Einsichten15
Gutenachtgeschichten
2014 ∙ 5,00 EURO
D a s M a g a z i n d e r E va n g e l i s c h e n J o u r n a l i s t e n s c h u l e
Alles über die Medienwelt – auf dem Medium Ihrer Wahl.
Neue religiöse Bewegungen, Astrologie – unterschiedliche Glaubensrichtungen und .) Peter Antes (Hg Weltanschauungen prägen unser Leben. Daran Für die Auseinandersetzung wir mit aktuellen politischen r de lt Vielfa Ereignissen Religionen und der Frage nach möglichen Hintergründen bietet dieses Nachschlagewerk und Lesebuch einen Überblick über die kulturell-religiöse Vielfalt.
glauben
Editorial Die Nacht ist die geheimnisvolle Hälfte unseres Lebens. Sie lockt ihre ganz eigenen Gestalten aus der Dunkelheit hervor: Erlebnishungrige auf der Suche nach Exzessen. Träumer, Sternengucker und Entdecker. Auch wenn das künstliche Licht sie immer mehr zurückdrängt: Die Nacht hat ihre Macht über die Menschen nicht verloren. Sie macht uns zu anderen Persönlichkeiten. So werden rechtschaffende Bürger in der Nacht zu Plakaträubern, wie auf unserem Cover zu sehen ist. Wir, 16 Volontärinnen und Volontäre der Evangelischen Journalistenschule Berlin und 15 Auszubildende des Lette-Vereins, haben uns aufgemacht, die Geheimnisse der Nacht aufzuspüren – immer auf der Suche nach dem, was wir verschlafen, wenn wir jeden Abend zu Bett gehen. Dafür kletterten wir auf den Olymp in Griechenland und verbrachten eine Nacht in der Grabeskirche in Jerusalem. Wir haben Menschen im Schlaflabor besucht, bei Obdachlosen unter einer Brücke geschlafen und mit der Bürgerwehr Rostock einen Exhibitionisten gejagt.
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Coverfoto: Ruben Riermeier
kress erscheint im Verlag Haymarket Media GmbH, Weidestraße 122 a, D-22083 Hamburg, Geschäftsführer: Brian Freeman, HR B 73457, Amtsgericht Hamburg
Peter Antes (Hg.) Daran glauben wir 376 Seiten, gebunden ISBN 978-3-7859-1087-0 Lutherisches Verlagshaus, 19,90 €
Grimms Märchen wimmeln von verfolgten Unschuldigen, schönen, aber harmlosen Mädchen und hilflosen Kindern. Niemand fragt, ob es Spaß macht, Stiefmutter hungriger Bälger zu sein, dumme Dinger vor Verführung zu schützen oder gegen eine Wand geworfen zu werden. Niemand? Doch: Heide Simonis hat es getan, und endlich erzählen Hexen, Frösche und Rumpelstilzchen mal, wie es wirklich einmal war vor langer Zeit. Ganz schön respektlose Geschichten der ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin!
Alles Märchen!
Heide Simonis Alles Märchen! Insider packen aus 160 Seiten, gebunden Cartoons von Steffen Butz ISBN 978-3-7859-1126-6 Lutherisches Verlagshaus, 24,90
€
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Neues Schutzgebiet für die Nacht: Blick auf den Sternenhimmel im brandenburgischen Havelland.
Telefon (0511) 1241-739 Fax (0511) 3681098 www.Einfach-Evangelisch.de
50 Auf den Olymp
Inhalt
Der vereiste Weg auf den Berg der Götter ist schwer, mit Mountainbike auf dem Rücken fast unmöglich
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06 Durch die Nacht mit ... 65 IMPRESSUM 98 DIE EJS
Räuberleiter gegen rechts Am Tag hängen Parteien ihre Plakate auf, nachts reißen Aktivisten sie runter. Der Straßenwahlkampf schläft nie
58 Nachtzug nach Kiew Ein Student auf dem Weg zu einem Ort voller Erinnerungen
08
62
Gehe hinfort und sündige!
Vom Flaschenfahrer zum Millionär
Mit Glitzer und Kondomen zieht Nonne Daphne auf Mission durch Schwulenbars
Sager Gaba will mit der Faulheit Anderer reich werden
16
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Schlaflos in Schöneberg
Die Heimatlosen von der Hansabrücke
Eine Berlinerin hat durch ihre Krankheit Narkolepsie den Job verloren – und das Vertrauen ihres Sohnes
Vier Berliner Obdachlose suchen die Freiheit. Doch sie verstricken sich in neue Abhängigkeiten
20
74
Lächeln bis nach Mitternacht
Kabale und Kirche
Doris ist fast 70 und steht jeden Abend hinter der Theke – auf zehn Zentimeter hohen Pfennigabsätzen
Jede Nacht lassen sich Gläubige in der Jerusalemer Grabeskirche einschließen. Eine Geschichte in Bildern
26
80
Die Jäger von Rostock
Der Partykönig von Lüchow-Dannenberg
Bewaffnet mit Schlagstock und Gaspistole jagt eine Bürgerwehr einen Exhibitionisten
Auch in der Provinz lässt man nachts die Puppen tanzen. Jan Eggert zieht die Fäden
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86
Ans Ziel träumen
Im Zwielicht
Optimierungswahn im Bett – wie Forscher im Schlaf unsere Leistung steigern wollen
Eine alternative Berlin-Tour verspricht versteckte Plätze im Untergrund und verkauft eine Illusion
40
88 Die Machtlosen
Ein Essay zum Kampf gegen die Dunkelheit
Unterwegs mit einer deutsch-polnischen Polizeistreife
44 Das halbe Leben ist eine Flatrate Das King George verspricht Freiern grenzenlosen Sex, Prostituierten ein geregeltes Einkommen
Foto: Anna Aicher
Schrumpfende Nacht
94 In der Nachtfalle Der Alltag deutscher Klinikärztinnen geht an die Substanz – besonders wenn sie Familie haben
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Martin Donath mag als schwuler Theologe Nonnen mit Bart. Er hat sich aber abgeschminkt, bunter zu sein als sie – selbst mit roten Rastas und lila Lippen � S. 8 martindonath@icloud.com
Sophie Elmenthaler wollte eigentlich Fledermäuse jagen und machte stattdessen die Bekanntschaft einer nachtaktiven Bulldogge � S. 62 amleos@gmx.net
Charlotte Gerling hat bei ihrer Recherche auf einem Rastplatz nahe der deutsch-polnischen Grenze eine Ladung Rasenmäher entdeckt. Vermisst jemand einen? � S. 88 chgerling@gmail.com
Jennifer Hinz streift gern nachts durch die Hauptstadt. Mit einer Gruppe Touristen suchte sie Berlins dunkelste Ecken und fand die optische Täuschung � S. 86 Jennifer_Hinz@gmx.de
Anna Aicher stürzt sich auf extreme Themen, recherchiert bis zum Umfallen. Im Bordell rauchte sie 20 Zigaretten, natürlich nur für die gute � S. 44 Story anna.aicher@gmx.de
Ortrun Schütz hat nachts im Real angeheuert, für Spieler den Glücksknopf gedrückt und mit Punks geraucht. Trotzdem lief ihr irgendwann ein Thema über den Weg � S. 54 ortrun.schuetz@posteo.de
Christophe Gateau weiß, dass alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht trägt � S. 86 christophe@bygateau.de
Fotos
Lukas MeyerBlankenburg konnte die israelischen Sicherheitskräfte mit Yogurette von seinen guten Absichten überzeugen � S. 40 und 74 meyer-blankenburg@gmx.de
Ralf Pauli ist Nachteule und Frühaufsteher in einem. Eine bedauernswerte Kombination im siestalosen Arbeitsalltag. Dagegen hilft nur guter Espresso � S. 50 ralf-pauli@web.de
Max Knieriemen hatte noch Wochen nach der Recherche unvermittelt Helene-Fischer-Ohrwürmer. Die Therapie durch Noise-Punk läuft � S. 80 max.knieriemen@ googlemail.com
Sophia Münder würde nach ihrer Recherche gerne Klarträumen lernen. Aber nicht, um im Traum zu trainieren, sondern um verrückte Dinge zu tun. Wie unter Wasser atmen � S. 34 sophiaelisamuender@ gmail.com
Durch die
Katharina Kühn wurde im Bordell für eine Sexarbeiterin gehalten – und bildet sich jetzt ein, als Reporterin in jedes Recherchethema eintauchen zu können � S. 44 katharina-kuehn@ hotmail.de
Anja Büchner gestaltete das Magazin. Sie lebt und arbeitet als freie Artdirektorin in Berlin mail@anjabuechner.de Bettina Malter sieht als Stadtkind selten einen klaren Sternenhimmel. Ihre Fahrt zum dunkelsten Ort Deutschlands machte ihr bewusst, was ihr entgeht � S. 20 und 40 bettina.malter@gmail.com
Paula G. Vidal braucht die Nacht, um ihr französisches Temperament abzukühlen. Deshalb kann sie meistens nicht früh einschlafen � S. 50 paula.gvidal@gmail.com
Dr. Behrang Samsami war kurz nach seinem Besuch in der Charité ein zweites Mal in einem Krankenhaus. Diesmal wurde er Papa � S. 94 BehrangSamsami@gmx.de
Maxim Lachmann unterstützte das Projekt als Grafikdesigner Maxim.Lachmann@ 16bells.org
Russell Liebman ist freiberuflicher Fotograf und im Lette-Verein verantwortlich für »Fotoprojekte Essay« contact.x@ russell-liebman.com
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Luisa Hanika machte bei Barperle Doris viele Schnapsschüsse. Und freute sich, für die Recherche auch mal einen trinken zu dürfen � S. 20 luisa.hanika@yahoo.de
Jan Hellerung mag Eck-Kaschemmen und fand in Lüchow genau diesen Charme: Holzvertäfelungen, Schlagermusik und viel Alkohol um alles zu ertragen � S. 80 janhellerung@gmx.de
Nacht mit ... Christian Personn Studienleiter der Printredaktion, arbeitet freiberuflich als Chefredakteur in Hamburg christian@personn.com
Fotos: Jan Steinhauer
Nina Marie Bust-Bartels hatte eigentlich nie Angst im Dunkeln – bis sie die Jäger von Rostock kennenlernte � S. 26 n.bust-bartels@posteo.de
Margarita Erbach würden schwarzer Himmel, Gewitter und bewaffnete Betrunkene nicht davon abhalten, erneut auf dem Maidan in Kiew nach Geschichten zu suchen � S. 58 margarita.erbach@gmx.de
Maximilian Kalkhof stand vor der Bahnhofsmission für Käsestullen Schlange und übernachtete mit vier jungen Obdachlosen unter einer Berliner Brücke � S. 66 maximilian.kalkhof@ gmail.com
Support
Texte
Emily Bartels hat die schönste Nacht ihres Lebens in Uruguay verbracht. Zwischen Dünen, stinkenden Walrössern und der unwirklich leuchtenden Milchstraße � S. 16 elc.bartels@gmail.com
Frank Schumacher Abteilungsleiter Bildmedien beim Lette-Verein f.schumacher@ lette-verein.de
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Miriam Klingl sieht in der Nacht das dunkle Spiegelbild des Tages, in dem sich Zweifel, Ängste, Freuden und Träume ausbreiten � S. 66 analoges.maedchen@ gmail.com
Oscar Tiefenthal Herausgeber von »Einsichten 15«, zeichnet als EJS-Schulleiter für Anzeigen und Vertrieb in diesem Magazin verantwortlich otiefenthal@ev-journalistenschule.de
Marija Mihailova erlebte den Trip nach Kiew als eine lehrreiche Erfahrung, die gefährlich, schön und unglaublich interessant war � S. 58 m.mihailova@gmx.de
Jacintha Nolte sagt: Nacht is the new Tag � S. 8 jacintha_nolte@yahoo.it
Nina Raasch machte eine aufregende Reise in ein Land, in dem sie zuvor noch nicht gewesen war. Sie dankt ihrem Reisekollegen Lukas, der ihr ein wunderbarer Team-Partner war � S. 74 nina.raasch@gmx.de
Ruben Riermeier musste feststellen: In der Nacht geht die Fähigkeit verloren, die Welt in Farbe wahrzunehmen � S. 26 und 54 rubenriermeier@yahoo.de
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Daniel Kovalenko war selbst nachts von Tageslicht umgeben. Sein Protagonist verkabelt, sein Rhythmus diszipliniert. Günstige Umstände � S. 34 danielkovalenko@gmx.at
Tanja Stelzer, Ressortleiterin Dossier, »Die Zeit«, hat als Textchefin fungiert tanja.stelzer@zeit.de
Dr. Stefan Willeke Textchef und Berater bei der Textplanung, hauptberuflich Chefreporter, »Die Zeit« stefan.willeke@zeit.de
Janis Kaiser stellte fest, dass der Satz »Nachts ist es kälter als draußen« zumindest auf die Kühlschränke vom Nachtlieferservice zutrifft � S. 62 Varannski@gmx.de
Christopher Puttins liebt es, in der Nacht durch ruhige Straßen mit alten Laternen zu spazieren – diese Stimmung ist magisch � S. 94 info@christopher-puttins. com
Jan Steinhauer hätte den Kaffee noch gerne ausgetrunken, als der Notruf kam. Doch 180 Sachen und Blaulicht auf der Autobahn machen auch wach � S. 88 jan.steinhauer@gmail.com
Phuong Tran Minh findet: Nur weil Tag und Nacht verschwimmen, herrscht noch kein geistiger Dämmerzustand � S. 16 und 40 FungiFung@gmx.de
»Gehe hinfort
Nachts wird aus David Daphne. Als Ordensschwester verteilt sie in Kneipen Kondome und Küsschen
und einsichten
sündige!«
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Text Martin Donath
D
David findet den David scheußlich, die nackte Statue mit dem muskulösen Oberkörper und dem glatt rasierten Gesicht, die im Fenster der Schwulenkneipe Dreizehn in Berlin-Schöneberg steht. Es ist dunkel, nur ein Discoscheinwerfer blinkt und wirft gelbes Licht auf das Körperideal vieler Schwuler. David hat ein anderes Idealbild von Männlichkeit: Rock mit Bart, wie bei Conchita Wurst, mit der er schon mal geplaudert hat. Der 37-Jährige mit den blonden Haaren und dem Kinnbart ist Barkeeper in der Dreizehn, und seinen Gästen stellt er sich als David vor. Aber manche sagen: »Ich kenn dich doch, bist du nicht die Mutter Oberin?« Seine Stammgäste nennen ihn Daphne.
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Daphnes Altar mit der Asche einer verstorbenen Schwester. Rechts: Schminken ist für sie Meditation. 120 Nächte im Jahr tritt sie als Nonne auf, zweimal im Jahr als Tunte.
Fotos Jacintha Nolte
David ist Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater d’Or O.S.P.I., die Mutter Oberin des Berliner Ordenshauses der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz. Sie sind queere Nonnen, und ihre Gemeinde besteht aus Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Transsexuellen, Intersexuellen und allen anderen Menschen, die sich als queer verstehen. Die Nonnen besuchen sie nachts in Kneipen und verteilen Kondome, Küsschen und Komplimente. In Berlin gibt es zehn aktive Schwestern, in Deutschland etwa 40, weltweit schätzungsweise 1.500. Seit 16 Jahren nennt sich David Daphne. Mit 21 outete er sich als schwul, zog nach Berlin, merkte dann, dass ihm das Schwulsein nicht ausreicht, und nahm eine Tuntenidentität an. Er gab sich den Tuntennamen Daphne de Baakel, nach der lesbischen Schriftstellerin Daphne du Maurier, und trat im Fummel auf, mit Kleid und Dutt, auf schwul-lesbischen Straßenfesten und in Travestieshows. Meistens nachts, weil er ein Nachtmensch ist, »da sind die Menschen entspannter und rücken enger zusammen«. Bei den Shows lernte Daphne eine Tunte im Habit kennen, begleitete sie zu einer Abendvesper, und fand die Schwestern zunächst komisch. Daphne fragte sich: »Was sind denn das für Hühner?« Die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz wurden 1979 von drei Schwulenaktivisten in San Francisco gegründet. Sie gingen in Nonnenhabits auf die Straße, um Spenden zu sammeln. Anfangs für Menschen, die wegen ihrer Homosexualität den Job verloren hatten. Als 1981 das HI-Virus entdeckt wurde, für HIV-Infizierte. Da diese Menschen auch in der schwulen Szene gemieden wurden und einsam am Kneipentisch saßen, umarmten die Schwestern sie bewusst. Bis heute sammeln die Schwestern Spenden und umarmen Menschen, die ausgegrenzt werden: Weil sie HIV-positiv sind, weil sie behindert sind, weil sie depressiv sind, weil sie dick sind. Daphne hat das selbst erlebt: Weil sie einen Bierbauch hat und gerne Frauenkleider trägt, wird sie von schwulen Männern als »Dicke« und »Fummeltrine« beschimpft. Dieser Ausgrenzung setzen die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz »immerwährende Lebensfreude« und »immerwährenden Sündenablass« entgegen, wie doppeldeutig in ihrem Namen steckt. Sündenablass, indem sie Menschen von tief sitzenden Schuldgefühlen lossprechen. Lebensfreude, indem sie Kondome verteilen und zu einer lustvollen Sexualität ermuntern, verantwortungsvoll gegenüber dem Sexualpartner und im Wissen um HIV und andere sexuell übertragbare Infektionskrankheiten. Einige der Nonnen sind HIV-positiv, eine Schwester ist kleinwüchsig und sitzt im Rollstuhl. einsichten
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einsichten
»Halleluja, Hosianna, Amen, Awoman, Atrans, whatever!«
Die Nonnen Daphne und Suzette ziehen durch Schöneberg. Sie besuchen auch die Bar Dreizehn mit der David-Statue im Fenster. In manchen Nächten steht David hier hinter dem Tresen. Daphne hat 80 Kleider und 60 Schleier. Die Schleier näht sie sich selbst aus Gardinen und Tischdecken.
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Im Jahr 2000 wurde Daphne zur Schwester geweiht, sie behielt ihren Tuntennamen. Seitdem besucht sie ihre Gemeinde jede Woche auf Partys, alle sechs Wochen auf einer Kneipentour durch Berlins Schwulenviertel Schöneberg. Die Schwestern nennen das »manifestieren«. Daphne besucht Ordensschwester Suzette in ihrer Wohnung in Berlin-Kreuzberg zum Schminken. Auf ihrem Küchentisch stehen Schminkspiegel, daneben liegen Farbpaletten, Pinsel, Schwämme, Lippenstifte, Kajalstifte. Daphne nimmt sich einen Stift mit Fettschminke und grundiert sich das Gesicht weiß, dann pudert sie es ein. Daphne sagt: »Jetzt steht die Leinwand.« Das Weiß in ihrem Gesicht soll den Tod symbolisieren, dem sie Lebensfreude entgegensetzen will. Mit einem Pinsel trägt Daphne rosarote Striche auf die Wangen auf. Ihren Kinnbart malt sie türkisfarben, ihre Lippen lila. Dann schließt sie die Augen und sprüht ihr Gesicht mit Glitzerspray ein. Nach zwei Stunden ist die Leinwand bunt. Beim Schminken vergessen die Schwestern ihre Sorgen, sagt Daphne. »Ich verdränge sie nicht, aber sie sind jetzt im Hintergrund. Eine Schwester hat keinen Ärger mit dem Partner, keine Schulden auf dem Konto, sondern sie ist nur für andere da.« Daphne legt ihren Habit an, die Schwesternhaube. Es ist ein mit Watte gefüllter BH, den sie sich um den Kopf schnallt. Darauf steckt sie mit Nadeln ein Tuch fest, ihren Schleier. Daphne trägt Habit, »um für andere nicht sexuell attraktiv zu sein, weil sie sich mir sonst nicht anvertrauen würden«. 22 Uhr, es ist dunkel. Daphne und Suzette fahren mit dem Auto nach Schöneberg. Vor der ersten Bar bilden sie ihren Energieeinsichten
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kreis. Sie fassen sich an der Hand und sprechen die Segensworte: »Halleluja, Hosianna, Amen, Awoman, Atrans, whatever!« Die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz verstehen sich als spiritueller Orden, aber nicht als religiös. Zwar sind christliche Orden mit ihrem selbstlosen Einsatz für Bedürftige ein Vorbild. Aber ihre Spiritualität ist inspiriert von den Radical Faeries. Die »radikalen Schwuchteln« protestierten in den siebziger Jahren in den USA gegen das Patriarchale in der Schwulenbewegung, indem sie Kleider trugen. In Berlin sind einige Schwestern Christen, manche Buddhisten, andere Humanisten. Nur die Rituale einen sie. Daphne hat in ihrer Wohnung einen Schwesternaltar, auf dem all die Dinge versammelt sind, die sie als Schwester geschenkt bekommen hat: Eine Colaflasche mit der Aufschrift »Daphne«, ein Pfirsichlikör namens »Tuntenyeti«, Buddhas, Engel, Kreuze. Daphne sagt: »Die trage ich nicht, denn damit verbinde ich nichts. Jesus hat mir kein Bier ausgegeben, darum kenne ich ihn nicht.« Manchmal zündet Daphne auf ihrem Altar ein Räucherstäbchen an und gedenkt ihrer verstorbenen Freundinnen. Wie Sister Chastity Feelgood, einer Schwester aus den USA, die bei Daphne zu Besuch war, und der es so gut gefallen hatte, dass sie auch nach ihrem Tod in Berlin bleiben wollte. Ihre Asche, die mit pinkfarbenem Glitter vermischt ist, bewahrt Daphne in einem Aschenbecher mit der Aufschrift »holy smoke« auf. Daphne und Suzette betreten die Schwulenkneipe HarDie’s. Sie begrüßen den Barkeeper mit einem Küsschen, dann setzen sich zu einem Mann, der sich an einem Glas Cola festhält, und bestellen zwei Bier, der Barkeeper lädt sie ein. Daphne trinkt
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Alkohol im Habit, wie ihr selbstgewählter Name Maria Sanguina zeigt: »Die glückliche Maria, denn Bloody Mary war früher in der Disco immer mein letztes Getränk.« Die Schwestern stoßen mit dem Mann am Tisch an und rufen: »Wie kommen wir zusammen? Sternförmig. Wie gehen wir auseinander? Sternhagelvoll. Und wie saufen wir? Hektisch!« Der Mann am Tisch heißt Lutz, ist 49 Jahre alt und freut sich über den Besuch. Er sagt: »Die Mädels begleiten mich schon mein ganzes schwules Leben - das ist eine Beständigkeit, ein Stück Heimat. Und das ist eine erstaunliche Leistung im schwulen Leben, wo es oft darum geht, wer der Schönste ist, wer den Längsten hat. Das Schwuppenleben ist gnadenlos, härter als das Hetenleben. Neid wird hier doppelt so stark ausgelebt. Und wenn du in Depressionen versinkst, hast du immer noch die Mädels. Sie sind ein Rückhalt gegen die Einsamkeit. Ich denke an sie, wenn ich am Verzweifeln bin, das spendet mir Trost.« Daphne seufzt, umarmt Lutz und gibt ihm ein Küsschen: »Danke, Schätzelein!« Die Schwestern gehen mit einem Korb voller Kondome durch die Bar, lächeln die Gäste an, verschenken Kondome mit Gleitgel. Ein 20-Jähriger nimmt sich gleich fünf. Daphne hält ihre Hand über ihn und sagt: »Ich segne dich im Namen des Heiligen Latex in Form des Kondoms, im Namen des Heiligen Fluidums in Form des Gleitgels, im Namen der Heiligen Schrift in Form der Safer-Sex-Broschüre. Möge sich dein Geist weiten, dein Herz öffnen und deine Lust ewig währen. Gehe hinfort und sündige!« Ein 55-jähriger Mann mit Glatze winkt ab und sagt: »Das kommt für mich zu spät.« Daphne greift in ihren Korb und holt einen Lolli heraus: »Da hast du auch noch was zu lutschen.«
Einige Schwule halten die Schwestern für geltungssüchtige Tunten, die sich nur als Nonnen verkleiden, um im Mittelpunkt zu stehen. Ein Mann an einem der vielen Kneipentresen in dieser Nacht sagt: »Die sind nur Schauspieler.« Daphne wollte mal Schauspielerin werden, aber Daphne ist für sie mehr als nur eine Rolle. »Ich verwandele mich nicht, sondern da tritt eine andere Facette meiner Persönlichkeit in den Vordergrund.« Eine Facette zeigt der letzte Teil ihres Namens: Mater d’Or, Mutter des Goldes. Sie hat Betriebswirtschaft studiert und war Schatzmeisterin des Ordens, bevor sie Mutter Oberin wurde. Wenn Daphne diese Worte ausspricht, klingt es wie Matador, Stierkämpfer. »Denn Schwestersein ist immer auch ein Kampf.« Auch ein Kampf mit sich selbst, gegen Daphnes Hedonismus. Sie sagt: »Ich brauche meinen Spaß: Ich muss ausgehen, ich muss tanzen, ich muss ein bisschen über die Stränge schlagen, ich muss mal ein bisschen mehr essen als mir gut tut, ich muss mal ein bisschen mehr trinken als mir gut tut.« Wenn sie ihren Egoismus vollständig abschütteln wollte, sagt Daphne, müsste sie sich in ein Kloster zurückziehen, »wie unsere katholischen Kolleginnen«. Aber das hält sie für weltfremd, dann würde sie sich zu weit von ihrer Gemeinde entfernen. »Wir leben nach der Benediktsregel, sind zölibatär und arm im Habit. Aber wir machen das nicht 24 mal 7. Bei uns ist der Vorteil: Wir sind nur teilzeit-zölibatär.« Um zwei Uhr in der Nacht fährt Daphne im Auto heim und schminkt sich ab, mit warmem Wasser, Seife und Babyfeuchttüchern. In ihrem Bart bleibt Farbe hängen. Auch deswegen arbeitet sie in einer Schwulenbar. Dort muss sie niemandem erklären, woher die kleinen Glitzerkristalle in ihrem Gesicht stammen. •
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7.500 Euro sammeln die Schwestern mit ihrer Büchse im Jahr. Das Geld spenden sie an HIV-infizierte Kinder und Franziskanerinnen, die mit einem Hospizdienst sterbenskranke Menschen mit AIDS begleiten.
