verschwanden. Der Zug fuhr ratternd hinein in den dichten Nebel, in die lange Nacht, scheinbar ins Nirgendwo. Rudolf Aubrunner

Schreibakademie HORN

gegen acht Uhr anrufen und sagen sollte, er hätte zu Hause einen Wasserrohrbruch und würde dringend Sams Hilfe benötigen. Und so geschah es auch.

105

Gemeinschaftsarbeiten

aber gut … Denken Sie in Ruhe über alles nach, und melden Sie sich wieder bei mir …“


Zwei Mikrodramen Der Aufzug

Schreibakademie HORN

Der Aufzug in einem großen Einkaufszentrum bleibt, nach wenigen Sekunden, plötzlich stecken, die Beleuchtung fällt aus, in der stockfinsteren Aufzugskabine befinden sich folgende Personen:

Gemeinschaftsarbeiten

106

Jane Stephanie Moon, 35, Immobilienmaklerin Roman Claus Gustafson, 50, Dachdecker Stanley P. Qu. Rowling, 46, Lateinlehrer Adalbert Hermann, 40, Kunstmaler

Jane (Aufgebracht und ungeduldig, schlägt mit beiden Fäusten gegen die Kabinentür): O Mist! Ich habe in einer Viertelstunde mein Meeting, oben in der Chefetage! Nein, nein, nein! Bitte nicht, komm doch, fahr wieder los! Komm schon, komm! Und auch noch stockfinster hier! Gibt es nicht einmal eine Notbeleuchtung? Alter Kasten! Eine Schande! Das werde ich oben schon deponieren, keine Sorge! Roman (laut, mit tiefer Stimme): Ruhe! Dein beschissenes Meeting ist jetzt dein geringstes Problem, Mädchen. Und wer weiß, wie lange hier der Sauerstoff noch mitmacht?! Vielleicht fallen wir alle bald bewusstlos um? Stanley (ruhig und gefasst): Ich kann Sie beruhigen, gnädige Frau, und auch Sie, mein Herr. Wir sind keineswegs knapp an Sauerstoff hier drinnen. Alle Aufzugskabinen haben, meines Wissens nach, unsichtbare Lüftungs­ löcher, die nach draußen führen. Und sollte es, in diesem morbiden Einkaufstempel, kein zweites Pompeji geben, haben Sie wahrlich nichts zu befürchten. Quod erat demonstrandum.

Adalbert (philosophisch): Wozu der Lärm, Herrschaften? Ich habe Kopfweh und bitte um Ruhe. Sehen wir diese durchaus außer­ gewöhnliche Situation doch unter dem scharfen und gnadenlosen Blickwinkel des Existenzialismus, denn einen anderen gibt es, meiner Meinung nach, ohnehin nicht. Also. Wir kommen aus der Finsternis, leben in der Finsternis und kehren wieder dorthin zurück! Wozu also dieses jämmerliche Theater? Aus dieser momentanen durchaus lächerlichen Finsternis wird man uns schon herausholen, keine Sorge. Eines noch, Herrschaften. Ich habe mir nicht einmal Ihre Gesichter genau angesehen. Egal. Meine Schuld. Jane (schreiend): Kein Grund zur Aufregung? Haben Sie eine Ahnung, mein Herr! Sind Sie noch ganz bei Trost? Dieses Meeting ist vermutlich das wichtigste meines ganzen Lebens! Ich sitze hier, im Finstern, mit einem alten Knacker und zwei lächerlichen, ­Sprüche klopfenden Clowns fest. Und da soll ich mich beruhigen? Lächerlich! (stöhnt und schnauft) Roman (laut und wütend): Jetzt hör mir mal gut zu, du kleine Schlampe. Ein Wort noch von dir und du wirst diesen Aufenthalt nicht überleben! Stanley (entrüstet, doch ruhig): Zwei Rüpel also schon hier drinnen. Gut. Schlimmer als die Karthager, wahrlich, bei Merkur! Na ja, zumindest habe ich da noch einen Vergil an meiner Seite! (lacht laut) Dann wäre ich, genau genommen, ja Dante. Gefällt mir, wie die Jugendlichen heute so salopp und unbekümmert sagen. Adalbert (ruhig): Danke, edler Römer, für diesen schmeichel­ haften, aber mich durchaus ehrenden Vergleich. Die Vergil‘sche „Äenäis“ habe ich allerdings nur in Ausschnitten gelesen, nicht ganz. Und noch ein paar Vergil-Gedichte. Sie wissen schon, auch dieses mit dem Kind, von dem man sagt, das würde auf Christus anspielen. Gut. Doch nun fort von der Poesie und zurück zum Ernst des Lebens. Vielleicht kann einer von den Herrschaften mit seinem Handy irgendwo anrufen und denen dort mitteilen, dass wir hier in einer totalen temporären Finsternis feststecken … (lacht kurz) Jane (sehr gereizt und mürrisch): Mich brauchen Sie wirklich nicht zu fragen. Mein Akku ist leer. Das weiß ich genau. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich mich, wenn ich von hier wieder draußen bin, in Therapie werde begeben müssen. Roman (süffisant): So, und jetzt wird der alte Knacker die Feuerwehr anrufen, damit du bald wieder rauskommst, du kleines Rotzmädel! (lacht und wählt die Nummer der Feuerwehr)


Jane (gereizt): Ich bin nicht in Panik, der Herr. Merken Sie sich das! Das Einzige, was ich will, ist endlich hier raus und schnellstens zu meinem Meeting. Mehr verlange ich nicht! Ja, die Therapie ist mir sicher … Roman (mit lauter energischer ­Stimme): Jetzt haltet alle endlich einmal eure Klappe! Könnt ihr nicht hören, dass da schon versucht wird, die Aufzugstür von draußen zu öffnen? Die haben bestimmt eine eigene Feuer­wehr hier im Haus, sonst könnten die niemals so schnell hier sein. Stanley (erfreut): Ein dreifaches Hoch auf den Heiligen Florian und seine Jünger! Und der Cicero ist somit auch gesichert! (lacht)

Die Aufzugstür wird von den Feuerwehrleuten von außen geöffnet, Licht dringt herein, ein Feuerwehrmann winkt den vier Personen zu, die daraufhin über eine Leiter ins Freie klettern und so die Kabine verlassen. Die lange Leiter endet im Erdgeschoß des Kaufhauses. Leute gehen vorüber oder halten an und sehen neugierig zu. Jane, Roman, Stanley und Adalbert stehen da, sehen einander neugierig an, sind unschlüssig, wissen nicht recht, was sie tun sollen. Jane (das Schweigen brechend, sichtlich erleichtert, sich mit einem schnellen Blick auf ihre Uhr abwendend): Ah … endlich! Auf Nimmerwiedersehen, ihr Freaks! (stellt sich vor die benach­ barte Aufzugskabine, steigt mit anderen Leuten ein, sobald sich die Türen öffnen) Roman (unfreundlich, schroff, mit verfinstertem Gesicht und demons­trativ hochgestrecktem linkem Mittelfinger): Hat mich wirklich außerordentlich gefreut, ihr miesen Versager! (lacht höhnisch und geht weg) Stanley (hustet kurz und wendet sich in Richtung Adalbert, bietet ihm die rechte Hand zum Abschied): Bevor ich gehe, möchte ich Ihnen nur noch sagen, dass ich wirklich erleichtert war, in dieser außergewöhnlichen Situation nicht völlig von Rüpeln umgeben gewesen zu sein. Vale, edler Freund! Es war mir eine Ehre.

Er schüttelt Adalbert die Hand, wartet noch dessen Antwort ab und geht dann in Richtung Buchhandlung davon. Adalbert (gelassen zu Stanley): Nun denn, leben Sie wohl, geehrter Dante Alighieri. Wir zwei waren die einzig Normalen in dieser Kabine, wahrlich. Vielleicht treffen wir uns ja einmal zufällig wieder. Aber hoffentlich nicht in einer feststeckenden Aufzugskabine! (lacht kurz, wendet sich ab und stellt sich vor den benachbarten Aufzug)

Schreibakademie HORN

Adalbert: Also gut, wenn sich bei der Feuerwehr jemand meldet, dann haben wir immerhin schon eine zeit­liche Perspektive. Nochmals, es ­besteht kein Grund zur Panik und Unruhe, meine Herrschaften. Ich bin vor zwanzig Jahren, als ich noch ein blutjunger Kunststudent war, auch einmal in einem Aufzug festgesteckt. Um zwei Uhr früh allerdings. Mit drei besoffenen Freunden, von denen einer Klaustrophobiker war und dazu noch Klaus hieß! Sehr amüsant, muss ich sagen. Auch das ist gut ausgegangen, glauben Sie mir. Also kein Grund zur Sorge.

Adalbert (kurz lachend, ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche ziehend, es entzündend und damit die Finsternis erleuchtend): Da sprach der Herr in seiner ewigen Finsternis: „Es werde Licht!“ Und es ward Licht. Ich muss mir doch, als leidenschaftlicher Porträt­maler, noch eure sicherlich interessanten Gesichter ansehen. (Jane beleuchtend) Sehr, sehr hübsch, Kompliment, muss ich schon sagen. (zu Stanley) Vergeistigtes Römerantlitz. Wie Dante. (zu Roman) Kantig, markant, interessant. (Das Feuerzeug erlischt. Adalbert lacht) Und so fielen sie alle wieder zurück in die tempo­ räre Finsternis …

107

Gemeinschaftsarbeiten

Stanley: Danke, dass Sie sich so für uns aufopfern, mein Herr. Wir wissen das wirklich zu schätzen. Ich hoffe nur, dass mir in der Zwischenzeit in der Buchhandlung niemand die Neuübersetzung der gesammelten Reden Ciceros wegschnappen wird. Das würde mich wirklich empfindlich treffen.


Im Leuchtturm

Schreibakademie HORN

Später Abend, im Innern eines Leuchtturms, schwache Notbeleuchtung; fünf hohe schmale Fenster, der mittelgroße Raum ist rund, einige Möbelstücke stehen herum, wie Sessel, Tisch, Kasten, ein Bücherschrank, ein Schreibtisch, an der Wand die technischen Vorrichtungen für den Leuchtturm; von draußen sind das Brausen eines Orkans und das laute Rauschen des Meeres zu hören; die folgenden sieben Personen befinden sich im Raum:

Gemeinschaftsarbeiten

108

Chloé Ravel, 24, Studentin der Religionswissenschaften Jacqueline Borbonjon, 29, Modedesignerin Nicolas Smith, 42, Versicherungsmakler Ismael Londt, 26, Kickboxer Steve R. Spade, 43, Barbesitzer und Hobbykapitän Richard Hammer, 45, Reisejournalist Josh Fisher, 37, Handwerker und Monteur

Steve (sieht aus einem der Fenster hinaus in die Nacht und wendet sich dann an die Gruppe): Könnte allerdings noch eine ganze Weile dauern, bis wir hier wieder rauskommen. Ich war schon einmal in einem Orkan wie diesem. Vor vier Jahren. Verdammtes tropisches Klima. Man kann sogar spüren, wie der Turm schwankt. Na ja. Abwarten. Ismael (blickt auf die anderen, stolz, vielleicht sogar etwas verächtlich): He, hört mal her! Ich war bei der heurigen Kickboxweltmeisterschaft in Amsterdam, wo ich übrigens Dritter geworden bin, doch das nur nebenbei, weit größeren Gefahren ausgesetzt gewesen als hier in diesem blöden Leucht­ türmchen! Also!

Nicolas (schnell und panisch zu den anderen, wilde Gestik, nervös auf und ab gehend): Und wann kommen wir hier endlich wieder weg? Oder, besser gesagt, kommen wir hier jemals wieder weg? Nein, antwortet mir lieber nicht. Ich möchte nämlich nicht wissen, wann genau mein letztes Stündlein geschlagen hat … Jacqueline (ruhig und mit französischem Akzent zu Nicolas): Seien Sie doch bitte nicht so dramatisch. Wir kommen hier schon wieder raus. Keine Sorge. Wenn der Leuchtturm nicht einstürzt, und das wird er sicher nicht, kann uns nichts passieren, ich bitte Sie. Chloé (ebenfalls ruhig und total entspannt wirkend): Meine lieben, lieben Herrschaften, jetzt beruhigen wir uns mal bitte wieder. Gott, der Herr, hat uns, mit seinem unerforschlichen Willen, hier zusammengeführt. Und er weiß bekanntlich immer, was er tut. Genießen wir also dieses freudige Zusammensein. Übrigens, ich heiße Chloé. (macht eine kurze angedeutete Verbeugung) Richard (kopfschüttelnd an ein Fenster tretend und in die Nacht hinausblickend): Nun ja, über das Genießen ließe sich natürlich streiten, mein Fräulein. Aber lassen wir das jetzt, weil es ohnehin zu nichts führt. Wir, sind wir doch ehrlich, waren alle einfach ­Idioten, weil wir die Sturmwarnung nicht ernst genommen haben und in diesem blöden Boot hierhergefahren sind. Selber schuld. Ja. Genau genommen aber hätte uns die Hotelleitung überhaupt nicht losfahren lassen und uns gar kein Boot geben dürfen! Was soll’s?! Zu spät. (resigniert) Und außerdem sind wir vollkommen hilflos. Keine Ahnung, wie lange so ein Orkan im Normalfall dauert. Im Normalfall …! Josh (wütend seinen Werkzeugkoffer ergreifend und damit zur Tür gehend): Ich hätte auch gar nicht hierherkommen sollen, versteht ihr? Aber der Leuchtturmwärter hat mir am Telefon gesagt, es wäre sehr dringend wegen des Aggregates unten. Ich habe daher alle Warnungen in den Wind geschlagen. Und als ich herkomme, ist der Leuchtturmwärter verschwunden. Weg. Vielleicht ist er in der stürmischen See ertrunken. Und ich finde, stattdessen, euch hier! Was mache ich hier überhaupt noch, verdammt noch einmal! Ich hätte heute Abend, drüben auf der Insel, ein Rendezvous mit einer wunderschönen Frau gehabt, und jetzt sitze ich hier fest! Zum Teufel, das Rendezvous, auf das ich mich schon seit Wochen gefreut habe, kann ich jetzt vergessen! Und diese Schönheit bin ich dann wohl für immer los! Mist! Auch kein Handyempfang hier! Sonst könnte ich sie wenigstens anrufen. Die wird sicher glauben, ich bin mit einer anderen unterwegs! Verdammt, verdammt, ­verdammt, ich sehe mir mal dieses Aggregat an, um mich abzu­ lenken …! (reißt wütend die Tür auf, geht hinaus, schlägt sie laut zu)


Steve (zuckt mit den Schultern, sieht gleichgültig zur Tür, nimmt eine Zigarette aus einem silbernen Zigaretten­ etui, zündet sie an, nimmt genussvoll den ersten Zug): Ja, ja, so ein Orkan ist eben nichts für schwache Nerven. Das kann einen Mann schon fertig machen, besonders, wenn irgendwo eine hübsche Frau auf einen wartet. Das kann ich verstehen. Das kann ich sogar gut verstehen. Das nimmt einem so eine Frau sehr, sehr übel, wenn man nicht kommt. Weiß ich aus eigener Erfahrung. Aber das mit dem Orkan wird sie sicher verstehen und ihm auch glauben. Was soll’s? Nicht unser Problem. (nachdenklich) Aber er hat recht, wo ist wirklich der Leuchtturmwärter? Merkwürdig ...

ab, geht zur Wand, bleibt kurz stehen und beginnt dann plötzlich, nach einem kurzen Aufschrei, Kickboxübungen zu vollführen, springt hoch, tritt mit beiden Beinen wild in die Luft, in Richtung eines unsichtbaren Gegners): Egal, wie lange der Orkan auch dauert, ich kann meine Zeit gut nutzen, keine Sorge! Tausende Gegner warten auf mich, warten nur darauf, von mir besiegt zu werden! Hooooh!

Nicolas (mit weit aufgerissenen Augen bei einem der Fenster stehend, vor sich hin sprechend): Na ja, der Erste ist schon weg und weitere werde noch folgen … So ist das nun einmal …

Steve (zuckt mit den Schultern, nüchtern): Egal, ob es einen Gott gibt oder nicht, ich jedenfalls rechne nicht damit, dass er uns hier jetzt rausholen wird. Da hilft nur, sich die Zeit zu vertreiben. Ich enthalte mich der Meinung über Gebete, aber würde auch eher sagen, dass man sie in aller Stille und ganz für sich erledigen sollte. Aber vielleicht wäre eine kurze Vorstellungsrunde wirklich keine schlechte Idee. Da lernen wir uns einander vielleicht besser kennen. Nun gut. Ich bin Steve. Steve R. Spade …

Ismael (wendet sich von den anderen

Nicolas (nickt ihm kurz zu, richtet seinen Blick aber sofort wieder zum Fenster, sagt leise, mechanisch und abwesend): Mmmh, ich bin Nicolas Smith. Versicherungsmakler. Richard (desinteressiert, seine Notizen fortführend): Ich weiß zwar nicht, wozu das wirklich gut sein soll, Herrschaften, oder wohin es führen soll. Aber meinetwegen, ich heiße Richard. Richard Hammer. Ja, wie der Hammer. Eines noch. Es ist wirklich merkwürdig, dass wir hier keinen Leuchtturmwärter vorgefunden haben. Ist der Turm vielleicht allgemein, bei einem Orkan, unbesetzt und der Lichtkegel automatisch gesteuert? Keine Ahnung. Merkwürdig. Oder ist der Wärter im Meer umgekommen, weil er nicht recht­ zeitig in den Turm flüchten konnte? Ja, höchst merkwürdig.

Plötzlich allgemeines Schweigen; alle wirken, aufgrund dieser Worte, nachdenklich; von draußen noch immer das laute Brausen des Orkans und das wilde Rauschen des Meeres hörbar; plötzlich, in die so entstandene Stille hinein, ein mehrmaliges lautes, panisch wirkendes Trommeln gegen die Tür. Alle erschrecken, sehen hin zur Tür.

Schreibakademie HORN

Jacqueline (energisch den Kopf schüttelnd und abwinkend): ­Religion ist meiner Meinung nach reine Privatsache. Das heißt konkret, Sie können für sich allein so lange und so viel beten, wie Sie wollen. Das bleibt Ihnen überlassen. Aber lassen Sie damit bitte andere Menschen gefälligst in Ruhe! So etwas passt wirklich nicht hierher.

109

Gemeinschaftsarbeiten

Richard (sich auf einen Sessel beim Fenster setzend, sein Notizbuch aufschlagend und zu schreiben beginnend): Ruhe. Hört mal zu. Schuld ist nur das Hotel. Ja, eindeutig. Man hätte uns, die Ahnungslosen, auf Grund der ausgegebenen Sturmwarnung niemals hierherfahren lassen dürfen! Eindeutig. Nun gut. Passiert ist eben passiert. Punkt. Aber dieses miese Hotel wird in meinem gepfefferten Reisebericht wahrlich nicht gut wegkommen, das kann ich euch sagen. Mit mir ist nicht zu spaßen. (sich beruhigend) Ich weiß auch nicht, wie lange so ein Tropen­ orkan in der Regel dauert. Aber mit zwölf Stunden etwa werden wir schon rechnen müssen. Warten wir ab. Nur keine Panik aufkommen lassen. Es geht schließlich alles vorüber …

Chloé (faltet ihre Hände und sieht alle aus ihren großen, dunklen, leuchtenden Augen an): Wir könnten uns die Zeit doch mit Beten und mit einer anschließenden Vorstellungsrunde vertreiben? Was meint ihr dazu, meine lieben Brüder und Schwestern im Herrn?


Schreibakademie HORN

Gemeinschaftsarbeiten

110

Bücher

In der Zelle

Wenn niemand sonst mehr da ist – ihr seid noch da! Der geworfene Schatten ist zu groß und zu klein Wenn Worte Wirkung zeigen, dann zerbricht der Mensch Erschaffe deine eigene kleine Welt im Labyrinth der Worte Es macht mich immer sehr glücklich, euch zu berühren Wenn ich im Gras liege, habe ich mich, in euch, ganz verloren Inmitten zerstörter Welten ohne ­Freiheit zu sein Lasst mich erleben eurer Vielzahl Abenteuer In meiner Seele

Ich sitze am Boden und schweige, beraubt meiner Freiheit und allen menschlichen Glücks Ich versinke hilflos in einer Spirale auswegloser Hoffnungslosigkeit, und jeder neue Tag wird finsterer Unzählige Male habe ich schon meine Unschuld beteuert, doch man glaubt mir nicht Wie so oft kreisen meine Gedanken ohne Ziel Und meine Augen starren endlos ins Nichts der Ketten, die mich hier gefangen halten Geplagt und gepeinigt, habe ich versucht, diese Zelle zu meinem Grab zu machen, doch vergebens Ich bleibe hier sitzen und verrotte Ich stehe auf und blicke in den Spiegel an der Wand, mein Gesicht nur ein blasser, verkommener Schatten von einst Ich gehe ans Fenster, draußen, zwischen den dicken weißen Gitterstäben, ein grauer und trostloser Herbsttag

Sommer Heute erlosch mein Heiliges Sommer verdross nur mich Sonne brannte glutheiß herab Hitze schmolz meine Seele Stadt verfiel in Sekundenschlaf Schweiß floss über Gesichter Straßen schienen unendlich verschwommen Menschen erlagen ihrem Wahn Tiere stürmten in Häuser Blicke erzählen hoffnungsvolle ­Sehnsüchte 7. Juni 2013, Ein-Wort-Gedicht Fabian Stummer, Elliott Chan, Kerstin Fischer

SCHREIB AKADEMIE

Wüster, kalter Nieselregen schlägt mir durch das offene Fenster entgegen und weht abgefallene leblose Blätter in meine finstere Zelle herein Ich sammle sie langsam ein, ihr schwach modriger Geruch dringt mir in die Nase, ich studiere ihre Strukturen und ihre Farbenvielfalt, so lange, bis ich sie mit meinen Tränen bedecke Alle meine Hoffnungen stürzen ein und werden vom kalten Wind, der durch meine Zelle fährt, für alle Ewigkeit weggeweht, als wolle er auch mich mitnehmen ins graue Nichts Ich schließe das Fenster, werfe mich auf mein Bett und starre die kahlen weißen Wände an, die ein genaues Abbild meines augenblicklichen Lebens sind Gedanken kommen zum Punkt, schließen ab – es ist vorbei. 25. Oktober 2013, Fabian Stummer, Elliott Chan, Kerstin Fischer, Rudolf Aubrunner


Du sitzt sogar ganz tief und fest in meinen Knochen Beißt dich hinein in meine Gelenke und lähmst mich Du bringst den Winter in ein verlorenes Herz Es ist gefroren Kann die Welt nicht mehr sehen Vor mir eine dicke undurchdringliche Wand aus finsteren Gedanken Der letzte Hauch von Hoffnung ist wie weggeblasen Die Fenster von großen Eisblumen bedeckt Nicht eine einzige Blume sprießt mehr in meinem toten Garten Der fruchtbarste Boden ist steinhart vom langen Frost Auch MICH wollen seine eiskalten Hände fassen In einen kristallenen Eiskäfig ver­ bannen – ohne Ausweg Du lässt mich zurück, allein, umgeben von tausendfach gebrochenem Licht Ich empfange die zitternde Schwäche des verglühten Schmerzes

Bring die schwarzen Eisenbohnenäpfel, alter Schluckermann, wirf sie endlich in sein weißes Tortenhaus daheim! Ich lecke meine Katzenzungen und beiße Honigbienen, bis wir Wasserflöhe bluten Über mir brechen plötzlich singend die Wolken ein Und mein süßer Maxi-King entwickelt heiße Gefühle Für mich Ich kläffe und tanze mit dem schiefen Pinguin, bis mich, um 3 Uhr 33, ein schnell fliegendes Tortenstück am Ohrläppchenturm trifft Heute trink’ ich, morgen stink’ ich und übermorgen verspeis’ ich genussvoll der Nachbarn Hund und Katz’! Dann stecke ich meine Schweinsnase in die Jauchengrube und ziehe meine Krähenfüße aus dem Rauchfang, dann rufe ich laut „Hohei!“ und schieße mir selbst ins Ei Da, Kilian, die Eierspeis’ fliegt vom Himmel Und grunzend springt das Schwein, voller Sehnsucht, auf meinen Mehlspeisteller und ich rufe, ganz erstaunt: „Mein Speck, mein Speck, ich liebe dich!“

23. November 2013, Fabian Stummer, Elliott Chan, Kerstin Fischer, Rudolf Aubrunner

Der dunkelgelbe gackernde Mond – „Kikeriki und Kakeraka!“ – kommt schwankend auf mich zu und bringt mir eine warzige und lachende Kröte: „Ha, ha, ha!“ Wenn der rote Regen des Nächtens über löchrige Hüte donnert, tanzen neunzehn Gurken Blitzschnell-Tango – und das war’s auch! Zwölf Hethiter öffnen mir mein enges Mieder und die Heiligen Drei Könige werfen ihre surrenden Handtaschen auf meinen Keuschheitsgürtel Sein gesichtsloser Kopf dreht sich elf Mal um die eigene Achse Und löst sich dann plötzlicherweise mühelos herab, um mit den grünen wolkenlosen Flamingos in siebenten rosa Himmel zu fliegen, wo die Sterne ewig ­schlummern Aber hör mir zu: Der blaue Tiger tollt unsichtbar durchs brennende (Knusper-)Häuschenfeld Fällt dann brüllend hinab in die Kekshölle Indiens!

Schreibakademie HORN

No sense? – Nonsens!

111

Gemeinschaftsarbeiten

Kälte


Schreibakademie HORN

Gemeinschaftsarbeiten

112

Winter

Vergänglichkeit

In den kahlen Sträuchern hungrige Vögel Durch das weit geöffnete Fenster weht der Schnee herein Und häuft sich weiß und hoch zu ­meinen Füßen Die großen Flocken wirbeln wild durcheinander

Wenn die Sonne untergeht, verschwinden die Schatten Es ist die letzte Stunde des Universums, der Hochnebel der Zeit legt sich auf die Gefilde herab, dabei ihre Illusion uns endgültig vernichtend, als hätte es sie, in unserer Vorstellung den Raum begleitend, niemals gegeben. Wenn der Herbst aller Dinge anbricht, ist ihr Winter auch nicht mehr fern, der Rauch der Zigarette über den Köpfen verfliegt und mit jedem Zug vergeht die Zeit Alle diese Augenblicke wegrieselnd, wie feiner Wüstensand Ich blicke auf die leeren Weihnachtsstände, die in diesen verlassenen Gassen stehen, welche einst in der Weihnachtszeit bunt belebt waren, wo aber nun keine einzige Menschenseele zu sehen ist, und ich höre, im Herzen, auf zu sein. Ich schwinde, vergehe, zerfalle – es ist vorbei.

Im dichten Schneefall durch den Park Glatte Gehwege, glückliche Familien, verschneite Bäume Die leeren Schaukeln bewegen sich knarrend im Wind, bedeckt von Eis und Schnee Lächelnde Schneemänner und ­leuchtende Kinderaugen Heißer Tee und vor den Fenstern die tanzenden Flocken Die Luft duftet intensiv nach Zimt, Nelken und Muskat Und ich höre ein leises Flüstern: „Ich liebe dich!“ Drinnen Kerzenschein, draußen Flocken­tanz

Weihnachten Ist es wirklich die stillste Zeit des Jahres? Wenn alle und jeder hektisch in Kaufhäuser läuft, und sich auf eine Odyssee begibt, nur um das perfekte Geschenk zu finden? Und wenn keine Ruhe, bloß Hektik den Alltag beherrscht, und wenn der Wert der Geschenke selbst die Freude gnadenlos unter sich begräbt, so, so ist es doch, am Ende, immer wieder – Weihnachten! 20. Dezember 2013, Fabian Stummer, Elliott Chan, Kerstin Fischer, Rudolf Aubrunner

Ungerechte Welt Für das Gute bekommt man selten Gutes zurück Man besteigt, unter großen Qualen, den höchsten Gipfel, um durch die dadurch entstandene Last wieder zum Anfang hinabzustürzen Wie Sisyphos den Stein, unablässig, ohne Pause, wieder, wieder und wieder, den Berg hinaufzurollen – für immer vergebens Statt Nehmen und Geben, nur Nehmen, Nehmen und Nehmen Das Positive für immer vom Negativen in die Schranken gewiesen Das Leben ein ständiger Kampf Überleben ein sinnloses Spiel Und so stellt sich die Frage, sich entweder den reißenden Fluten hinzugeben oder weiterzupaddeln Ich genieße diesen Moment zwischen Sein und Nichtsein Und halte meinen Kopf unter Wasser, bis – die Blasen verschwinden … 17. Jänner 2013, Fabian Stummer, Elliott Chan, Kerstin Fischer, Rudolf Aubrunner


Was tun, wenn es keinen Ausweg mehr gibt? Gibt es noch Hilfe, in einer Sackgasse stehend? Hilflos dem eigenen Schicksal ent­ gegenblickend? Tausend Wände kommen, unauf­ haltsam, näher, und ich falle, unaufhaltsam, tief hinab in das Mysterium des Nichts. Läufer nach g3, schachmatt! – Vorbei.

Heute schreibe ich noch in mein Tagebuch SO WIRD DAS HEER KAPUTT GESPART Heute genoss ich die Atmosphäre des beginnenden Tages UKRAINE IM STRUDEL DES HEXENKESSELS KRIM Heute hat mein Wellensittich Höhenangst bekommen „ICH GLAUBE NICHT AN DIE ALKOHOLISIERUNG!“ Heute bin ich in einem Meer aus Wahrheit ertrunken WAFFEN SIND SICHER – MANN ERSCHIESST SICH AUS VERSEHEN! Heute gingen die Pferde mit mir durch WOCHENEND-SUPERPREIS! HÜHNERKEULEN-VIERTEL NUR € 6,99!

Schreiben Ich schreibe am liebsten nachts, wenn die Sterne mich inspirieren Ich gebäre, durch mein Schreiben, neue Utopien, um sie dann in Finsternis zu stürzen, dass sie wieder und weiter vergehen. Fabian Stummer, Elliott Chan, Rudolf Aubrunner

Heute bin ich zwei Stunden im Wald spazieren gewesen DIE GRÖSSTE VIELFALT IM BACKOFEN! Heute fiel die Schönheit der Frühlingsfluren in meine trunkenen Augen HEUTE WOLKEN UND ETWAS SONNE Heute hat meine Briefmarkensammlung Feuer gefangen POLIZEI-BANDE NAHM ARMEN DIE AUTOS WEG Heute werde ich die Schmetterlinge in meinem Bauch ertränken AUF INS FASCHINGS-WOCHENENDE! Heute werde ich noch etwas einkaufen müssen HUND BISS IN VERGIFTETEN KÖDER Text-Montage vom 28. Februar 2014, Montage-Material: mehrere Tageszeitungen; Fabian Stummer, Elliott Chan, Kerstin Fischer, Rudolf Aubrunner

SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie HORN

Heute, 28. Februar 2014

113

Gemeinschaftsarbeiten

Schachmatt


Schreibakademie HORN

Gemeinschaftsarbeiten

114

Das Chaos in mir

In mir das – Chaos

Schwankender Boden im Labyrinth Der Halt meiner Beine ist so unsicher, wie der meiner Gedanken Freude, Trauer, Angst, ich ertrinke in ihnen, und finde keine Emotionen mehr Ordnung, Struktur und Sicherheit sind, wonach mein Kopf ruft, so voll und doch so leer „Öffne das Fenster!“ – „Hörst du mich?“ – „Glutrote Sonne!“ Findest du den Weg hinaus, oder ­findest du nur zur Mitte zurück? Ha! Gefunden hab ich dich endlich, du Ohr ohne Zeit, du Gespenst mit Todesangst! Ich genieße den freien Fall, während zwölf Rubel aus meiner Tasche fliegen und mein Kopf einen Kanaldeckel durchschlägt Wenn aber nun plötzlich das dünne Eis unter deinen nackten Fußsohlen krachend zerbrechen würde? Läufst du dann oder fällst du schon deinem Ende entgegen? Der Glückliche spürt Todesgelüste, der Traurige möchte ewig leben Ich aber frage Venus, Mars, Merkur: „Was steht in den Sternen?“ – doch sie alle schweigen …

Schmerzende Augäpfel rollen seitwärts in meinem schmerzenden Kopf Sorgen durchfluten meinen zersprungenen Schädel, zerreißen die Stille mit einem Knall Oh bodenloser Turm, falle ich endlos in deine Höhen? Schmutz, Dreck, Erde, es musste doch so kommen! Gestern die Nacht, heute der Spiegel, morgen über Stacheldraht … Mein Weg, ein Teppich aus Scherben, ein Meer aus Messern, Berge aus Leid Wasser am Mars, Feuer auf Plutonis, meine Welt ein verlorenes Schattenspiel, es ist vorbei! Blitz, Feuer und Posaunen, Donner und Paukenschlag, die Sonne geht, verglüht im Osten Plötzlich unter fremden Menschen, in fremden Räumen, heisere Stimmen aus fremden, weit aufgerissenen zahnlosen Mündern … Orientierungsverlust, Schwindelgefühl, Herzklopfen, so einsam und doch weit weg bei dir Herz! Verlorenes! Hast Schmerz verspürt dort, wo Freude das Schicksal liebt Von Sinnen, komme ich vom rechten Weg ab und finde mich in einem dunklen Wald wieder Aber DORT – wer hört meinen Hilfeschrei? 4. April 2013, Fabian Stummer, Elliott Chan, Kerstin Fischer, Rudolf Aubrunner


SCHREIB AKADEMIE

MÖDLING Klasse Gertraud Klemm & Markus Tobischek

115

DIE SCHÜLER_INNEN Elodie Arpa Lara Drakos Bianca Fellner Aleksa Lazovic Robin Reisenauer Anika Suck Teresa Wawra


Schreibakademie MÖDLING

SCHREIBAKADEMIE MÖDLING Kreatives Schreiben ist mehr als Talentförderung. Schreiben ermöglicht wie kein anderes Mittel Individualisierung, Schärfung der Wahrnehmung und emotionale Evolution. Es zwingt uns, mit Klischees zu brechen und unser Ich zu verbalisieren. Es ist ein ubiquitäres Werkzeug, mit Krisen umzugehen, Bedürfnisse zu artikulieren und seinen Weg immer wieder zu finden. Seit 2011 warte ich vergeblich auf den ersten Jugend­lichen, der zur Türe hereinkommt und so oberflächlich, konsumgeil und handysüchtig ist, wie mir diese Generation seitens der Medien beschrieben wird. Vergeblich – und nicht besonders überraschend.

Ich schreibe diese Zeilen etwa eine Woche vor unserem letzten Schreibakademie-Treffen im Sommersemester 2014. Dem letzten Termin mit Gertraud. Und da hier der ganze Rest dieses schönen Bandes unseren Nachwuchstalenten gewidmet ist, möchte ich ­diese paar Zeilen dir widmen, liebe Gertraud, und dir Danke sagen. Schon auch für die vielen tollen Vorschläge und Ideen, für deine ­Arbeit, für unsere freundschaftliche Zusammenarbeit. Ja, vielleicht sogar für einen Schuss Herzmilch. In erster Linie aber dafür, dass du all unseren Mädels und Burschen (inkl. mir) ein Vorbild warst. Du hast ihnen vorgelebt, ihre Themen und ihre Texte ernst zu ­nehmen. Sich ernst zu nehmen. Mit viel Lachen, mit Witz, mit Ironie. Hauptsache echt. Authentisch. Du hast ihnen gezeigt, dass Schreiben vielleicht ein Weg zu Erfolg sein kann. In jedem Fall aber ein Weg zu sich selbst. Ein Schlüssel, mit dem sie viele Türen auf­sperren können, hinter denen – wie auch in diesem Band zu lesen – nicht nur Schönes ­lauert. Schreiben kann viel Dunkles an die Oberfläche ­befördern. Ans Licht!

Gertraud Klemm

Du gehst nun mit konzentrierter Energie den Weg als Autorin. Ich bin mir sicher, dass du dabei deinem Weg treu bleibst. Und wenn irgendwo auf der Strecke der in Preisen und Verkaufszahlen ­gemessene Erfolg liegt, dann wünschen wir dir auch den. Es war schön, dich ein kleines Stück dieses Weges begleiten zu können. Von ganzem Herzen, im Namen aller: Danke, dass du auch unseren Weg begleitet und bereichert hast. Markus Tobischek

116

SCHREIB AKADEMIE


MARKUS TOBISCHEK

1971 in Wien geboren. Aufgewachsen in Baden bei Wien. Biologiestudium an der Universität Wien. Bis 2005 Tätigkeit als hygienische Gutachterin im Magis­ trat der Stadt Wien. Seit 2005 frei­ berufliche Autorin und Schreibpädagogin. Sie erhielt diverse Stipendien und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Harder Literaturpreis (2012) und dem Irseer Pegasus (2014). Nominierung für den Bachmannpreis 2014. Zuletzt erschienen: „Herzmilch“ bei Droschl. Sie lebt mit ihrer Familie in Pfaffstätten, Nieder­ österreich.

Geboren 1970 in Wiener Neustadt. Seit 2005 Lehrer für Deutsch und Geschichte am BG/BRG Mödling Keimgasse, mehrere Jahre Koor­ dinator für Begabtenförderung (ECHA-Diplom; zurzeit Master­ studium Gifted Education & Coaching), Schüler- und Bildungs­ berater. Zuvor mehrere Jahre Tätigkeit in einer Werbeagentur (ghost.company) im Bereich Kontakt, Text, Konzeption, zuletzt ­Creative Director. Erfahrungen, auch im Ausland, gesammelt als Tennislehrer, (Chef-)Animateur, Hortner, Nachtportier, Kellner, Verkäufer ... – und: Referent der Schreibakademie Mödling!

Schreibakademie MÖDLING

GERTRAUD KLEMM

117


1999 | Brüssel

118

Elodie über Elodie

Elodie Arpa

Schreibakademie MÖDLING

ELODIE ARPA

Natürlich. Natürlich könnte ich mich jetzt mit einigen einfachen Adjektiven beschreiben. Natürlich. Auf den ersten Blick wäre dies auch das, was von mir erwartet werden würde. Doch schaut noch einmal genau hin! Auf den zweiten Blick scheint es unmöglich, ein Lebewesen mit ganz normalen, alltagsgebräuchlichen Adjektiven zu beschreiben. Diese sind zu gewöhnlich, unklar und mehrdeutig. Jedes Adjektiv hat seine guten und bösen Seiten, wird von jedem anders interpretiert und führt oft zu Missverständnissen und Streit. Kurz zusammengefasst: In diesem Text haben die Adjektive nicht das Sagen!!! Nun gut, weiter geht’s! Da kommen wir wieder auf das heikle Thema: Wie soll ich mich selbst beschreiben??? Das scheint mir unmöglich. Ich verändere mich. Dauernd. Jede Sekunde meines Lebens. Alles verändert mich.

Jeder Ort. Jede Situation. Jeder Mensch. Jeder Tag. Ich bleibe nie gleich. Bin immer anders. Oder? Vielleicht hat jeder Mensch einen Kern, tief in sich drinnen, der immer gleichbleibt, egal, was passiert. Gibt es so etwas? Etwas, was jeden Menschen einzigartig macht? Ja, ich glaube schon – und ich werde versuchen, euch meinen inneren Kern zu beschreiben. Ich liebe es, Neues kennenzulernen oder zu erlernen. Meistens weigere ich mich zwar, doch eigentlich, tief in meinem Inneren, gut versteckt, kann ich es gar nicht mehr erwarten. Informationen, egal welche, betrachte ich immer ganz genau. Von oben und auch von unten. Ich drehe sie in alle Richtungen und schwenke sie, um nichts zu übersehen. Ich schlüpfe in andere Rollen, um das Geschehen auch aus anderen Perspektiven zu sehen. So sieht man Sachen, die man früher nie beachtet hätte. Eines war für mich schon immer klar: Man braucht ein festes Ziel. Ein Ziel, an das du glaubst. Ein Ziel, das dir Hoffnung und Motivation gibt. Ein Ziel, für das du kämpfst. Ohne ein Ziel im Leben geht gar nichts! Das ist der Grundsatz meines Lebens. Der Grundsatz, auf dem ich gebaut habe. Der Grundsatz, der schon immer in mir war. Ob das, was ich auf diesem Grundsatz gebaut habe, gut oder schlecht ist, ist unbedeutend. Es muss nicht immer alles perfekt sein, auch wenn ich das oft will und mir erhoffe. Die Perfektion ist unbedeutend. Wie im Leben, so auch beim Schreiben. Ob eine Geschichte am Ende gut oder schlecht ist, ist unbedeutend. Schreiben muss nicht immer perfekt sein, auch wenn ich das oft


Geburtsdatum: 18. 11. 1999 in Brüssel (Belgien) Staatsbürgerschaft: Österreich, ­Frankreich Ausbildung: BG Untere Bachgasse Mödling, 3. Klasse, Sprachenzweig Sprachkenntnisse: Deutsch, Englisch, Französisch Interessen/Hobbys: • Schreibakademie Mödling • Malakademie Perchtoldsdorf • Klavierunterricht

Ein Schlüssel zum Tor, zum Tor des Zimmers, zum Zimmer der Geheimnisse. Er fällt ihr schwer in die Hand, gräbt sich in ihre Haut, hinterlässt einen leicht rötlichen Abdruck, als sie ihn aufheben will. Sie ihn zwischen ihren Fingern hin und her wiegt, versucht ihn ins Schlüsselloch zu schieben. Der Geruch des Metalls betäubt sie ein wenig, ist so stark, dass sie instinktiv versucht, den Gestank abzustreifen. Während sich der Schlüssel wie von selbst dreht und ein lautes Knarren ihr zeigt, dass sie es geschafft hat, drückt sie die Türe auf, so langsam, dass sie die Staubkörnchen beobachten kann, wie sie herumgewirbelt werden, nach unten fallen und wieder nach oben getragen werden, als sie sie anpustet – bis es zu viele werden und das kleine Leben in dem gräulichen Pelz auf den Boden fällt, aus ihrem Blickfeld verschwindet. Ihr Husten ist ein Krächzen, das nicht aufhören will, als sie sich nach unten beugt, um es zu suchen, doch es ist nichts mehr da, nach dem es sich lohnt zu suchen. Es ist fort. Sie stolpert gegen die Tür, taumelt in das Zimmer. In das Zimmer der Geheimnisse. Fällt hin, in das Wasser, taucht hinein. Metall, Stein, Keramik. Skulpturen, Figuren, viel Arbeit investiert in einen kleinen Gegenstand, der immer ­größer wird, sie versucht zu erdrücken, sie erfrieren lässt. Neben ganz einfachen rechteckigen Blöcken aus Stein. Sie fällt, als wären es Meter, Kilometer bis zu dem Boden des Zimmers. Als wäre es unendlich weit und als würde der Weg nur aus Metall bestehen. Aus Metall, Stein, Keramik, Skulpturen, Figuren – aus viel Arbeit. Sie versinkt immer tiefer, versucht, sich zu wehren, doch sie sind überall, es gibt immer Nachschub. Als sie die Stimmen hört, das ­Zischen, das Flüstern, wie sie ihr in die Ohren schreien und es in ihr wiederhallt, weiß sie es schon, die letzten Töne werden gespielt, die Melodie wird immer leiser, immer langsamer, der letzte Ton wird angesetzt, das Pedal hallt den Klang in ihr wider, von Dur ins Moll, und sie weiß es – es ist fort.