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Text Emily Bartels
Foto Phuong Tran Minh
Schlaflos in Schöneberg
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Ob im Gespräch oder im Restaurant – Jana Preiß schläft mitten am Tag ein. Aber nachts ist sie hellwach, der Alltag wird zur Tortur. Jana findet gerade erst heraus, was mit ihr los ist
Jana Preiß* schläft mal wieder. Unter einem Tisch, in einem indischen Restaurant. Im Ashoka Taj in Berlin laufen Kellner umher und bringen Teller zu den wartenden Gästen. Eigentlich sollte auch Jana gerade als Kellnerin arbeiten. Doch sie war unter den Tisch gekrochen und eingeschlafen, mitten am Tag. Das ist dreißig Jahre her. Doch an Janas Müdigkeit hat sich nicht viel geändert. Ihr Mann, der damals zuschaute, war fassungslos. »Warum schläfst du ständig ein?«, fragte er. Jana wusste es auch nicht. Es sollte lange dauern, bis die 47-jährige Berlinerin auf eine Antwort stieß. Ihr Schlafdrang ist so stark, dass sie in den unpassendsten Situationen einschläft: am Schreibtisch, bei der Schulaufführung ihrer Tochter oder bei der Arbeit. In der Nacht dagegen wacht Janas Gehirn auf. Ihr Schlaf ist wie Glas, zerbrechlich und klar. Schon das kleinste Geräusch weckt sie. Jana kann sich dann nicht einfach umdrehen und weiterschlafen. Alle zwei Stunden wird sie nachts wach. Sie steht auf, surft auf ihrem Handy oder schnappt sich ein Buch: So schafft sie zwei dicke Bücher im Monat. Jana leidet unter Symptomen von Narkolepsie, einer SchlafWach-Störung. In den neunziger Jahren arbeitete sie als Rechts*Name v. d. Redaktion geändert.
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anwaltsgehilfin in einer Kanzlei. Immer häufiger schlief sie mit dem Kopf auf der Tischplatte. Als die Firma sich nach vier Jahren neu organisierte, wurden alle Assistenten übernommen – nur Jana nicht. »Ich bin kein großer Fan von Ihnen«, sagte Janas Chef und entließ sie. Im Jahr 2011 sah die Arbeitsagentur für Jana die letzte Möglichkeit. Während der Schulung des Callcenters schlief Jana zwar ein, doch der Job ging eine Zeit lang gut. »Immer, wenn ein neuer Kunde anrief, hatte ich einen kleinen Andrenalinschub. Das hat mich wach gehalten«, sagt Jana. Doch die Schlafstörungen wurden schlimmer. Jana konnte den Kunden nicht mehr zuhören, musste oft nachfragen, ihre Stimme klang monoton und fremdgesteuert. Jana ließ sich krankschreiben. Seit 2013 lebt sie allein von Arbeitslosengeld. Eine Erklärung für ihr seltsames Verhalten konnte Jana ihren damaligen Arbeitskollegen nicht geben – sie wusste selber nicht, was mit ihr los war. Eisenmangel, meinte ein Arzt und Jana stellte ihre Ernährung um. Innere Blutungen, vermutete ein Internist. Depressionen, sagte jemand. In einer Klinik sprach Jana lange mit einem Psychiater: Eine Depression ist es auch nicht. Als sie 2012 im Internet auf Narkolepsie stieß, erschien ihr das Wort wie eine Erlösung: endlich eine Erklärung.
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Manchmal sieht es für Außenstehende so aus, als wäre Jana plötzlich eingeschlafen. Wenn sie sich über einen Strauß Blumen freut, über einen Witz lachen muss oder sich erschreckt, reagieren ihre Muskeln mit einem Blackout. Im Dezember 2013 traf es Jana besonders hart. Mit ihrer neunjährigen Tochter Anjali hatte Jana ein Weihnachtskonzert besucht. Auf dem Weg nach Hause wollten sie eine Kreuzung überqueren. Neben ihnen wartete eine Schulfreundin von Anjali an der Ampel. Als es Grün wurde, lief das Mädchen los und wurde von einer abbiegenden Autofahrerin erfasst. Jana sah, wie das Kind durch die Luft flog und auf dem Asphalt liegen blieb. Janas Beine zuckten. Sie hörte, wie eine Frau schrie: »Das Mädchen kriegt keine Luft mehr!« Die Knie brachen zuerst ein, dann der Rest ihres Körpers. Regungslos blieb sie auf der Straße liegen. Passanten hievten Jana an den Straßenrand. Janas Gedanken waren derweil völlig klar. Sie fragte sich, ob das verunglückte Mädchen noch lebte. Tränen und Rotz liefen über ihr Gesicht. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Zunge gehorchte nicht. Die Sanitä-
Jana wollte etwas sagen, aber ihre Zunge gehorchte nicht.
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ter unterhielten sich, als wäre Jana nicht da. »Scheiße, ist die schwer. Kann die nicht mal ein bisschen mithelfen?« Im Krankenhaus zogen die Pfleger sie bis auf die Unterwäsche aus. Mit einer Kanüle im Arm lag Jana bewegungsunfähig auf dem Krankenhausbett. Erst als sie vor Kälte anfing zu zittern, kam jemand und legte ihr eine Decke über. Du musst dich beruhigen, sagte Jana sich immer wieder. Erst da ließ der Zustand langsam nach. »Ich bin wieder da«, sagte sie zu einem Pfleger. Jana hatte eine Kataplexie, eine Attacke, bei der die Muskeln schlagartig versagen. Janas Nacht ist zerstückelt; sie kommt und geht unvorhergesehen. Wenn es dunkel wird und alle anderen schlafen, liegt Jana wach. Am Tag, wenn die Freunde ihren Beschäftigungen nachgehen, muss sie immer wieder ausruhen. Wird die Müdigkeit zu groß, handeln Narkoleptiker wie Jana Preiß wie ferngesteuert. Das Gehirn ist nicht mehr ganz da, doch der Körper führt vertraute Bewegungen weiter aus. Manche Narkoleptiker legen in diesem Zustand viele Kilometer auf einem Fahrrad zurück, andere reden wirres Zeug. Jana stellt manchmal das Salz in den Kühlschrank und sagt »Langsam!« wenn sie »Schneller!« meint. Als Jana beim Kochen zum Spülmittel statt zum Öl griff, platzte ihrem damaligen Mann der Kragen. Er gab ihr eine Ohrfeige. Jana war völlig perplex. »Ich konnte mir mein Verhalten ja selbst nicht erklären«, sagt sie heute. Seit zwei Jahren sammelt Jana Preiß Befunde, Diagramme und Tabellen in einem dicken Ordner. Die zierliche Frau sitzt in ihrer Wohnung in Berlin Schöneberg und hat die vielen Blätter neben sich auf dem Sofa verteilt. Dort steht nichts von einer Narkolepsie: Ungeklärte Schlafstörungen, dissoziative Anfälle und Tagesschläfrigkeit haben die Ärzte stattdessen geschrieben. Für eine Diagnose reichen die Ergebnisse nicht. »Ich dachte wirklich manchmal, ich bin verrückt«, sagt Jana. Dann trifft sie in einer Selbsthilfegruppe auf Leute, denen es ähnlich geht wie ihr. Rolf Barthel ist der Leiter der Selbsthilfegruppe in Berlin. Barthel ist selbst Narkoleptiker. »Die Akte von Jana,
der Verlauf der Krankheit und die Symptome sprechen ganz klar für eine Narkolepsie«, sagt er. Jana hat eine Strategie entwickelt, um Einschlafattacken zu vermeiden. Wenn sie am Computer arbeitet, steht sie immer wieder auf, füttert die Katze oder gießt die Blumen. Sie schläft eine Extrarunde, um bei Treffen mit Freunden wach bleiben zu können. Meine Güte, warum schläfst du immer so viel, fragen viele Menschen aus ihrer Familie. Jana hört den Vorwurf in ihren Stimmen. »Ich ärgere mich ja selbst«, sagt sie. Im Yoga-Unterricht schläft sie ein, sobald sie sich hinsetzt. Oft merkt sie es nicht einmal. Jana plant ihren Tag genau. Steht ihr ein langer Weg durch Berlin bevor, legt sie sich vorher zwei Stunden hin. Wenn sie auf der Straße merkt, dass ihre Beine bedenklich wackeln, sucht sie sich eine Bank und schließt für ein paar Minuten die Augen. Wenn sie die Müdigkeit auf dem Fahrrad überkommt, steigt Jana ab und schiebt. Doch manchmal überschätzt Jana ihre Kräfte. Neulich wollte sie nur mal eben in den Supermarkt. Ihr Freund Nasir traf sie vor der Haustür. Von Müdigkeit benebelt torkelte Jana wie eine Betrunkene den Gehweg entlang. Aus ihrem Mund kamen statt Wörtern nur kehlige Laute. »So kannst du nicht einkaufen«, sagte Nasir. Er legte Janas Arme um seine Schultern und schleppte seine Freundin zum Supermarkt. Meistens lachen die beiden über solche Missgeschicke. Nach einer Untersuchung im Rückenmark besuchte Nasir Jana im Krankenhaus. Als Nasir ihr die Hand reichte, überschlug sich Janas Freude: Ihre Muskeln versagten, die Augen fielen ihr zu. Die Kataplexie-Attacke dauerte nur fünf Minuten. Nasir wartete geduldig und achtete darauf, dass seine Freundin bequem lag. So gehe es am schnellsten vorbei, hatte Jana ihm erklärt. »Wenn du jetzt jedes Mal so hin und weg bist, komme ich dich nicht mehr besuchen«, sagte Nasir im Scherz. Genervt ist Nasir nie. »Was kann Jana denn dafür«. Tagsüber, wenn Anjali in der Schule ist, schreibt Jana Geschichten für Erwachsene. Sie hat auch ein Bilderbuch gezeichnet: Ein gekränkter Sandmann streut einem kleinen Jungen den Sand für ein ganzes Jahr in die Augen. Das Arbeitslosengeld wird Jana Preiß nur noch ein halbes Jahr lang ausgezahlt. Mit einer Diagnose für Narkoleptiker könnte sie im Anschluss Rente beantragen. Und sie könnte Medikamente einnehmen: Ritalin, das ihr am Tag hilft, wach zu bleiben, und sanft dosierte K.O.-Tropfen, die ihr nachts etwas Schlaf verschaffen. Jana kämpft. Sie fährt 600 Kilometer nach Katzenelnbogen in Rheinland-Pfalz und verbringt dort mehrere Tage in einem Schlaflabor. Sie lässt sich Nervenwasser entnehmen, ihre Hirnströme messen, und wartet Monate auf Termine bei Spezialisten. Ihre Tochter findet das alles völlig normal. Wenn ihre Mutter in eine plötzliche Lähmung fällt, experimentiert Anjali an ihr herum: Sie hebt Janas Beine an, piekst mit den Fingern in ihre Augen und legt ihren Kopf auf Janas Bauch. Das Zwerchfell kann Jana während einer Kataplexie noch kontrollieren. Einmal Zucken mit dem Zwerchfell heißt Ja, zweimal Zucken heißt Nein. Jana hat ihr die Krankheit erklärt. Es ist, als würden ihre Batterien nie vollständig aufladen. Mit ihrem Sohn aus erster Ehe ist es schwieriger. »Du willst ja nur Aufmerksamkeit«, sagt der 27-Jährige, als Jana bei der Geburt seines Sohnes vor dem Kreißsaal eine Kataplexie hat und zusammenbricht. Er glaubt nicht an die Narkolepsie als Erklärung und wird wütend, wenn Jana anfängt, davon zu reden. »Er will nicht, dass seine Mutter krank ist«, sagt Jana, und sie kann das verstehen. Eine Diagnose wäre wie ein Beweis für beide: Dass Jana nicht einfach träge, und schon gar nicht durchgeknallt ist. • einsichten
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Text Bettina Malter Fotos Luisa Hanika
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L채cheln bis nach Mitternacht Doris ist eine der 채ltesten Bardamen Berlins. Die Kneipe im Bezirk Mitte ist ihr Leben. Doch noch vor null Uhr beginnt ihr Kampf
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Doris hat ein schmales Gesicht und ist jetzt 1,58 Meter groß. Zwei Zentimeter hat sich das Alter schon geholt. Sie hat ihr Haar wasserstoffblond gefärbt, den Pony rund geföhnt, das Seitenhaar nach hinten gegelt. Als gelernte Friseurin macht Doris das selbst. Die Augenbrauen hat sie nachgezogen, ihre Lider blau geschminkt. Sie trägt Hüftjeans, T-Shirt, darüber ein offenes Jeanshemd. Passend dazu Absatzschuhe im Jeanslook. An ihre Finger hat sie vier klobige Ringe gesteckt, blau wie ihre Kunstnägel. Doris ist eine schillernde Barperle – auch mit 69 Jahren noch. Um ihr rechtes Handgelenk trägt sie ein schwarzes, breites Band besetzt mit Glitzersteinen. Es soll ihre schmerzende Hand stützen. Aber unauffällig.
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Das Reich von Doris ist 25 Quadratmeter groß; ihr Thron ein Barhocker mit Lehne. Doris, fast 70, kippt mit dem Drehstab die Lamellen der Jalousien, schiebt einen Keil unter die Eingangstür. Es ist 18 Uhr. Ihre Bar geöffnet. Doris verwandelt sich zur Königin der Nacht. Auf ihre Stammgäste muss sie nicht lange warten. Moni ist die Erste an diesem Donnerstag. Die 49-jährige Altenpflegerin kommt Hand in Hand mit ihrem Freund: ein Mann mit Glatze und Wolfstattoo am Schädel. Kurz danach trotten Rentnerin Margot und ihr Kumpel Lemmi in die Bar. Damit ist der harte Kern komplett. Und für Doris beginnt die Arbeit. Aber was heißt Arbeit, wenn man noch im Rentenalter an ihr hängt. »Doris Bistro« ist eine der letzten Kiezkneipen um den Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte. Obwohl das Wort Kneipe Doris’ Laden nicht treffend beschreibt. Doris’ Bistro, geöffnet von Montag bis Freitag, ist eher eine Bar mit Großmutter-Wohnzimmerflair: holzverkleidete Decken, zwei Biedermeiersofas, Vasen mit getrockneten Blumen als Deko. Verteilt im Raum stehen Schirmlampen, auf einer Anrichte blubbert eine rote Lavalampe, Lichterketten hängen an der Wand. Ein Meer aus gedimmten Licht. Doris steckt sich eine Zigarette an und lauscht Moni, die von ihrer Tochter quasselt. Ganz links auf einem Barhocker sitzt Rentnerin Margot, die alle liebevoll Mama nennen. Ihr kleiner Dackel schlummert hinter ihr auf einem Sofa. »Hallo, hallo«, ruft Margot an ihrem Bier vorbei, zunächst ganz sanft und hoch wie ein Mädchen. Sie will Schnaps für alle bestellen, mal wieder auf ihren 79. anstoßen. Der ist zwar schon ein paar Wochen her; aber sie will prosten, so lange sie kann. Doris überhört das leise Stimmchen, lehnt unverändert am anderen Ende des Tresens.
Vor 24 Jahren hat Doris ihren Laden in der Brunnenstraße eröffnet. Eine Straße, die die Mitte Berlins mit dem Norden verbindet. Eine Straße, die einst durch die Mauer geteilt war. Auf der Ostseite wuchs Doris auf, hier lebt sie noch immer. Dort, wo heute der Bioladen ist, hatten ihre Eltern einen Friseursalon; gleich in der Nähe des U-Bahnhofes, dessen verriegelten Eingang früher DDR-Soldaten bewachten. Doris’ Wirtschaft war nach der Wende einer der ersten Imbissläden in der Gegend. Unter dem Namen »Doris Snackbar« verkaufte sie Döner, Pommes und Pizza. Als es immer mehr Buden gab, und die Leute eh mehr tranken als aßen, ließ sie 1995 einen Tresen einbauen und aus der Küche wurden Gäste-WCs. Seitdem heißt ihr Laden »Doris Bistro« und wo früher der Ventilator wirbelte, dreht sich heute eine bunt leuchtende Diskokugel. Statt Dosenbier gibt es Gezapftes. »Hallo!« Margot versucht es jetzt einen Zacken lauter. Sie schreit oft mehr als sie spricht. Doris dreht ihren Kopf. »Ich bin doch in einem Alter, in dem man nicht mehr hören muss«, antwortet sie; ernst im Ton und gleichzeitig mit so viel Herz, dass nur Fremde es als unhöflich missverstehen können. Doris’ Runde weiß es zu nehmen. Lemmi, der neben Margot sitzt, stupst sie an und kontert: »Lass sie doch erst mal das Hörgerät einschalten.« Und Doris schmettert ein Lachen aus sich heraus, dass Passanten es draußen hören können. Dann holt sie Schnapsgläser aus dem Tiefkühler und schenkt ein: Drei Korn, einen Pflaumenschnaps, einen aus Feige. Gläser hoch. Zum ersten Mal. In Doris’ Bistro trinkt keiner alleine. Jede Runde zahlt ein anderer. Ein gemeinnütziger Trinkverein. Gleich am Eingang hängt ein kleiner Fotorahmen mit Bildschnipseln: Verschiedene Männergesichter, dazwischen Doris, die Fratzen zieht. Viele auf den Bildern sind schon tot. Einige weggezogen, weil sie die Mieten in Mitte nicht mehr zahlen konnten. Doris ist eines der letzten Urgesteine in der Brunnenstraße. Inzwischen ist der Kiez voll von Szenebars und Cafés. Die meisten Wohnhäuser haben glattgebügelte Fassaden, in Baulücken wurden einige Luxus-Penthousewohnungen hochgezogen. Dazwischen stehen wie trotzige Erinnerungen Häuser mit altem Putz. Doris’ Bar ist in einem davon. Nach mehreren Schnapsrunden, als der kleine Zeiger der goldenen Wanduhr auf die Neun zusteuert, wechselt langsam das Publikum. Die Berliner Originale trinken nun zwischen Kreativen, Studenten und Touristen. Sie sind die Essenz eines Bezirkes, der sich mit der Gentrifizierung abgefunden hat. »Krieg ich was zu trinken, oder muss ich wieder gehen?«, ruft Renate, die gerade zur Tür hereingekommen ist und etwas
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Ehrlich und gemütlich: In Doris’ Bistro fühlen sich die Gäste wie in einem Wohnzimmer – Alteingesessene, Hipster und Touristen.