Baby und Sally Baby lutschte den Würfelzucker, glücklich, ihn zu zerbeißen, die ­kleinen Teile zu schlucken und die großen zu lutschen, bis sie klein wurden und Baby sie schlucken ­konnte. Baby saß auf dem Bett, die Füße am Kopfkissen, das nach Parfüm roch, genauso wie Sally, den Kopf über den Rand baumelnd, den Druck spürend, wie der Kopf langsam immer schwerer wurde und die Röte in die Wangen kroch, bis Baby die Augen

schloss, den Kopf noch immer hin und her bewegend, langsam in Kreisbewegungen und sich dann wieder aufsetzte. Etwas unsicher den Kopf auf das Kopfkissen legte, die Zuckerstücke alle verschluckt hatte und der kleine Körper sich zu einer Kugel verwandelte, die Knie unter dem Kinn, sich wärmend vor der Kälte, die man nicht spürte. Die Decke neben Baby, unberührt zusammen­ geknüllt, während Baby auf den anderen Rand des Bettes kroch, langsam, die kleinen Hände an das Leintuch gekrallt, als Baby die Augen schloss, um nicht sehen zu müssen, was es gesehen hatte, ein leerer Platz neben dem Bett, nichts außer der dünne Teppich, der genauso kalt war, wie die Kälte, die man nicht spüren konnte: Sallys Schuhe waren weg.

Schreibakademie MÖDLING

Wohnort: 2340 Mödling

Ein Schlüssel zum Tor

119

Elodie Arpa

will und mir erhoffe. Die Perfektion ist auch hier unbedeutend. Auf meinem Grundsatz des Lebens schreibe ich Geschichten. Baue sie auf, mit meiner Motivation und meiner Hoffnung. Das Schreiben gehört zu mir, wie der Grundsatz meines Lebens. War immer schon da, tief in meinem Inneren – und wird auch immer da bleiben.


Schreibakademie MÖDLING

Mauthausen

Elodie Arpa

120

Eine Mauer, ein Zaun. Kilometerlange Wiesen, das beste Mittel, um Fliehende nicht fliehen zu lassen, um zu lernen, ohne Mitleid zu schießen, um zu lernen, Tote und die, die auf dem Weg waren, Tote zu werden, zu ertragen. Ortschaften, so klein, dass jeder jeden kennt, und jeder alles über alles weiß. Die beste Spionage – frisch geliefert von der Bevölkerung. Eine Bevölkerung, die es gewohnt war, dass täglich Hunderte Häftlinge hinter die dicke Mauer transportiert werden, getrieben wie Kühe, abgemagert, zu Tode erschöpft, die ausgepeitscht werden, wenn sie zusammenbrechen, sich vor Erschöpfung zu Boden stürzen und versuchen, Gras zu essen, versuchen nicht zu verhungern, nicht zu sterben. Eingeliefert, bei den schlimmsten Minusgraden barfuß im Schnee s­ tehend. Gefühlte Stunden, Tage, Jahre. Nichts konnten sie tun, um der Willkür der Wärter zu entkommen. Sie waren gefangen – für immer. Flucht aus der Kälte: duschen. Gedrängt und gestoßen die Stufen hinunter, in die Dunkelheit, bestehend aus Rohren, Leitungen und Duschköpfen. Aneinandergepresst, Platzmangel.

Kein Name mehr, keine Identität – hier ist man nur noch eine Nummer. Aus den Duschköpfen kommt Wasser – einmal eisig kalt, im nächsten Moment brennheiß –, manchmal auch Gas. Gestank, Desinfektionsmittel, Schläge, Leichen. Plomben entfernt, Kleidung entrissen, Haare abrasiert, Tattoos rausgeschnitten, zerstückelt, zerfleischt. Alles wiederverwertet – wie in einem Schlachthof. Doch der Rest der Leichen wird nicht verschlungen, sondern verbrannt. Massenmorde. Der Rauch steigt auf, immer mehr Rauch, immer mehr Leichen, sodass sogar die Kinder im Dorf aufschauen, zu dem stinkenden Rauch, der nicht so roch, wie es normalerweise roch, wenn Mama versuchte Brot zu backen, doch nichts hatte, womit man es hätte backen können. Sogar sie schauen von ihren Heften auf, statt brav ihren Aufsatz über die bösen Juden zu schreiben, so lange, bis sie der Herr Lehrer mit einem heftigen Schlag wieder in ihre Hefte starren lässt. Tribünen für freiwillige Zuschauer, gekommen, um das Leid zu sehen, zu zeigen, wie mutig sie sind, die Gedanken verdrängend. Ein Fußballspiel neben dem Krankenlager, dessen wahrer Name Todeslager sein sollte, ist es doch nur eine Art, die Kranken von denen, die bald krank werden, zu trennen – sie abseits verrotten zu lassen. Auch an einem Standesamt fehlt es nicht, ein Platz, wo täglich Hunderte Tote eingetragen werden. Erschossen, Arbeits­ unfall, frei gewählter Tod, Krankheit, misslungener Fluchtversuch – um nur einige zu nennen und nicht diejenigen anzusprechen, die man morgens mit einer Spritze im Herzen gefunden hatte – sogenannte Testobjekte. Doch war es nicht nur ein Platz des Todes, so wurden am selben Ort glückliche Hochzeiten gefeiert, die Braut im weißen Kleid mit dem Blumenstrauß, die Kutschen mit den weißen Rossen, die auf dem roten Teppich durch die sterbenden Häftlinge hindurchfuhren und den glücklichsten Tag ihres Lebens feierten.

Meine allerbeste Freundin Meine allerbeste Freundin ist für mich – Mist! Nein, nein, nein, so war das natürlich nicht gemeint!!! Ich sollte das schleunigst klären, denn, oh mein Gott, wenn meine allerbeste Freundin das einmal jemandem zeigt oder, ach du Schreck, wenn ich es vorlesen müsste, was für ein Durcheinander es nur geben würde! Und zum Schluss meint vielleicht noch jemand, das wäre eine offizielle Beschimpfung, sogar schriftlich erhalten und – was dann passieren würde, will ich mir lieber gar

nicht erst vorstellen, denn ich habe keine Lust wegen dieser Geschichte – okay, Geschichte kann man das wieder auch nicht nennen – gar Alpträume zu bekommen. Aber wenn’s sein muss – ihr seid dann aber Schuld, wenn ich schweißgebadet mitten in der Nacht aufwache –, verschwende ich noch einmal meine Zeit und denke an diesen furchterregenden Gedanken. Nun gut, es könnte sogar sein, dass meine allerbeste Freundin mich anzeigt, wegen Beschimpfung und, dass ich dann – egal, welch unschuldiges Gesicht ich bei der Gerichtsverhandlung mache – eine lebenslange Gefängnishaft bekomme! Stellt euch das einmal vor!!! Oh, ich merke schon, ich lenke wieder einmal vom Thema ab. Nun, damit wir das schnell abschließen, schreibe ich einfach diesen Satz, der eigentlich mit einigen Worten alles erklärt hätte, was ich hier mü-


SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie MÖDLING

würde ich das tun!!! Um wieder zum Thema zurückzukommen: Meine allerbeste Freundin ist viel zu besonders für solche mickrigen Beschreibungs-Wörtchen!!! Das kann ich euch sogar beweisen! 1. Beweis: Welcher nicht-besondere Mensch kann sich zwei Stunden lang – wenn nicht länger, habe nicht genau auf die Uhr geschaut – zusammen mit seiner besten Freundin mit einem kleinen Faden beschäftigen, ohne auch nur einmal, zu denken „Mir ist langweilig“ oder „Wir sollten aufhören, das ist irgendwie blöd“??? Hm, hat euch das jetzt die Sprache verschlagen?! Also, ich kenne da sonst niemanden – mich selber einmal einfach nicht mitgerechnet –, der das kann, und ihr? Wenn ihr so jemanden kennt, dann sagt es mir oder ruft an unter … Hey, das klingt so wie bei „DSDS“ oder „Das Supertalent“, wo der eine Moderator mit Brille lauthals verkündet: „Und wenn ihr das wisst, dann ruft an und vielleicht habt ihr das Glück, nie wieder arbeiten zu gehen, weil ihr reich seid, und das Beste ist, es kostet überhaupt nichts, wirklich, nur ein Euro, aber sonst ist es gaaaanz kostenlos!“ – oder so ähnlich, ich habe es mir nicht ganz gemerkt, aber im Grunde genommen bedeutet es sicher das Gleiche, ja ganz sicher, es ist wirklich fix so – glaub ich. Oh nein, jetzt bin ich schon wieder rausgekommen!!! Wo war ich denn nur? Fertig, sagt ihr?! Echt, ich dachte, ich sollte noch Beispiele aufzählen. Nein, sagt ihr?! Warum? Echt, ihr glaubt mir schon bei diesem Beispiel! Oh danke, wie nett von euch, ihr seid die Besten, wirklich … eigentlich muss ich jetzt ja auch schon essen gehen. Ich bin schon echt gespannt, ob es endlich einmal salzige Palatschinken zum Abendessen gibt, am liebsten wäre es mir mit Schin… Mist, ich wollte das ja eigentlich als Aufsatz in Deutsch verwenden, um ein Plus zu bekommen! Glaubt ihr, ich kann das so noch abgeben? Eigentlich hat die Frau Professor immer gesagt, man soll viele Gedanken einbauen, und das habe ich ja auch gemacht!!! Vielleicht kann ich die Geschichte – mittlerweile kann man sie tatsächlich Geschichte nennen – abgeben, wenn ich die ganzen Mists rauswerfe … Ihr sagt, das ist das Beste an der ganzen Geschichte und ohne die Mists ist sie ruiniert?!?! Nun, wenn das so ist, lass ich meine Geschichte einfach so, ich will mein mit Stil geschriebenes Wunderwerk ja nicht ruinieren – besonders da es so ganz sicher eines Tages neben den Noten der Zauberflöte Mozarts in einer Glasvitrine mit guter Alarmanlage liegen wird – Mist, mir fällt gerade ein: Ich hasse Opern! Mist, Mist, Mist!!! PS: – ich weiß, PS schreibt man nur bei einem Brief, aber ist ja voll egal, ihr habt ja Recht! Ich merke langsam, wie mit jedem Mist die Geschichte besser wird! Gern geschehen, im Vorhinein. Ihr könnt mir auch später danken, dass ihr als einer der Ersten bei dem mit Stil geschrieben Wunderwerk zuhören durftet!

121

Elodie Arpa

hevoll hingeschrieben habe, hier auf – und wehe, der wird bei der Gerichtsverhandlung einfach weggelassen! So, jetzt kommt der Satz: Ich meinte so etwas wie: „Mist, was soll ich nur schreiben?“ oder „Mist, mir fällt nichts ein!“ Und nicht das, was ihr sicher wieder einmal denkt!!! Nun noch einmal von Neuem: Meine allerbeste Freundin ist für mich … Mir fällt nichts ein! Ach, ich sehe schon, ihr fragt euch wieder einmal, warum ich das hier überhaupt schreibe, wenn ich keine Ideen habe. Nun, zu dieser Frage kann ich euch gleich zwei Antworten geben! Okay, erstens: Oh nein, ich sehe es schon kommen, ihr werdet mir ja sowieso nicht glauben, wenn ich euch sagen würde, dass mir das Spaß macht, oder? Eben! War ja klar. Nun zweitens: Es ist ja nicht so, als hätte ich wirklich gar keine Ideen, nein, mein Kopf platzt sicher bald, und es wäre schön, wenn es jemanden gäbe, der meine Ideen hin und wieder Gassi gehen führt, dann hätten meine anderen Ideen mehr Platz. Noch dazu – ihr werdet es mir nicht glauben – haben meine Ideen eine ziemlich kleine Blase … Ja, ist schon gut, ihr müsst nicht die Augen verdrehen, ich habe schon gemerkt, ich habe wieder vom Thema abgelenkt und euch etwas über die Blasen meiner Ideen erzählt, was euch höchstwahrscheinlich nicht einmal annähernd interessiert. Ich hör ja schon wieder auf! Wartet kurz, wo war ich noch einmal stehen geblieben? Ach ja stimmt, also weiter! Es ist ja nicht so, dass ich keine Ideen habe, aber meine allerbeste Freundin – kurz gesagt AAA…u…AAEBFFIUEUDHBDWUUIHNVVV…u….VVW, allerbeste Freundin war uns einfach zu lang – kann ich ja nicht einfach mit nett, toll, schlau, schön oder solchen einfachen und ungebildeten Adjektiven beschreiben, nein! Nie im Leben würde ich das tun – abgesehen vom Englisch-Aufsatz letzte Woche … Aber da war ich ja gezwungen, es zu tun und … Okay, dann halt: Fast nie im Leben


Schreibakademie MÖDLING 122

Lara über Lara

Lara Drakos

LARA DRAKOS

Ja, gute Frage! Wer bin ich? Ein Mädchen von 14 Jahren … Doch bin das wirklich ich? Eine banale Vorstellung. Es gibt Tausende weitere Mädchen, die 14 Jahre alt sind. Also was macht mich aus? Meine Noten, mein Zimmer, meine Musik, meine Texte? Alles kleine Dinge, die man nie wirklich wahrnimmt. Und doch! Würde man sie wegnehmen, würde eine graue Hülle zurückbleiben. Ein graues Abbild meiner selbst. Also: Beginnen wir mit mir! Ich wurde im Jänner mit meiner Zwillingsschwester geboren. Wer sich jetzt vor Begeisterung nicht mehr einkriegt – so toll ist das nicht. Ich meine, nicht einmal seinen Geburtstag hat man für sich alleine. Aber belassen wir es dabei! Danach kam ich in den Kindergarten. Schon damals haben mich Bücher fasziniert. Nur was soll man tun, wenn man mit vier Jahren vor

einem Bilderbuch sitzt und es nicht selber lesen kann? Man sucht sich ein Buch aus und lässt es sich so lange vorlesen, bis man es auswendig kann. Dann marschiert man in den Kindergarten und beginnt aus diesem Buch vorzulesen und sich bewundern zu lassen von den Fünfjährigen, die der Meinung sind, dass man das in diesem Alter noch gar nicht können kann. Na ja … Viel mehr Erinnerungen habe ich an diese Zeit auch nicht. Nun kam ich in die Schule und hatte das Glück, eine tolle Lehrerin zu bekommen. Da trennten sich zum ersten Mal die Wege von meiner Schwester und mir. Ob das gut war, weiß ich nicht. Aber geschadet hat es mir auch nicht. Dort entdeckte ich zum ersten Mal, wie viel Spaß mir das Schreiben bereitet. Und wenn es nur eiliges Gekritzel war – ich liebte es und tue es immer noch. Tja und dann kam der richtige Spaß! Das Gymnasium. Toll … Am Anfang zwar noch neu und aufregend. Doch es ist wie mit neuem Spielzeug. Je länger man es hat, desto mehr verliert es seinen Reiz. Wenn Schule denn einen Reiz hat …! Allerdings war ich diesmal wieder mit meiner Schwester zusammen. Mittlerweile bin ich dort vier Jahre, und es hätte schlimmer kommen können. Auch das Schreiben finde ich immer besser. Das Einzige, was sich verändert hat, ist wohl die Qualität der Texte. Übers Internet bin ich zur Schreib­akademie gekommen und sehr, sehr froh darüber. (Alle meine Freunde teilen diese Leidenschaft nicht.) Ich hoffe, euch gefallen meine Texte, und freue mich, sie mit anderen teilen zu können. Denn das macht mich aus. Das bin ICH!!!!!


Das scheint den Bodhisattvas zu gefallen. Die Einsamkeit, das viele Grün. Die Brücke, die zum Kloster führt und unter der ein Fluss rauscht. Manchmal spielen dort kleine Kinder. Aber nur wenn ihre Mütter nicht hinsehen. Der Fluss ist eigentlich zu gefährlich. Zu reißend, zu tosend, die Strömung zu stark. Am Fluss leben die Bodhisattvas. So sind sie nah am Kloster und gleichzeitig mit der Natur verbunden. So wie sie es wollen. Wenn die Mütter entdecken, wo ihre Kinder sind, schimpfen sie. Doch eigentlich wissen sie, dass die Bodhisattvas aufpassen. Immerhin haben einige von ihnen bis zu tausend Arme, um den Bedürftigen zu helfen. Nicht alle haben so viele Arme. Manche haben nur ein paar hundert. Allerdings macht das nichts. Ein paar hundert Arme können ein Kind genauso gut vorm Ertrinken retten wie tausend. Geht man über die Brücke, kann man Berge sehen. Die meisten Gipfel sind zu hoch in den Wolken, als dass man sie sehen ­könnte. Trotzdem sind die Bewohner stolz auf ihre Berge. Im Sommer kommen Touristen. Bewaffnet mit Kameras, Wanderschuhen und Rucksäcken. Sie wollen die Berge besteigen und stolz ihren Fuß auf den Gipfel setzen. Doch davor brauchen sie Fotos mit den Bewohnern. Diese lächeln ein kleines Lächeln, die Mundwinkel kaum verzogen. Ihre Augen lachen mit. Sie sind gerne auf Fotos zu sehen. Aber darü-

ber lächeln sie nicht. Sie lächeln über den unerschütterlichen Glauben der Touristen, ihr Vorhaben zu verwirklichen. Die Bodhisattvas lieben die Berge. Sie wollen dort keine Touristen. Das Vorhaben ist zum Scheitern verurteilt. Während man sich das Treiben anschaut, wandert man weiter. Dabei zertritt man aus Versehen ein paar Blumen und Gräser. Das macht die Bodhisattvas nicht traurig. Gras wächst wieder. Stakna hat ein schönes Kloster. Sobald man die Türe sieht, möchte man hinein. Die Bodhisattvas haben die Bewohner von Stakna angewiesen, sie besonders schön zu machen. Das Kloster, den Tempel. Der Ort, an dem man die Erleuchtung erlangen kann. Der Eingang muss schön sein. Man soll sehen, dass man willkommen ist. Voller Vorfreude wird man die Klinke drücken und hineingehen. Angenehme Kühle schlägt einem entgegen. Im Sommer ist es in Stakna sehr heiß. Bald wird man sich daran gewöhnt haben und vorsichtig weitergehen. Ganz anders als draußen. Hier herrscht eine ganz besondere Stille. Genau genommen ist es keine Stille. Es ist Gesang, der die Stille verkörpert und die Bodhisattvas rufen soll. Natürlich wissen die Bewohner, dass die Bodhisattvas schon da sind. Sie beschützen schließlich ihre Kinder beim Spielen. Der Gesang ist für die Touristen. Sie stehen da mit offenen Mündern, die Stirn schweißglänzend, die Wasserflaschen gerade eben neu gefüllt, und sind begeistert. Begeistert von der Einmaligkeit dieses Ortes. Zu Hause werden sie es ihren Freunden erzählen, die schönsten Dinge weglassen und das Unwichtige hervorheben. Einfach, weil sie es nicht besser wissen. Man sieht ihnen zu. Die Freunde werden staunen, aber nicht hierherkommen. Das ist den Bodhisattvas und den Bewohnern recht. Sie wollen ihre Ruhe. Mit zu vielen Menschen sind die Bodhisattvas überfordert. Bei zu vielen Menschen helfen auch tausend Arme nicht. Und darum leben in Stakna auch nur so wenig Menschen. Die gleichen Familien, die gleichen Namen.