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hilflos vor den vollen Plätzen am Tresen steht. Ihr Stammplatz ist besetzt. »Renatchen, bist du auch wieder da«, ruft ein Student in Hemd und Sweatshirt. Sie setzt sich neben ihn, wird am Abend noch oft betonen, was für ein netter junger Mann das ist. Nur wenig später: Auftritt zweier Männer. Einer trägt Anzug, Schal und Sonnenbrille, der andere schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Hallo. Hallo. Küsschen. Küsschen. Der mit der Sonnenbrille hat grau meliertes Haar, ist schon mehr als zwanzig Jahre im Modegeschäft, früher bei Hugo Boss, jetzt freier Artdirector für Luxus-Modefirmen und Fashionshows. Der andere ist sein Assistent, 32 Jahre alt. In Doris’ Bistro haben die beiden Kreativen schon Partys mit ihren Models gefeiert. Viele hinterlassen Doris Erinnerungsstücke. An der Wand hinter der Theke steht ihr gläserner Geschenke-Altar. Nippes auf drei Etagen: Plastiktulpen, Glücksschweinchen, Gläser mit Dekosteinen; alles eng nebeneinander gestellt. Mittendrin Glasherzen mit Bildern von ihren zwei Töchtern. Die Ältere arbeitet nicht weit von hier auch in der Gastronomie. Die Jüngere ist Gewinnerin des Venus-Awards 2011. Ihr mit Blumen tätowierter Körper hängt über der Tür zur Toilette: ein Gruppenfoto mit bekannten Frauen aus der Erotikbranche. Es ist, als wäre man bei Doris zu Hause.
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1963 hat Doris das erste Mal geheiratet, 1993 das vierte und letzte Mal. Auch diese Ehe ging auseinander. Dass sie als Friseurin in der Gastronomie landete, hat eher mit Zufall zu tun und mit einem System, das Menschen drangsalierte, die nicht ins Bild passen. Freunde, die eine Bar hatten, in der sie oft feierte, baten sie einst einzuspringen. Das war 1974. Es machte ihr Spaß. Und da sie mit den politischen Fächern für ihren Friseurmeister haderte, schmiss sie ihren Job hin, ging für ein paar Jahre nach Moskau und arbeitete in einer Nachtbar, später an der Berliner Volksbühne als Kellnerin am Buffet. So machte Doris die Nacht zu ihrem Element. Inzwischen ist es nach zehn. Und die Königin der Nacht schenkt den beiden Kreativen Bier in Tulpen aus. Sie schiebt die schwarze Brille mit den kleinen Glitzersteinchen aus dem Haar auf ihre Nase. Zieht ihre Striche auf einem Bestellblock. Eine Kasse hat sie nicht. Nur eine Geldkassette, auf die sie jetzt einen Tablettenstreifen legt. Sie will ihre Medikamente nicht vergessen. »Für den Blutdruck«, sagt Doris zu dem Artdirector, der sie fragend anschaut. Sie lächelt ihm zu, schäkert, wippt zur Musik. »Aber erst in einer Stunde«, ruft Doris mit einem Glas Jim-BeamCola in der Hand, ihrem Lieblingsgetränk. Sie tanzt zu den Gästen auf der anderen Seite der Theke, im Takt stechen die Zeigefinger Löcher in die Luft. Ohne ihren Laden wäre Doris verloren, wissen ihre Gäste. Doris selbst sagt: »Ich werde den Tag schon irgendwie rumkriegen.« Solange sie kann, sieht sie keinen Sinn darin, zu Hause zu sitzen. Auch weil sie wenig Rente bekommt. Aber darüber will sie nicht reden. Seit Jahren war sie nicht mehr im Urlaub. Weil sie ohne ihren Laden nicht kann. In den Neunzigern versuchte sie es mit Marokko. Schon nach vier Tagen reiste sie zurück. Zwei neue Gäste sitzen am Tresen. Ein Paar aus Kanada. »Two Pils«, sagt er und hält zwei Finger hoch. Doris spricht kein Englisch, nickt aber. »Na klar, na klar«, antwortet sie fröhlich und wackelt zur Zapfsäule. Ihre Absatzschuhe sind zehn Zentimeter hoch. Schon während ihrer Lehre als Friseurin Ende der Fünfziger ging es darum, die höchsten zu haben. Im Lagerraum, hinter einer Falttür gegenüber den Toiletten, stehen einige Exemplare: Leopardenlook, schwarz mit Kirschen und Plateau, knalliges Blau mit silbernem Absatz. Nach einem kurzen Schwatz ermutigt der Artdirector das kanadische Paar, einen Schnaps zu trinken. Was typisch Deutsches.
»Schatz, hast du einen Obstler oder etwas in die Richtung?«, fragt er Doris. »Wat hab ick?«, antwortet sie und legt die Stirn in Falten. »Einen deutschen Schnaps?« »Korn.« Alle nicken. Doris gießt ein. Die Gläser stellt sie auf den Tresen, die kleinen Finger abgespreizt wie eine Lady. Einige Gäste verabschieden sich, neue drängen ins Bistro. Doris genießt den Rummel bei einer Zigarette. Und einem weiteren Glas Jim-Beam-Cola. Bei jedem schönen Lied dreht sie die Musik lauter, besonders gern bei Helene Fischer. Ab und an singt sie mit. Inzwischen kann man Doris nur noch schwer verstehen. Einige Gäste helfen ihr nun beim Zapfen, andere gucken, dass sie keinen Strich auf ihren Bestellzetteln vergisst. Gegen halb zwölf beginnt Doris’ Kampf. Sie beißt sich auf die Unterlippe. Ihr ausgelassenes Lachen ist verschwunden. »Schluss, Schluss, Schluss«, murmelt sie vor sich her, als müsste sie sich Mut zusprechen, den Feierabend einzuläuten. Doch sie tut es nicht. Die Schlagerklassiker dröhnen aus den Lautsprechern über ihr. Der Laden ist voll. Die Studenten lachen, tanzen, trinken. Sie setzt ihr Mitternachtslächeln auf, wie eingefroren. »Du sagst, wenn du Feierabend machen willst«, sagt der Artdirector. Doris antwortet nicht, tut so, als würde sie ihre Zeigefinger anlecken und mit ihnen die oberen Wimpern an die Lider drücken. Es ist ihr Zeichen, dass sie durchhalten muss. Noch oft wird sie ihren Schluss-Satz murmeln, ansonsten nicht mehr viel sagen. Mit zuckenden Schultern und erhobenen Händen wimmelt sie neue Gäste ab. Erst kurz nach eins lässt Doris ihr Reich hinter blickdichten Jalousien verschwinden. Sie knipst nach und nach die Lichter aus. Wankt zum Lagerraum, wo sie ihre Absatzschuhe abstreift. Nach Hause geht die Königin der Nacht in flachen Schuhen. •
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Mit ihren fast 70 trägt Doris zehn Zentimeter hohe Absatzschuhe. »Um mir Respekt zu verschaffen«, sagt sie und lacht.
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Ihre Stadt ist nicht mehr sicher, sagen sie. Als Bürgerwehr wollen sie selbst für Ordnung sorgen. Auf ihrer ersten Patrouille fahnden sie nach einem Exhibitionisten – mit Schlagstock und Gaspistole
Die Jäger von Rostock einsichten
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Text Nina Marie Bust-Bartels
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Es ist dunkel in diesem Viertel Rostocks, keine Straßenlaternen, nur der Mond fast voll. Maik Eggert patrouilliert, fünf sind an seiner Seite heute Nacht. Sie mustern die Umgebung, ihre Augen sind immer wachsam. Ein ungewöhnliches Geräusch? Eine verdächtige Person? Seit Monaten ist ein mutmaßlicher Exhibitionist in Rostock unterwegs. Hinter ihm sind sie her. Es geht durch Wälder und über verwilderte Wiesen, auf denen die Brennnesseln hüfthoch wuchern, zu abgelegenen Skaterbahnen und Spielplätzen. An diesen Orten, die sie »Brennpunkte« nennen, schauen sie nach dem Rechten, sagen sie. Sie bezeichnen sich als Bürgerwehr. Maik Eggert hat sie gegründet. Der 28-Jährige trägt eine schwarze Cordjacke, ihr Schnitt erinnert an eine Fliegerjacke. Sie unterstreicht seine breiten Schultern und muskulösen Oberarme. Fast übersieht man, wie klein er ist. Seine blonden Haare sind raspelkurz, früher war sein Kopf glatt rasiert. Damals arbeitete er noch bei einer Sicherheitsfirma. Heute bezieht er Hartz IV, fährt abends Pizza aus und ist jetzt Anführer der Bürgerwehr. Im Mai gründet Maik Eggert die Facebookgruppe »Bürgerwehr Rostock«; an den ersten zwei Tagen treten über 500 Leute der Gruppe bei. Seit Wochen diskutieren sie online – über die Polizei, die zu wenig Streife fährt, über die Sicherheit ihrer Kinder und über den mutmaßlichen Exhibitionisten, den die Polizei noch immer nicht geschnappt hat. Sechs der mittlerweile über 600 Mitglieder der Gruppe wollen an diesem Abend im Mai versuchen, was Eggert auf Facebook schon ankündigte: »Dass WIR den Exhibitionisten schnappen können, ist realistisch!« Sie haben sich für die Nacht verabredet. Nicht nur, weil sich der mutmaßliche Exhibitionist oft in den späten Abendstunden gezeigt haben soll, auch, weil sie die Nacht brauchen. Die Nacht
Fotos Ruben Riermeier
ist die Zeit der zwielichtigen Gestalten, in der Nacht ist die Angst zu Hause. Zu keiner Zeit ist das Bedürfnis nach Sicherheit größer. Und die Männer halten sich für die Sicherheit. Maik Eggert kommt wie viele bei der Bürgerwehr aus Dierkow, einer Plattenbausiedlung im Rostocker Osten. Roter Backstein, unverputzt, dazwischen graue Betonplatten. Gleichförmig reiht sich Balkon an Balkon. Nach Dierkow zu ziehen, heißt günstig wohnen. Die Siedlung wurde in den achtziger Jahren gebaut, damals wuchs Rostock noch. Von jeder Laterne hängen Plakate der NPD, der Republikaner oder der Slogan »Mut zu Deutschland«. In Dierkow ist man nie alleine, die vielen Gesichter an den Fenstern immer wachsam. Auch nachts scheinen sie einen nie aus den Augen zu lassen. Mit der Bürgerwehr wird Dierkow noch wachsamer. »Wachsam reicht nicht«, sagt Maik Eggert. »Man muss auch bereit sein, einzugreifen.« Heute Nacht wollen sie eingreifen. Treffpunkt ist eine Tankstelle am Rand der Siedlung. Zwischen der Waschstraße und einem großen Müllcontainer stehen die sechs Freiwilligen im Kreis und rauchen. Dann öffnet Eggert den Kofferraum seines Wagens. Auf den Kindersitzen seiner Töchter steht eine Pinnwand. Hier hat er alles gesammelt, was die Polizei über den Gesuchten veröffentlicht hat. Auf dem Phantombild sieht der mutmaßliche Exhibitionist unscheinbar aus: sehr kurze Haare, tiefe Augenhöhlen, markante Augenbrauen. Die glasigen Augen und sein schmaler Mund mit den leicht herabhängenden Mundwinkeln lassen ihn traurig wirken. Neben dem Bild eine Karte von Rostock. Reißzwecken markieren die Orte, an denen er angeblich gesehen wurde: Skaterbahn Dierkow, Bushaltestelle Hafenbahnweg, Uferweg an der Warnow. Eggert bringt die Gruppe auf den neuesten Stand. Die Zigarette im Mundwinkel wippt, wenn er spricht. Neben ihm rauchen Tilo T. und Christopher K., Ende Zwanzig, groß, breitschultrig, die Köpfe kahl rasiert. Hinter ihnen steht Nino A., kurze Haare, Camp David Jacke. Und Daniela G., die einzige Frau heute, kurze Haare, graues Sweatshirt. Chriss – mit SS, wie er betont – ist mit Anfang 20 der Jüngste der Truppe. Er ist schlaksig und trägt eine schwarze Lederjacke. Weder sein Foto noch seinen Nachnamen möchte er veröffentlicht wissen. Chriss hat einen Waffenschein, an seiner schmalen Hüfte hängt seine Gaspistole. Wenn er sie in der Hand hält, sieht sie aus wie eine echte Pistole. Ohne sie verlässt er nie das Haus. Lagebesprechung. »Wir müssen uns in ihn hineinversetzen«, sagt einer von ihnen. »Ich glaube, der ist von hier, so gut, einsichten
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Ex-Marinesoldat Maik Eggert arbeitete früher für einen Sicherheitsdienst. Heute ist er Pizzafahrer, in seiner Freizeit Anführer der Bürgerwehr.
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Tatort Skaterbahn. Hier soll sich der Exhibitionist vor zwei Mädchen entblößt haben. Jetzt zeigt die Bürgerwehr Präsenz.
wie der sich auskennt«, sagt ein anderer. Zwei Zigaretten lang diskutieren sie. Tatorte, Fluchtwege, mögliche Verstecke. Bei der dritten Zigarette geht die Sonne unter. Jetzt ist es dunkel, jetzt geht es los. Eine Bürgerwehr zu gründen ist legal. »Wir dürfen Verdächtige vorläufig festnehmen«, erklärt Anführer Eggert. Er hat sich informiert. Die sogenannte Jedermann-Festnahme erlaubt jedem Bürger, einen mutmaßlichen Täter festzuhalten, bis die Polizei auftaucht. »Das hat nichts mit Selbstjustiz zu tun«, betont er. Den Exhibitionisten hält Eggert nur für eine seiner Aufgaben. »Wir sind für alle Straftaten zuständig«, sagt er. Aber der Exhibitionist bietet die perfekte Legitimation für ihr Treiben. Seit Monaten zeigt er sich in Rostock, der Polizei ist es bisher nicht gelungen, ihn festzunehmen. Der Exhibitionist ist feige, findet Eggert, er stellt sich immer in sicherer Entfernung auf, bevor er sich entblößt. Und er hat sich noch nie in Wohngebieten gezeigt, wahrscheinlich weiß er, dass er dort leichter geschnappt werden kann. Maik Eggert versucht, sich in ihn hinein zu denken. Er plant ganz genau, wo die Bürgerwehr nach ihm suchen soll. Zusammen ziehen sie ein Netz mit ihren Patrouillen, ziehen es immer enger. Sie wollen ihn schnappen, sie verachten ihn. »Wenn ich nicht was tue, tut es keiner«, sagt Diana Eggert. Wenn seine Frau bei der Patrouille neben ihm läuft, greift Maik Eggert nach ihrer Hand. Diana Eggerts Kleid ist pink kariert, darüber trägt sie eine schwarze Fleecejacke. Sie ist groß. Neben ihr wirkt selbst ihr breitschultriger Ehemann schmächtig.
Lagebesprechung. Maik Eggert bringt die Männer auf den neuesten Stand - Tatorte, Fluchtwege, mögliche Verstecke: »Wir müssen uns in ihn hineinversetzen.«
Das Ereignis, das die Eggerts dazu brachte, die Bürgerwehr zu gründen, liegt drei Wochen zurück. Es geschah in Dierkow, vor ihrem Haus. Diana Eggerts Tochter Desirée lief mit ihrer Freundin auf der Straße Inlineskates, als ein Mann sie ansprach. Er würde sie gerne zu McDonald’s einladen, sagte er. Und dann: »Zieht euch schnell andere Schuhe an und sagt ja euren Eltern nichts.« Wenn Diana Eggert diese Geschichte erzählt, zittert ihre Stimme. Die Mädchen fuhren damals nicht mit dem Fremden davon, sondern liefen heim und Diana Eggert rief die Polizei. Die brauchte eine halbe Stunde, da war der Mann längst weg. »Dieser Mann wollte meine Tochter mitnehmen und die Polizei sagt, es liegt keine Straftat vor«, sagt Diana Eggert empört. Daraufhin gründete Maik Eggert die Facebookgruppe »Bürgerwehr Rostock«. Online diskutieren die Mitglieder über Kinderschutz und die Untätigkeit von Polizei und Justiz. Sie posten Berichte und Videos von Verbrechen, fordern zu veröffentlichen, »wo dieser Abschaum wohnt«. Ob es sich um Täter oder Tatverdächtige handelt, interessiert sie nicht. »Wäre man immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort, würd’s KNALLEN!«, schreibt ein Maik S. Das sagte 1992 auch die Bürgerwehr aus Rostock-Lichtenhagen. Kurz darauf knallte es, Unterkünfte von Asylbewerbern brannten. »Bitte keine Aufrufe zur Gewalt!«, postet Maik Eggert. Die meisten Drohungen seiner Mitstreiter löscht er. Nicht die seiner Frau. »Packst du mein Kind an, hast du ab morgen Pflegestufe 5«. 17 Personen gefällt das. »Lasst uns gemeinsam unsere Stadt sauberer machen und uns gemeinsam gegen schlechte Menschen einsichten
kämpfen«, postet Carolin R. 14 Personen gefällt das und Kitty H. kommentiert: »Oh ja... Bekomme Gänsehaut«. Die erste Station der Bürgerwehr liegt gleich bei den Eggerts um die Ecke. Eine Skaterbahn wird von Büschen verdeckt, hinter der Bundesstraße, nahe den Bahngleisen. Hier soll sich der Exhibitionist zwei Mädchen gezeigt haben. Jetzt knutschen oben auf der Halfpipe zwei Teenager im Schutz der Dunkelheit. Als die Bürgerwehr näher kommt, stehen die beiden auf und verschwinden. »Wir wollen Präsenz zeigen«, sagt einer der Männer aus der Patrouille. Zehn Minuten stehen sie im Kreis, rauchen, zeigen Präsenz. Dann geht es weiter. Zwischen dem Stadtteil Dierkow und der Rostocker Altstadt liegt die Unterwarnow, eine Ostseebucht. Viel verwildertes Brachland. In zwei Reihen schreiten die Leute von der Bürgerwehr durch die Nacht, außer ihnen ist kaum jemand unterwegs. Plötzlich entdeckt einer von ihnen ein Loch im Zaun. »Das könnte ein Fluchtweg gewesen sein«, sagt Tilo T.. Sie klettern durch das Loch, folgen einem Trampelpfad. Auf dem Boden liegt eine zerbrochene Bierflasche. »Sehr verdächtig«, meint Tilo T. »Der Täter wurde hier ganz in der Nähe mit einer Bierflasche gesehen.« Die Männer reden wie Kriminalbeamte. Wie viele Bürgerwehren es in Deutschland gibt, ist unklar. Niemand hat sie gezählt. Die Polizei sieht Bürgerwehren gar nicht gerne. Sie suggerieren, der Staat erfülle seine ureigenste Aufgabe nicht mehr. Die Rostocker Bürgerwehr würde gerne mit der Polizei zusammenarbeiten. »Vielleicht bekommen wir ja mal ein Büro bei denen«, scherzt Tilo T. Die Rostocker Polieinsichten
zei hat sich mit den Eggerts ausgetauscht. Man wolle aber nicht mit der Bürgerwehr kooperieren. Am Ufer der Ostseebucht die zweite Lagebesprechung. Die Männer beugen sich über Eggerts Stadtplan, hinter ihnen die Lichter der Stadt. In der Stille der Nacht dämpfen die Männer ihre Stimmen. Da fährt ein hagerer Mann auf einem Fahrrad an der Gruppe vorbei. Langsam, schon zum zweiten Mal. Plötzlich steigt er ab, fotografiert die Landschaft. Kurzer Blickkontakt, einvernehmliches Nicken, Tilo T. und Chriss gehen auf den Radfahrer zu, zielstrebig, mit großen Schritten.
»Packst du mein Kind an, hast du ab morgen Pflegestufe 5«
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Bevor sie ihn erreichen, steigt er hektisch auf sein Rad und fährt los. Kurz zögern die Männer, dann lassen sie ihn ziehen. »Hätte er sein können«, sagt Tilo T. Wer sich einer Bürgerwehr anschließt, nimmt in Kauf, Gewalt anzuwenden. In den Nächten von Rostock sind fast nur Männer auf Patrouille. Obwohl sich in der Facebookgruppe der Bürgerwehr viele Frauen an den Diskussionen beteiligen, sind es fast nur Männer, die auf die Straße gehen. Maik Eggert zieht eine kleine Spraydose aus seiner Tasche, auf dem Etikett rote Flammen. Nur zur Verteidigung gegen Tie-
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Auf der Spur des Exhibitionisten durchstreifen die Männer Wälder und Wiesen. Sie dürfen Verdächtige vorläufig festnehmen, sagen sie.
re, fügt er schnell hinzu. Seinen Schlagstock kann er zusammenklappen. Dann sieht er ganz harmlos aus. Sobald Eggert ihn schwingt, fährt er sich automatisch aus. Zu seinen Luftschlägen macht Eggert Geräusche wie in einem Actionfilm. Die anderen Männer lachen. Früher war Maik Eggert bei der Marine, aber er wurde ausgemustert. Asthma. Dann ging er zu einem Sicherheitsdienst. Eggert schützte Veranstaltungen. Einmal musste er bei einem Dorffest eine Horde randalierender Nazis rausschmeißen. Dass er damals selber frisch rasiert war, hat ihm geholfen. Kameraden hat er die Männer genannt und sie haben auf ihn gehört. Jedenfalls erzählt er das so. Man hört den Stolz in Eggerts Stimme. »Ich brauche meine Praxis«, sagt er. Für seine Bürgerwehr will er bei der »German Fight Company« anfragen. Im Rostocker BoxClub könnten die Mitglieder der Bürgerwehr ein Nahkampf-Training bekommen. »Wir wollen den Menschen das Sicherheitsgefühl wiedergeben«, sagt Eggert. Die Bürgerwehr steht noch ganz am Anfang, aber ihre Mitglieder haben weitreichende Pläne. Irgendwann wollen sie T-Shirts drucken, um einheitlich auftreten zu können. Chriss will seine Hunde mitbringen. Christopher K. will bei Schulen im Rostocker Osten anfragen, ob die Bürgerwehr auf Pausenhöfen aufpassen darf. Drei Tage nach der ersten Streife ihrer Bürgerwehr treffen sich die fünf Männer wieder. Ein neuer Freiwilliger ist hinzugekommen, er will weder seinen Namen noch sein Foto veröffentlicht wissen. Außerdem ist Diana Eggert dabei.