SCHREIB AKADEMIE

123

Lara Drakos

Bodhisattvas. Seelen, die trotz ihrer Erleuchtung auf der Erde bleiben. Aus Mitleid mit all denjenigen, die noch nicht soweit sind. Die die Erleuchtung noch nicht gespürt haben. Meistens kommen sie in Stakna vor. Stakna ist ein kleiner Ort in Indien. Dort leben nicht viele Menschen. Dieselben Familien, dieselben Namen.

Schreibakademie MÖDLING

Bodhisattvas und Stakna


Schreibakademie MÖDLING

Demenz

Lara Drakos

124

Ich gehe langsam. Kleine Schritte, langsame Schritte. Tippelschritte. sagt meine Mutter immer. Dabei habe ich einfach nur kleine Füße. Mit kleinen Füßen kann man keine großen Schritte machen. Ich taste mich langsam vorwärts. Die Sonne ist grell, und ich kann nicht nach oben in den Himmel schauen und sehen, ob ich in den Wolken eine Katze erkenne. Ich sehe immer eine Katze. Meine Schwester eine Maus. Aber meine Schwester ist schon lange nicht mehr da. Irgendwann war sie fort. Drückte meine Hand, lächelte und verschwand. Manchmal denke ich, dass es schön wäre mit ihr hier entlangzugehen. Sie liebte den Fluss. Das Geräusch, wenn Wasser fließt. Ich mag es auch, aber der Geruch von frischgemähtem Gras ist besser. Ich bin lange nicht mehr hier gewesen und habe vergessen, wie es riecht. Nach Blumen und frischem Gras. Vorsichtig setze ich den Hang hinunter. Er ist steil, und ich rutsche oft ab. Kurzerhand ziehe ich meine Schuhe aus. Es sind hässliche Schuhe. Ich konnte sie noch nie leiden. Meine Socken sind weiß. Meine Zehen graben sich in die weiche Erde. Schon jetzt kann ich die Grasflecken sehen. Mutter wird wütend sein. Grasflecken gehen schlecht raus. Egal. Fast bin ich beim Fluss angelangt. Am Rand sind Pflastersteine gelegt. Ein schmaler Weg, aber meine Füße finden Platz. Kleine rote Käfer wuseln über die Steine. Langsam, um sie nicht zu zertreten, gehe ich voran. Die Käfer weichen dem Schatten meiner Füße aus. Früher hätte ich ihren Namen gewusst. Aber jetzt nicht mehr. Ich habe sie zu lange nicht mehr gesehen, als dass ich mich an ihren Namen erinnern könnte. Von der anderen Seite kommt mir ein Kind entgegen. Es hat kurze blonde Haare, die, zu zwei Zöpfen gebunden, lustig abstehen. Es hüpft entlang und wirft jedes Mal,

wenn es in der Höhe ist, einen Kieselstein ins Wasser. Mit einem kleinen Platsch teilt der Stein das Wasser, das sich sofort makellos wieder zusammenschließt. Ich muss lächeln. Kurz kann ich noch sehen, wie der Stein untergeht, aber bald ist es nur noch verschwommen. Meine Brille habe ich zu Hause vergessen. Ich könnte sie holen, aber mein Zuhause ist nicht mehr da. Es ist jetzt ein Spielplatz. Vielleicht ist das besser so. Ich erwarte, dass das Mädchen einen Schritt zur Seite tut und hinter mir wieder hinauf­ springt, doch ich täusche mich. Wir stoßen zusammen, und ich verliere das Gleichgewicht. Ich lande im Gras. Jetzt ist auch mein Kleid schmutzig. Über mir sehe ich erschrockene Gesichter. „Geht es Ihnen gut?“ Ein junger Mann streckt mir seine Hand entgegen. Er wirkt gestresst, schockiert, fassungslos. Ich ignoriere seine Hilfe. „Ja, ja“, antworte ich bestimmt, obwohl es eine Lüge ist. Meine Haut ist runzlig und rau, wie Papier. Meine Knochen dünne Äste, mein Rücken nur noch da, um Schmerzen zu verur­sachen. „Ich bleibe gerne hier liegen“, füge ich hinzu. „Sie müssen aber aufstehen“, wird der junge Mann ungeduldig. „Ich muss gar nichts.“ Die Stimmen schwellen wieder an. Hände ziehen und zerren an mir, um mich auf die Beine zu stellen, aber ich mache mich schwer, wie ein Sandsack, und sie lassen es gut sein. Die Sonne ist weiter gewandert, und jetzt kann ich in den Himmel schauen. Eine einzelne, einsame Wolke zieht darüber. Es ist tatsächlich eine Katze. Unvermittelt legt sich jemand neben mich. Es ist das kleine Mädchen. Sie rückt näher an mich heran, bis ihr Mund bei meinem Ohr ist. „Geht es dir wirklich gut?“ Sie ist besorgt. Ihre nassen Wangen zeigen mir, dass sie geweint hat. „Aber ja doch … Mir geht es gut.“ „Das ist gut“, sagt sie und rollt wieder ein Stück weg. Mit einem Finger deutet sie gen Himmel. „Siehst du die Wolke?“ Ich nicke. „Das ist eine Maus“, erklärt sie mit Über­zeugung. Energisch widerspreche ich. „Es ist eine Katze. Siehst du die Schnurrhaare? Die kleinen spitzen Ohren? Die elegante Haltung? Das ist nie und nimmer eine Maus.“ Gekränkt blickt meine Schwester weg. Sie kann es nicht leiden, dass ich Recht habe. „Du bist dumm.“ Ihr Mund ist nach unten gezogen, ihre Lippen zittern. Sie ist nahe eines Wutausbruchs. „Bin ich überhaupt nicht. Wenn, dann bist du es.“ Sie stapft mit einem kleinen Beinchen auf und geht davon. „Das erzähle ich Mama!“, ruft sie mir zu. Dieser Satz ist keine Drohung. Ich bleibe liegen. Schaue mir die vorübergleitenden Katzen an und summe ein Lied. Eine Hummel steigt ein. Gemeinsam summen wir.


reichte. Es war in einem Babyrosa gehalten, mit ein paar pinken Akzenten. Der Rock war über und über mit Rüschen verziert, eine größer als die andere. „Lassen Sie mein Kind in Ruhe!“ Ihr Ton war harscher, als sie es gewollt hatte. Aber konnte er nicht sehen, dass er ihm Angst machte? Der Mann riss die Arme in Abwehrhaltung hoch und zog sich dabei die Kopfhörer aus den Ohren. „Beruhigen Sie sich.“ Er drehte eine kleine Runde auf seinen Rollschuhen. „Ich bin hier nur der Kellner.“ Was hatte sie sich nur dabei gedacht, in dieses Gasthaus zu gehen? Das konnte auch nur ihr passieren. Ein furchtbarer Tag endete noch schlimmer, als sie gedacht hatte. „Tut … tut mir leid!“, rief sie ihm hinterher. Sie hatte Hunger und Durst. Er kam nicht wieder. Genervt rieb sie sich die Schläfen. „Suppe und Saft.“ Der seltsame Mann stellte zwei dampfende Teller vor ihnen ab. „Danke.“ Freundlich winkte er ab. „Hier kommen nicht so viele Menschen her. Ich habe nicht allzu viel Kontakt nach außen.“ Schon rollte er wieder in den hinteren Teil und kam mit einer Geige zurück. „Musik?“ Ohne die Antwort abzuwarten, begann er zu spielen. Nicht schlecht, doch er zog den Bogen zu scharf, hielt die Noten zu wenig lange aus und wurde immer höher, während er in den Lagen hin und her rutschte. Ihre geübten Ohren hörten jeden schiefen Ton und die falsch gestimmten Saiten. „Geben Sie mal her.“ Erstaunt blickte er auf, den Bogen noch in der Luft, der letzte Takt klang nach. „Wollen Sie auch spielen?“ Wollte sie spielen? Sie hatte es schon lange nicht mehr gemacht. Ihre Finger begannen zu jucken. Sie wollte sie unbedingt wieder tanzen lassen, immer schneller und schneller sich in der Musik verlieren. Fast entriss sie ihm das Instrument, so rasch griff sie danach. Eilig klemmte sie es sich unters Kinn, konnte kaum erwarten, endlich zu spielen. Sie stimmte die Saiten richtig, spannte den Bogen. Fasziniert betrachtete er sie. Zog mit den langen Fingern ihre Bewegungen nach und kniff die Augen zusammen, als würde er sich jeden Handgriff merken. Vorsichtig spielte sie die ersten Takte von einem leisen Stück. Es war eines ihrer ersten Konzerte gewesen, die sie vor großem Publikum gespielt hatte. Als sie endete, meinte sie fast den donnernden Applaus zu hören, die begeisterten Menschen. Sie war gut gewesen, verschwendetes Talent hatte ihr Lehrer gesagt, als sie ihm von ihrem Sohn erzählte. „Können Sie mir zeigen, wie man so etwas macht?“ Ehrfürchtig legte er die Stirn in Falten. Ihr Sohn war eingeschlafen. Zusammengerollt wie eine Katze lag er auf der Bank. Beide Teller waren geleert. „Natürlich.“ Sie sah nicht länger die Rollschuhe und das alberne Kleid. Sie sah die langen Finger, perfekt zum Geigespielen, die Aufmerksamkeit, wie er ihren Ausführungen lauschte. Vor ein paar Jahren hatte sie Unterricht gegeben. Niemand hatte so unbedingt lernen wollen. Geduldig erklärte sie ihm die Handgriffe und schrieb auf eine alte Speisekarte ein Konzert. Draußen prasselte der Regen weiterhin gegen die Fenster. „Geben Sie doch die Kopfhörer aus den Ohren. Sie können die Musik sonst gar nicht hören. Da wurde er zum ersten Mal bockig. „Nein. Die bleiben, wo sie sind.“ Sie

125

Lara Drakos

Der Regen hatte sie hier reingetrieben. Das und die Kälte. Ihr kleiner Junge weinte. Er war zu dünn angezogen. Ein paar Regentropfen schimmerten in seinen Haaren. Löckchen würden sich durch die Feuchtigkeit bilden. Kurz atmete sie durch und bereute es im selben Augenblick. Die Luft war dick und mit Zigarettenrauch angereichert. „Ich habe Hunger, Mama.“ „Wir bestellen gleich was“, versuchte sie ihn zu beruhigen und fixierte den nächst­ besten Tisch an. Müde ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, bereit, die Augen zu schließen und einfach zu schlafen. Im letzten Moment besann sie sich eines Besseren. Zog Mantel und Jacke aus, nahm auch die Sachen ihres Sohnes und hängte sie an zwei Haken an der Wand. Das kleine Gasthaus war leer. Weiter hinten war Tellerklappern zu hören und das stetige Brausen von Wasser. Der Tag war anstrengend gewesen. Eine Wanderung, der Himmel strahlend blau, die Luft kühl und frisch. Eine Erleichterung gegen die Stadt. Sie war auf dem Land aufgewachsen. Erst ihr Beruf und dann das Kind hatten sie in der Stadt gehalten, aber ihr eigentliches Zuhause war am Land. Der Ausflug war anders gekommen. Viel zu schnell war die Dunkelheit hereingebrochen, es hatte begonnen zu regnen. Schließlich hatte sie sich verfroren in das Gasthaus gerettet. Das Geräusch von kleinen Rollen schreckte sie aus ihren Gedanken. Ein junger Mann, mit langen braunen Haaren, die offen über seine Schultern fielen, kam auf sie zu. In seinen Ohren steckten Kopfhörer. Leise Musik drang daraus hervor, zu leise, als dass sie hätte erkennen können, um welches Lied es sich handelte. „Willst du was trinken?“ Er beugte sich vor zu ihrem Jungen. Verschreckt blieb ihm der Mund offen stehen. Auch sie konnte den Blick kaum abwenden. Er trug ein Kleid, das bis knapp über die Knie

Schreibakademie MÖDLING

Mann mit Rüschenkleid


Schreibakademie MÖDLING

Lara Drakos

126

hatte keine Lust auf eine Diskussion. Bald wäre er nur noch eine verblasste Erinnerung an einen schrecklichen Tag. Wie schnell ich mich mit seinem Aussehen abgefunden habe, dachte sie bei sich. Einige Stunden später hatte sie die schlimmsten Fehler ausgemerzt. Die falsche Bogenhaltung korrigiert, die Lagenwechsel so oft vorgezeigt, bis er sie endlich verstand. Ihre Müdigkeit genau wie der Hunger waren verschwunden. Irgendwann hörten sie auf und hatten eine Flasche Wein mitsamt Gläsern vor sich stehen. Sie trank einen großen Schluck, bevor sie die Frage stellte, die ihr schon länger auf der Zunge brannte. „Warum tragen Sie so etwas?“ Sie zeigte auf die Rüschen. „Es gefällt mir. Außerdem sehen Jeans zu Rollschuhen wirklich nicht so gut aus wie diese Kleider.“ Erst jetzt registrierte sie, dass er noch immer die Rollschuhe trug. Sie akzeptierte seine Entscheidung. Wahrscheinlich lag es an dem Wein und der Übermüdung. Als die Flasche leer war, spielte er noch einmal das Konzert. Sie schloss die Augen, wartete auf ihre Lieblingsstelle und schlief schließlich neben ihrem Jungen ein, während der Mann mit dem Kleid das Stück beendete.

Mia und Vicki Ich betrachtete den Stapel Post, der auf meinem Schreibtisch lag. Mama hatte ihn vor dem Frühstück in mein Zimmer gebracht. Ein schwarzer und ein weißer Umschlag. Vorsichtig strich ich mit den Fingerspitzen darüber und fühlte das Papier. Mit einer Schere ritzte ich zuerst den schwarzen Umschlag auf und zog ein Blatt hervor. Geliebte Tochter und Freundin … Dieser Satz ließ die Erinnerung hochkommen. Vicki. Tot. Seit zwei Tagen. Unwiederbringlich weg. Es war eine Einladung zur Beerdigung. Heute Nachmittag würde sie stattfinden. Halbwegs gefasst, nahm ich den nächsten Umschlag. Mir fielen ein paar Bögen gelbliches Briefpapier entgegen. Ich sammelte sie auf und begann zu lesen. Liebe Mia, las ich. Früher dachte ich immer unsere Freundschaft würde ewig dauern. Alles würde an uns vorüberziehen und nur die guten Dinge übrig lassen. Jetzt weiß ich, dass ich mich getäuscht habe. Es gibt kein „für immer“. Hat es nie gegeben. Vielleicht denkst du, dass ich erst in den letzten Wochen und Monaten davon geträumt habe, einmal an der Spitze zu stehen, aber das stimmt nicht. Wie lange kann ich gar nicht sagen, und eigentlich ist es auch nicht so wichtig. Ich hoffe, du bist stark, denn ich kann es nicht mehr sein. Möglicherweise ist es dort, wo ich bald bin, besser als hier. Schlimmer kann es nicht sein. Wie auch immer … Deine Freundschaft hat mir die nötige Stärke gegeben, die es braucht, um diese Entscheidung zu treffen. Ja, eine Entscheidung habe ich letztendlich gefällt. Keiner wird es erwarten und doch … traurig wirst du nicht sein. Zumindest nicht lange. Ich habe es in jedem deiner Blicke gesehen, mit denen du mich angesehen hast. Du hättest viel mehr sagen können, doch das hast du nicht. Vielleicht konntest du es nicht. Vielleicht war ich dir auch einfach nicht wichtig genug. Keine Ahnung. Jedenfalls … Ich habe dich lieb und bin dankbar für jede Silvesternacht und jeden Sommerregen, den wir zusammen erlebt haben. Dir hat es sicher nicht so viel bedeutet, und es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, über meinen Schatten zu springen und von vorne anzufangen. Ich bin einfach zu müde. Müde vom Leben. Das ist zu viel für mich. Es muss schöner dort sein. Es muss einfach. Wenn ich kann, passe ich auf dich auf und beschütze dich. Hoffentlich … Du hast es verdient, glaub mir. Lass dir auch nichts anderes ein­ reden, aber das Obige musste einfach gesagt werden, bevor ich sterbe. Ich habe es ausgesprochen. Sterben. Es rollt über meine Lippen und führt einen freudigen Tanz auf, als es ihnen entkommt und in die Welt springt. Gar nicht schwer. Fast vertraut. Mach’s gut und bitte … vergiss mich nicht. Vicki Das Papier segelte zu Boden und blieb liegen. Autos rasten draußen vorbei. Wie konnte die Welt weiter funktionieren, wenn in mir ein kleiner Teil gestorben war? Dieser Brief … Ich würde ihn niemals beantworten können. Meine Finger angelten nach den furchtbaren Wörtern und zerrissen sie in tausend kleine Stücke. Tränen liefen in Bächen meine Wangen hinunter. Wieso weinte ich? Mit der Hand wischte ich über mein Gesicht und zog die Nase hoch. Beru-


SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie MÖDLING

aus der Kirche trat. Vickis Mutter hing am Arm ihres Mannes. Es schien, als könnte sie ohne seine Hilfe nicht gehen. Ich sah die stummen Schuldzuweisungen der beiden und wandte den Blick ab. Das wollte ich nicht sehen. Die Leute machten sich auf den Weg zum Friedhof, doch ich musste hier weg. Ich atmete tief ein und zwang meine Füße zu gehen. Schritt für Schritt für Schritt. Immer weiter. Nicht nachdenken. Gehen. Nicht stehen bleiben. Denk an Vicki. Der Gedanke half. Er übertönte die Vorwürfe und mein schlechtes Gewissen. Autos fuhren an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Für sie war ich einfach nur ein Mädchen, das ziellos herumirrte und nicht wusste, wohin. Ihre Augen sahen mein Gesicht und vergaßen es im selben Moment. Eine Abzweigung. Wie von selbst drehte sich mein Körper nach rechts. Der Weg wurde uneben und durch die dünnen Sohlen meiner Schuhe konnte ich die Kieselsteine spüren. Jeder Stein eine Mahnung, eine schmerzhafte Botschaft. Vicki zuliebe ignorierte ich den Schmerz. Mein Fuß verhedderte sich in einer Wurzel. Ich lag am Bauch. Jetzt bohrten sich die Steine auch in meine Hände und Wangen. Mühsam rappelte ich mich hoch. Alles brannte. Meine Jeans war aufgerissen und der Wind fuhr hinein und brachte meinem Körper die Kälte. Die Kälte, die alles erstarren ließ. Gedanken, Gefühle. Eingefroren. Eingesperrt. Gut so. Gehen wurde einfacher. Bäume erhoben sich vor mir wie riesige Giganten. Hoffentlich boten sie einem Mädchen Unterschlupf. Versteckten sie so lange, bis die Welt sie wiederhatte. Der Wald verschluckte mich und hieß mich wie eine alte Freundin willkommen. Danke, flüsterte ich stumm. Ich war nicht sicher, ob meine Stimme mir gehorchen würde. Ich sah nur Grün und kniff die Augen zusammen, bis das Bild scharf war. Ein Platz. Voll mit Moos und weichen Blättern der mittlerweile kahlen Bäume. Der Herbst kam näher. Meine Beine gaben nach und schon lag ich im Blätterhaufen. So furchtbar weich. Ich vergrub mein Gesicht darin. Hierhin würde der Brief gut passen. Ich holte ihn hervor. Das Laub duftete so gut. Nach sterbendem Leben. Leben, das niemand haben wollte und alleine unter dem Baum lag, der es einst stolz getragen hatte. Aber jetzt war der Baum dem Laub überdrüssig geworden. Es wurde nicht gebraucht. Ich streute die Schnipsel darüber. Die Blätter wurden feuchter, je weiter ich mich hineingrub. Es dauerte ewig, bis ich merkte, dass es meine eigenen Tränen waren, die von meinen Wangen tropften und die Umgebung durchnässten.