Diesmal ist die Stimmung angespannt, fast aggressiv. Auf der Website »Blick nach Rechts« ist ein Artikel über die Rostocker Bürgerwehr erschienen. Er beschreibt die Verbindungen, die einige Mitglieder der Facebookgruppe zur rechten Szene haben. »Das war wie ein Schlag ins Gesicht«, sagt Maik Eggert. Er hat den Artikel auf Facebook gepostet. In der Online-Bürgerwehr tobt eine Debatte, einer schreibt: »Lügenpresse auf die Fresse.« »Ja, wir haben Rocker und Nazis in unserer Gruppe«, sagt Eggert. Das habe aber keinen Einfluss auf die Arbeit der Männer. »Die Bürgerwehr ist unpolitisch.« Sie sind keine Nazis, sagen sie. Nazis, das sind die anderen. Maik Eggert liked auf Facebook die Republikaner. Er ist mit zwei Anwälten aus der rechten Szene befreundet, macht auf seiner Facebookseite Werbung für sie. Und: Eggert hat Sascha Herdermann, einen in Rostock bekannten Neonazi, in die Facebookgruppe der Bürgerwehr eingeladen. Warum? Weil Eggert will, dass Herdermann ihn auf den Patrouillen begleitet? Es ist fast Mitternacht in Rostock-Dierkow, als Chriss plötzlich seine Waffe zieht. Zielsicher richtet er sie ins Unterholz, auf die Stelle, an der sich gerade etwas geregt hat. Die Bürgerwehr steht unbeweglich da, die Männer lauschen. Es ist stockfinster, der Mond hinter einer Wolke verborgen. Das Gestrüpp wuchert dicht und hoch – unmöglich zu erkennen, wer oder was das plötzliche Rascheln verursacht hat. Dann fangen die Männer an zu lachen. Es ist nur ein Wildschwein, grunzend springt es davon. Chriss’ Gesichtszüge entspannen sich. Er atmet aus, lässt seine Gaspistole sinken. Reflex, sagt er und lacht seine Verlegenheit weg. • einsichten
Wollen den Menschen das Sicherheitsgefühl wiedergeben: Tilo T., Maik Eggert, Christopher K., Nino A. (von links).
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Text Sophia Münder
Fotos Daniel Kovalenko
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Ans Ziel träumen
Im Schlaflabor in Mannheim werden Klarträumer getestet. Nur wenige Menschen beherrschen diese Fähigkeit von Natur aus, die meisten bringen sich das Klarträumen bewusst bei. Die Lieblingsbeschäftigungen sind Fliegen und Sex. An Rechenaufgaben hingegen scheitern alle.
Im Schlaf den perfekten Torschuss üben oder sich selbst beim Kung-Fu beobachten – Klarträumer können ihre Träume bewusst lenken. Forscher verordnen ihnen deshalb Training im Traum. Verfolgt uns der Optimierungswahn bis ins Bett? einsichten
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Der Maschinenbau-Student träumt seit drei Jahren klar. In seinen nächsten Träumen will er seinen Schweinehund zur Rede stellen und ihn fragen, warum er selber immer alles aufschiebt. Die Forscherin redet in ihren Träumen am liebsten mit anderen Traumcharakteren.
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Als sie ihren ersten Klartraum hatte, war Melanie Schädlich 19 Jahre alt. In ihrem Traum stand sie in der Wohnung ihrer Eltern in Auerbach im Vogtland. Und dann passierte etwas Seltsames. Sie merkte, dass sie träumte. Sie hatte das Gefühl, bestimmen zu können, was in ihrem Traum geschehen sollte. Damals schwärmte sie für Johnny Depp. »Und dann stand er auf einmal da. Das war so aufregend, dass ich ganz schnell aufgewacht bin.« Melanie Schädlich hatte einen Klartraum. Sie konnte im Schlaf eine Welt herbeizaubern, in der sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Sie war Regisseurin ihres eigenen Traums. Mit einem Test kann der Schlafende zwischen Traum und realem Leben unterscheiden. Eine bewährte Methode ist das Zuhalten der Nase: Wenn ich trotzdem atmen kann, träume ich. Denn im Traum ist nichts unmöglich: fliegen. Durch Wände gehen. Unter Wasser atmen. Sex mit Scarlett Johansson. Laut einer Studie der deutschen Traumforscher Michael Schredl und Daniel Erlacher hatten etwas über die Hälfte der 1000 Deutschen, die befragt wurden, schon einmal in ihrem Leben einen Klartraum. Das bewusste Fühlen und Erleben im Traum hat Melanie Schädlich fasziniert. Ihre Begegnung mit Johnny Depp ist jetzt zehn Jahre her. Inzwischen ist sie 29 Jahre alt, hat kastanienrote Haare bis zum Kinn und blaugrüne Augen. Melanie Schädlich ist Traumforscherin. Sie steht im Schlaflabor im Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, einem Siebziger-Jahre-Bau mit rauen, aschgrauen Betonwänden, der an eine Kaserne erinnert. Über dem Labor liegt die geschlossene Psychiatrie. 22.04 Uhr Melanie Schädlich hat sich bequem angezogen, die Jeans durch orangefarbene Pluderhosen ersetzt, bunte Wollsocken über die Strümpfe gezogen. Denn die Nacht wird lang. Auf ihren eigenen Traum muss sie heute verzichten. Melanie Schädlich will für ihre Doktorarbeit beweisen, dass man etwas, das man im Traum trainiert hat, im realen Leben besser machen kann. Dafür lässt sie ihre Probanden Darts spielen: zuerst vor dem Schlafen, dann im Klartraum, und am nächsten Morgen. Der Traum als Trainingsraum. Das ist ihre Vision. 22.43 Uhr Vorsichtig befestigt Schädlich 14 Elektroden am Kopf ihres Probanden. Ciro Quattroventi, 24 Jahre alt, schulterlanges schwarzes Haar, ist Maschinenbau-Student aus Dortmund. Quattroventi sitzt auf einem Stuhl im Schlafzimmer des Labors. Mit einem roten Lipliner markiert Schädlich die Punkte auf seinem Kopf, an denen die Elektroden sitzen werden. Danach drückt sie aus einer Tube eine weiße, kaugummiartige Paste, die sie mit einem Q-Tip auf die markierten Stellen tupft. Dann drückt sie mit den Fingern die Elektroden fest. Die Paste dient der Leitfähigkeit und hält sie an ihrem Platz. Die Elektroden werden der Forscherin Hirnströme, den Muskeltonus und die Augenbewegungen ihres Probanden auf ihren Computer im Nebenraum übertragen. Rund acht Stunden lang wird sie Quattroventis Schlaf überwachen. Vor allem auf die Rapid-Eye-Movement-Phasen (REM),
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Die Forscherin überwacht die Schlafphasen ihres Probanden am Computer. Anhand der Linien kann sie genau erkennen, ob er gerade im Traum Darts spielt. Anschließend misst sie erste Trainingserfolge an der Dartscheibe.
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die durch schnelle Augenbewegungen gekennzeichnet sind, wird Schädlich achten. Die meisten Träume finden in dieser Zeit statt. Ein zweites Leben, das den meisten Menschen verborgen bleibt. Künstler und Musiker sagen, sie würden den Klartraum nutzen, um sich zu inspirieren. Sogar Mathematiker behaupten, im Klartraum nach Lösungen für abstrakte Probleme zu suchen. Der Schweizer Dressurreiter Sadko Solinski soll im Klartraum gelernt haben, die Welt durch Pferdeaugen, über Pferdeohren und über die Witterung eines Pferdes wahrzunehmen. Paul McCartney soll sich »Yesterday« erträumt haben. Salvador Dalí soll sich Inspirationen in Klarträumen geholt haben. Melanie Schädlich will beweisen, dass das wirklich funktioniert. Es sei alles ganz logisch, sagt sie. Im Klartraum bekomme man einen anderen Blick auf die Dinge. Die Perspektive könnte gewechselt werden. Als ein Kung Fu-Kämpfer sich im Traum beim Training beobachtete, stellte er fest, dass er bei den Übungen immer den Arm zu hoch hielt, erzählt Schädlich. Ihre Stimme klingt aufgeregt, wenn sie davon spricht. Sie will, dass jeder die Möglichkeit hat, sich wie Dalí im Traum inspirieren zu lassen. Heute Nacht soll Schädlichs Proband auf Anweisung träumen. Sie wird ihn gezielt in seinen Traum eingreifen lassen. Ihre Überwachungskamera wird ihn im Schlaf filmen. Eine Gegensprechanlage verbindet sie mit dem Probanden im Schlafzimmer. Wenn Quattroventi erkennt, dass er träumt, wird er das Melanie Schädlich signalisieren, indem er mehrere Male von links nach rechts mit den Augen rollt. Wenn Quattroventi das Signal gibt, erscheinen auf Schädlichs Bildschirm im Nebenraum nicht
wie sonst zackige Linien, sondern gleichmäßige Fingerhut hohe Wellen, die aussehen, als hätte sie ein Kind gemalt. Dann wird es seine Aufgabe sein, sich eine Dartscheibe zu erträumen und Dart zu spielen. Trotzdem sieht die Forscherin nicht, was er im Traum erlebt – aber er wird es ihr am nächsten Morgen berichten. Die Dartscheibe hängt im Flur vor dem Labor: Neon-Röhren tauchen den Gang in kaltes Licht. Kabel und Isoliermaterial hängen aus der Decke. Vor dem Befestigen der Elektroden hat Quattroventi hier im Wachzustand seinen ersten Dartpfeil geworfen. Die Szene wirkt so unreal, als sei sie selbst aus einem Traum. Sorgfältig notiert Schädlich die Treffer auf ihrem Notizblock. Er wirft zehn Mal drei Pfeile. Er schlägt sich gut. Seine durchschnittliche Trefferzahl beträgt 5,85. Wenn Ciro Quattroventi am nächsten Morgen eine bessere Trefferquote erreicht, wäre das der Beleg dafür, dass man im Schlaf trainieren kann, wie es im Wachzustand nicht möglich ist. Von dieser Erkenntnis könnten viele profitieren, sagt die Forscherin. »Beim Springreiten springst du einfach, weil du weißt, du kannst dich nicht verletzen. Das ist ein großer Vorteil des Trainings im Traum«. Ein Klartraum könnte auch helfen, Ängste und psychische Blockaden zu überwinden. Wer Angst hat, vor vielen Menschen zu sprechen, könnte im Traum seine Referate üben. »Vielleicht stellt das Publikum sogar Fragen«, sagt Schädlich. Eigentlich ist der Traum ein Schutzraum, in dem wir uns treiben lassen können. Die meisten Menschen würden noch
nicht mal ihrem Liebespartner erzählen, wovon sie träumen. Wenn dieser Schutzraum nun zum Trainingsraum wird, wohin können wir uns dann noch zurückziehen? Für die Forscherin überwiegt das Positive. »Der Klartraum hat enorm viel Potenzial«, sagt sie. Das Gehirn sei auch im normalen Traum sehr aktiv. »Nur ein paar Bereiche des Gehirns zeigen eine höhere Aktivität«. Dem Schlafenden werde keine Erholung genommen.
00.47 Uhr Quattroventi schläft ein. Im Laufe der Nacht wird Schädlich fünf REM-Phasen bei ihm beobachten. Wenn er mit den Augen zuckt, wird sie gebannt vor dem Bildschirm sitzen, den Stift an den Lippen. Ab und zu wird sie flüstern: »Nein, nicht aufwachen. Noch ein bisschen« und »Komm, werd´ mal klar!« Doch in dieser Nacht gibt Quattroventi kein Augensignal. Melanie Schädlich kann ihre These in dieser Nacht nicht bestätigen. Ihre bisherigen Versuche aber haben ihr erste Belege für ihre Vermutung geliefert. Fünf von sechs Probanden hätten im Klartraum Dartpfeile geworfen und dadurch ihre Leistung am nächsten Morgen gesteigert, sagt Schädlich. Die Tendenz gehe dahin, sich durch das Training im Traum zu verbessern. Aber genau könne sie das erst sagen, wenn sie auch die Vergleichsgruppen getestet hat. 9.45 Uhr Melanie Schädlich weckt ihren Probanden durch die Gegensprechanlage auf. Quattroventi setzt sich wieder auf den Stuhl im Schlafzimmer. Melanie Schädlich beginnt, die Elektroden vorsichtig von seinem Kopf zu lösen. Die beiden fachsimpeln noch ein bisschen über das Klarträumen. Schädlich erzählt ihrem Probanden, manchmal habe sie Probleme, sich eine bestimmte Szenerie herbei zu träumen. »Einmal wollte ich über eine Alpenlandschaft fliegen, aber plötzlich hatte ich ein Industriegebiet unter mir.« Quattroventi kennt das Problem. Die beiden wirken wie Bewohner einer Welt, die sonst niemand kennt. •
Jahre und vier Monate schlafen die Deutschen durchschnittlich in ihrem Leben
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Phasen durchleben wir: den Wachzustand, den Non-REMSchlaf, zu dem der Leicht- und Tiefschlaf zählt und den REM-Schlaf
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Mal pro Nacht durchlaufen wir in etwa den Zyklus aller drei Schlafphasen
90
Minuten beträgt der Abstand zwischen zwei REM-Phasen
Die Evangelische Journalistenschule (EJS) vermittelt in vierwöchigen Kompaktkursen für Volontärinnen und Volontäre aus Redaktionen, Agenturen und Pressestellen solides journalistisches Handwerk und legt die Grundlagen zum crossmedialen Arbeiten. ∙ Recherchetraining ∙ Online-Recherche ∙ Videojournalismus ∙ Reportage ∙ Nachricht, Bericht, Kleintexte, Stilkritik ∙ Kommentar/Glosse ∙ Kulturjournalismus ∙ Presserecht ∙ Interviewtraining vor der Kamera ∙ Arbeiten als Freie Unsere Dozentinnen und Dozenten sind erfahrene Praktiker und arbeiten für angesehene Medien (Die Zeit, Der Spiegel, Evangelische Pressedienst, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, taz - die tageszeitung, rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg etc.) In den Seminarablauf sind Besuche bei der Bundespressekonferenz, dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag und ein Theaterbesuch integriert. Die Seminarräume sind modern, verfügen über neueste Technik und liegen zentral in der Hauptstadt am Bahnhof Zoologischer Garten. Ein TV- und Hörfunkstudio ist vorhanden.
Gebühr jeweils 1.500 Euro (inklusive Seminarbewirtung und ausgewählte Tages- und Wochenzeitungen) Teilnehmer maximal 16, mindestens 10 Für unsere Kompaktkurse können wir die Anerkennung als Bildungsurlaub beantragen. Es besteht die Möglichkeit, die Kursgebühr mit einem Bildungsscheck zu bezahlen. Wir vermitteln Ihnen gerne Unterkünfte.
60
Minuten lang kann ein Traum in der REM-Phase dauern. Die meisten Träume sind kürzer
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Noch wenige freie Plätze für 2014!
Termine für Kompaktkurse 2014: Volontärkurs III 22.09. – 17.10.2014 Volontärkurs IV 10.11. – 05.12.2014
Der Schlaf in Zahlen
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Die Journalistenschule in der Hauptstadt
Bei Interesse melden Sie sich bitte bei Frau Sabine Seidel, Tel.: 030/31001-1217 sseidel@ev-journalistenschule.de
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Schrumpfende Nacht Die Dunkelheit ist ausgeleuchtet, ihre zauberhaften Wesen scheinen verscheucht. Bunte Diskokugeln, grelles Neonlicht bestimmen die neuen Farben der Nacht. Eine Geschichte von der Lichtlust der Menschen
Neues Schutzgebiet für die Nacht: Der Sternenpark im brandenburgischen Havelland ist Deutschlands dunkelster Ort. Hier stört kein künstliches Licht den Blick auf die Gestirne.
Text Bettina Malter und Lukas Meyer-Blankenburg
Fotos Phuong Tran Minh
Die Geschichte der Menschheit ließe sich erzählen als eine Geschichte des Kampfs gegen die Dunkelheit. Ein Kampf, der mit der Entdeckung des Feuers begann, und heute in den hell erleuchteten 24-Stunden-Fitnessstudios sein Ende findet. Jetzt, da wir die Nacht zum Tage gemacht haben, fragen wir uns, ob man das wirklich einen Sieg nennen kann: Beinpresse und Laufband um vier Uhr morgens – fehlen sie uns gar nicht, die Dämonen der Dunkelheit? Kaum jemand hat die Furcht des Menschen vor der Düsternis so schön in Worte gefasst wie die Brüder Grimm. Jacob und Wilhelm, ungestüm und kühn der eine, nachdenklich und feinsinnig der andere, haben mehr als 200 Märchen niedergeschrieben: grausige Volkssagen, in denen dunkle Gestalten erwachten. Der Wolf, der dem Mädchen mit der roten Kappe zum Abendmahl die Großmutter servierte; portioniert in kleine Stücke. Der Jüngling, der auszog, im Geisterschloss das Fürchten zu lernen. Die Mutter, die ihre Kinder im finsteren Wald den wilden Tieren zum Fraß vorwarf. Die Dunkelheit, eine Zeit zum Fürchten. Aber auch eine Zeit zum Verführen. So verbrachte Rapunzel mit ihrem Verehrer leidenschaftliche Nächte im Turm. Der Sex im Märchen, die Grausamkeiten – das war vielen Lesern zu heikel. Die erste Märchenausgabe fand wenig Anklang. Eltern wollten ihren Kindern diese Geschichten nicht erzählen. Die Brüder Grimm verfassten daher kindgerechte Versionen. Im Schutz der Dunkelheit krochen die Märchengestalten dennoch in die Kinderbetten, bevölkerten Schreckensfiguren die Träume der kleinen Menschen. Außerhalb des Bettes und der Traumwelten hatten selbst Erwachsene Angst vor der Dunkelheit. Die Nacht war zur Zeit der Brüder Grimm wirklich noch schwarz. Es regierten lichtscheue Gestalten: Ganoven, Diebe und andere Zwielichtige. Wer dennoch durch finstere Gassen streunte, trug eine Lampe mit sich. Das war Pflicht. Lichtlose Spaziergänger machten sich verdächtig und konnten von nächtlichen Patrouillen abgeführt werden. Für die ersten Straßenlaternen sorgte der Sonnenkönig Ludwig XIV. Er verordnete »Sauberkeit, Helligkeit und Sicherheit« und verbannte die Heimlichkeiten aus der Nacht. Paris, 1667 die größte Stadt der Welt, war nun auch Lichterstadt mit kerzenbeleuchteten Boulevards. Doch die Anfangseuphorie wich dem Alptraum Helligkeit. Denn mit der nächtlichen Lichterpracht entstand gleichzeitig eine gut organisierte Polizei. Die sollte auf Wunsch Ludwigs XIV. die Dunkelheit kontrollieren. Den Untertanen war das zu viel Überwachung. Ihr Protest gegen die Monarchie richtete sich deswegen auch gegen die Laternen. Während der Pariser Aufstände im 19. Jahrhundert wurden sie von der aufgebrachten Menge zerstört. Die Bürger wollten wieder selbst über ihre Nacht bestimmen. Doch durch den technischen Fortschritt war die Hel-
42 überwachen 1) die nacht durchwachen, pernoctare part. als adj. überwacht, durch wachen ermüdet, übernächtig, in der neueren sprache allgemein: das (gläschen branntwein) kann einen überwachten magen wieder in ordnung bringen Lessing 2, 174 M.; ihre augen glänzten überwacht A. v. Arnim 1, 383; spontan für »den schlaf überwunden, die schlafenszeit versäumt habend« Immermann 5, 51 2) bewachen, beaufsichtigen, im auge behalten. erst seit beginn des 19. jahrh. zu breiter verwendung gelangt (Auszug aus dem Grimm’schen Wörterbuch)
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ligkeit nicht mehr aufzuhalten: Das Netz aus Straßenlaternen wurde immer enger. Durch Gas und Strom leuchteten die Städte wie von selbst. Damit war das Dunkel der Nacht endgültig vertrieben. Die Welt war entzaubert. Und unter grellen Neonröhren ließ es sich unabhängig vom Tageslicht arbeiten. Schlaf war lästiger Sand im Getriebe der Produktion, Zeitverschwendung ohne Renditeversprechen. Große Köpfe der jüngeren Zeitgeschichte versuchten durch persönliche Schlafstrategien, der Nacht noch mehr abzutrotzen. Winston Churchill, Thomas Edison und Benjamin Franklin sollen sogenannte Uberman Sleeper gewesen sein – Idealschläfer benannt nach Nietzsches Übermensch. Angeblich hielten sie lediglich alle vier Stunden ein zwanzigminütiges Nickerchen. Ihre Nettoschlafzeit am Tag: zwei Stunden. Heute, in den Mega-Städten der industrialisierten Welt, hört der Tag überhaupt nicht mehr auf. Die Nächte sind zu Events geworden: Mitternachtsshoppen, Späti-Kultur, Lange Nacht der Museen, der Wissenschaften und der Theater – die neue 24-Stunden-Gesellschaft frisst die Ruhe der Nacht. Die Stunden zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang sind laut und bunt. Jeder Jugendliche kennt die Farbprismen von Discokugeln. Die Farbstufen der natürlichen Nacht hingegen verschwinden unter den Lichtglocken der künstlich erleuchteten Städte. Jedes Jahr mehr. Wie anders hatten die Brüder Grimm noch das Farbspektakel der Abenddämmerung beschrieben: »Die Nacht ist in ihrem Beginne braun, grau, wird dann dunkel, düster, schwarz. Ist sternenlos oder heiter, mondeshell, klar, schimmernd und dergleichen.« Die grimmsche Nacht gibt es nicht mehr. Beziehungsweise: Es gibt sie nur noch an so wenigen Orten, dass die echte, tiefe Nacht zum schützenswerten Gut geworden ist. Kämpfer gegen die Lichtverschmutzung messen, wo es noch wirklich dunkel wird. Auf Landkarten zeichnen sie diese Orte ein, als kartografierten sie das Verbreitungsgebiet einer bedrohten Tierart. Im brandenburgischen Havelland, genauer im Dorf Gülpe, haben die Freunde der Nacht den dunkelsten Ort Deutschlands ausgemacht. Dort gibt es seit Februar 2014 Deutschlands ersten Park für Sternenjäger und andere Menschen, die sich dem Zauber der Nacht hingeben wollen. Gülpe und die umliegenden Dörfer sollen eine touristische Attraktion für Nachtschwärmer werden. Nicht alle teilen die neue Begeisterung für die Düsternis. Viele Bewohner aus den Dörfern der Region hatten lange für Laternen gekämpft. Weil deren Licht den Titel »dunkelster Ort« gefährdete, musste es wieder gedimmt werden. Die Befürworter der Laternen fürchten nun, die Kriminalität könnte zunehmen, ihre Dörfer in ein grausiges Schattenreich verwandeln. Sie wollen die Dunkelheit nicht mehr zurück. Sie wollen erleuchtet sein. •
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Das halbe Leben ist eine Flatrate Einmal zahlen f端r den ganzen Abend. In Flatrate-Bordellen wird Sex zum Sonderangebot. Die Prostituierte Anka arbeitet hier lieber als in klassischen Sexclubs 44
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Es ist der kleinste Raum im Berliner Bordell King George, aber ihr liebster: Die Prostituierte Anka im Zimmer Numme zwei.
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Text Katharina Kühn
Es ist schon Mitternacht, und Anka hat bisher nur mit zwei Männern geschlafen. Das langweilt sie. Sie sitzt mit dem Rücken zur Theke und plaudert mit ihren Kolleginnen. Tippt auf ihrem Handy. Fährt sich durch die blondierten Haare. Trinkt Cola. Ihr Blick schweift durch den dunklen Barraum, die blau schimmernde Automatenecke und die Tanzfläche. Die Zeit in Berlin-Schöneberg dehnt sich. Die vier Stunden bis zu Ankas Feierabend gehen schneller vorbei, wenn sie Freier bedient. Ob Anka in dieser Nacht mit zwei oder zehn Männern schläft, macht für ihren Kontostand keinen Unterschied. Sie arbeitet im King George, einem der 50 Flatrate-Bordelle in Deutschland. Das Versprechen: Die Freier zahlen 99 Euro und können dann so oft Sex haben, wie sie wollen. Ein Männertraum, sagt der Besitzer Sascha Erben. Ein menschenunwürdiges Geschäftsmodell, sagt Frauenministerin Manuela Schwesig. Seit Jahren fordern Aktivisten das Verbot von Flatrate-Bordellen. Die Prostituierten könnten nicht entscheiden, mit wem sie wie Sex haben, sie würden ausgebeutet. Es gibt Razzien und Verurteilungen. Wie billiges Essen, heißt es, würden die Frauen
Foto Anna Aicher
angeboten. Schon vor sieben Jahren kündigte die damalige Frauenministerin Ursula von der Leyen ein neues Prostitutionsgesetz an, doch erst in diesem Sommer treffen sich Aktivisten, Bordellbetreiber, Sexarbeiter, Wissenschaftler, Polizisten und Politiker, um eine Reform zu diskutieren. Das King George wirbt mit dem Slogan »Geiz macht geil«. Aber am frühen Abend ähnelt das Bordell eher einer verschlafenen Eckkneipe als einem Menschenmarkt. Zehn Prostituierte stehen in Gruppen beieinander, ab und an dreht sich eine Frau an der Stange auf der Tanzfläche, nur ein Freier sitzt an der Bar. Trügen die Frauen nicht Spitzen-Dessous und transparente Tuniken oder eng anliegende, grobmaschige Netzkleider, würde man sie für Freundinnen in einem Café halten. Anka, 27 Jahre alt und Rumänin, zeigt in ihrem schwarzen tief ausgeschnittenen Kleid am wenigsten Haut. »Zu Hause laufe ich nicht so rum.« Ihre Garderobe ist so zweigeteilt wie ihr Leben. Im Bordell zieht sie schüchternen Deutschen das schlechte Gewissen aus. »Hier bin ich eine richtige Schlampe, zu Hause bin ich eine Frau.«
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Den Freiern will Anka das Gefühl geben, dass sie nur für sie da ist – solange die Männer sich nicht in sie verlieben. Ein Freier, der Ankas Verlobungsring und das Tattoo mit dem Namen ihres Freundes übersehen hatte, schickte ihr einmal Blumen. Sie schüttelt den Kopf; keine Blumen, keine Romantik. Wenn ihr Freund sie von der Arbeit abholt, wartet er draußen, in das Bordell setzt er keinen Fuß. »Ich habe ihn nie gefragt, wie er meine Arbeit findet«, sagt sie. Vielleicht ist es auch ein Schutz, weil sie Angst vor der Antwort hat.
Fünf Zimmer gibt es im King George. Früher vergnügten sich hier vermögende Männer. Mittlerweile begrüßen Ankas Kolleginnen und der Türsteher hauptsächlich Freier mit kleinerem Budget (links).
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Ankas Odyssee begann mit 15, als sie ihre Tochter bekam. Zum Vater hatte sie schon bald keinen Kontakt mehr. Mit 16 Jahren folgte Anka ihrem Nachbarn nach Österreich, ihre Tochter ließ sie bei ihrer Tante in Rumänien. Anka kellnerte, putzte, heiratete den Nachbarn, ließ sich scheiden. Als sie sich das erste Mal prostituierte, sagt sie, habe sie nur an das Geld gedacht, das sie für die Miete und ihre Tochter in Rumänien brauchte. Seit vier Jahren arbeitet Anka im King George; ein Job, der gar nicht so leicht zu kriegen war und den sie nicht so schnell wieder aufgeben würde. Im Rotlichtgewerbe werden Jobs über Beziehungen vergeben. Ankas Cousine hat sie beim Bordell-Chef Sascha Erben empfohlen. Doch Erben war nicht immer zufrieden, schickte Anka dreimal weg, weil sie unmotiviert wirkte. Sie versuchte es wieder und wieder bei ihm. Im Flatrate-Bordell, sagt Anka, sei die Konkurrenz unter den Frauen nicht so hart. In einsichten
anderen Häusern hat sie die ersten zwei Monate keinen Freier abbekommen. »Die Frauen fressen sich gegenseitig.« In vielen Bordellen fangen Prostituierte im Minus an, weil sie Zimmermiete, Kondome und Handtücher zahlen müssen. Das fällt im King George weg. Die Frauen hier sind als Selbstständige registriert, jeden Abend erhalten sie eine Sitzpauschale. Wie hoch die Pauschale ist, will Erben nicht sagen, die Prostituierten bekämen 50 Prozent der Einnahmen. Der Rest geht an den Chef. Seit über zehn Jahren ist Erben, gerade einmal Mitte 40, im Bordell-Business. Die Prostituierten bezeichnen ihn als fürsorglichen Chef, er sei kein Abzocker. Ob es im Hintergrund noch Zuhälter gibt? Bei dieser Frage hört die Fürsorglichkeit auf. Erben sagt: »Was die Frauen nach Dienstschluss mit dem Geld machen, weiß ich nicht.« Auch der Staat scheint sich mehr für die Steuern als für die Arbeitsumstände der Frauen zu interessieren. Das Finanzamt schickt häufiger Beamte ins Bordell als die Polizei. Woran kann man erkennen, dass eine Frau ausgenutzt wird? Wenn die Frau das Geld gleich nach Dienstschluss ihrem Freund gibt? Wenn sie sich, obwohl sie Nacht für Nacht arbeitet, keine Strumpfhosen leisten kann? Und wer kann es einer Frau schon verübeln, dass sie das Geld ihrer Familie in der Heimat gibt? Auch Anka schickt ihrer Tochter jeden Monat Geld. Einmal hat Anka schon versucht, ihre Tochter nach Deutschland zu holen, doch die wollte bei ihren Freunden in ihrer Welt bleiben.
Robert hat sich erst Mut angetrunken, dann geht er an die Bar, spricht Anka an, sie lächelt, endlich hat die Langeweile ein Ende. Sie huscht in den Eingangsbereich und nimmt sich einen Zimmerschlüssel. Die Managerin schreibt die Nummer auf; Sicherheit für die Frauen und Kontrolle für den Chef. Am liebsten geht Anka mit ihren Freiern in die Nummer zwei. Es ist das kleinste der fünf Zimmer: ein Bett, ein stiller Diener, zwei Schränkchen mit Kondomen und Handtüchern. Waschbecken, Dusche. Auf dem Bett ein Kopfkissen, mehr braucht es nicht. Zur Flatrate gehören geschützter Oral- und Geschlechtsverkehr. Für alles andere muss der Freier draufzahlen. Anka will nicht sagen, wie viel sie verlangt. Auf die Frage, welche Dienste sie anbietet, verzieht sie das Gesicht: kein ungeschützter Verkehr, kein Küssen. Kolleginnen nehmen zehn Euro für Küsse, 20 Euro wenn ein Dritter zuschauen will, Analverkehr wird teurer. Nach 20 Minuten öffnet sich die rote Tür von Zimmer zwei wieder, länger kostet extra. Anka geht an die Bar. Sie holt ihr Handy raus, kurz blitzt ein Foto von ihrem Freund als DisplayHintergrund auf, dann öffnet Anka ihre Facebook-App. Sie gehe nicht mit jedem mit, sagt sie. »Wenn ich ihn nicht mag, sage ich, dass ich etwas anderes zu tun habe.«
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»Hier bin ich eine Schlampe, zu Hause bin ich eine Frau«
Mittlerweile will Anka, dass ihre Tochter in Rumänien bleibt, damit sie die Schule ohne Sprachwechsel abschließen kann. Die meisten Frauen im King George kommen aus Osteuropa. Sie sind nicht so anspruchsvoll, sagt Erben. Sie sind nicht mit Leidenschaft dabei, sagt eine westeuropäische Kollegin. Früher war das King George ein Treffpunkt für Menschen mit Geld. Doch die Champagner-Zeit ist vorbei; Edel-Bordelle lohnen sich nicht mehr, sagt Erben. Deswegen setzt er seit 2009 auf die Billig-Gier. Seinen Laden nennt er Pauschalclub, das klingt nicht nach Telefonrechnung, sondern nach Urlaub. Das Eintrittsgeld verspricht den Freiern neben Sex auch Getränke für den ganzen Abend. Sekt und Champagner kostet extra, und weil die Prostituierten einen Anteil vom Verkauf bekommen, fragen sie die Männer gern nach einem Piccolo. Erben kalkuliert knapp, ein paar Euro für Extra-Getränke geben ein bisschen Puffer. Es ist ein Uhr. Robert sitzt in T-Shirt und Jeans allein vor einem halben Bier und sieht zwischen den leeren Tischen ein wenig verloren aus. Er ist Single, auf Besuch in der Stadt, und nach dem Pergamon-Museum und dem Reichstag wollte er in einen dieser Clubs gehen, von denen er im Internet gelesen hatte. Jetzt betrachtet er eine Tänzerin an der Stange. Es ist die Ruhe zwischen der ersten und zweiten Frau, die er heute auf ein Zimmer begleitet. Robert sagt, dass er so gut wie nie ins Bordell geht, aber vor kurzem, fällt ihm ein, war er bei einer Amsterdamer Prostituierten. Viele Männer werden in dieser Nacht versichern, dass sie eigentlich nicht in solche Clubs gehen; sie sprechen dann über »diese Kreise« und meinen alle Anwesenden im King George, nur nicht sich selbst. einsichten
Nur weil die Männer in einem Flatrate-Bordell sind, heißt es eben nicht, dass sie sich jede Frau nehmen können, so oft sie wollen. Die Prostituierten gehen nicht mehr als zweimal mit demselben Mann auf ein Zimmer, schließlich soll keine Frau ständig vergeben sein. Flatrate heißt auch nicht, dass jedermann darf. Dafür sorgt schon die Managerin hinter dem glitzernden Tresen am Eingang. Sie ist die moderne Version der Puffmutter, die sofort entscheidet, ob ein Mann sich hier vergnügen darf oder nicht. Gegen zwei Uhr versucht ein angetrunkener Mittzwanziger den Preis zu drücken. Zum Türsteher sagt er »Bruder«, fasst ihm an die Schulter, bettelt »mach mal eine Ausnahme«. Die Managerin schaut sich das kleine Spektakel an, dann sagt sie, dass der Club voll sei. Sie würde niemandem zeigen, dass er zu betrunken oder aggressiv ist. Zu schnell kann die alko-
Auf einer Liste werden die Prostituierten und die Zimmernummern notiert. Linke Seite: Die Zeit zwischen den Freiern nutzt Anka zum Essen. Ihr Freund ist immer dabei – als Tattoo auf ihrem Arm.
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hol- und testosterongeladene Stimmung kippen, wie man wenig später merkt. Zwei kräftige Männer reden auf die Managerin ein. Keine Frau war bereit, auf gewalttätige Sexfantasien einzugehen. »Entschuldigung, tut uns leid«, sagt die Managerin, und schiebt die Männer sanft raus. Kommen solche Szenen in anderen Bordellen nicht genauso vor? Ist ein Flatrate-Bordell frauenverachtend? Mehr als andere Bordelle? Anka sagt nein, sie will nicht in die klassischen Häuser zurück. Hier hat sie ihre Gage sicher, egal wie viele Männer kommen. Sie mag die Atmosphäre, die Frauen und die Freier. Auch wenn sie von einem bürgerlichen Leben mit Mann, Kindern und eigenem Geschäft träumt, sagt sie: »Ich liebe meinen Job.« Sie will nicht wieder putzen gehen, sie will sich auch nicht den Rücken in der Altenpflege kaputt heben wie eine Kollegin. »Die Politiker sollten lieber zu uns ins Bordell kommen, anstatt Gesetze zu machen«. Anka schmollt. Die Vorwürfe, die Frauen würden in Flatrate-Bordellen geringschätzig behandelt, winkt sie ab. Sie fühlt sich nicht verkauft. Sie biete eine Dienstleistung an. Diskussion beendet. Wird Flatrate-Sex verboten, will Sascha Erben sein Konzept ändern. Dann soll nach drei Zimmerbesuchen Schluss sein. Nach seiner Statistik kann ein Freier an einem Abend 2,6 Mal Sex haben. Mit der Begrenzung würde sich also eigentlich nichts ändern. Nur die Illusion der grenzenlosen Geilheit, die Erben verkauft, ist dann nicht mehr erhältlich. Es ist vier Uhr, für heute Abend ist Schluss. Die Frauen haben endlich ihre Stöckelschuhe ausgezogen; barfuß räumen sie ihre Sachen zusammen und die letzten Biergläser weg. Laserkraft 3D singen, dass sie noch nicht gehen wollen, danach dreht die Barfrau die Musik ab. Die verbliebenen Freier schließen sich zu einer Taxigruppe zusammen. Auf der Tanzfläche stehen drei Tüten voller Wäsche, die eine der Prostituierten mit nach Hause nehmen will. Morgen wäscht sie. Anka hat sich umgezogen, jetzt trägt sie eine weite Hose. Ihr schwarzes Kleid steckt in einer großen Tasche. Als sie vor die Tür tritt, wirkt sie, als würde sie vom Sporttraining kommen. •
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Text Ralf Pauli
Fotos Paula G. Vidal
Auf den 50
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Olymp Jutas Foldvari will mit dem Moutainbike auf den hÜchsten Berg Griechenlands. Bei der Abfahrt riskiert er sein Leben – und den Zorn seiner Freundin
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»Jeder Kann mit dem Rad auf den Olymp«
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utas Foldvari bringt seine beiden Töchter ins Bett, packt sein weißes Mountainbike, Rucksack, Helm und vier Dosen Energy Drink in seinen Ford Kombi. Um ein Uhr nachts steigt er ins Auto und verlässt den Athener Stadtteil Dionisos Richtung Norden. Foldvari stellt sich auf eine schlaflose Nacht ein. Bis Mitternacht des übernächsten Tages hat er Zeit, sein Ziel zu erreichen. So ist der Deal mit seiner Freundin. Foldvari biegt auf die Autobahn nach Thessaloniki ab, stellt das Radio an und entspannt sich. Vor ihm liegen 400 Kilometer bis zum Örtchen Litóchoro, dem Ausgangspunkt seiner geplanten Gipfeltour. Foldvari denkt an die tiefen Gumpen der Enipeas-Schlucht, den sagenhaften Gipfelblick über die griechische Ostküste. Sofort kehren die Bilder des vergangenen Sommers zurück, als Foldvari den höchsten Berg Griechenlands zum ersten Mal erklommen hat – den Olymp. Perfekt für das Mountainbike, erkannte Foldvari damals, als er die steilen Geröllhänge abstieg. Die Idee hat den 33-jährigen Hobbysportler nicht mehr losgelassen: Den 2918 Meter hohen Olymp mit dem Rad zu besteigen und anschließend bis zum Meer abzufahren. Für Foldvari, der die Natur liebt, aber auch den Nervenkitzel der Geschwindigkeit, eine gelungene Kombination: »Ich brauche beides, um den Kopf frei zu kriegen.« Jetzt endlich ist es so weit. Mit dem Mountainbike auf den Olymp. Ist Mitte Mai, wenn die höchsten Gipfel noch verschneit sind, wirklich der richtige Zeitpunkt dafür? Foldvari ahnt, dass er mit dieser Tour an seine physischen Grenzen gehen wird. Nach zwei Stunden Autofahrt öffnet Foldvari die erste Dose Energy-Drink und dreht die irische Folkmusik lauter. »Das Lieblingslied meiner ältesten Tochter«, sagt Foldvari. »Sie liebt Banjo«. Foldvari erinnert sich, wie er seiner Tochter zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gab und sie zudeckte. »Papa, wann kommst du wieder?« »Bald, mein Stern.« In diesem Moment hätte Jutas Foldvari seine Tour beinahe noch abgeblasen. So eigensinnig erschien ihm plötzlich sein Vorhaben: Er sucht die sportliche Herausforderung, während seine Freundin das Wochenende allein mit den beiden Kleinkindern verbringt. Fast wäre es deshalb zum Streit gekommen. Von
seiner Freundin spricht Foldvari kaum. Vielleicht, weil sich Foldvari dann eingestehen müsste, dass er auch ein bisschen wegen ihr davongefahren ist. Dass er vor seiner Beziehung flüchtet, bis auf den Olymp. Mit den ersten Sonnenstrahlen stoppt Jutas Foldvari seinen Wagen auf dem Parkplatz »Prionia«, 18 Kilometer hinter dem Ort Litóchoro. Sieben Stunden ist Foldvari Auto gefahren, die ganze Nacht. Er ist übermüdet, versucht zu schlafen. Aber er ist zu aufgeregt. Er holt das Mountainbike aus dem Kofferraum, streift sich ein Sporthemd über, setzt seinen Rucksack und den Helm auf. Die leeren Energy-Drink-Dosen wirft er in den Kofferraum. Sein Smartphone lässt er im Wagen zurück. Jutas Foldvari steigt auf das Rad und fährt den Weg zur Schutzhütte »Spilios Agapitos« hoch, über Wurzeln, Steine und herbstbraune Piniennadeln, immer in Hörweite des Enipeas. Rauschend gräbt sich der Bergbach in den Kalkfelsen. Am Hang gegenüber hängen Schneearme tief herab. Je höher Jutas Foldvari steigt, desto sehnlicher wird sein Wunsch, ihn endlich zu sehen, den Wolken verhangenen Olymp. Auf der Schutzhütte stellt Foldvari sein Mountainbike an das Geländer auf der Terrasse. Die anwesenden Bergsteiger mustern ihn mit neugierigen Blicken. »Verrückt«, sagt ein braungebrannter Grieche, als er von Foldvaris Vorhaben erfährt. Sein Begleiter hebt das Rad prüfend in die Höhe. »16 oder 17 Kilo«, sagt er anerkennend. Ein Deutscher wirft ein, man könnte es auch mit Motorrad bis zum Gipfel schaffen. »Vielleicht«, sagt Foldvari höflich. Etwas abseits sitzt ein Mulitreiber im Schatten des Ziegeldachs. Vor ihm auf dem Tisch steht ein Glas Ouzo, verdünnt mit Wasser. Er sagt: »Der Berg ist heilig. Da haben Räder nichts verloren.« Am Nachmittag beginnt es zu schneien. In dem Schlafsaal, in dem sich Jutas Foldvari ausruht, ist es kalt. Auf der Schutzhütte gibt es keine Heizung. Nur in den Gemeinschaftsräumen brennen Kaminfeuer. »Das Mountainbike ist ein Spielzeug für große Jungs«, sagt Jutas Foldvari, die Hände am Kamin wärmend. Dass sein Spielzeug am Berg verboten ist, hat Foldvari soeben von der Hüttenwirtin erfahren. »Seltsam«, wundert sich Foldvari. Am Parkplatz hat er kein Verbotsschild gesehen, das auf Fahrräder hingewiesen hätte. An Umkehren denkt Foldvari nicht. Auch nicht wegen des vieles Neuschnees. Ein paar Bergsteiger mussten deswegen vor dem Gipfel umdrehen. In der Nacht soll es weiter schneien. Foldvari zuckt mit den Achseln. Er wird nicht aufgeben.
A
m Morgen liegt Eis auf den Tischen vor der Hütte. In der Ferne erstreckt sich azurblau der Thermische Golf, eingerahmt von der Bucht von Thessaloniki. Jutas Foldvari wendet sich seinem Mountainbike zu, das am Geländer lehnt. Wegen der Eisglätte auf dem Gipfel will er mit dem Aufstieg warten. Foldvari hat Zeit, den Luftdruck des Kolbens nachzujustieren, der die Stöße bei der Abfahrt dämpfen soll. »Ich bin noch nie mit zehn Kilogramm Gepäck gefahren«, sagt Foldvari. Es ist das erste Mal, dass Foldvari sich mit dem Mountainbike an so eine Tour wagt. Wenn die Olymp-Abfahrt gelingt, will Foldvari bei dem wohl anspruchsvollsten Downhill-Rennen für Mountainbiker am Gletscher Montblanc teilnehmen, dem »Megavalanche«. »Jeder kann das, wenn er Spaß dabei hat«, sagt Foldvari. einsichten
Nächtliche deutschpolnische Polizeistreife Seit es keine Grenzkontrollen mehr gibt, sollen die Polizisten beider Länder gemeinsam Verbrecher jagen. Festnehmen
Jutas Foldvari schiebt und trägt sein Mountainbike auf den Olymp. Mit Neuschnee hätte er nicht gerechnet.