127

Lara Drakos

hig dich … Beruhig dich … Irgendwann stoppte der Tränenfluss. „Mia, kommst du bitte? Wir fahren in fünf Minuten“, hörte ich Mama wie aus der Ferne. Ich schrie ein Ja zurück und stopfte die Schnipsel in meine Tasche. Ein letztes Mal stark sein. Es war das Einzige, was ich ihr geben konnte. Vor mir ragte die Kirche auf. Davor hatte sich eine Menschentraube gebildet. Ich sah Vickis Eltern irgendwo ganz vorne. Es waren viele Menschen. Die Türen öffneten sich, und die Masse strömte hinein. Mama und ich ließen uns mittreiben und fanden auf einer Bank Platz. Ein paar Menschen kannte ich: Freunde aus der Schule. Ihre Großeltern. Der Rest war mir unbekannt. Vicki konnte ihnen doch nicht wichtig gewesen sein, wenn sie sich zweimal im Jahr gesehen hatten. Aber es war nun mal nicht meine Aufgabe zu entscheiden, wer berechtigterweise auf dieser Beerdigung war. Der Pfarrer begann zu sprechen. Die Wörter durchströmten mich wie eine Melodie. Es war ein schöner Text. Die Hälfte der Anwesenden begann zu weinen. Ich hatte es mir verboten und krallte krampfhaft meine Finger in die Jackentaschen. Der Brief knisterte leise und verheißungsvoll. Am Ende traten Verwandte vor und schlossen sich dem Pfarrer an. Mir wurde klar, dass sie Vicki kein bisschen kannten und nie mehr die Gelegenheit bekommen würden, sie besser kennenzulernen. Vielleicht war das der Grund, warum sie zwanghaft versuchten, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und Vickis Persönlichkeit in Worte einzufangen. In Wahrheit ging es nicht um Vicki, sondern um die Leute selber. Es waren versteckte Entschuldigungen, auch wenn sie oberflächlich nichts mit ihrem Tod zu tun hatten. Wahrscheinlich ist das das Schlimmste, was der selber gewählte Tod bringt. Nie zu wissen, ob man vielleicht der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Ich war froh, als ich


Schreibakademie MÖDLING 128

Bianca über Bianca

Bianca Fellner

BIANCA FELLNER

Wer in den Spiegel schaut, ist die böse Königin. Man mag sich zwar für Schneewittchen halten, aber jeder verleugnet gerne seine wahre Natur. Wer gibt sich schon als die Hexe aus, wenn man die Prinzessin sein kann? Doch diese Wand aus Glas sieht alles … und stößt es dir mit doppelter Wucht entgegen. Schau nur in den Spiegel … was siehst du? Im Korridor ist es dunkel, als sie vortritt. Schatten tanzen über den Boden, ihre Doppelgänger hinter dem Spiegel machen es ihnen nach. Sie registriert jede ihrer Bewegungen, bis sie schließlich wieder in der Dunkelheit verschwinden. Auf der anderen Seite lächelt ihr ihr Ebenbild entgegen. Es gibt keine Unterschiede, nur eine makellose Übereinstimmung. Doch der Schein trügt. Sie weiß es – und ihr Spiegelbild auch. Es kennt all ihre Schwächen, ihre Ängste, die tief in

ihrem Herzen verschlossen liegen, doch mit einem einzigen Wimpern­schlag an die Oberfläche kommen können. In jedem ­Menschen gibt es eine dunkle Seite, wartet nur hinter dem Spiegel. Das Spiegelbild lächelt, und sie tut es auch. Sie streicht sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, das Spiegelbild macht es ihr nach. Ohne Verzögerung, in makelloser Überein­ stimmung. Sie blickt sich selbst in die Seele, sieht ihre Wünsche und Hoffnungen. Das Blau ihrer Augen scheint sie tiefer hineinzuziehen, wie ein Strudel, der alles mit sich in die Tiefe reißt. Ihre Hand berührt den Spiegel, ihre Finger streichen über die kühle Glaswand. So dünn und doch nicht zu überwinden. Eine Tür, für die es keinen Schlüssel gibt. Ihre Gedanken stehen dem reißendem Strom in nichts nach, ­wirbeln in ihrem Kopf umher, ohne zur Ruhe zu kommen. Da ist dieses Lied in ihrem Kopf, dieses Lied, für das es keinen Text gibt, immer und immer wieder auf Endlosschleife. Da sind Fröhlichkeit und schöne Erinnerungen. Die Titel von Büchern, die wie Vögel durch das Chaos flattern, Ideen, die wie Blüten durch die Luft wirbeln. Spiele und Namen, die vorbeiziehen. Ein Mädchen, das lachend einen Hügel hinaufrennt. Eine Gruppe von Freunden, die einen Bahnsteig betreten.


Wieder die Melodie, ihre Noten, die stetig im Gang verhallen und doch nur für sie hörbar sind. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Die glücklichen Gedanken wirbeln immer schneller. Die Faust holt zum Schlag aus. Keine böse Königin. Der Spiegel zerbricht in einem Scherbenmeer. Sie steht reglos da und blickt auf den leeren Rahmen in der Wand. Kein Spiegelbild. Manchmal gibt es doch ein Happy End. Spiegel sollte man meiden. In ihnen ist die böse Königin. Doch wie viel Glas man auch zertrümmert, irgendwo bleibt sie immer. Verborgen. Hinter dem Spiegel.

In der Dunkelheit ist es einsam. In der Dunkelheit ist es still. In der Dunkelheit ist es kalt. In der Dunkelheit ist es dunkel. In der Dunkel­heit ist kein Platz für Licht. Und in der Dunkelheit ist kein Platz für Hoffnung. Sie streckt vorsichtig eine Hand aus, fährt mit den rauen Fingerkuppen die unebene Fläche der Wand entlang. Wände so dick und undurchdringlich wie Granit, Stein, Eisen, Beton. Wände so lang wie die Welt. Ihre Füße tasten über den Boden, fühlen die kleinen Steinchen, die überall liegen. Ein Boden so hart und kalt wie Eis. Ihr rasselnder Atem, das einzige Geräusch. Ohne Hall, ohne Echo. Nur um wieder der Stille zu weichen. Es gibt kein Leben hier, nur sie. Vielleicht vergessen, vielleicht auch nicht. Vielleicht beobachtet, vielleicht aber auch einfach nur hier, ohne alles in der Dunkelheit. Es gibt nichts, nur Leere. Glasige Augen, die versuchen, einen Funken Licht in der Schwärze zu erhaschen. Denn ein Funke wäre Hoffnung. Und Hoffnung wäre Leben. Zerfetzte Kleidung, Haare, die ausgerissen am Boden liegen. Vielleicht aus Verzweiflung, vielleicht aus Wahnsinn. Die Schwärze ist über allem, wie ein Tuch, zu schwer, um es alleine wegziehen zu können. Es gibt weder Hitze noch Kälte, denn das würde bedeuten, etwas empfinden zu können. Ein Wimmern, das den rauen Atem aus dem Rhythmus bringt, ein ungewohnt lautes Geräusch in der Stille. Allein, vergessen, beobachtet, weggeworfen, verstoßen. Schreien bringt nichts. Schreien kostet zu viel Kraft. Schreie kann niemand hören. Hier gibt es nichts. Nichts außer der endlosen Wand, den Boden aus Eis. Nichts außer dem rasselnden Atem. Eine eigene Welt. Die Welt ist endlos. Man kommt nicht mehr hinaus. Hat die Welt Zeit? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das Leben ist lang ohne Licht, die Ewigkeit noch länger. Es gibt nichts zu tun, wenn es nichts gibt. Verzweiflung und Wahnsinn, der beste Freund. Hand in Hand, unzertrennlich. Es ist ein Spiel. Man kann nur verlieren. In der Dunkelheit ist es einsam. In der Dunkelheit ist es still. In der Dunkelheit ist es kalt. In der Dunkelheit ist es dunkel. In der Dunkelheit ist kein Platz für Licht. Und in der Dunkelheit ist kein Platz für Hoffnung.

SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie MÖDLING

Manchmal scheint es, als würde ihr Ebenbild versuchen, die Barriere zu durchschreiten, die Welten zu einen, in einem Regen aus Chaos. Die Hand am Glas wird zur Faust.

Das Gefängnis

129

Bianca Fellner

Etwas Dunkelheit ist in jedem von uns. Es gibt kein völliges Licht, denn am Rand werden immer die Schatten lauern. Doch die Wolken haben sich in die Vergessenheit zurückgezogen und bleiben, wo sie sind. Hinter dem Spiegel. Aber das ist nur fair. Die Hand am Glas verkrampft sich leicht.


Schreibakademie MÖDLING

Der Geier

Bianca Fellner

130

Da stand sie also. Die braunen Haare im strengen Knoten, weit vorne am Lehrerpult, leicht nach vorne gebeugt, die Hände auf den Tisch abgestützt. Hinter der Hornbrille schweiften ihre Blicke suchend über den Raum, huschend von Schüler zu Schüler. Niemand konnte diesem Blick entkommen. Da half kein Wegsehen und kein Zurückstarren, weder ein In-den-Sessel-Kauern noch ein Unter-dem-TischVerschwinden, sie sah alles und jeden. Wie ein Geier, der darauf wartete, dass einer von uns tot von seinem Sessel fällt – um sich auf ihn zu stürzen und ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen. Ein beruhigender Gedanke. Wirklich. Neben mir stupste Annika mich an: „Ist sie nicht einfach fantastisch? Das werden sicher ganz tolle Jahre werden!“ Ja sicher doch. Bei meinem Glück hatte ich es natürlich geschafft, neben der einzigen Streberin der ganzen Klasse zu landen. Toll gemacht. Ich schaltete auf Durchzug, als Annika begann, über ihre tollen Noten zu reden – und ließ meinen Blick wieder zu dem Geier nach vorne schweifen. Die kalten grauen Augen der Lehrerin waren auf mich fixiert, und sie kritzelte eifrig mit einem Stift auf einem Blatt Papier herum. Ich wandte den Blick ab. Wenn es zu einem Kräftemessen zwischen Schüler und Lehrer kam, hatte ich bis jetzt immer verloren. Außerdem, wie sagte man? Man solle einem wilden Tier auf keinen Fall in die Augen sehen, da man es sonst nur rasend machte. Ein Satz, an den ich mich mein ganzes Schülerleben lang gehalten hatte.

Verstohlen blinzelte ich noch mal nach vorne und stellte mit Erleichterung fest, dass das Raubtier sich einem neuen Opfer zugewandt hatte. Ich atmete tief durch und richtete meine Aufmerksamkeit nun wieder auf meine neuen Mitschüler. Meine neue Herde, die ebenfalls zum Schlachter geführt wurde, wenn man so sagen wollte. Komischerweise schien es hier wenig, also eigentlich keine normalen Leute zu geben. Da war einmal die Gruppe der Gelangweilten, deren Mitglieder fast schon dösend in ihren Sesseln hingen. Dann gab es Kevin, der auf den ersten Blick etwas verstörend wirkte, ich meine, welches Kind versucht, sich gleich­zeitig drei Bleistifte in jedes Nasenloch zu stecken? Natürlich die altbekannte Gruppe der Supertussen. Mit ihren voluminösen H ­ aaren und den bis zur Unkenntlichkeit geschminkten Gesichtern. Ja und dann war da noch der Großteil der Klasse, der wie verschreckte Hasen mit bleichen Gesichtern nach vorne starrte. Freilich waren das noch nicht alle, doch der Rest der Klasse ließ sich noch nicht so recht zuordnen (bis auf Annika, die scheinbar an einer seltenen Krankheit litt, bei der es der armen Person unmöglich ist, gute Menschen von bösen Menschen zu unterscheiden), aber sie alle würden sich schon noch zu erkennen geben. Ich wohl oder übel auch. Dabei hatte ich noch keine Ahnung – und zwar wirklich keine –, wo ich in dieser Klasse landen würde ... Eigentlich war ich ja fast schon stolz auf mich, ich hatte es geschafft, den Großteil meiner Mitschüler in wenigen Minuten zu analysieren. Das Problem war nur, dass ich jetzt wirklich nichts mehr zu tun hatte und so wieder begann, nach vorne zu schauen, als ob die Lehrerin ein riesiger Magnet wäre und ich eine mensch­ liche Kompassnadel, die von ihrem mächtigen Energiefeld ange­ zogen wurde. Der Geier hatte sich immer noch nicht bewegt und kritzelte weiter auf diesem Blatt Papier. Inzwischen war sie in der letzten Reihe angelangt und ihre Augen begannen, die Supertussen zu terrori­ sieren. Na wenigstens etwas. Der Stift huschte über das Papier. Noch zwei Personen, eine … Die Lehrerin blickte auf, ihr kalter Blick legte sich auf mich. Ich atmete tief durch … jetzt hatte das Schuljahr wirklich begonnen.


Die Maske die Verrat verbirgt ein Lächeln das zu Boden fällt Vertrauen das so viel bewirkt wie ein Pfeil, der von der Sehne schnellt

Ein Korn für jeden Tropf der Zeit der Schein der alles Sein umgibt Ein kleines Stück der Ewigkeit die Uhr die nur noch einmal tickt

Schritte die unbemerkt verklingen verloren in der nächsten Welt Erinnerungen die verschwinden ein Freund von deinem Herz gefällt

Der Tanz der altbekannten Lichter ein Lächeln das den Weg erhellt und doch nur unbedeutende Gesichter ein neuer Schlag mit jedem Freund der fällt

Die Wellen die ans Ufer schlagen, alles Gute mit sich ziehen Die Seele die versagt zu wagen Träume die vor der Wahrheit fliehen

Das leere Tuch der Traurigkeit, das sich so schwer auf alles legt und jedes Herz und jede Seele leise unter sich begräbt Ein Flüstern der verlorenen Stunden die Angst die alles mit sich zieht wie Schätze die man hat gefunden und sich nun in Zerstörung flieht Das Eis im Schlagen all der Tage und Gift im Herz wie Säure tobt wirft Gut und Böse auf die Waage bis all die Stille schließlich ruht

Schatten verborgen in jedem Lachen denn alles Dunkle flieht das Licht Augen die wie Sterne wachen und Stärke wie ein Schwert zerbricht Der schwere Schleier schwarzer Stunden Hoffnung die den Tag verzehrt Scherben aller alten Wunden ein Wille der nie wiederkehrt Denn die Welt ist ohne Wunder Und jedes Wunder ist die Welt Lichter die im Dunkeln leuchten Das letzte Herz das schließlich fällt

Ein neuer Tag Wenn die Sonne aufgeht, ist die Nacht vorbei. Das Licht streckt seine tastenden Finger nach der Welt aus, unaufhaltsam, und vertreibt die Dunkelheit. Die Sterne verglühen am Himmel, einer nach dem anderen, qualvoll, ihre Schreie unhörbar für alle, deren Herzen zu schwach sind. Das himmlische Feuer nimmt alles ein. Fließt durch alles, ist alles. Denn wenn der Engel beschließt, in seiner vollen Kraft zu erblühen, erblüht er. Wie der Phönix, der aus der Asche emporsteigt.

Die Nacht schickt den Nebel, das Licht zu trüben, doch der Kampf ist verloren, bevor er überhaupt begonnen hat. Raureif wird zu Perlen, die von den Blättern tropfen. Eine kleine Uhr, die die Zeit davontickt. Jeder Schlag bereits vergangen, bevor er überhaupt erklungen ist. Die Farbe kehrt in die Welt zurück, vertreibt das Grau, das alles zugedeckt hat. Vögel erwachen, und die Kreaturen der Nacht ziehen sich in die verbleibende Dunkelheit zurück. Wartend. Lauernd. Der Phönix wird wieder verbrennen. Im Wald ist es friedlich. Man wartet auf das Licht. Heißt den Engel willkommen. Die Nacht war lang und kalt. Es ist Zeit zu erwachen. Denn wenn die Sonne aufgeht, ist die Nacht vorbei.

131

Bianca Fellner

Denn die Welt ist ohne Wunder Und jedes Wunder ist die Welt Schatten die das Dunkel locken Die Seele die vom Himmel fällt

Schreibakademie MÖDLING

Der letzte Krieger


Schreibakademie MÖDLING

Das rote Meer

Bianca Fellner

132

Der Strand lag still und verlassen da. Nur die Wellen brachen sich leise, bis sie nichts mehr waren als Schaum, der um meine Füße tänzelte. Die Nacht war gerade erst angebrochen. Eben hatte die Sonne noch versucht, sich am Horizont zu halten, bis sie schließlich doch über den Rand der Welt gefallen war. Jetzt hüllte Dunkelheit den Planeten ein. Der Himmel war von Sternen übersäht, das leuchtende Firmament erstreckte sich bis weit über die kleine Küstenstadt hin zum Horizont. Kein Geräusch durchbrach die Nacht, nur der Mond stand als schimmernde Scheibe am Himmel, die ihren verzerrten Schatten auf das Wasser warf. Ich zog meine Beine heran und schlang die Arme um die Knie. Wieder wallte die Verzweiflung in mir hoch, doch ich kämpfte sie erneut nieder, fest überzeugt, nichts von dem stummen Kampf zu zeigen, der in meinem Inneren tobte. Dabei war hier niemand, der es hätte sehen können, niemand außer der dunklen Nacht, in der meine stummen Schreie ungehört verhallten. Mein Inneres bäumte sich erneut auf, doch ich wusste, dass der Kampf verloren war. Es hatte nie eine Chance auf einen Sieg gegeben. Resigniert vergrub ich meinen Kopf in meinen Armen. Meine Augen brannten vor ungeweinten Tränen, doch ich gab ihnen nicht nach. Unbeugsam bis zum Ende. Langsam stand ich auf, auf zitternden Beinen, mein Körper stemmte sich gegen den kühlen Nordwind, der mir die Haare aus dem Gesicht blies. Ich drehte mich noch einmal um und sah hinauf zu den sanften Hügeln mit den vielen kleinen Häusern. Doch anders als sonst spürte ich kein Bedauern, nur eine dumpfe Leere, ohne jede Spur von Trauer.

Ich machte einen Schritt nach vorne, wieder Richtung Meer. Das Wasser umspielte jetzt meine bloßen Knöchel, und ich spreizte die Zehen, ließ den Sand dagegen wirbeln. Dann schloss ich die Augen und setzte mich in Bewegung. Immer weiter nach vorne, den Blick fest auf den Horizont gerichtet, als ob ich ihn durch meine geschlossenen Augenlider hindurch sehen könnte. Schon bald ging mir das Wasser bis zur Hüfte. Es war Mitte Juni, das Meer war angenehm warm und sandte wohlige Schauer meine Wirbelsäule hinauf. Es schien mich regelrecht zu locken, immer tiefer, immer weiter. Als ob ich bis ans andere Ende gehe könnte. In diesem Moment erschien mir die silberne Wasseroberfläche wie ein sicherer Weg, ein Pfad, der mich endlich zu Glück und Frieden führen würde. Das Wasser ging mir nun bis zu den Schultern, zog an mir, bat mich, zu ihm zu kommen. Meine Schritte wurden langsamer, und ich blieb stehen, das Meer hatte mich fast gänzlich verschluckt, nur noch mein Gesicht ragte in die Höhe. Ich öffnete die Augen und blickte hinauf auf den Mond, der alles in sein unwirkliches Licht tauchte. Dann ließ ich mich fallen. Das Wasser klammerte sich regelrecht an meine Kleidung und zog mich tiefer, immer tiefer. Ich spürte, wie eine Strömung mich erfasste, immer tiefer, immer weiter. Ich nahm meine Augen kein einziges Mal von dem Mond, seine verzerrte Abbildung mein stetiger Wegweiser. Sein Licht wurde immer dunkler, bis es irgendwann nur noch ein mattroter Schimmer war. Das Meer wechselte sein Gewand von einem hellen Blau zu einem satten Grün. Der Himmel schien noch einmal rot aufzuflammen, doch ich konnte nicht mehr unterscheiden, was davon Wirklichkeit war. Vielleicht war die Nacht nun ja wirklich rot. Rot wie die letzten Strahlen der Sonne. Rot wie das Lieblingskleid meiner Schwester. Ja, der Himmel war rot, rot wie das Blut meiner Mutter auf dem Küchenboden. Es war das Letzte, was ich sah.


Die Höllengeräte

Der Raum ist nur schwach beleuchtet, liegt im Zwielicht. Doch auch Zwielicht ist keine vollkommene Dunkelheit und somit nicht dunkel genug, um das Grauen zu verbergen. Denn da sind Tische. Große schwere Holztische. Tische, von denen eine rote Flüssigkeit auf den Boden getropft ist. Und auf den Tischen sind Werkzeuge. Messer, Sägen, Äxte. Maschinen zum Zersägen von Knochen, zum Abtrennen von Gliedmaßen. Und neben den Messern sind Menschen. Männer, Frauen, Kinder. Zerfetzte Körper. Und daneben sind die Maschinen. Unförmig, unvollkommen, perfektioniert. Zur Hälfte mit Haut überzogen. Herzen, teils aus Metall, teils nicht. Der Geruch löscht alles andere aus. Die toten Menschen schauen klagend in die Höhe, als ob sie noch immer den Himmel um Hilfe anflehen würden. Als ob sie noch immer auf die himmlischen Heerscharen warten würden, sie zu retten. Doch dieser hat seine Krieger bereits ausgewählt. Die Maschinen blicken leblos. Zumindest für einen Moment. Denn dann öffnet die erste die Augen.

Schreibakademie MÖDLING

Das Haus war früher vielleicht einmal schön gewesen, war es teilweise immer noch. Doch die Fassade ist immer schön, wenn das, was unter ihr verborgen ist, noch in der Dunkelheit verschlossen liegt. Wenn das Monster jedoch erst einmal in die Sonne geblinzelt hat, wird es seinen scheußlichen Kopf zur Gänze erheben und das Licht willkommen heißen.

Der Korridor ist lang, hat viele Türen. Jede schwer und fein säuberlich verriegelt. Doch dringt man weiter vor, bis ans Ende, sieht man sie. Diese eine kleine Tür, mit dem aufgebrochenen Schloss. Dort hinten liegt das Geheimnis.

133

Bianca Fellner

Man muss nur dem Gestank folgen. Es ist ein süßer Geruch, leicht säuerlich mit einem bitteren Beigeschmack, der den Magen schon nach wenigen Minuten zum Rebellieren bringt. Das Haus mag zwar groß sein, doch noch lange nicht groß genug, um den Geruch zu verbergen. In der Eingangshalle könnte alles noch normal wirken, doch weiß man, welche Türen geöffnet, welche Gänge entlanggegangen werden müssen, werden die ersten Ausdünstungen nach den Geruchssinnen greifen. Man muss nur dem Gestank folgen. Und der Gestank ist allmächtig.