Durch verschneite Winterlandschaften schiebt Jutas Foldvari sein Mountainbike den Berg hinauf: vorstoßen, Bremse ziehen, wieder vorstoßen, wieder Bremse ziehen. Ein paar griechische Bergsteiger überholen. Einer von ihnen will sich mit dem Fahrrad fotografieren lassen. Dafür nimmt er Foldvari die Last ein paar Minuten ab. Der freut sich und sagt: »Jetzt hab ich schon eigene Scherpas.« Auf 2600 Metern geht es nicht mehr um die Frage, ob ein Mountainbike auf dem Olymp verwerflich ist. Hier zählt die Kameradschaft am Berg, das gemeinsam Erlebte, die gegenseitige Hilfe. Auf dem Olymp gibt es viele Schutzengel, heißt es in den Cafés in Litóchoro, in denen sich faltige Männer Berggeschichten erzählen. Die letzte Etappe: Eine steile Flanke, auf der bläuliche Eisstellen unter dem Neuschnee schimmern. Für diese Stellen braucht man Steigeisen, um sicheren Halt zu finden. Weder Jutas Foldvari noch ein anderer Bergsteiger hat welche dabei. Viele drehen hier um. Nur vier Bergsteiger gehen weiter, darunter Foldvari mit seinem Mountainbike. Die letzten Meter sind heikel. Wer ausrutscht, stürzt vielleicht in den Tod. Dann ist es geschafft. Jutas Foldvari stellt sein Mountainbike auf 2866 Metern Höhe in den Schnee. An ein Weitergehen auf den allerhöchsten Gipfel Mytikas ist nicht zu denken. Jutas Foldvari stört das nicht. Vermutlich hat vor ihm noch niemand ein Mountainbike auf den verschneiten Olymp getragen. Foldvari blickt herab auf die umliegenden Berge. Alles ist still. Am Himmel einsichten
kaum eine Wolke. »Wie klein wir Menschen hier oben sind, wie Ameisen«, murmelt Foldvari. Dann macht er ein Foto von seinem Mountainbike im Schnee. »Für meine Töchter«, sagt Foldvari und steigt aufs Rad.
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s ist Nacht geworden am Fuß des Olymps. Auf dem Parkplatz vor dem Kombi liegt das Mountainbike im Kies. Jutas Foldvari sitzt daneben, atemlos. »Ich bin an meine Grenzen gekommen«, sagt er. 2800 Höhenmeter ist er abgefahren, über Schneehänge und steile Geröllfelder. Dann durch die Enipeas-Schlucht, wo er oft absteigen und sein Rad tragen musste. Und schließlich wieder zurück zum Parkplatz, auf dem er sich jetzt ausruht. Als Foldvari ins Auto steigt, genügt ihm ein Blick auf sein Smartphone, um zu wissen, dass seine Freundin zornig ist. Das Display zeigt ihre Nummer an. Mehrmals hat sie versucht, ihn zu erreichen. Foldvari legt das Telefon weg. »Ich hätte sie heute mittag anrufen sollen«. Jetzt ist es dunkel. Selbst wenn Foldvari sofort aufbricht und ohne Pausen nach Athen fährt – bis Mitternacht, wie vereinbart, schafft er es nicht zurück. Foldvari wäscht sich an einem Brunnen, zieht frische Kleidung an und packt Mountainbike, Rucksack und Helm ins Auto. Um vier Uhr in der Nacht könne er in Athen sein, schätzt er. »Hauptsache, ich bin morgen früh wieder zurück«, sagt Foldvari. »Ich habe meinen Töchtern versprochen, dass wir zusammen frühstücken«. •
Text Ortrun Schütz
Fotos Ruben Riermeier
Räuberleiter gegen Rechts Jens und Stefan reißen nachts Wahlplakate der Partei »Alternative für Deutschland« von den Laternen. Für sie ist das Aufklärung, für die Polizei eine Straftat
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46 AfD-Plakate, ein CDU-Plakat, eins von der FDP: Die Aktivisten Jens und Stefan entfernen im Berliner Bezirk Mitte Wahlwerbung, die sie für gefährlich halten.
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Der undemokratische Akt, der helfen soll, die Demokratie zu retten, dauert nur wenige Sekunden: Jens lehnt mit dem Rücken an der Laterne, auf seinen Schultern steht Stefan, die Hände nach oben gereckt, und rüttelt am Plakat. Mit einem lauten Ratsch beißt sich der Kabelbinder durch die Pappe mit Deutschlandfahnen-Optik. Im Licht einer Berliner Energiesparlaterne sinkt der »Mut zu Deutschland« zu Boden. Sie nennen sich Jens und Stefan und wenn sie zum Spaß die Kapuze hochzie-
der Sachbeschädigung erneut im Schlaglicht einer Laterne stehen. Sie werden Slogans wie »Einwanderung braucht klare Regeln!« und »Vielfalt statt Gleichmacherei« entfernen. Sorgsam werden sie möglichst viele Plakate nicht nur ab-, sondern auch durchreißen, denn ein durchgerissenes Plakat kann später keiner wieder aufhängen. Man könnte sagen, dass Jens und Stefan den Wählern etwas wegnehmen: Informationen über eine umstrittene Partei, die sich zur Wahl stellt. Jens und Stefan sehen das anders.
»Zwei Zivilbullen kamen aus dem Gebüsch, haben uns in den Rasen gedrückt und uns Kabelbinder angelegt.«
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hen, erinnert ihre Kleidung an die Kluft der Autonomen. Ansonsten sehen sie so harmlos aus wie Programmierer: unauffällige Brillen, dunkle Jeans, schwarze Windjacken. Harmlos aussehen ist gut: Jens und Stefan haben es heute Nacht auf die Wahlplakate der »Alternative für Deutschland« (AfD) abgesehen. In den vergangenen Wochen ist viel darüber diskutiert worden, wie rechts und wie populistisch diese neue Partei sei. Jens und Stefan sind – eine Woche vor der Europawahl, die AfD liegt bei sieben Prozent – vom Diskutieren zum Handeln übergegangen. Sie kennen die Umfragen. Auch die Schätzung, dass jeder dritte Wahlberechtigte erst auf dem Weg zum Wahllokal entscheidet, wohin er sein Kreuz auf den Stimmzettel setzen wird. Der letzte Eindruck zählt. Jens und Stefan wollen dafür sorgen, dass möglichst wenige Leute auf dem Weg zum Wahllokal AfD-Plakate sehen. Sie sind um die dreißig. Jens hat Politologie und Soziologie studiert, Stefan Philosophie und Kulturwissenschaft. Im bürgerlichen Berufsleben machen sie was mit Medien, am Sonntag werden sie die Linke wählen. «Alles, was rechts von der Linkspartei ist, kommt ab«, hatte Stefan gesagt, bevor sie loszogen. Und nachgeschoben: »War nur ein Witz.« Bei ihrer nächtlichen Tour, die sie mit dem Fahrrad von Kreuzberg aus durch die Berliner Mitte führt, werden sie ein FDP-Plakat, ein CDU-Plakat und 46 AfD-Plakate zerstören und jedes Mal bei
Sie schaffen falsche Informationen aus der Welt. Also nennen sie das, was sie tun: Aufklärung. Jens und Stefan haben mit Freunden eine politische Aktionsgruppe gegründet. Ihr Kollektiv gegenüber Dritten »Politische Aktionsgruppe« zu nennen, darauf konnten sich die zehn Mitglieder gerade noch einigen. Eigentlich wollten sie sich gar nicht so genau definieren. Wöchentlich treffen sich die Aktivisten – mal im Wohnzimmer, mal in einer Kneipe –, diskutieren über antifaschistische oder staatskritische Themen, planen DemoTeilnahmen, Sitzblockaden, Vorträge. Dabei reden sie in der Sprache politischer Aktionsflyer, sagen Wörter wie Subordinationskultur, geschichtsrevisionistische Kreise, subsidiare anarchistisch-kommunistische Struktur. Nachdem die AfD bei der letzten Bundestagswahl nur knapp an der fünf Prozent Hürde gescheitert ist, machen antifaschistische und andere linke Gruppierungen gegen die neue Partei mobil. Spitzenkandidat Bernd Lucke beklagt, vierzig Prozent der angebrachten Wahlplakate seien bundesweit zerstört worden. Er behauptet, in Universitätsstädten wie Leipzig hänge kein einziges AfD-Plakat mehr. Der Schaden: Ungefähr 370.000 Euro. Einen »schwerwiegenden Anschlag auf die Demokratie« nennt Lucke das gegenüber der rechtsgerichteten Zeitung »Junge Freiheit«. »Ich vermisse ein klärendes Wort des Bundespräsidenten.« Doch der Bundespräsident schweigt. Die Plakate einer Partei abzureißen ist Sachbeschädigung – auch wenn die
Überlegungen dieser Partei mitunter undemokratisch sind. Dafür gibt es eine Geldstrafe oder bis zu zwei Jahre Haft. Weil ihre Werbung so oft beschädigt wird, hängt die AfD ihre Plakate weit oben am Laternenmast auf. Das macht es für Stefan und Jens ein bisschen anstrengend, aber nicht wirklich schwierig. Wenn sie sich zusammen lang machen, reichen sie gerade so an »Griechen leiden. Banken kassieren. Deutsche zahlen!« heran. AfD-Plakate hängen ähnlich hoch wie die Plakate der NPD, die von Bürgern und Bürgerinnen gerne mit selbstgemalten Zusätzen wie »Lügen haben lange Leitern« ergänzt werden. Der Einsatzort an diesem Abend ist strategisch gewählt. Jens ist überzeugt, dass er einen Kiez gefunden hat, bei dem es sich so richtig lohnt: Das Ost-Berliner Stadtzentrum, die Fischerinsel und Friedrichswerder, ist noch mit AfD-Plakaten zugepflastert. Jens glaubt, dass in den Plattenbauten aus den siebziger Jahren – 21 Etagen, 296 Wohneinheiten – größtenteils dieselbe Bevölkerung wie zu DDR-Zeiten wohnt. Eine Bevölkerung, die traditionell links gewählt hat und jetzt ihr Kreuz aus Protest bei der AfD macht. Das muss Unwissenheit sein, da ist sich Jens sicher: »Wer traditionell links wählt, für Bildung und Gleichberechtigung, kann unmöglich für die AfD sein. Die vertritt doch das komplette Gegenteil.« Vor dem Eingang des Hotels »Großer Kurfürst« stehen Menschen, über ihren Köpfen: Überwachungskameras. Neben dem Hoteleingang: eine Laterne mit einem AfD-Plakat. »Solide Währung statt Euro-Schuldenwahn« steht da. Darunter prangt Alexander Graf Lambsdorff auf einem FDP-Plakat. Wieder darunter hängt ein Mülleimer. Das ist auch allein zu schaffen, entscheidet Stefan und steigt auf den Mülleimer. Die Menschen gucken, ausdruckslos. Das AfD-Plakat fällt. Das FDP-Plakat fällt. Unbesorgt radeln Stefan und Jens weg. Sie machen sich keine Sorgen. Die Kameras dürfen nur das Geschehen auf privaten Grundstücken filmen. Jens und Stefan haben überall in Deutschland Verbündete. In Bremen ist auf einem linken Blog jedes einzelne noch hängende AfD-Plakat auf einem Stadtplan eingetragen. Eine Aufforderung. Im
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Landkreis Neu-Ulm wurde ein GrünenFunktionär beim AfD-Plakatestehlen auf frischer Tat von der Polizei ertappt. In Winsen bei Hamburg, dem Heimatort von AfD-Spitzenkandidat Bernd Lucke, hing zeitweise kein einziges AfD-Plakat mehr. Jetzt kümmert sich Luckes Familie: Jeden Abend nimmt sie die vierzig neu aufgehängten Plakate von den Laternen, um sie am nächsten Morgen fein säuberlich wieder anzubringen. Der WahlplakatKampf in Deutschland, ein ständiges Auf und Ab. »Ein guter Grund, auch tagsüber aktiv zu werden«, findet Stefan. Zwei Mal ist Jens bisher erwischt worden. Einmal hat er ein kleineres Plakat abgerissen. »Zwei Bullen sind aus dem Auto gesprungen, da kam ich nicht mehr weg.« Ein anderes Mal hat er mit Freunden ein Großplakat umgekippt: »Zwei Zivilbullen kamen aus dem Gebüsch, haben uns in den Rasen gedrückt und uns Kabelbinder angelegt.« Der Ärger hielt sich in Grenzen. Beides Mal kam ein Brief mit der Anzeige wegen Sachbeschädigung. Beides Mal folgte ein Brief mit der Nachricht: Das Verfahren ist eingestellt. Wegen Geringfügigkeit. Acht Jahre kennen sich Jens und Stefan schon. Sie sind erfahrene Plakaträuber, haben so manchen Wahlkampf nachts umgestaltet – selbst die Linke kam nicht immer ungeschoren davon. Doch dieses Mal mussten die Plakaträuber Erstaunliches entdecken. Sie haben etwas mit dem ehemals mächtigsten Organ des Kapitals, dem neoliberalen Lobbyisten Michael Rogowski, gemeinsam. Rogowski, Ex-Präsident der deutschen Industrie und Nachfolger des heutigen AfD-Manns Hans Olaf Henkel, fühlt sich ebenfalls von Wahlplakaten beleidigt. Er konnte den Anblick von Slogans der MarxistischLeninistischen Partei Deutschlands (MLPD) direkt vor seiner Villa in BadenWürttemberg nicht mehr ertragen und hängte zwei Plakate ab. Als ein Helfer der MLPD neue Plakate anbringen wollte, wurde er von Rogowski zur Rede gestellt. »So etwas Undemokratisches« dulde er nicht vor seinem Haus. Deswegen habe er ja die Plakate heruntergeholt. Das fand wiederum der MLPD-Helfer undemokratisch und rief die Polizei. Später sagte Rogowski in den Medien: »Jeden Tag gafft mich der Che Guevara an oder eine Knarre oder sonst irgendein Spruch, der mich in Rage bringt.« Jetzt hat er eine Anzeige wegen Sachbeschädigung. Einsichtig zeigt er sich trotzdem nicht. Die vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestufte und unter einsichten
Beobachtung stehende MLPD triumphiert: Rogowskis Verhalten zeige die »antidemokratische Gesinnung in seinen Kreisen.« Bei Jens hat Rogowski dagegen gepunktet: »Der ist bestimmt ein reaktionärer Arsch. Aber die Aktion spricht vielleicht auch dafür, dass er nicht so ein Super-Spießer ist.« Eine gute Stunde sind sie nun unterwegs. Sie waren an der Heinrich-Heine-Straße, auf der Fischerinsel, an der Leipziger Straße. Kein Passant hat sie bis jetzt auch nur mit einem Wort angesprochen. Stefan ist gerade auf Jens’ Schultern geklettert, da fährt ein Taxifahrer mit heruntergelassenem Fenster vorbei um die Kurve. Zieht plötzlich seinen Wagen weit rüber, als wolle er aus dem Auto springen, um die Plakaträuber direkt vor Ort zu erledigen. Wenn Stimmen zuschlagen könnten, würde Stefan gleich von Jens' Schultern stürzen: »Hier reißen Leute mit Fahrrad AfD-Plakate ab. Diese linken Fotzen!« Jetzt weiß es der gesamte Funk. Stefan springt von Jens’ Schultern, hektische Blicke nach einem Fluchtweg, ab auf die Fahrräder in Richtung Spreeufer. Hierhin kann ihnen kein Auto folgen, weder Taxi noch Polizei. Stefan und Jens müssen lachen. Gut, dass der sich so aufgeregt hat. Da waren sie gleich gewarnt. Und was hat der schon gesehen. Dunkel gekleidete Fahrradfahrer. Das könnte jeder sein. Unter seiner schwarzen Windjacke trägt Jens noch eine hellgrüne, zum Umtarnen. Nicht nötig heute. Hat die Taxizentrale die Polizei alarmiert? Wann machen Plakaträuber Feierabend? Einen Laternenmast wollen sie noch von der AfD-Last befreien. Jens stellt sich schon bereit, Rücken an die
Laterne. Jens’ Hände falten sich zur Räuberleiter, Stefan hat seinen Fuß schon daraufgesetzt, da kommt ein Polizeibus die Straße hoch. Stefan gleitet wieder herunter, Jens’ Hände lösen sich, mit geübt gelassenen Bewegungen schieben sie ihre Räder in unterschiedliche Richtungen davon. Kein Blick zu den Polizisten. Die fahren einfach vorbei; nichtsahnend offenbar. Vielleicht ist es an der Zeit, ein »Aktionsbier« zu trinken. Ein letztes »Mehr Freiheit, weniger Brüssel« fällt kurz vor Kreuzberg. Halbiert liegt das AfD-Plakat am Boden. Es zeigt seine unschuldig weiße Rückseite. Zwei Jungs sehen die Tat von Weitem, kommen näher, lächeln im Vorbeilaufen verschwörerisch. Heimatgefühl – vielleicht wäre das das passende Wort für Jens’ und Stefans Gefühlslage am Ende dieser Nacht. Neun Tage später werden die Fischerinsel und Friedrichswerder rot wählen: In beiden Wahlkreisen, in denen Jens und Stefan unterwegs waren, wird Die Linke stärkste Partei, gefolgt von der SPD. Allerdings wird die AfD mit 8,4 und 8,9 Prozent über dem Bundesdurchschnitt liegen. In den Tagen darauf Demokratie-Routine. Im Fernsehen und in den Zeitungen analysieren die Sieger und Verlierer die Ergebnisse und versuchen, dabei möglichst gut wegzukommen. Nicht anders Jens und Stefan. In einer ersten Reaktion auf den Wahlausgang sagt Jens: "Das Ergebnis bestärkt mich, weiter die Auseinandersetzung mit der AfD zu suchen. Wir haben es als Gruppe im Vorfeld der Wahl nicht geschafft, eine richtige Kampagne gegen die AfD zu starten. Aber das Wahlergebnis zeigt, dass das wirklich notwendig ist.« •
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Text Margarita Erbach
Nachtzug nach Kiew
Fotos Marija Mihailova
Regen prasselt auf seinen Kopf, als Gleb Fedchun fremden Männern seinen Ausweis zeigen muss. Er steht auf dem Maidan in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Es ist zwanzig vor zwei in jener Mainacht und er hört den Abzug einer Waffe klacken. Zwei Tage zuvor ist Fedchun in den Nachtzug nach Kiew gestiegen. Gegen 17 Uhr ist der Zug, der einem vergitterten Wohnzimmer gleicht, von Warschau losgefahren. Eine Eisenstange vor jedem Fenster spaltet das noch vorhandene Licht, das auf einen schmalen Gang fällt. Ein roter Teppich mit beigefarbenen Schnörkeln verbindet die winzigen Schlafzellen. Im Wagen Nummer drei hüpft ein Mann mit knapper Unterhose aus einer Tür. Ein anderer richtet sich erst einmal die Hose, bevor er seine Kabinentür schließt. Es ist unklar, wer zu wem gehört. Nur eine Frau in Uniform ist deutlich als Schaffnerin zu erkennen. In Kabine Nummer fünf sitzt Gleb Fedchun. Am Fenster, auf einem dunkelroten Ledersofa, das später zu zwei Betten ausgezogen wird; die Beine kaum ausgestreckt zwischen Holzwand und Tisch. Der 19 Jahre alte Mann, der in der Ukraine an der Grenze zu Polen geboren wurde, ist unterwegs nach Kiew. Er hat einen längeren Urlaub hinter sich. In Berlin und Dresden kam er vorbei, in Bayern hat er einen Freund besucht und in Polen seinen Halbbruder. Nun ist er nicht mehr als Tourist unterwegs, sondern kehrt in die Universitätsstadt Kiew zurück, in der er das Fach Wirtschaft studiert. Fedchun erzählt im Zugabteil von seinem Halbbruder, der aus Russland kommt. Er mag Russen, weil er viele Freunde dort hat. In dem aktuellen Konflikt macht nur ein geringer Teil der Russen und Ukrainer Probleme, sagt er. Er will Frieden. Vor einem Krieg hat Fedchun keine Angst und sagt: »Unsere Großväter haben solche Probleme anders gelöst, unsere Generation wird diese durch Frieden regeln.« Es dämmert draußen, gleich wird die Nacht hereinbrechen, und Fedchun beobachtet die vorbeiziehenden Wälder. Ihm gefalle die Dämmerung, sagt er. Die Nacht sei aber nicht seine Zeit sei, da möchte er schlafen. Das faltenlose Gesicht verzieht er kaum, als er spricht. »Wenn Krieg kommt, weiß ich nicht, was ich tun werde.« Er bleibe ein stiller Beobachter, solange Russland nicht in die Ukraine einmarschiere. Gegen 21 Uhr stoppt der rumpelnde Zug. Männer im tarnfarbenen Feldanzug und Schusswaffen patrouillieren in den Gängen. Eine Zollbeamtin sammelt Pässe ein, fragt Fedchun, ob er Drogen, Gewehre oder verbotene Literatur mit sich führe. In einer Halle werden die Zugräder gewechselt, weil die ukrainischen Gleise breiter sind als die polnischen. Fedchun erzählt, dass er es mag, alleine zu sein, um über die Zukunft der Welt nachzudenken. »Unsere Politiker sind faul und vielleicht auch nicht vorbereitet auf diesen Konflikt«, meint er. Dennoch glaubt er daran, dass sich die Städte der Separatisten, Donetsk und Lugansk, wieder der Ukraine anschließen würden, wenn die russischen und ukrainischen Medien die Situation nicht so aufheizten. Draußen ist es so dunkel, dass kaum noch Umrisse zu erkennen sind. Drinnen im Licht des Abteils beschreibt Fedchun, dass er sich im Zug besonders wohl fühlt, weil es ihm hier oft gelingt, sich von seinem Körper zu trennen und frei herumzuschwimmen. So sagt er das, und wirkt sehr gedankenversunken. Erst nach Mitternacht poltert der Zug nach Kiew weiter, und Fedchun bekommt den Pass zurück. Da ist schon sein 20. Geburtstag angebrochen, aber davon ist nichts zu spüren. Er sagt bloß ein ukrainisches Gedicht über das Leben auf. Fedchun erzählt, dass er auf dem Maidan war, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew. Er sei aber keiner von denjenigen gewesen, die Molotowcocktails geworfen hätten. Wenn Menschen behaupteten, dass in Kiew hauptsächlich Faschisten das Sagen hätten, dann verstünden sie die Bewegung falsch. Fedchun sagt: »Sie müssen da sein, bevor sie solche Schlussfolgerungen ziehen.« Als die Nacht vorüber ist, steigt Fedchun in Kiew aus, mit einer Plastiktüte in der Hand und einem Rucksack auf dem Rücken. Noch einige Stunden zuvor konnte er im Zug nicht schlafen und beobachtete den Vollmond. Jetzt hat die Dunkelheit den Tag vertrieben, als er am Maidan entlanggeht und sein schönstes Hemd trägt, weil er Geburtstag hat. Es riecht nach Lagerfeuer, Alkohol und Urin. Von Aktivisten ist das Gebiet um den Platz schon seit vielen Monaten besetzt. Khakifarbene Zelte, übereinandergestapelte Autoreifen, Holzwände. Frauen mit Kopftüchern sitzen auf Bänken. Viele Betrunkene torkeln ziellos auf und ab.
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Ein ukrainischer Student reist zurück in seine Universitätsstadt – Monate nach dem Umsturz ist der Maidan immer noch ein unheimlicher Ort voller dunkler Erinnerungen
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An Männern in Feldanzügen, manche von ihnen mit Schnellfeuerwaffen, schlängeln sich Menschen in Businesskleidung vorbei. Einige von ihnen bleiben stehen und sehen sich das Durcheinander an, so, als seien sie in ein Freiluftmuseum geraten. »Revolution« steht mit Pflastersteinen geschrieben vor einem Zelt. Auf einem anderen weht eine rot-schwarze Fahne. Dazwischen tunkt eine Frau in einem dunkelblauen Kleid und schwarzen Stöckelschuhen ihre Hände in eine Schüssel. Das Gefühl, das Fedchun auf dem Maidan sucht, symbolisiert Irina Sobotovych. Ihre Fingernägel sind schwarz, weil sie Pfannen in rußigem Wasser abwäscht. Ist ihre Arbeit als Übersetzerin beendet, hilft sie der Organisation der ukrainischen Nationalisten. Diese seien Patrioten und dürften nicht mit denen aus Europa gleichgesetzt werden, sagt die 34 Jahre alte Frau. »Die Menschen hier brauchen das Gefühl, dass die Leute sie unterstützen«, erklärt sie, »aber wir haben nicht den Eindruck, dass sich jemand um die Ukraine kümmert.« Sie haben die Krim verloren, Donetsk fast, beklagt Irina Sobotovych. Die Menschen wissen nicht, worauf sie sich vorbereiten müssen, sagt sie und gibt zu, dass sie Angst vor einem Krieg mit Russland hat. Irina sei eine typische ukrainische Frau, beschreibt Fedchun. Sie sei ihrem Land gegenüber loyal, bescheiden und arbeite hart. So schwärmt er von ihr. Zwei Männer kommen aus dem Zelt der Organisation der ukrainischen Nationalisten und stellen sich neben Irina Sobotovych. Fedchun hört den beiden zu, die nicht viel älter sind als er selbst. »Wir sind bereit, unser Leben zu geben, aber unsere Regierung nutzt nicht »Ich war da, weil ich ein die Möglichkeit einzugreifen«, beschwert sich der Patriot bin. Janukowytsch eine Mann mit gebügelter Feldjacke. Die meisten hat mein Land gestohlen.« seiner Freunde, Ostukrainer wie er, sind prorussisch eingestellt. Seit Februar schläft der Web-Entwickler nach der Arbeit auf dem Maidan. »Wir haben viel vom imperialistischen Westen erwartet«, bedauert der Mann neben ihm, »aber niemand hat erwartet, dass der große Bruder Russland mit Waffen kommt.« Er beteuert, dass sich Putin wie Hitler verhalte, Putin schaue auf die Ukraine wie Hitler damals auf das Sudetenland. »Wenn die EU nicht hilft, muss sie damit rechnen, bald einen totalitären Nachbarn zu haben.« Wassertropfen fallen vom schwarzen Himmel auf den Maidan, der von Straßenlaternen erleuchtet wird. Unter einem Dach beobachtet Fedchun aus zwanzig Meter Entfernung, wie sich die Nationalisten aufstellen. Ein älterer Mann, der von der Krim stammt, brüllt: »Hoch lebe die Ukraine.« Ein Dutzend junger Männer, die vor ihm in der Reihe stehen, erwidert: »Hoch leben die ukrainischen Helden.« Sie setzen die Mützen ab. Fedchun macht sich auf den Weg zu einer Bar und singt vor sich hin. Dort sieht er einen Fußball-Erstligaspiel im Fernsehen. Dynamo Kiew gegen Donetsk. Er streckt die Fäuste nach oben am Ende des Spiels, und schreit mit den Bargästen zusammen: »Dynamo, Dynamo.« Um Mitternacht regnet, blitzt und donnert es. Fedchun läuft zum Maidan zurück. Er zeigt auf ein ausgebranntes Haus auf dem Platz und erzählt, dass er dagewesen wäre, in der Nacht des 20. Februars. Er hätte mit anderen gegen die Regierung demonstriert, als das Gewerkschaftshaus niedergebrannt sei. Er glaubt nicht, dass in diesem Hauptquartier der Oppositionellen weniger als 100 Leute verbrannt seien. Es seien mehr gewesen, behauptet er und kneift die Lippen zusammen. Mit dem Smartphone hat er ein kurzes Video gedreht, fällt ihm ein, und sieht es sich an: Es ist Nacht, Stimmen schreien im Chor »genug gestohlen«, Schüsse von Wassergranaten sind zu hören. Das Gewerkschaftshaus steht in Flammen. Inzwischen hat sich auf der Straße ein Fluss aus Regenwasser gebildet, der an angebrannten Reifen vorbeischnellt. »Ich war da, weil ich ein Patriot bin«, sagt Fedchun laut. »Und«, er ballt die Fäuste, als er ruft: »Janukowytsch hat mein Land gestohlen.« Noch drei Stunden bleiben Fedchun, bis die Nacht vorbei ist. Vereinzelt lehnen Menschen an Hauswänden und schützen sich vor dem Wasser. Sie sprechen müde miteinander. Da bauen sich zwei nach Alkohol riechende Männer vor Fedchun auf und verlangen nach seinem Ausweis. Fedchun fragt nach dem Grund. »Das ist das Gesetz«, zischt ihn der eine Mann an und klackt immerfort am Abzug einer Schnellfeuerwaffe, »hast Du ein Problem damit?« Der Mann sagt, es sei seine Pflicht, in der Nacht Passanten zu kontrollieren. Die Administration des Maidans könne weitere Fragen beantworten. Fedchun zeigt ihnen seinen Ausweis. Sie klopfen ihm auf die Schulter. Dann ruft Fedchun: »Slava Ukrainy«; beide erwidern: »Slava Ukrainy« – Es lebe die Ukraine. •
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Im Nachtzug von Warschau nach Kiew erzählt der Ukrainer Gleb Fedchun von seinem Wunsch nach Frieden. Unten: Ukrainische Nationalisten stellen sich abends in Reih und Glied am Maidan auf.
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Text Sophie Elmenthaler
Fotos Janis Kaiser
Vom Flaschenfahrer
Die meisten Kunden bekommen den Laden in Hamburg-Rahlstedt nie zu sehen.
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zum Millionär Sager Gaba träumt davon, reich zu werden. Sein Kleinunternehmen soll buchstäblich über Nacht zum Imperium werden
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Wenn es nach Sager Gaba ginge, dann säße er jetzt nicht im Hamburger Osten mitten im Nirgendwo zwischen Einfamilien- und Autohäusern, sondern zuhause in Hamburg-Harburg und wäre Herr über ein ganzes Heer von Getränkelieferanten. Wenn es nach ihm ginge, hätte sein Nachtlieferservice längst Filialen in der ganzen Stadt, und die Fahrer würden mit richtigen Kleinlastern umherfahren anstatt mit ihren Privat-PKW. Dann würde es klappen mit dem Traum, in sechs Jahren Millionär zu sein. Aber leider geht es nicht nach Sager Gaba, und so steht er eben in seinem Laden in Rahlstedt, ohne Lieferantenheer. »Kiosk« steht über dem Eingang, schlecht zu lesen, weil die Lichtschläuche im Schaufenster alles überstrahlen. Aber der Schriftzug »Kiosk« ist auch gar nicht so wichtig, denn die meisten Kunden bekommen den Laden nie zu sehen. Sie bestellen ihre Waren telefonisch oder im Netz, da heißt der Laden Alk atNight. Sager Gaba ist 24 Jahre alt, klein und untersetzt, mit mandelförmigen Augen und sehr kurzen Haaren. Mit seinen Baggyjeans und den Skaterschuhen sieht er nicht aus wie ein Geschäftsführer. Hinter ihm stapeln sich Getränkekisten, vorn im Laden stehen ein defekter Wettautomat und eine leere Bäckereitheke. Der Brötchenverkauf lohnte sich nicht, »is ne tote Ecke hier«, sagt Gaba. Das mit dem Wettautomaten ärgert ihn; die Leute, die ihn aufgestellt hätten, sollten ihn längst abgeholt haben. Nachfragen will er aber nicht: »Is alles russische Mafia, damit leech ich mich nich an.« einsichten
Der Standort mag gegen Gabas Pläne sprechen, aber die Nacht ist seine Verbündete, denn nachts wollen die Leute trinken und feiern. Von Gaba bekommen sie, was sie brauchen. Alkohol, Softdrinks und Snacks, jede Nacht von 20:00 bis mindestens 02:00 Uhr, an Wochenenden bis 05:00 Uhr. An diesem Samstag sind nur zwei Fahrer da, einer hat abgesagt. Da ist Erik, schon etwas älter mit breitem Gesicht, Brille und Sneakers, die irgendwie zu jung für ihn aussehen. Und Micky, der sein Abitur an der Abendschule nachholt und genauso klein wie Sager Gaba ist, aber halblanges Haar und Bart trägt. Zwei von Gabas Freunden bedienen unentgeltlich das Telefon. Ist nicht das Schlechteste, hier abzuhängen, Getränke gibt es umsonst, Rauchen ist erlaubt, und das Pokalfinale der Champions League kann man ebenso gut hier auf
Mit zwei Hörern: Nach 22 Uhr gehen die meisten Bestellungen ein.
dem Laptop schauen wie zuhause. Wenn gerade nichts los ist, können sie mit Snoopy, Gabas französischer Bulldogge spielen. Die muss allerdings alle paar Stunden mit Spezial-Rohkostnahrung gefüttert werden. Es ist 22 Uhr, langsam kommen immer mehr Bestellungen rein. Gabas Freund am Telefon druckt sie auf DIN A5-Zetteln aus, dann überlegen alle zusammen, wie die Touren am besten gelegt werden sollen. Die Fahrer klauben Korn- und Whiskeyflaschen aus den Regalen, stapeln Bier und Cola in die Kühltaschen. Bei Bedarf ziehen sie Zigaretten aus dem Automaten, dann geht es los. Vier bis fünf Ziele fährt ein Fahrer pro Tour an, in einer Samstagnacht wie heute kommt jeder von ihnen locker auf hundert Kilometer. Nach zwei Stunden stauen sich die Bestellungen im Laden, lauter Flaschengrüppchen auf dem Tresen. Jetzt muss auch der Chef fahren. Sager Gaba stellt die Kühltasche auf den Rücksitz seines 3er BMWs und brettert los. Die meisten Kunden sitzen mit Freunden vorm Fernseher, einige haben nach dem Pokalfinale den Dortmund-Blues und brauchen Schnaps, um ihren Kummer zu ertränken. Bisher war nur eine Party dabei, die hat Erik vorhin beliefert. Lauter blutjunge Studenten in Wildlederschuhen und Slimfit-Hipsterhemden in einem Winterhuder Eckhaus, da wusste zunächst keiner, wer überhaupt was bestellt hatte. Sie dachten, Erik wäre von der Polizei und schickten ein erdbeer-
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Dazu kam ein Bußgeld, weil die Zusatzstoffe der Getränke nicht prominent genug im Katalog platziert waren. Konkurrenzunternehmen meldeten solche Verstöße gern, erzählt Gaba. Außerdem habe er ziemlich viel Geld verpulvert für Suchmaschinenoptimierung, natürlich sollte Alk atNight bei Google immer ganz oben stehen. Gerechnet hat sich die Sache am Ende aber nicht. Im Moment hat Sager Gaba nur noch den Laden als Kapital. Das klingt nicht gerade so, als würde das noch was werden mit der Million in sechs Jahren. »Ich hab die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben«, sagt Gaba. Obwohl er zur Zeit nur einen Bruchteil dessen verdient,
Mit zwei Hörern: nach 22 Uhr wird es beid en Bestellunassasasagen eng
Klingeln und hoffen: Manche Kunden bestellen und öffnen dann nicht.
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blondes Mädchen vor. Schließlich konnte die Frage, wer die drei Flaschen Oldesloer denn nun eigentlich zahlt, doch noch geklärt werden. Auch Sager Gaba fährt jetzt in Richtung Winterhude, zur selben Straße wie Erik vorhin. Es komme auch vor, dass Leute zwei- oder dreimal bestellten, sagt Gaba, aber nein: Diese Bestellung geht zwei Häuser weiter. Parken, raus, klingeln. Niemand öffnet. Gaba klingelt erneut. Schritte auf der Straße, ein Blick nach hinten. Könnte ja sein, dass ihn jemand überfallen will. Ist einem von den Fahrern vor zwei Jahren passiert. Fünf Unbekannte ließen Getränke an eine falsche Adresse liefern und fielen den Fahrer von hinten an, als er vor der Tür wartete. Sie hatten Pfefferspray, aber er konnte fliehen. Die Anzeige verlief im Sande. Gaba steht immer noch vor der Tür, ruft jetzt den Kunden an, der bestellt hat. Der geht auch ans Telefon, behauptet aber, nicht hier zu wohnen und von nichts zu wissen. »Sach doch einfach, wenn du‘s nich mehr haben willst, dann fahr ich jetz hier nich rum und such den richtigen Kunden«, sagt Gaba. Noch ein wenig Hin und Her, dann geht es mit dem Bier zurück zum Auto. Ärgerlich, aber normal. Oft seien die Leute zu feige zuzugeben, dass sie die Bestellung nicht mehr brauchten, weil die Kumpels nach Hause gegangen seien, sagt Gaba.
Er spricht schnell, so schnell, dass man Mühe hat, zu folgen. Der Tacho zeigt hundert, aber es ist schon nach drei Uhr und die Straßen sind fast leer. Wenn Gaba schnell ist, gibt es mehr Trinkgeld, und wenn den Kunden gesagt wurde, dass es etwa 30 Minuten dauert, sollte man sie nicht enttäuschen. Am liebsten sind Sager Gaba Gruppen junger Leute, die einfach Geld zusammenschmeißen und gleich richtig viel bestellen. Eine große Order braucht weniger Fahrtzeit als viele kleine. Eigentlich wollte Sager Gaba längst expandiert haben, immerhin führt er das Geschäft schon seit drei Jahren. Vorher
prüfte er für Mercedes als Subunternehmer Lieferungen von Autoteilen und verdiente gut. Aber er wollte lieber etwas Eigenes machen. Als der Freund eines Freundes seinen Spätverkauf aufgab, griff er zu, die Ablösesumme konnte er von seinem Ersparten bezahlen. Hätte Alk atNight richtige Lieferwagen und mehr Standorte, könnten die Mitarbeiter viel schneller alle Gebiete von Hamburg bedienen. Aber es fehlt an Geld. Fast 100.000 Euro habe er verloren, erzählt Gaba, wegen einer Urheberrechtsklage, ein Fotograf fand sein Bild einer Chipstüte auf Gabas Webseite wieder.
Die Partygäste wissen nicht mehr, was sie bestellt haben und wer zahlt. So etwas kostet die Fahrer wertvolle Zeit.
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Auch jede Nacht wach: Bulldogge Snoopy zählt noch einmal die Flaschen.
was er damals bei Mercedes bekam, und das alles ganz schön deprimierend ist. Seine bisherigen Fehler würde er natürlich nicht wiederholen. »Wenn es nichts wird, dann fange ich eben von vorne an«, sagt Gaba. Die nächste Tour geht nach Barmbek. Klassisches Arbeiterviertel – hier sind die Wohnungen und die Geldbeutel klein; fraglich, ob sich die Leute so einen teuren Service leisten können. Alk atNight ist zwar günstiger als die Tankstelle, aber mit 1,69 Euro pro Bier und ebensoviel für einen Liter Cola sind die Preise doch stattlich. Der Kunde wohnt in einem typischen Hamburger Zweckbau, Backsteinfront, mit Waschhaus im Innenhof. Das Treppenhaus ist großzügig geschnitten, dafür sind die Flure schmal. Hinter dem jungen Mann, der den Jim Beam im Türrahmen entgegennimmt, ist eine ziemlich verschlafene Party zu erkennen, wahrscheinlich Studenten. Übergabe und Bezahlung dauern kaum eine Minute. Drei Typen von Kunden gebe es, sagt Gaba, während er zur nächsten Adresse einsichten
fährt. Erstens die besagten Gruppen junger Leute, zweitens Paare oder Singles, die einfach zu faul zum Einkaufen seien und drittens, nun ja: Alkoholiker. Gaba beliefert sie alle, nur wenn ein Kunde mehrere Tage am Stück große Mengen Schnaps bestelle und ganz allein sei, könne er das nicht verantworten. Er will schließlich nicht schuld sein, dass sich jemand zu Tode säuft. »Weißt du, mein Vater, Großvater und Onkel hatten alle Gelbsucht, ich kenn das ja.« Gaba selbst war schon seit zwei Jahren nicht mehr feiern, schließlich arbeitet er immer, wenn die anderen trinken. »Ist schon scheiße eigentlich«, sagt er, viele Freunde habe er schon verloren, weil er nie Zeit hat. Wenn Sager Gaba Lieferungen in die Villen von Blankenese oder Othmarschen bringt, würde er manchmal gern mit den Kunden tauschen. Stellt sich vor, seine erste Million bereits zusammen zu haben und sich ein schönes Leben zu machen. Wenn es endlich soweit ist, will er nach Indien, ins Heimatland seiner Eltern. Ein Unternehmen gründen, Arbeitsplätze schaffen. Damit die Leute dort Geld verdienen können. Und der Reichtum auf der Welt nicht mehr ganz so ungerecht verteilt ist. Natürlich würde er auch vom fehlenden Arbeitsschutz profitieren, aber das sei nicht alles. »Als meine Mutter das letzte Mal in Indien war«, erzählt Gaba, »ist sie mit dem Bus gefahren. Dann kam ein zweiter Bus, dazwischen war ein Fahrradfahrer, und zack.« Er schlägt die Handflächen zusammen. »Nach zwei Tagen lag der Typ immer noch auf der Straße. Die Leute sind schon so kaputt da, dass sie sich nur noch um sich selbst kümmern können.« Weil es keine Sozialsysteme gebe. »Is schon komisch für meine Familie«, sagt er, »die haben Jahre gebraucht, um die ganze Verwandtschaft aus Indien und Afghanistan hierherzukriegen.« Und nun wolle der Sohn freiwillig zurück. Während Gaba von Indien erzählt, fängt es an zu dämmern. Die Fahrer trudeln nach und nach wieder in Rahlstedt ein, die Schicht ist fast vorbei. Snoopy wackelt unbeeindruckt von der Uhrzeit durch den Laden. Gaba nimmt ihn mit zum BMW, endlich Feierabend. Zuhause in Harburg wartet die Freundin. Morgen wird Sager Gaba sich wieder die Nacht um die Ohren schlagen. Und die weiteren Nächte. Bis er seine erste Million verdient hat. •
Impressum
EINSICHTEN 15 Magazin der Evangelischen Journalistenschule Herausgeber Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten Direktor Jörg Bollmann Publizistischer Vorstand EJS Dr. Thomas Schiller Leitung EJS Oscar Tiefenthal (V.i.S.d.P) Evangelische Journalistenschule Jebensstraße 3 10623 Berlin otiefenthal@ev-journalistenschule.de Chefredaktion Nina Marie Bust-Bartels, Katharina Kühn Chefs vom Dienst Sophie Elmenthaler, Maximilian Kalkhof, Bettina Malter Studienleitung Christian Personn Textchefs Tanja Stelzer, Dr. Stefan Willeke Redaktion Emily Bartels, Martin Donath, Margarita Erbach, Charlotte Gerling, Jennifer Hinz, Max Knieriemen, Lukas Meyer-Blankenburg, Sophia Münder, Ralf Pauli, Dr. Behrang Samsami, Ortrun Schütz Bildredaktion und Beratung Russell Liebman, Frank Schumacher Fotos Anna Aicher, Christophe Gateau, Paula G. Vidal, Luisa Hanika, Jan Hellerung, Janis Kaiser, Miriam Klingl, Daniel Kovalenko, Marija Mihailova, Jacintha Nolte, Christopher Puttins, Nina Raasch, Ruben Riermeier, Jan Steinhauer, Phuong Tran Minh (Alle: Lette-Verein, Berlin) Art-Direktion Anja Büchner Grafik Maxim Lachmann Anzeigenleitung Oscar Tiefenthal Sekretariat Dagmar Lopes, Sabine Seidel Bezug über Evangelische Journalistenschule Preis: 5,00 € plus Versandkosten Frau Dagmar Lopes dlopes@ev-journalistenschule.de Druck und Verarbeitung Möller Druck und Verlag GmbH Zeppelinstraße 6 16356 Ahrensfelde ISSN 1867-4135
Text Maximilian Kalkhof
Fotos Miriam Klingl
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Die Heimatlosen
von der Hansabr端cke einsichten
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Cali lebt als Anführer vier junger Vagabunden unter einer Berliner Brücke. Gemeinsam suchen sie die Freiheit. Doch sie verstricken sich in neue Abhängigkeiten
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Es ist Nacht über Berlin, als Cali die gestohlene Baustellenlampe anknipst. Im Licht der Leuchte lässt er sich in den Sessel fallen, der in der Mitte seines Schlaflagers steht. Vier Matratzen, eine zum Tisch umfunktionierte Kabelrolle, ein Sessel, Isomatten und Schlafsäcke – das ist Calis Quartier. Wäre Calis Quartier eine Wohnung, dann wäre der Sessel der Platz vor dem Fernseher. Auf ihm sähe er Nachrichten, von dort führte ein Flur in Schlafzimmer, Küche und Bad. Aber Calis Sessel steht unter der Berliner Hansabrücke. Von hier sieht Cali Jogger die Spree entlang traben. Die gestohlene Baustellenlampe ist seine Beleuchtung, die auf den Boden gelegte Matratze sein Bett, der Fluss sein Badezimmer. Cali ist obdachlos. Seit neun Jahren lebt der ehemalige Panzerpionier als Punk auf den Straßen Berlins. Der 29-Jährige ist Anführer einer Gruppe von Vagabunden, die im Vierer-Verbund unter einer Brücke lebt. Cali trägt einen rot gefärbten Irokesenschnitt und kniehohe Stiefel; das Stiefelschnüren kostet ihn morgens mehr als fünf Minuten. Die dreizehn abgebrochenen Mercedes-Sterne, die er über das linke Handgelenk gestreift hat, umgeben ihn mit einem ständigen Klimpern. Cali will nicht, dass sein richtiger Name in der Presse erscheint. Cali heißt Cali, weil er einmal im Suff Eier kochen wollte, aber vergaß, dafür den Herd aufzudrehen. Seine Freunde tauften ihn Calimero, nach dem schwarzen Küken mit der Eierschale auf dem Kopf, das in den neunziger Jahren im Fernsehen
zu sehen war. Die meisten Obdachlosen kennen ihn aber nur unter dem Namen Cali. Die Straße hat die zwei letzten Silben seines Spitznamens zerschlissen. Cali sitzt in seinem Sessel und starrt auf die Spree. Seine drei obdachlosen Freunde kauern auf den Matratzen und essen die Stullen, die sie sich um zehn an der Durchreiche der Bahnhofsmission – »Wurst oder Käse?« – geholt haben. Cali ist mürrisch. Er hat das Taschenradio eingeschaltet, um die Gespräche seiner Weggefährten nicht hören zu müssen. Sarina, seine Freundin, mit der er seine Matratze teilt, hat ihn heute schon ein paar Mal genervt. Nachdem sie ihn mit einem fremden Mädchen flirten gesehen hatte, fragte sie: »Schatz, hattest du mal was mit der?« Cali: »Bist du bescheuert? Die ist erst 16!« Als Sarina jetzt etwas Beiläufiges zu der aus dem Radio plärrenden Star FM-Musik bemerkt, platzt ihm der Kragen: »Ich baller dir die Fresse weg!«, schreit er. Sarina keift kurz zurück, verstummt dann. Schweigen. Wenige Minuten später fragt sie leise: »Bist du noch böse?« und schnürt ihm langsam die Stiefel auf. Sarina ist seit einem Monat mit Cali zusammen. Sie nennt ihn »Schatz«, mit langem »a«. Zwei Tage vorher, ein Mittwochnachmittag im Mai, Cali und Sarina trotten zur Bahnhofsmission. Am Bahnhof Zoo erzählt man sich, dass heute Kleiderausgabe ist. Wer beim Tragen hilft, darf als Erstes zugreifen. Cali packt nicht mit an. Er bleibt vor der Bahnhofsmission stehen, wendet sich von dem Heer der wartenden Bettler ab, sein Gesicht ein Stein. Sarina mischt sich unter die Helfer, wuchtet Kleiderkisten aus einem Kastenwagen in die Bahnhofsmission. Die Berlinerin hat ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihre Wimpern mit Tusche getönt. Als sie nach wenigen Minuten aus der Tür tritt, hält sie eine pralle Tüte in den Händen: Ein Rollkragenpullover, ein Paar Strümpfe, ein T-Shirt, zwei Flaschen Dusch das, eine Flasche Fa Pink Passion-Duschgel, Taschentücher, ein Feuerzeug, eine Boxershorts für Cali, fünf Wilkinson Sword-Rasierer. Außerdem hat sie eine beige Baumwolljacke bekommen, die sie gleich anlässt. Der Maiabend ist kühl, in der Nacht wird die Temperatur auf sechs Grad fallen. einsichten
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Cali hat keinen Personalausweis, aber ein Smartphone mit gesprungenem Display. Er sagt, er hat es geschenkt bekommen. Den Akku lädt er in einem Internet-Café am Bahnhof Zoo auf. An der Wand erinnert ein Foto an seinen Freund Grinsi (links). Grinsi hat mit Cali unter der Hansabrücke gewohnt. Jetzt ist er in einer Drogenentzugsanstalt.