Je weiter man vordringt, desto wärmer wird es. Anfangs ist es nur eine warme Brise, die dir entgegenzuwehen scheint, doch aus der Brise wird ein Sturm und aus dem Sturm eine Wand aus Hitze, die jeden weiteren Schritt mühsam macht. Der Gestank ist jetzt überall, hat die Luft eingenommen, den Sauerstoff vertrieben.

SCHREIB AKADEMIE


Schreibakademie MÖDLING 134

Aleksa über Aleksa – Me, myself and I

Aleksa Lazovic

ALEKSA LAZOVIC

The Life of … no, it’s not Brian, it’s the life of Aleksa! His story is/was great, okay not that great, but for him it was great. Why am I talking about me in 3rd person? I’m not that great, yet. Maybe I never will *sniff* But I am a genius, I know it, but nobody wants to tell that it’s true. Maybe because I’m crazy. But Aristoteles once said: There is no great genius without a bit craziness. I am crazy, maybe I am crazy

because I am genius. Or I am genius because I am crazy. It’s some­ thing of one of those two things, for sure. Warum schreib ich eigent­lich grad auf Englisch. Vielleicht weil ich es mag. Ja, keiner kann mich aufhalten. Ich bin unaufhaltsam! Deswegen schreib ich auch grade über mich. Was soll ich schreiben? Hi, ich bin Aleksa, und ich habe ein Problem … Nein, zu klischeehaft. Vielleicht hab ich deswegen auf Englisch angefangen? Wer versteht schon seine eigenen Gedanken. Ich bestimmt nicht. Na ja, jedenfalls kennt ihr mich jetzt irgendwie, also werdet ihr meine Geschichten auch irgendwie verstehen. Oder auch nicht ...

Hirnforschung Und dann spürte ich, wie sich meine linke Gehirnhälfte langsam entspannte. Irgendetwas stimmte nicht, aber ich wollte es dennoch nicht hinterfragen. Doch ich spürte immer mehr, wie sie einigermaßen schlaff wurde und wie sich mein logisches Denken abstellte.

Nun war ich nur noch am … Fliegen. Ich fühlte mich, als würde ich fliegen und frei sein. Zwar hatte ich dennoch das Gefühl, dass etwas falsch lief, aber plötzlich war es mir einfach nur noch egal. Ich sank in meinen Sessel zurück, schloss meine Augen, ließ das Schreiben sein und die ganze „Therapie“ einfach auf mich wirken. Es war ein wundervolles Gefühl. Keine Sorgen, keine Gedanken, nur die Freiheit. Ich öffnete kurz meine Augen und sah auf einmal,


Ein älterer Herr unterwegs mit seinen älteren Freunden. Ein ­schöner Tag für einen Spaziergang. Die Sonne scheint, der Wind weht leicht, und ein Herr geht einfach mit seinen Freunden herum. Was so besonders an ihm ist? Er hat weiße lange Haare und eine Reggae-Mütze auf. Ein älterer Herr! Wie alt ist er circa? Vielleicht 65, aber mit langen weißen Haaren! Ich muss zugeben, er hat schon echt Stil. Wenn ich Glück habe, ist er vielleicht noch ein Chiller. Obwohl er außer der Mütze und den Haaren nicht so aussieht. Ich mein, er hat etwas elegante Schuhe an, eine gewöhnliche Hose auf gewöhnlicher Höhe, eine einfache Umhängetasche … möglicherweise ist da seine „Medizin“ drin. Möglicherweise ist er gerade auf seinem Verkaufstrip. Er geht gerade herum und sucht sich Leute, die aussehen, als könnten sie Entspannung benötigen. Und seine Freunde neben ihm sind nicht seine Freunde, sondern seine Bodyguards. Das ist doch perfekt! Nicht die Jugendlichen verkaufen Gras untereinander, sondern die älteren Menschen den Jungen. Die bekommen es ja aus medizinischen Gründen. Ich bin mir sicher, einige kann man leicht faken, sodass man einfach das medizinische Marihuana bekommt und es dann weiterverkauft. Vielleicht leiten die ja eine ganze Gang von Alte-Leute-Dealern. Obwohl ich mir das nicht vorstellen kann. Der Big Boss geht nicht einfach so auf die Straße und verkauft sein Produkt. Wenn, dann schickt er seine Männchen. Also ist das nur ein kleiner Fisch in einem großen Gras-See. Mal sehen, ob ich den Big Boss finden kann. Kann ja sein, dass er ihn gerade überprüft, ob er nicht doch für die Alte-Leute-Cops arbeitet …

Hühnchen im Laub Ich will jetzt nicht wie ein Tierschützer klingen, aber warum ist das fertig gegrillte Huhn einfach so im Laub? Hatte wer die geniale Idee, jetzt auch noch das Thanksgiving der Amerikaner nachzumachen, obwohl die es mit einem Truthahn machen? Bitte sag mir nicht, dass jetzt alles ausschließlich von den Amerikanern kopiert wird. Wenn ja, dann haben wir wahrscheinlich bald Jumbo-Mega-Burger, riesige Pommes-Packungen und einen neuen Höchstwert in Sachen fette Menschen. Wer weiß, vielleicht erhalten wir bald auch Scooter für fette Leute, und dann verklagen wir Einkaufszentren, weil sie

nicht Fetten-freundlich sind. Doch ich schweife ab. Um zurück zum Hühnchen zu kommen: WARUM IST DIESES HUHN IM LAUB?! Ich versteh schon, Herbst, Laub, Zeit für Hühnchen. Aber wie kommt man auf so eine Idee, es einfach so reinzulegen. Okay, ja, die Kulisse ist nachgestellt, und es besteht die Möglichkeit, dass das Hühnchen nicht echt ist. Aber dass es so gut aussieht und dazu noch aus Gummi? Das bezweifle ich. Wenn es aber wirklich echt ist, dann kling ich jetzt wahrscheinlich nicht wie ich selbst, wenn ich sage, dass das Nahrungsverschwendung ist. Ich würde den Idioten, der diese fantastische Idee hatte, gern einmal kennenlernen, um ihm meine Meinung zu sagen, die eigentlich gar nicht meine ist, sondern die meines Fernseher- und Internet-manipulierten Gehirns. Warum schwanke ich jetzt zwischen den verschiedensten Themen? Was ein Huhn im Laub alles mit einem machen kann. So ein rich­tiger Gedankenanreger, dieses Huhn.

Schreibakademie MÖDLING

Nicht nur die Jugend

135

Aleksa Lazovic

dass der Professor panisch durch den Raum lief. Er untersuchte seine ­Apparate, sah sich meine Ergebnisse noch mal genau an und sah dann mit angst­erfüllter Miene zu mir rüber. Zwar bemerkte ich, wie aufgebracht er war, aber es war mir egal. Ich war in meiner eigenen Welt. Nichts konnte mich so einfach rausholen. Funken sprühen. Bildschirme flackern. Der Professor kam nun zu mir gerannt und redete auf mich ein, aber ich konnte ihn nicht hören. War etwas los? Ist was Bestimmtes? Fühlen Sie es etwa auch? Doch mein Blickfeld verschwamm. Nun konnte ich nur noch Konturen erkennen. Der Mann griff nach mir und schüttelte mich. Was ist denn so Wichtiges? Ach, ist doch egal. Ich bin ja frei. Einfach … frei …


Schreibakademie MÖDLING 136

Robin über Robin

Heimatliebe

Robin Reisenauer

ROBIN REISENAUER

Mein Name ist Robin Reisenauer. Ich bin sechzehn Jahre alt und gehe in den musisch-kreativen Zweig des Bundesoberstufenrealgymnasiums Anton-Krieger-Gasse im 23. Bezirk. Mich haben Geschichten und fiktionale Texte schon immer fasziniert, seit ein paar Jahren verfasse ich sie selbst. Besonders interessieren mich Abenteuer- und Horrorgeschichten, meiner Meinung nach hat das Unergründliche, Unerreichbare einen besonderen Reiz. Besonders inspi­rierend finde ich die Werke von J. R. R. Tolkien und J. K. Rowling.

„Scheiße!“, dachte er sich, als er gerade schon auf dem Weg war. Er hatte seine Schlüssel vergessen. Nun musste er sich beeilen, die Schlüssel waren eines der wichtigsten Dinge für sein Vorhaben. Sein Vorhaben war von großer Bedeutung, es würde über das Schicksal seines Heimatlandes entscheiden. Er machte kehrt und lief zurück zu seiner Wohnung, vorbei an den alten Häusern, dem Markt, den kreischenden Händlern und all der frühlingshaften Aufbruchstimmung. Einige Minuten brauchte er, um wieder zurück zu dem Marktplatz zu kommen, wo nun Angehörige der kommunistischen Partei Rosen verteilten – zumindest schienen es Rosen zu sein. Unfassbar, er war sowieso schon in Eile und fing jetzt noch an, seine Umgebung zu analysieren. Es war zum Verzweifeln. Hier hatte sein Boss nach ihm verlangt, hier sollte er sich mit ihm treffen. Er würde ihn schon erkennen, hatte dieser ihm versichert. Als er nun in seine Umgebung sah, fielen ihm ein Dutzend seltsamer, auffälliger Gestalten auf, aber niemand erweckte den Anschein, der Direktor einer machthabenden Ölfirma mit Sitz in Tripolis zu sein. Vielleicht war ja das genau sein Trick, auffallend unauffällig zu wirken ... Also setzte er sich hin und beobachtete genau die Leute. Trotz der Kälte fing er unter seinem dicken Schafswollpullover an zu schwitzen. Es war tatsächlich unfassbar, wie korrupt sein Heimatland war, die Ölfirma führte indirekt nahezu drei Viertel der Regierungsgeschäfte. Da kam eine Frau auf ihn zu, sie trug eine Sonnenbrille.


137

Schatten der Einsamkeit Es war ein heißer Sommertag. Im Glanze der goldenen Sonne wölbten sich die hellgrünen Kronen der Trauerweiden müde über das verfallene Bauernhaus. Das Haus hatte einst einer ärmlichen Bauernfamilie gehört, ärmlich, aber glücklich. Jetzt stand es leer, moos­ bewachsen, schwärzlich angelaufen, im Schatten des Waldes, im Schatten seiner Vergangenheit. Eine Lerche begann, ihr alltägliches Lied anzustimmen, das recht bald vom Gekrächze eines Raben unterdrückt wurde, der auf eine Gruppe kreisender Geier zuflog. Aang war gerade aus dem Wald gekommen und stand nun vor dem Haus auf der Lichtung. Er war der Sohn eines Pekinger Arztes,

Schreibakademie MÖDLING

marum – diese Frau war alleinerziehend. Als wäre ihre Tochter ein Schwein, gab sie ihr etwas zu essen, wohl mehr als Beschäftigung denn als Nahrung. Die Tochter nahm es dennoch dankend an, spurte aber wie ein dressiertes Pferd und blieb auf ihrer Bank sitzen. Es war schrecklich, mitanzusehen, wie man hier in Mittel­ europa mit seinen ­Kindern umging. In Libyen wurden Frauen verachtet, ja und mit Menschenrechten konnte man nicht wirklich prahlen, aber dafür konnte er von sich selbst und seiner Umgebung wirklich behaupten, dass das einfache Volk fürsorglich und liebevoll mit seinen Familien umging. Er hatte nie seine Frau geschlagen, hatte nie sein Kind bedroht, ganz im Gegenteil, er tat gerade alles, um seine Familie zu retten. Zu Hause waren alle skeptisch gewesen, immerhin sei es ja die Chance für ihn, ein neues Leben weitab von all dem Krieg zu beginnen, doch im Endeffekt hasste er Österreich. Er hasste, wie hier mit Fremden umgegangen wurde, hasste, wie die Menschen miteinander umgingen – und all das versteckt hinter Blumen, die einem eine angeblich kommunistische Ver­ einigung schenkte. Oft hatte er die Wahlplakate gesehen. Die billigen Werbesprüche der freiheitlichen Partei hatte er sich gar nicht gemerkt, sie bedeuteten sowieso alle dasselbe – HC wird euch helfen, HC liebt euch und unterstützt euch, HC hält sie für euch fern. Diesen Menschenhass, verdeckt durch das Antlitz eines ­Transit- und Tourismuslandes mit vorwiegend gehobenen Ver­ hältnissen und falscher Schönheit, nahm er nur für seine Familie auf sich. Nur für sie.

Wang Li wurde dieser genannt. Aang war fünfzehn Jahre alt, für sein Alter aber noch klein und schmächtig. Tiefschwarze, glatte Haare zierten die Stirn über seinen schmalen braunen Augen. Er war mit seinem Vater für einige Tage aufs Land gefahren, um dem zehrenden Alltag der Stadt zu entfliehen. Sein Hotel stand nicht weit entfernt in einem kleinen Dorf, und er war für einen Spaziergang fortgegangen. Nun stand er vor dem Bauernhof, der ihm seltsam bekannt vorkam, gerade so, als hätte er hier einen Großteil seines Lebens verbracht, was ihm unmöglich schien, da er, seit er denken konnte, schon in einer kleinen Wohnung inmitten der Unruhen der Stadt Peking lebte. Er hatte sogar noch genau in Erinnerung, wie seine Mutter ausgezogen war. Sie hatte sich nur noch mit seinem Vater gestritten und war nach dem Scheidungsprozess nach Europa ausgewandert. Als Aang daran zurückdachte, fühlte er sich verlassen und schuldig an der Trennung seiner Eltern. Eine frische Brise brachte sein weißes Hemd zum Flattern und riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah nun wieder das Bauernhaus vor

Robin Reisenauer

Sie schien ihn direkt anzusehen. War sie es? War der Chef dieser mächtigen Organisation, dieses Milliardenkonzerns, tatsächlich eine Frau? Eher unwahrscheinlich, bedachte man die gesellschaftliche Hierarchie Libyens. Sie öffnete ihren Mund, um zu sprechen. Gleich würde sich entscheiden, was mit seinem Land und seiner ­Familie geschehen würde, gleich würde sich einfach alles entscheiden – sein Herz rutschte ihm in die Hose, sein Atem stockte. „Sarah!!“, rief die Frau, offensichtlich an ihre Tochter gewandt, die allem Anschein nach hinter ihm saß. Er schätzte das Mädchen auf ungefähr fünf Jahre. Unverantwortlich, sein Kind da einfach so alleine sitzen zu lassen. Neben der Sonnenbrille trug die Frau für sie viel zu enge Kleidung, eine Lederjacke, die sie wie eine Möchtegern-Actionfilmbraut aussehen ließ, und eine Hose, die wiederum aussah wie die eines Militärkommandanten. Summa sum-


Schreibakademie MÖDLING

Robin Reisenauer

138

sich stehen, und eine angenehme, vertraute Wärme durchströmte ihn. In ihm kam das Verlangen hoch, das Haus von innen zu sehen, aber eine starke Angst legte sich wie ein dunkler Schatten über sein Herz. Letztendlich siegte seine Neugierde, und er ging mit vorsichtigen Schritten langsam auf den Hof zu und trat ein. Alles war verlassen. Überall hingen Spinnweben, aufgescheucht huschten Ratten in ihre Löcher. Vom Staub der Jahrzehnte bedeckt, standen Bücher in den Regalen, die schon zu verfaulen begannen. In der Küche, in die spärlich Licht einfiel, standen noch Töpfe am Herd, das zerbrochene Fenster stand noch offen, sogar der Tisch war noch gedeckt. Wer auch immer hier gewohnt hatte, war gezwungen gewesen, das Haus abrupt und ohne jede Vorbereitung zu verlassen. Aang entschied, sich den ersten Stock anzusehen. In dem Moment brach hinter ihm ein Teil der Decke ein. Vorsichtig stieg er auf die zweite Stufe. Langsam fing er an, seine Schritte zu beschleunigen. Letztendlich erreichte er den ersten Stock. Gleich vor ihm war eine verschlossene Tür. Sie war aus schwarzem Ebenholz mit roten Verzierungen und eingravierten Ornamenten. Die rote Farbe war bleich und blätterte schon ab. Als Aang die Tür öffnete, quietschte sie klagend, aus ihrem Schlaf gerissen, nach vielen Jahren wieder geöffnet. In dem Zimmer standen ein Bett und ein kleiner Beistelltisch. Das Bett war noch gemacht und die Vorhänge am offenen Fenster wehten im Wind. Auf dem Beistelltisch lag eine kleine Schatulle. Sie stand offen, und in ihr lag ein schön verzierter Stein. Er war rot, und auf ihm war ein altes chinesisches Schriftzeichen in Schwarz mit goldener Umrandung abgebildet. Der Stein kam Aang vertraut vor.

Er blickte auf die Kiste, las das Schrift­zeichen, und plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen. Als er aufwachte, lag er in einem Bett. Er sah nicht viel davon, da das Bett riesig schien. Etwas bewegte sich hinter ihm. Es war ein Arm – er lag in den Armen einer Frau. Sie schien ihm fremd und er wunderte sich, warum er nun neben ihr lag. Die Frau stand nun auf und beugte sich über ihn. Sie sagte: „Guten Morgen, mein Süßer! Zu dieser frühen Stunde bist du schon wach? Du wirst wohl einmal ein Frühaufsteher!“ Aang wollte die Frau fragen, wer sie sei, schließlich sprach sie doch zu ihm, als sei sie seine Mutter, wobei er das Gesicht seiner Mutter kannte, doch als er den Mund öffnete, kamen nur leere Töne heraus. Die Frau, augenscheinlich seine Adoptivmutter, fragte: „Hast du Hunger? Willst du deine Milch?“ Aang wunderte sich, war diese Frau wirklich seine Mutter? Oder existierte sie gar nicht? Und: War er ein Säugling? Die Dame ging nun zum Fenster, schob die Vorhänge beiseite und öffnete es. Ein wunderbarer Anblick bot sich Aang. Dort draußen flogen kleine zwitschernde Vögel leicht und fröhlich der aufgehenden roten Sonne entgegen, die sich hinter den grünweißen Baumwipfeln erhob. Das braune Haar der Frau wehte sanft im Wind, während sie ihre blauen Augen schloss. Plötzlich klopfte es an der Tür. Die Dame hielt inne und starrte Aang an und sagte: „Ich liebe dich! Dich kann niemand weg­ nehmen!“ Sie ging hinunter, das Knarren einer sich öffnenden Tür erklang. Kurz danach hörte man einen verzweifelten Schrei: „Nein!“ Aang öffnete die Augen. Er stand auf und sah sich um. Langsam erinnerte er sich daran, wie er in das Zimmer gekommen war. Daran, wie er plötzlich eingeschlafen war. Er befand sich in demselben Zimmer wie in seinem Traum, doch wirkte dieses nun leer. Aang hatte demnach nur geträumt. Oder er träumte jetzt gerade. Er entschloss sich, das nächste Zimmer anzusehen. Wieder war die Tür aus Ebenholz mit Ornamenten und wieder knarrte sie beim Öffnen. Das Zimmer, das Aang jetzt erblickte, war weiß gestrichen, ein kleines Bett mit Himmel stand in der Mitte. Traurig und zurückgelassen erinnerte es an das Glück vieler Menschen: ein Kind. Auch hier boten die offenen Fenster einen atemberaubenden Blick, während die Fensterläden weinend im Wind ­schaukelten. Hinter den Bergen zogen schwarze Gewitterwolken auf, Aang machte sich jedoch keine Sorgen, Gewitter blieben immer in den Bergen, wusste er. Stattdessen musterte er das Zimmer sorgfältig. Die weißen Wände waren teils durchlaufen von grünen Streifen, das Bett war hellbraun. Neben Kuscheltieren wie einigen Raben und Hasen hing darüber auch ein Windspiel aus Glas. Aang fühlte sich hier auf eine seltsame Weise wohl. Am Boden lag derselbe Stein, der auch im Nebenzimmer gelegen hatte. Aang beschloss, ihn zu behalten. Als er den Stein berührte, um ihn aufzuheben, fühlte er dieselbe Ohnmacht, die er davor schon gefühlt hatte, und erneut tauchte er in einen tiefen Schatten.


lich, dass vor ihm alles verschwamm und ein hartes Rauschen seine Ohren betäubte.

Aang musste sich beeilen, um vor dem Gewitter im Hotel zu sein, doch ein dringendes Verlangen zog ihn ins nächste Zimmer. Er hatte das gefährliche Gefühl, noch etwas erledigen zu müssen, also ging er ins nächste Zimmer am Ende des Ganges. Es musste eine Art Wohnzimmer sein, da mehrere Sofas neben riesigen Kommoden und Bücherregalen standen. Sämtliche Möbel waren aus Ebenholz, nur zwei Sofas waren in einem weißen Farbton gehalten. Seltsamerweise standen auch hier die Fenster offen. Die Wand­ tapeten, die in Fetzen von den Wänden hingen, waren weiß mit goldenen Ornamenten. Plötzlich stürzte über Aang die Decke ein. Bevor er das Bewusstsein verlor, spürte er einen dumpfen Schmerz am Kopf. Er erwachte im selben Zimmer. Natürlich wusste er inzwischen, dass er nur träumte, daher erschien es ihm nur so, als erwachte er. In dem Raum saßen Xiaomeng und Akuma, die Kinder mussten im Bett sein. Draußen donnerte und blitzte es, ein Unwetter gewal­ tigen Ausmaßes wütete zerstörerisch. Xiaomeng saß am grünen Kamin und sah nachdenklich in die lodernden roten Flammen. Aus einer weißen Tasse trank sie grünen Tee. Akuma ging unruhig im Zimmer auf und ab. Beide schienen sie etwas zu erwarten. Aang ging zu Xiaomeng und strich ihr über die Schulter. Augenscheinlich spürte sie es, denn sie hatte plötzlich einen starren, teils erschrockenen, teils gerührten Gesichtsausdruck. Aang setzte sich neben sie und hauchte ihr ins Ohr: „Mutter? ­Warum hast du mich weggegeben?“ Seine Mutter stand auf und verließ den Raum, er folgte ihr. Sie ging den Gang entlang und betrat das Kinderzimmer. In dem Bett lagen zwei Kinder, eines nahm sie in ihre Arme und wog es sanft hin und her wie ein Schiff auf den sanften Wogen des Ozeans bei Sonnenuntergang. Das kleine Kind machte langsam die Augen zu und schlief ein. Draußen wurde der Sturm nun sogar noch stärker, irgendetwas näherte sich, langsam, aber bedrohlich. Ein dunkler Schatten zog über das Haus, über die Mutter und ihr Kind. Xiaomeng rann eine Träne über ihre zarte, weiße Wange, sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Nun kam auch Akuma ins Zimmer. Er ging auf Xiaomeng zu und legte ihr seine Hand tröstend auf die Schulter und sah sich das Kind traurig an. Er setzte an, etwas zu sagen, doch plötzlich klopfte es an der Tür. Xiaomeng sah ihn bedeutungsvoll an, eine gedrückte Stille machte sich breit. Wieder klopfte es. Mit langsamen Schritten stand Xioameng auf und verließ das Zimmer, Aang folgte ihr. Sie ging die Stufen hinab in den Flur, wo es ein weiteres Mal klopfte. Diesmal folgte eine raue,

Schreibakademie MÖDLING

Aang wachte auf. Er merkte, dass er in einer glänzenden Wasse­r­ lacke lag. Draußen peitschte der Regen gegen das Haus, in der Ferne brüllte Donner.

139

Robin Reisenauer

Er befand sich immer noch in dem Kinder­zimmer. In dem Bett lag ein schlafendes Kind, neben dem Bett stand die Frau aus seinem vorigen Traum. Sie wiegte ein zweites Kind in ihren Armen. Dies wunderte Aang, waren doch in China Geschwister verboten. Doch er dachte darüber nicht weiter nach, möglicherweise hatte die Frau ja eine Sondergenehmigung. Oder passte nur auf ein fremdes Kind auf. Vielmehr wunderte ihn, warum die Dame ihn nicht zu bemerken schien. Sie wiegte einfach nur das Kind im Arm und starrte ins Leere, obwohl Aang direkt vor ihr stand. Er schien unsichtbar zu sein. Auf einmal kam ein Mann ins Zimmer, die Frau sah in seine Richtung. ­„Akuma!“, sprach sie, „ist etwas?“ Der Mann antwortete besorgt: „Diese Leute waren schon wieder hier! Du musst dich jetzt entscheiden, entweder Liang oder Aang!“ Aang schmunzelte. Eines der Kinder musste denselben Namen haben wie er selbst. Doch dann fiel sein Herz rasant in ihm hinab, und ein dunkler Gedanke überkam ihn. Dieser Junge war er. Die Frau, die sich nun als seine leibliche Mutter herausstellte, schüttelte fest den Kopf. „Nein!“, sagte sie, „niemals werde ich auch nur einen von ihnen weggeben! Weggeben heißt töten! Ich liebe sie. Und keinesfalls lasse ich mir von so einem Staatstrottel meine Kinder verbieten!“ „Kiaomeng!“, sagte der Mann. „Ich werde nicht zulassen, dass die Kinder getötet werden, glaub mir! Aber wir werden alle getötet, wenn sie herausfinden, dass wir zwei Kinder haben!“ Aang war in diesem Moment verwirrt. War Wang-Li gar nicht sein leiblicher Vater? Würde er ihn darauf ansprechen müssen, wenn er nach Hause käme? Was geschah mit ihm? Was war mit seiner richtigen Familie geschehen? Hatte er eine richtige Familie? Während all diese Fragen durch seinen Kopf schwirrten, bemerkte er plötz-


Schreibakademie MÖDLING

Robin Reisenauer

140

harte Männerstimme: „Polizei! Wir wissen, dass Sie da sind, machen Sie auf!“ Xiaomeng ging auf die Tür zu und öffnete sie, während sie das kleine Kind immer noch im Arm hielt. Vor der Tür standen drei Männer. Der vorderste, der gesprochen hatte, fing wieder an: „Wir haben Hinweise, dass Sie mehrere Kinder geboren haben!“ Xiaomeng antwortete: „Wer auch immer Ihnen das gesagt hat, muss sich geirrt haben.“ Der Polizist meinte nur: „Das bezweifle ich! Wir müssen uns Ihr Haus ansehen!“ Aang hatte Mitleid mit seiner Mutter, die nun schlucken musste und den Polizisten, der fast schon eingetreten war, abzuhalten versuchte. Sie sagte: „Das wird nicht nötig sein!“ Der Polizist jedoch stieß sie nur unsanft zur Seite und ging die Treppe hinauf. Die beiden anderen Männer packten sie und folgten ihm. Aang rannte ihnen nach. Der Anführer stieß die erste Tür auf, doch da war nichts. Er ging weiter und stieß die zweite Tür auf. In dem Zimmer stand Akuma schützend vor dem braunen Bett, in dem ein Säugling lag. Der Polizist sagte trocken: „Erledigt!“, und wollte zum Bett gehen, um das Kind mitzunehmen, doch Akuma stieß ihn zurück. Der Vater der beiden Kinder war nicht davon abzuhalten, diese mit Leib und Seele zu beschützen. Doch der Polizist stand auf, zog eine Pistole und im nächsten Moment lag der Vater tot am Boden. Rotes Blut rann aus seiner Wunde, und Tränen liefen aus seinen Augen. Die Mutter schrie wie wild und weinte. Sie lief zum Bett, nahm den Jungen an sich, doch sie kam nicht weit. Mit einem lauten Knall fiel sie zu Boden und mit ihr die beiden Kinder. Eines lag schreiend am Boden, das andere war ebenfalls vom Schuss getroffen. Der Polizist ging zu dem schreienden Kind, hob es auf und fragte die röchelnde Mutter: „Wie heißt er?“ Die Mutter sagte, mit Tränen in

den Augen: „Aang!“ und ihre letzten Kräfte verließen sie. Dann stand der Anführer der Polizistengruppe auf und steckte die Waffe ein. Das Kind hielt er im Arm, doch es hörte nicht auf zu schreien. Also schlug er es gegen die Wand, er schlug es, bis es Ruhe gab. Aang war von dem ganzen Ereignis zu geschockt, um irgendetwas zu tun. Nach einiger Zeit, die Polizisten waren bereits weggefahren, ging er ins Wohnzimmer. Er holte den Stein aus seiner Hosentasche, knetete ihn und drückte ihn fest an sich, er sagte sich: „Nur ein Traum! Das ist alles nur ein verdammter Traum!“ Plötzlich wurde alles hell, im nächsten Moment brannte das Haus. Ein Blitz hatte eingeschlagen. Brennende Trümmer fielen auf Aang hernieder. Ihm fiel der Stein aus der Hand. Er sah ihn an, wie er in den Flammen dahinschmorte. Die Farbe verbrannte, doch der Stein blieb. Wang-Li war gerade in seinem Hotelzimmer. Sein Adoptivsohn musste sich wohl verspäten. „Kein Wunder bei dem Hundewetter!“, sagte er sich, als er aus dem Fenster blickte. Nach einiger Zeit des Wartens schaltete er den Fernseher ein, gerade liefen die Nachrichten, bevor sein Lieblings-Kung-Fu-Film beginnen würde. Doch schnell schaltete er den Fernseher wieder ab, denn was er gehört hatte, war unerträglich für ihn. Der Nachrichtensprecher hatte durchgesagt, dass die Feuerwehr in einem alten Haus in der Nähe des Hotels, das vom Blitz getroffen worden war, vier Leichen gefunden hatte.

SCHREIB AKADEMIE


Schreibakademie MÖDLING

ANITA SUCK

Anika über Anika

Meine Hände streichen über deine Haut, die Sonne schickt ihre Strahlen durch die Fenster, wo sie meinen Rücken wärmen.

Musst du wirklich schon gehen. ­Können wir nicht für immer so bleiben. Nur für einen Moment. Ich wünschte, du könntest für immer hier bleiben. Wenn du weg bist, denke ich an deine Haut, deinen Atem, deinen Herzschlag, alles, was dich schön macht. Das Fenster lässt die warme Nachtluft durch seinen Spalt fallen. Sterne. Eine Brise lässt die Bäume rascheln, es klingt wie das Meer. Energiepotenzial, Effektivwerte, Lorentz-Lenz-was-auch-immerKraft, mir fallen die Augen zu. Das interessiert doch jeden hier genauso wenig wie mich. Einschließlich den Lehrer. Egal. Augen zu, Kopf auf den Tisch, läutet eh bald. Muss ich mir nicht merken, geschweige denn verstehen. Beim nächsten Test Bulimielernen. Durchschnittlich schlechte Note, Rest ist egal, Hauptsache ich komm durch. Und schreiben, schreiben soll ich. Will ich. Am besten fünfzehn Wochen die Stunde. Will ich. Mindestens. Pause nur zum Teeholen und Kuscheln. Könnte einmal sein, könnte keinmal sein. Geld verdienen? Bitte, bitte! Aber Hauptsache, Wörter erfinden, formen, polieren und in die schönste Reihe setzen.

Anika Suck

Einatmen, ausatmen. Langsam. Ein­ atmen, ausatmen. Ruhe und Frieden, Shanti. Konzentrier dich allein auf deine Atmung. Auf die Energien, die um dich herumwabern, konzentriere dich nicht auf die Geräusche um dich, dein Geist ist still. Da fällt mir ein, ich muss noch meine Nachhilfelehrerin anrufen, die kann auch nie still sein. Und den Geburtstagskuchen für meine Freundin ­backen. Und einen Essay schreiben. Und die Welt retten. Eigentlich ist das hier Zeitverschwendung. Und schreiben sollte ich auch mal wieder, nicht hier im Wald hocken und nix tun. Apropos: Einatmen, ausatmen. Langsam. Ruhe und Frieden. Shanti Shanti Shanti.

141


Schreibakademie MÖDLING

Anika Suck

142

Allegorie

Die Küche

Und wenn die Welt zu Ende geht, wirst du dann mit mir stehen Wirst du meine Hand fest umklammern und nie wieder ohne sie weglaufen Wirst du die Welt für mich einnehmen, wirst du mich einnehmen Wirst du festen Schrittes deine Knie niedersenken zum Gebet Oder wirst du mit mir aufstehen

Die Küche war seit jeher ein Ort des Grauens gewesen. Die meisten wussten nichts davon. Die Küche war für sie immer ein geheimnisvoller Platz gewesen, an dem aus herkömmlichem Gemüse und Fleisch kleine Wunder wurden. Wo Menschen in schneeweißen Schürzen um Töpfe duftenden Inhalts tanzten und mit flinken Fingern Zutaten zu kleinen Kunstwerken auf Tellern anrichteten. Das alles begleitet von zarter, klassischer Musik, in deren Dreivierteltakt geschnitten, passiert und pochiert wurde. Und dieser Duft! Eine Mischung aus faulem Frühstück am Sonntag­ morgen, gepaart mit einem Kuss und ein bisschen Vanille. Doch die Realität ist eine andere. Man betritt die Küche durch eine Schwingtür, die den schönsten Anstrich vielleicht einmal gehabt hatte. Ein Geruch aus gebratenen Zwiebeln, Frittierfett und männlichem Schweiß verschlägt einem den Atem. Die Luft ist dick wie Öl. Bei jedem Schritt, den man tut, hört man dieses schmatzende Geräusch, als wäre man in einen Kaugummi getreten, der sich immer wieder am Boden festsaugt und nicht loslassen will. An den Kochflächen des Gasherds sind eingebrannte Fettspritzer und Saucenflecken zu sehen. Man hält den Kopf vorsichtig über einen der Töpfe, aus dem dichter Qualm steigt, doch wendet den Blick lieber sofort wieder ab. In dem Topf befindet sich eine braune, klumpige Pampe, unterbrochen nur von kleinen roten Stücken. Sind es Tomaten? Paprika? Klumpiges, menschliches Blut? Man wagt es nicht, zu fragen. Dem Geruch nach könnte es Gulasch sein, dem Aussehen nach könnte man es auch von der Straße gekratzt haben. Die Fritteuse ist auch nicht appetitlicher. In dem dunklen, stinkenden Öl schwimmen Schnitzel, die aussehen wie panierte WettexLappen. Am Grund schweben ein paar vergessene, kohlrabenschwarze Pommes frites. Ein Quieken lässt einen von Zeit zu Zeit erschrocken herumfahren. Ratten. Ratten in den Vorräten, kalte Ratten im Tiefkühler, warme Ratten im Gulasch. Es müffelt. Gestank wabert aus den Ecken, unter jeder Theke hervor und aus dem Geschirrspüler. In der Spüle schwimmen Teller, auf deren Rand eingetrocknete Essensreste kleben, die das Spülwasser auch nicht lösen kann. Man spürt den Stress. Wie Elektrizität verseucht er die Luft. Was scheint wie tausend Angestellte, wuselt, schlittert über Fettflecken und brüllt dabei quer durch den Raum. Man wird angerempelt, angesteckt von dem Stress. Raus hier. Durch die quietschende Schwingtür gelangt man zurück in den Speiseraum. Sanfter Jazz, Livemusik. Frauen in eleganten Roben, die sich an der Bar ihre Drinks erflirten. Der Geruch wurde wie von Zauberhand mit der Tür abgeschnitten, hier gibt es nur saubere Geruchslosigkeit. Ein zarter Klang von Zigaretten schwebt über dem Ganzen. Klingende Gläser, hübsch angerichtete Teller lassen einen vergessen, dass die Kellner, sobald sie wieder durch die Schwingtür treten, ihr eingemeißeltes Lächeln verlieren.

Mit von Zweifel gespickter Lust Versuchen wir das Unmögliche Hinter unseren Fransen etwas zu sehen Die Orgel gestimmt Die Stimmen erhoben Lassen wir die Toten hinter uns Und spielen ein Lied von neuem Leben Unsere Tröge sind leer Unsere Lungen versiegt Die Haut versengt Darunter sich dünne Muskelstränge ziehen Die bald mehr werden als sie selbst Ein Fluss von Gift spült durch das Land Ein ebener Geist, der von ihm trinkt Doch unsere Geister schlagen Wellen Wie die Brandung, die sich senkt Vom Durst getrieben nach Veränderung Von Schlägen satt Vom Schweigen heiser Handeln wir an seiner Wille statt Vertreiben wollten sie uns! Viel zu viele leere Reden! Hirnverschmutzung! Aber du stehst mit mir, nicht wahr Du fehlst mit mir, da wo wir sein sollten Du streichst dich, mit mir, aus den Büchern Du verlierst dich, mit mir, nicht wahr


HipsterABC 2.0

Grüntee, Zitronenwasser, Grapefruitpeeling Smoothies, Bubbles, Schokokuchen, OMG ich werde sooo fett werden! Fitness, Trinkflaschen, kein Sixpack, dünn willst du sein, rosa Sport-BHs SIND vollständige Oberteile und jeder will wissen, dass du jetzt schon mit Dreißigern trainierst und dass dein neuer WhatsApp-Freund angehender Kinderarzt ist und nicht, dass du ihn nur vögelst, weil dich dein Vater nicht lieb hat. Nein, keine Sorge, man muss nicht wissen, was der Südpol ist und was

Respektlos, ach ja sooo beliebt und immer ungeschminkt. Doch wenn du wieder einmal heulst, weil du nicht mithelfen willst, dann rinnt dir die schwarze Schmiere in Bächen über die Wangen und sammelt sich zusammen mit deinem Rotz in duftenden Taschen­ tüchern. Die sind zwar teurer, und die Duftstoffe werden in Laboren Katzen in die Augen geträufelt, aber Papa zahlt ja, und Katzen sind ja Eigentum. Massentierhaltung? Bioschinken. Wenn Tiere glücklich leben, sterben sie auch glücklich und sind gerne in Scheiben geschnitten auf Vollkornbrot mit Salat und ekelhaft fettiger Avocado. Aber bitte Bagels. Die sind ja SO New York und schick und Fashion Week. Und du LIEBST Heidi Klum und zarte Filter, die aus deinen Fotos ECHTE Vintage-Kunstwerke machen. Dein Mittagessen – Filter. Der Baum da – Filter. Wartet! Der Himmel ist so schön, das MUSS das Internet gesehen haben. Vintage-iPhonehüllen, Lidstrich, dünne Zigarettenspitzen. Ach, man müsste wieder in den Fifties leben! Retro­sonnen­brillen, Swing und ECHTE Männer. Sexismus, Rassismus, Nachkriegszeit. Es ist traurig für dich, keinen Freund zu haben, und armselig, am Samstagabend zu lernen, anstatt eine Alkoholvergiftung zu bekommen. Und stolz bist du auch noch drauf. Froh, dass du kurz vorm Exitus standest. Narben sind süß, Ritzen und Koksen sind eine Form von Performance, und wer sie ignoriert, der weiß nicht, was du durchgemacht hast, nämlich dass ihr euch jetzt doch keinen neuen Mercedes leisten könnt, weil deine Frust­fresser-Schwester ins Abnehm-Camp musste, anstatt in die Schule zu gehen. Und DU, gerade du machst dich über sie lustig, weil sie auf eine Schule geht, wo man nicht lernt, was Exponenten sind, auf der du aber eigentlich auch besser aufgehoben wärst, weil in der Siebten sollte man wissen, was Kilo bedeutet. Tut mir, leid aber ich habe heute k ­ einen Respekt mehr für dich.

SCHREIB AKADEMIE

Schreibakademie MÖDLING

Massentierhaltung. Man muss kein Geld für Bücher ausgeben, wenn es die auf iTunes für Überweisungen gibt. Du wirkst wirklich sehr intelligent, wenn du mit deinen 18 Jahren den Führerschein nicht mehr hast und demonstrativ im Zug Bücher liest, die für 13-Jährige gedacht sind, weil es uns langweilig geworden ist, dich zu verarschen und uns deine Lügen anzuhören.

143

Anika Suck

Ja, kauf dir eine Polaroid-Kamera Ach, es werden keine Filme mehr produziert? Das wusstest du nicht? Ja, kauf dir eine bauchfreies Top mit kleinen fünfzweigigen Blättern drauf und trag dazu die Strickjacke, die aussieht, als wäre sie von deiner Oma, die aber im Laden sechzig Euro gekostet hat Ja, du brauchst unbedingt für Selfies eine Spiegelreflex Ja, Papa zahlt Was du werden willst? Weißt du noch nicht Vielleicht was Leichtes Jus, Pharma, Photo Ja, auf dem Foto von deinem Arsch kommt deine neue Frisur echt gut zur Geltung Nein, Schmetterlingstattoos sehen echt süß aus, wenn sie an ­deinem ­Knöchel flattern Du lauerst nicht mehr, du spielst nicht mehr, für dich ist alles durchdacht Alles ist rad, alles kawaii Alles kanntest du schon Kennst du den? Nope Ja, den kennen nicht so viele Ach Aber ich find ihn echt voll genial Toll Kriegst nen Orden


Schreibakademie MÖDLING 144

Teresa über Teresa

Teresa Wawra

TERESA WAWRA

Das Mädchen steht immer noch vor mir. Schwarze Haare und dunklere Haut. Sie scheint dunkle Farben generell zu mögen, denn Weste, Hose und Schuhe sind schwarz. Tut sie es, um in der Menge nicht aufzufallen. Vielleicht. Will ich es gerne wissen? Vielleicht. Ihre Haltung drückt Einsamkeit und Stolz aus. Solange sie nach vorne starrt. Ihr Gesicht habe ich noch nicht gesehen. Als hätte sie meine Gedanken gehört, dreht sie sich rasch um. Ihre braunen Augen haben einen seltsamen Glanz. Blickt einfach durch mich durch. Will ich wissen, warum das so ist? Vielleicht. Wortlos dreht sie sich wieder zu dem kleinen Weg um, der sie zur Hügelspitze geführt hat. Eilig gehe ich ihr hinterher. Am Fuße des Hügels blickt sie noch einmal zur Spitze hinauf und murmelt

irgendetwas Unverständliches. Rasch dreht sie sich um, eilt zu einem öffentlichen Bus und steigt ein. Drinnen summt sie ein kleines Lied, dessen Refrain sich ständig wiederholt. Ich kenne das Lied und spiele es im Kopf ab. Sie wirft einen kurzen Blick auf die Uhr und seufzt erleichtert auf. Was sie wohl noch vorhat. Soll ich ihr folgen? Vielleicht. Sie marschiert in die Stadtbibliothek, um sich dort ein Buch auszuborgen. Offensichtlich kann sie Shakespeare nicht leiden, denn Romeo und Julia werden weggelegt. Schließlich zieht sie doch noch ein anderes Buch aus dem Regal. Jane Eyre, lese ich. Ach, ja. Die gute Jane hatte ich mir seit Jahren nicht mehr angesehen. Das Mädchen blickt kurz auf. Nur ganz kurz, aber ich bin mir ­sicher, dass es eine Aufforderung ist. Ich lächle schwach. Soll ich jetzt Schluss machen? Vielleicht. Ich bin es. Das Mädchen, das Schwarz liebt und Shakespeare bewundert und verabscheut. Ich bin es, mit den kurzen schwarzen Haaren, die vom Kopf abstehen. Ich bin es, die nicht weiß, was sie will. Ich bin ich.


Ticktack, ticktack

Vertagte Hochzeit Von Carl Sandburg Originaltitel: Wedding postponed Rollen: Tante Jake Brown, Bräutigam Mary Noch-Kennedy Mom Mary sitzt auf einem kleinen roten Sofa, mitten auf der Bühne, mit dem Laptop in der Hand. Irgendwo klingelt eine Glocke. Mary steht auf und geht zum linken Flügel, um den Besuchern eine imaginäre Tür zu öffnen. Auf dem Weg zur Tür dreht sie sich noch einmal um und wirft einen nervösen Blick auf das Sofa. Als die Glocke erneut läutet, atmet sie tief durch und öffnet die Tür. Scheinwerfer richten sich auf sie. Im selben Moment schleicht jemand vom linken Flügel auf die Bühne und macht es sich am Sofa bequem. Mary kommt zum Sofa zurück, zwei altmodisch gekleidete Damen im Schlepptau. Scheinwerfer richten sich langsam wieder auf das Sofa. Dort fläzt sich Jake, Marys Verlobter. Die Damen mustern ihn misstrauisch. Schnell sind alle vorgestellt, man begibt sich zu Tisch. Eine angespannte Konversation beginnt. Die Scheinwerfer gehen mit.

Mary: Äh … Mom, Tante, wir haben euch eingeladen, weil wir euch etwas sagen wollen. Mom (flüsternd): Jetzt kommt’s! Mary: Also … Jake und ich werden heiraten. Morgen um sechs Uhr. Die Damen verschlucken sich synchron an ihren Getränken. Tante & Mom: Was? Jake: Mary und ich werden heiraten. Morgen um sechs Uhr. Tante: Wie wunderbar! Mom: Wie grauenhaft! Mary: Mom? Ich hoffe, dass das für dich okay ist. Tante strahlt, Mom zittert vor Empörung. Mom: Dass es für mich okay ist? Meine liebe Tochter, eben glaubte ich, mich verhört zu haben. Ihr werdet die Hochzeit absagen. Jetzt sofort. Mary: Aber Mom! Mom: Sofort, meine Liebe. Oder du kannst dir meine Million abschminken. Mary schluckt. Dann dreht sie Mom den Rücken zu. Mom: Gut, Kind, wenn du es nicht kannst, dann werde ich es für dich tun. Sie zieht ihr Steinzeithandy aus der Tasche. Mom telefoniert: Ja. Natürlich. Es war ein Irrtum. Gut, danke. Meine Tochter wird diese Suppe alleine auslöffeln müssen. Auf NimmerWiedersehen. Sie legt auf. Mary: Was hast du getan? Mom: Nur das Nötigste. Komm, Schwester. Wir sollten sie alleine lassen, damit sie sich eine Entschuldigungsrede für ihre Gäste ausdenken können. (Zu Mary) Man sieht sich. Mom zieht mit Tante von dannen, während Mary und Jake wie betäubt auf den Sesseln sitzen. Freeze. Scheinwerfer gehen aus. Jake verlässt die Bühne, Mary nicht. Im Dunkeln hört man noch ihre Worte.

Schreibakademie MÖDLING

Zeit vergeht! Aber ich glaube nicht, dass das jemals geschehen wird. Wieder ist eine Stunde vergangen. Es ist unsinnig, die Zeit. Du weißt, dass sie vergeht, dass du sie totschlägst. Du quälst dich mit deinen Gedanken, aber du bist allein. Manchmal, wenn mein Herr ins Zimmer kommt, flammt ein Hoffnungsschimmer in mir auf. Doch bald verlässt er mich wieder, und ich schelte mich für meine dumme Hoffnung. Früher war das Zimmer voller Uhren, die tickten. Nach und nach sind sie alle verschwunden. Jetzt bin ich ganz allein. Niemand tröstet mich, wenn ich am liebsten weinen würde, weil ich so einsam bin. Ticktack mache ich.

145

Teresa Wawra

Die Zeit läuft. Doch ich stehe still. Wem zeige ich die Zeit an? Ich weiß es nicht. Ticktack mache ich. Eine Stunde ist vergangen, vielleicht auch zwei. Mein Leben ist eintönig, jeder Tag ist wie der letzte. Einmal, glaube ich, hat mein Herr ein Wort mit mir gewechselt. Na ja. Es war ein ganzer Satz, aber mehr nicht. Ticktack mache ich. Ich wünschte, ich wäre frei, um die Welt zu sehen. Nicht mehr in diesem Haus eingesperrt sein und wissen, dass die


Schreibakademie MÖDLING

Mary & Jake: Wir werden nicht heiraten, Nicht heute, Nicht morgen, Zu keiner Zeit. -------------------------Verona war nicht perfekt Und stirbt er einst Nimm ihn, zerteil in kleine Sterne ihn. Er wird des Himmels Antlitz so verschönen, dass alle Welt sich in die Nacht verliebt und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt. Shakespeare. Das Gesülze von Romeo und Julia Wollte mir nicht in den Kopf, bis ich das Buch sah, da packte ich die Gelegenheit am Schopf. Was? Oh, nein, bitte nicht mehr von dem Gelaber,

sonst wird die Angelegenheit noch makaber. Der Liebe leichte Schwingen trugen mich, Kein steinern Bollwerk kann der Liebe wehren. Und du William, ruhe in Ehren. Jetzt wird’s peinlich, denn ich sah … Wohl wahr, ich rede Von Träumen, Kindern eines müßigen Hirns, Von nichts als Fantasie erzeugt. Wann sich der Mensch endlich den Gesetzen der Lyrik beugt? Oh Romeo! Warum denn Romeo? Verleugne deinen Vater, deinen Namen! Bis Lyriker wie Goethe und Schiller kamen. William, William, du hast mich überzeugt, Von heut an les’ ich deine Bücher, bis mein Rücken sich beugt. Lasst uns in Frieden miteinander gehen, ein jeder soll den anderen verstehen. Jetzt ist die Zeit um, der Vorhang fällt. Bitte nimm mich auf, im Lauf mit der Zeit, denn jetzt bin ich endlich bereit.

Teresa Wawra

146

Graue Nebel Graue Nebel ziehen über das Moor hinweg. Es hätte dem Ort einen Hauch von Romantik gegeben, wenn es nicht so widerwärtig riechen würde. Der Schlamm des Moors war von einem blutigen Rot, wortwörtlich genommen. Denn unter diesem Moor ist ein Schlachtfeld. Noch immer liegen die verwesenden Körper in dem scheuß­ lichen Gemisch aus Erde und Blut. Dem eigenen Blut. Eine Mücke surrt über den Platz des Grauens, immer und immer wieder. Das Schilf bewegt sich knatternd im Wind, der die schlechte Luft nicht wegzublasen vermag. Doch der Höhepunkt dieses absolut ekelerregenden Schauspiels ist doch wohl der Mann, der inmitten der Scheußlichkeit seine letzte Ruhe ­finden muss. All die Jahre haben dem ­Körper, der halb versunken im

Moor liegt, fast nichts ausgemacht. Wenn man ihn anschaut, wirft man einen Blick in die Vergangenheit. Man sieht die Kämpfenden, fühlt die Schmerzen der Verletzten und hört die Schreie der Sterbenden. Wie er wohl gestorben ist, fragt man sich. Ein zweiter Blick auf den Körper gibt die Antwort. In der rechten Seite des Mannes steckt ein Speer, gute zwei Meter lang. Auch ihm haben die Jahre nichts gemacht. Unbarmherzig sticht er in die Seite des Toten hinein. Dieser kann sich nicht einmal mehr wehren. Wenn man dem Mann ins Gesicht schaut, kann man sich seine Augen beängstigend gut vorstellen. Vielleicht waren sie blau. Oder doch grün? Obwohl seine Wangen schlammverschmiert sind, kann man das qualvolle Lächeln noch sehen. Hat er geschrien, als er auf so schreckliche Weise starb? Man weiß es nicht. Plötzlich landet eine Mücke auf seiner Wange. Man kann nicht anders, als sie wegzuscheuchen. Doch bald werden neue Mücken kommen. Alles was kreucht und fleucht, wird da sein, um diesen Körper der Erde endgültig zurückzugeben. Man muss sich abwenden, von dem grausamen Schauspiel der Natur. Das Schilf raschelt, wenn man durchgeht. Und keinen Blick zurückwirft.


tungsboot gesetzt und weggebracht. Sie hörte die grauenhaften und entsetzten Schreie der ertrinkenden Passagiere noch lange.

Jetzt saß ich in der Schule neben Alex und versuchte, dem Geschwafel unserer Geschichtslehrerin Miss Roos zuzuhören. Sie redete über die Titanic. Blablabla. Das interessierte mich jetzt null Prozent. Wie das stolze Schiff untergegangen war, wie all die Leute ertrunken und erfroren waren im eisigen Wasser. Plötzlich hatte ich ohne Vorwarnung ein Flashback. Kate stand an der Reling der Titanic und schrie, als das Schiff sich langsam neigte. Dann wurde sie in ein Ret-

Die Liebe des Jahrhunderts – Lord des Feuers und Kate Parker So feurig, wie der gute Lord heißt, war ihre Liebe anfangs gar nicht. Man munkelt sogar, dass Kate Parker niemals einen Mann geliebt hat.

Starr und bleich saß ich auf meinem Schulsessel vor meinem Pult neben Alex. „Ist alles okay, Judy?“, fragte Alex leise. „Nein, nichts ist okay! Ich kann nicht mehr, Alex! Was würdest du machen, wenn du nach drei Jahren erfährst, dass deine Mutter in die ewigen Wälder verschwunden ist!? Ich hab zwar null Bock auf Fragestunde, aber trotzdem. Was würdest du tun? Ich bin am Ende, Alex! Ich will nicht mehr!“, rief ich so laut, dass es die ganze Klasse hörte. Alle starrten mich an. Es war mir egal. Mir war alles egal. Ich stand schnell auf und verließ die Klasse. Ich spürte die Blicke im Rücken. Egal. Meine Beine trugen mich nach Hause zu meiner Tante. Ich ignorierte die verwirrten Blicke Tante Miras, ging auf mein Zimmer, holte das Buch meiner Mutter unter dem Kopfkissen hervor und schlug es auf. Auf der Seite, auf der ich es aufschlug, begann ein neues Kapitel.

Ich schluckte. All die Jahre hatte ich nie einen Gedanken daran verschwendet, wer mein Vater war oder wie er hieß. Aber jetzt dafür umso mehr. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Was war, wenn dieser Lord des Feuers mein Vater war. Eines war für mich klar: So, mit den grauenhaften Flashbacks konnte ich nicht leben, also musste ich in die Vergangenheit, welche ich gehasst hatte, eintauchen. Ich musste meine Eltern finden. Und das war ein absolutes Muss.

SCHREIB AKADEMIE

147

Teresa Wawra

Zwei Wochen war die Geschichte mit der Lichtung her. Sobald ich wieder auf der Lichtung gestanden war, schrie ich Kate an: „Ich werde mich nicht entscheiden!“ Dann war ich den Weg zurück zur Bibliothek gerannt, hatte mich bei Alex und der Bibliothekarin für mein plötzliches Verschwinden entschuldigt, war nach Hause gehetzt, hatte die Legenden unter meinem Kopfkissen versteckt, mich aufs Bett geworfen und hatte versucht durchzuatmen. Ich hatte mich zum Nachdenken gezwungen. Schließlich hatte ich beschlossen, die ganze Sache zu vergessen, denn es ergab sowieso keinen Sinn.

Schreibakademie MÖDLING

Stichwort Titanic


148


SCHREIB AKADEMIE

WAIDHOFEN/YBBS Klasse Dr. Peter Bubenik & Evelyn Schlag

149

DIE SCHÜLERIN Simone Müller


Schreibakademie WAIDHOFEN/YBBS

SCHREIBAKADEMIE WAIDHOFEN/YBBS Die Schreibakademie in Waidhofen/ Ybbs unter der Leitung von Evelyn Schlag und Peter Bubenik hat als erste Gruppe dieser Institution in Niederösterreich im Jahre 2006 ihre Pforten geöffnet. Aus einer Welle der Schreibinteressierten in Jahren ausgefüllter Zusammengehörigkeit vollzog sich ein Werdegang vieler Schülerinnen und

150

SCHREIB AKADEMIE

Schüler zu beachtlicher Leistungsstärke. Eine Teilnehmerin, Lydia Steinbacher, veröffentlichte 2013 ihren ersten Lyrikband. Es waren fruchtbare und auch wunderschöne Jahre literarischer Gespräche und literarischer Gemeinsamkeit. Im Arbeitsjahr 2013/14 fanden sich zu wenige Interessierte zur Arbeit in der Schreibakademie, und so musste diese geschlossen werden. Was bleibt, ist eine schöne und literarisch fruchtbare Erinnerung.


EVELYN SCHLAG

1940 in Wien geboren, Studium der Geschichte und Germanistik, Doktorat in Geschichte 1967, AHS-Lehrer 1961 bis 2005, AG-Leiter der Germanisten NÖ 1983–2004. Seine Offenheit für Neues und seine Literaturkompetenz machten ihn wertvoll für die Aufgaben des Schreibens von Jugendlichen in Waidhofen/Ybbs. Ebenfalls trug er zum Gelingen der Schreibakademie durch die Organisation vieler wunderbarer ­literarischer Abende und Veranstal­ tungen bei.

Geboren 1952 in Waidhofen/Ybbs, Studium der Germanistik und ­Anglistik in Wien. Bis 2002 Unterrichtstätigkeit an einer Handelsakademie, seither freie Autorin, Romanautorin, Lyrikerin, Übersetzerin, Leiterin von Workshops, Lehrbeauftragte am Institut für Schreibkunst der Universität für Angewandte Kunst Wien (2010–2012)

Publikationen: Aufsatz über die Lyrik von Erika Mitterer, Kommentar zum Lehrplan 1999, Essay über Julian Schutting, Artikel über Werke von Engelbert Obernosterer und didaktischer Kommentar zu Friedrich Schillers „Ästhetische Erziehung des Menschen“.

Publikationen zuletzt: 2002 „Brauchst du den Schlaf dieser Nacht“, Gedichte. Wien, Paul Zsolnay Verlag 2003 „Das L in Laura“, Roman. Wien, Paul Zsolnay Verlag 2004 „Selected Poems”, translated by Karen Leeder. Manchester, Carcanet 2006 „Architektur einer Liebe“, Roman, Paul Zsolnay Verlag 2008 „Sprache von einem anderen Holz“, Gedichte. Paul Zsolnay Verlag 2011 „Die große Freiheit des Ferenc Puskás“, Roman. Paul Zsolnay Verlag 2014 „verlangsamte raserei“, Gedichte. Paul Zsolnay Verlag 1979 1988 1990 1994 1997 1998

Förderpreis des Landes Niederösterreich Bremer Förderpreis für Literatur Österreichischer Förderpreis für Literatur Kulturpreis des Landes Niederösterreich Anton-Wildgans-Preis Otto-Stoessl-Preis

Projekt- und Staatsstipendien

Schreibakademie WAIDHOFEN/YBBS

DR. PETER BUBENIK

151


Schreibakademie WAIDHOFEN/YBBS 152

Kontinentaltod

Lorbeerklauer

Simone Müller

SIMONE MÜLLER

Ich fühle mich geborgen Im Schnabel des Pelikans In den Gedanken versunken Wie es sich angefühlt haben muss Als er über die unberührte Landschaft Australiens flog Bevor wir unsere Spielklötze in die rote Erde warfen Der Leichtsinn winkt mir vom Horizont zu Und die Schwingen des alten Vogels Werden von Gefühlen getränkt Nach unten gezogen Ins Rot

Du nimmst mir die Worte aus dem Mund Und schreibst sie auf dein Blatt Die Lorbeeren der anderen schmecken dir besser Als deine eigenen Ich würde sie niemals verwenden Zu mir würden sie auch nicht passen Zu stolz wären sie Das hast du gesagt Du reißt mir die unfertigen Sätze aus den Händen Begierig mehr von ihnen zu bekommen Du bist ausgebrannt Ich nicht Aber mir würde es am richtigen Auftreten fehlen Toll diese Anerkennung Ich klaube doch gerne die Wörter für dich Meine Texte haben sie bekommen Das weiß ich Aber nicht von mir


Gefrorener See

Die Nachtfalter flattern zynisch um mich herum So als wollten sie mir sagen Dass die Nacht bald vorbei ist Eigentlich wollte ich schlafen

Man meint, ich könnte meine Gefühle In Worte fassen Wenn ich es versuche Drängt Enttäuschung Die für jemand anderen bestimmt ist Meine Wahrheit zurück Ich kann mich gut In der Dunkelheit bewegen

Habt ihr die Netze in Honig getaucht Oder verwendet ihr Karamell Klebrige Fänge legen sich um meinen Körper Ich möchte sie herunterreißen Mit den Netzen die Falter fangen Das Klebrige hat meine Haut längst aufgesaugt Ich kann meinen Körper nicht mehr bewegen Ich befehle meinen Händen Die Gedanken zu verjagen Als Antwort bekomme ich Sie sind nicht auslöschbar

Man darf nicht Auf die dunklen Stellen treten Wenn man über das Eis des Sees geht Hat irgendjemand gesagt Scheinbar hat er vergessen Dass meine starr nach vorne gerichteten Augen Den Blick nicht abwenden

Schreibakademie WAIDHOFEN/YBBS

Ihr hört nicht auf Netze in meinem Kopf zu spinnen Zu reizvoll und himmlisch sind die einzelnen Fäden Um nicht zu sagen göttlich

Die Menschen würden mich Vielleicht als abwesend beschreiben Weil ich nur das höre Was ich hören will Meine Ohren sind mit Buchstaben geschmückt Die Tannen mit Christbaumkugeln Aus den Worten der Umwelt Wird alles Klare herausgefiltert Was nicht zu meiner getrübten Anschauung passt

153

Jetzt sitze ich hier Und bin enttäuscht Weil ich es wieder nicht geschafft habe Dir den Platz in meinem Herzen zu zeigen An den du dich ohne meine Erlaubnis geschlichen hast

SCHREIB AKADEMIE

Simone Müller

Honigfalter


Schreibakademie WAIDHOFEN/YBBS

Simone Müller

154

Das doppelte Herz

Dunkelheitsrausch

Du trägst ein doppeltes Herz in deiner Brust Die Intensität seiner Schläge Kann man in deinen Worten fühlen Du hast genug Platz Um mir ein Zuhause zu bieten

Ich mache die Fenster zu Damit ich nicht hinaussehen muss Gut, dass ich sie noch nie geputzt habe Seit ich hier wohne Denn Vorhänge habe ich keine Sie würden zu viel Farbe hereinbringen

Die Worte, die du zurückhalten ­möchtest Quellen heraus und treffen mit einer Kraft Die ich nie für möglich gehalten hätte Du greifst mit den Händen danach Willst sie zurück in deine dunkelsten Winkel stopfen Aber in diesen pechigen Ecken Sind deine abgründigsten Vorwürfe Zusammen mit dem Harz erstarrt

Die Glühbirne habe ich nicht ausgewechselt Seit du gegangen bist Ohne die Buchstaben in deiner krakeligen Schrift Auf den Wänden und den Möbeln Würde der Putz abbröckeln Ich mag keine sonnigen Tage Die Stimmen der Kinder Drücken Eisnamen in den Raum Das Rauschen des Regens Sind Gespräche in unbeleuchteten Bars Rauchschwaden ein Teil der Einrichtung Irgendwann habe ich die Rollläden Mit deinen Wörtern auf die Straße geworfen Und beschlossen, mir neue anzuschaffen Ich habe es bis heute nicht getan Eigentlich mag ich gar keine Tage Nur in den Nächten schüttle ich dich ab Wenn ich im Schutz der Dunkelheit Diese Wände hinter mir lasse Ich suche mir ein Lokal Wo mich keiner kennt Und tanze dich aus mir heraus Das Schreiben hast du mir gelassen




Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.