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Weil ihre Mutter trank, wuchs Sarina in einem Berliner Heim auf. Vor einem halben Jahr lief die 20-Jährige aus dem betreuten Wohnen davon, weil sie genug hatte von Bevormundung und Besserwisserei. Schlief im Rausch unter einer Brücke; ohne den Alkohol wäre es nicht gegangen. Am Bahnhof Zoo lernte sie Cali kennen. Erst »toll«, dann »süß« habe sie ihn gefunden, erzählt sie. Sie zog in Calis Matratzenlager unter der Hansabrücke. Spätestens im Herbst will Sarina aber wieder runter von der Straße. Der Winter, die Minusgrade, der Schnee. Die Hartz IV-Empfängerin hofft auf eine zweite Chance in einem Wohnheim des Sozialamts. Ihre jüngere Halbschwester weiß bis heute nicht, dass Sarina obdachlos ist. In ihrem Facebook-Profil gibt sie an, in Neukölln zu wohnen.
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) schätzt die Zahl der wohnungslosen Menschen, also der Menschen, die entweder in Schutzeinrichtungen oder auf der Straße leben, auf etwa 280.000. Das entspricht einer Stadt wie Gelsenkirchen. Bis 2016 rechnet die BAGW mit einem Anstieg der Wohnungslosigkeit um rund 30 Prozent. 380.000 Menschen könnten dann wohnungslos sein. Das entspräche einer Großstadt wie Bochum. Prekäre Arbeitsverhältnisse, die Mietpreisexplosion in den Ballungsgebieten sowie der Mangel an Sozialwohnungen sind laut der BAGW die Hauptgründe für die wachsende Wohnungslosigkeit. Abends um neun: geklaute Schweinesteaks. Cali hat eine Gruppe Litauer zum Grillen unter die Hansabrücke eingeladen, man kennt sich vom Schnorren und Trinken am Bahnhof Zoo. »Auf Platte bin ich Chef, das ist mein Reich hier«, sagt er, als die Litauer unter die Brücke wanken. »Auf Platte« ist Obdachlosensprache und steht für: das Schlaflager. Jeweils zwei der vier Matratzen sind aufeinandergestapelt, auf einem Matratzenstapel schlafen Cali und Sarina, daneben die zwei anderen Vagabunden, ein jüngeres Pärchen. Die Litauer schleppen geklaute Nacken- und Rückensteaks, Salatgurken, Strauchtomaten, Paprika und Barbecue-Soßen in Sporttaschen heran. »Arbeiten« nennen sie es, wenn sie klauen. Fleischstücke so groß wie Pizzen brutzeln auf dem Grill, alles wird geteilt. Sarina legt Decken ans Spreeufer, man macht es sich im Liegen bequem. Bier, selbstgedrehte Zigaretten und Joints gehen um. Rocky, Sarinas dreijähriger Mischlingshund, ist der Liebling der Litauer. Rocky heißt Rocky, weil er so unerschrocken wie der Filmheld Rocky Balboa ist. Auch als Cali die Ratte JJ aus einer Dose lässt, ist die Begeisterung groß. JJ heißt JJ, weil ihr Herrchen Grinsi auf die blonde JJ aus der RTL2-Serie »Berlin – Tag & Nacht« steht. Grinsi hat früher mit Cali auf Platte gewohnt. Über dem Sessel hängt noch ein Foto von Grinsi. Grinsi heißt Grinsi, weil er immer grinst. Jetzt ist Grinsi in einer Drogenentzugsanstalt. Kurz vorm Morgengrauen sind die Litauer aufgebrochen. Cali hat auf Platte nicht gerne Besuch über Nacht. Im Notfall: okay. Aber niemand soll sich daran gewöhnen, jederzeit in seinem Reich übernachten zu können. Zwei Schlagstöcke und ein Hammer liegen zur Verteidigung gegen Eindringlinge zwischen den Matratzen. Cali, Sarina und das jüngere Pärchen, Ruta und Igel, liegen bis in den Nachmittag in ihren Schlafsäcken, rauchen Joints, ziehen Speed, das Gramm für 20 Euro, am Bahnhof Zoo oder im Görlitzer
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Calis Freundin Sarina geht zum Duschen in Hilfseinrichtungen für Obdachlose. Er wäscht sich in der Spree. In kalten Nächten nimmt Sarina ihren Hund Rocky mit in den Schlafsack. Er wärmt wie eine Heizung.
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Park kriegt man immer was. Die Drogen ersetzen das Essen. Wenn Cali von den Litauern spricht, sagt er: »die Polen«. »Das ist voll beleidigend«, wirft Ruta ein Mal ein. »Ist mir Latte«, erwidert Cali. Der Zusammenhalt der vier Vagabunden funktioniert wie in einer autoritären Familie. Cali ist der Patriarch. Der Sessel in der Mitte des Matratzenlagers ist sein Thron. Wenn er in ihm sitzt, dreht sich alles um ihn. Sarina, die hinnimmt, dass Cali schon zwei Kinder hat und Kondome nur zum Polieren seiner Stiefel verwendet, nennt ihn ihren »Mann«. Ruta, die 17-jährige Litauerin, nennt Cali ihren »Papa«, der sie beschützt. Igel, Rutas 20-jähriger Freund, nennt Cali seinen »besten Kumpel«, der immer mit Rat zur Seite steht. Als am Donnerstagnachmittag der Hunger anfängt, in der Magengrube zu stechen, brechen die vier Freunde zum Bahnhof Zoo auf. Schnorren. An einem durchschnittlichen Tag kommen sie auf 20 bis 30 Euro, an einem guten auf über 40. Das Geld geht in die Gemeinschaftskasse. Das Schnorr-Geheimnis: Lächeln. Wer lächelt und den Clown spielt, bekommt viel eher ein paar Münzen. Deswegen geht Cali auch meistens leer aus. Ursprünglich schnorrte die Gruppe vor der Burger King-Filiale gegenüber vom Bahnhof Zoo. Doch seit kurzem vertreibt man sie dort. Der Vierer-Verbund verlegte das Schnorr-Revier, zog vor die Baustelle, die das Amerika-Haus beherbergte und bald einer Fotogalerie weichen soll. Plötzlich Aufruhr, sechs Polizeiwagen, Leibesvisitationen. Einer achten Klasse aus Neumünster, mit der die Vier geredet haben, ist ein Handy geklaut worden. Die Bettler vom Bahnhof Zoo beteuern ihre Unschuld. Cali will helfen, folgt den Schülern in ihr Hotel in der Nachbarschaft, ortet mit ihnen das Smartphone auf einem Laptop. Auf dem Rechner sehen sie, dass sich der Dieb vom Bahnhof Zoo weg bewegt. Cali rennt zurück vor die Baustelle, nimmt mit einem hinzugelaufenen Obdachlosen die Verfolgung auf. Erfolglos letztlich, aber ehrenvoll. Eine halbe Stunde später führt die Klassenlehrerin ihre Schüler zurück zur Baustelle, in der Hand einen Karton Donuts: »Vielen Dank, ihr Süßen«, sagt sie und umarmt Cali. Die Klasse klatscht.
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Meistens ist es richtig cool, auf der Straße zu leben, findet Cali. Neulich gab es so einen Moment. Da wachte er auf und neben ihm auf dem Tischlein lagen 45 Euro, einfach so, wie in einem Traum, nur echt. Er hat sich so gefreut. Cali redet nicht gerne darüber, aber manchmal zieht ihn das Leben auf der Straße ganz schön runter. Zum Beispiel, wenn das Wetter trist ist und die Stimmung sich trübt. Wenn die Menschen mit hochgeschlagenen Kragen an den Bettlern vorbeipreschen und der Bettelbecher leer bleibt. Wenn tagelang nichts Warmes in den Bauch kommt. Wenn die Zeit sich dehnt und nicht vergehen will. Wenn er den ganzen Tag im Schlafsack unter der Hansabrücke liegt, kiffend und Star FM-hörend, Star FM-hörend und kiffend. Dann versiegen die Worte, jeder der Vier zieht sich stumm zurück. Auch Ruta ist dann zum Heulen zumute. Sie will bald wieder von der Straße weg sein. Am 6. März 2014 schreibt sie auf Facebook: »Ich kann das alles nicht mehr sehen es ist alles grau sinnlos und verlassen das alles macht kein sin doch ich kämpfe bis zum schluss bis mein herz nicht mehr schlägt.«
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»Glaub ja nicht, dass ich mich mit einer halben stunde sex zufriedengebe.«
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Es ist Freitagnacht gegen zehn, die Züge spülen die ersten Dortmund-Fans in die Hauptstadt, am Tag darauf wird Bayern im DFB-Pokalfinale auf den BVB treffen, das Grölen der Dortmunder hallt über den Bahnhof Zoo. Die Nacht ist für Cali der Tagesabschnitt, in dem am meisten passiert. Wie ein nachtaktives Tier verbringt er die Vormittage schlafend und erwacht erst nachmittags zum Leben. Tatsächlich kann er nachts oft gar nicht schlafen; manchmal, weil es zu ruhig ist und sich Selbstgespräche entspinnen; manchmal, weil es zu laut ist und er sich gegen betrunkene Nachtschwärmer zur Wehr setzen muss. Oft ruht sich Cali nachts einfach nur aus, um dann im Morgengrauen endlich einzudösen. Nachts, wenn das Schnorren erledigt ist, geht Cali auf Nahrungs- und Drogensuche. Aus Langeweile streicht er oft ziellos durch die Straßen Berlins, nur um nicht gleich wieder unter die Hansabrücke zu müssen. Neulich hat Cali ein Poster an die Wand unter der Brücke gehängt. Es ist ein Wahlplakat der Linkspartei, »Rüstungsexporte verbieten« steht darauf. Die Linkspartei ist die Partei, die er wählen würde, wenn er wählen würde. Cali wählt nicht, fährt schwarz, besitzt keinen Ausweis, kein Konto, keine E-Mail-Adresse, ist nicht krankenversichert, ist auf ganzer Linie gegen den Staat. Aber für was ist er eigentlich? »Für mich.« Weil er aggressiv war, kam Cali mit neun Jahren in ein schwäbisches Heim. Wieso er aggressiv war, weiß er selber nicht. Der Vater trank und Cali schlug bei Problemen einfach schnell zu. Er machte die Hauptschule und lernte Schreiner. Dann hörte er, dass man bei der Bundeswehr gutes Geld verdienen kann. Cali sagt, er habe sich für vier Jahre verpflichtet. Er sagt, er habe als Gebirgsjäger in Afghanistan gekämpft. Er sagt, dass er eines Tages bei einer Patrouille mit seiner G36 einen bewaffneten Afghanen in einem Hauseingang erschossen habe. »Entweder ich oder der«, habe er gedacht, sagt Cali. Nach Afghanistan wollte Cali dann raus aus seinem Leben. Also ab nach Berlin, wohin auch sonst, in die Hauptstadt, die damit kokettiert, arm, aber sexy zu sein. Calis Kinder leben bei seinen Ex-Freundinnen. Er nennt sie seine »Frauen«. Seine 12-jährige Tochter, deren Namen »Lailah« er sich auf den rechten Unterarm hat tätowieren las-
sen, lebt bei seiner ersten »Frau«. Sein 5-jähriger Sohn André lebt bei seiner zweiten »Frau«. Cali hat keinen Kontakt zu seinen Kindern. Er sagt, er wolle sich wieder um sie kümmern, wenn er von Heroin runter ist. Auf Anfrage erklärt das Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr, dass Cali nie in Afghanistan gedient hat. Er hat überhaupt keinen Auslandseinsatz für die Bundeswehr bestritten. Von Januar bis Oktober 2005 absolvierte er in einer Panzerpionierkompanie den damals verpflichtenden neunmonatigen Grundwehrdienst. Wenn Cali von seinem Leben auf der Straße spricht, geht es viel um Freiheit. Aus der Freiheit, die er meint, folgt aber nichts, sie erschließt keine Möglichkeiten. Was Cali will, ist: Freisein von Verantwortung. Er hat sich eine Geschichte ausgedacht, die verhüllen soll, dass er sich drückt. Freitagnacht, gegen ein Uhr. Am nächsten Morgen werden Cali und Sarina auf die Geburtstagsparty eines Kumpels nach Brandenburg fahren, man muss sich noch einigen, wann der Wecker klingeln soll. »Zehn oder halb zehn?«, fragt Cali. »Zehn oder halb elf!«, findet Sarina. »Ich brauch auch noch n bisschen Zeit zum Anziehen«, rechtfertigt sich Cali. Zwischen eins und zwei schlafen Ruta und Igel miteinander, ganz leise, nur der Schlafsack hebt und senkt sich schnell. Cali und Sarina sitzen rund einen Meter entfernt auf ihrer Matratze, unterhalten sich, tun so, als wäre nichts. Als sie auf Geschlechtsverkehr zu sprechen kommen, sagt Cali: »Und glaub ja nicht, dass ich mich mit einer halben Stunde Sex zufriedengebe.« In dieser Nacht werden Cali und Sarina nicht miteinander schlafen. Sarina hält Cali von sich, indem sie redet und redet, bis es hell wird und er eindämmert. Zehn Tage später, Cali sitzt alleine unter der Hansabrücke. Unter seinem rechten Auge wölbt sich ein blauer Bluterguss, sein Gesicht ist verbeult. Am Bahnhof Zoo ist er mit einem Stricher in Streit geraten. Dem habe er dafür den Arm gebrochen, sagt Cali. Sarina ist abgehauen. Auch Ruta und Igel sind auf Platte ausgezogen. Jetzt habe er weniger Stress, sagt Cali. Igel sagt, Cali habe Sarina bedroht, sie wohne jetzt bei einem Bekannten. Außerdem habe Cali Geld für sich abgezweigt, das für alle bestimmt war. Deswegen haben auch Igel und Ruta das Weite gesucht. Calis Familie ist zerbrochen. Cali sagt, ihm sei das alles scheißegal. Als er am Bahnhof Zoo ankommt, sieht er, wie Arbeiter anfangen, das Baugerüst vor der neuen Fotogalerie abzubauen. Die Galerie wird bald eröffnen. Cali muss sich jetzt ein neues Schnorr-Revier suchen. • einsichten
Seine Stiefel hat Cali (rechts) geschenkt bekommen, sagt er. Er poliert sie mit Kondomen. Das morgendliche Stiefelschnüren dauert länger als fünf Minuten.
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Text Lukas Meyer-Blankenburg
Fotos Nina Raasch
Kabale und Kirche
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Unter ihren mächtigen Mauern werden aus Priestern und Mönchen Nahkämpfer, drängeln sich täglich abertausende Pilger, um einmal den Grabstein Jesu zu berühren. Die Grabeskirche in Jerusalem ist einer der heiligsten Orte des Christentums – und einer der umstrittensten. Hier soll Jesus bestattet worden und wieder auferstanden sein. Seit auf diesen Stätten im vierten Jahrhundert die Grabeskirche entstand, streiten Christen um die Macht am Grab. Etwa 50 Priester und Mönche sechs verschiedener christlicher Konfessionen wohnen in der Kirche. Die syrischen, koptischen, äthiopischen, armenischen, katholischen und griechisch-orthodoxen Christen richten ihr Leben streng nach den Vorschriften eines Status Quo von 1852 aus. Weil die Regeltreue der Geistlichen brüchig ist, wachen israelische Polizisten über den Frieden in der Kirche – auch sie sind Christen. Jede Nacht können sich 15 auserwählte Gläubige in der Grabeskirche einschließen lassen. Wer sich frühzeitig anmeldet, züchtig gekleidet ist und den strengen Blicken des Mönchs am Eingang standhält, darf die Tore passieren.
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Torschluss In der Abenddämmerung ist das beliebteste Fotomotiv des Platzes kaum zu erkennen: die Leiter am rechten Fenster über dem Eingang der Kirche. Seit Jahrhunderten lehnt sie dort, ein Sinnbild des Streits. Niemand wagt, sie zu berühren. Denn jeder Versuch die Leiter zu entfernen und damit den Zustand der Kirche zu ändern, droht den schwelenden Konflikt unter den Konfessionen zu verschärfen. Dabei nutzen die Mönche die alte Einstiegshilfe längst nicht mehr. Am Abend, wenn der muslimische Schlüsselmeister die Holztore der Kirche nach jahrtausendealter Vorschrift geschlossen hat, beginnt drinnen die eigentliche Arbeit der Geistlichen.
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Heilstein Vor Beginn der Mitternachtsmesse zündet ein griechisch-orthodoxer Mönch die Öllampen über dem Salbungsstein an. Hier soll Jesus nach seiner Kreuzigung gewaschen und mit Ölen gesalbt worden sein. Die orthodoxen Christen sind die mächtigste Gemeinschaft in der Grabeskirche und verwalten hauptamtlich das Heilige Grab und das prächtige Kirchenschiff. Unter dessen Boden thronen nach orthodoxer Vorstellung die Säulen der Hölle. Auch bei der Zahl der Pilger gewinnen die Orthodoxen den Wettstreit unter den Konfessionen. Zur Nachtmesse strömt eine leise murmelnde und sich immerfort bekreuzigende Hundertschar orthodoxer Pilger zum Salbungsstein. Für die Gläubigen ist es das Höchste, mit den Händen über seine ölig glänzende Oberfläche zu streichen und ihn zu küssen. Außerdem legen die Pilger Kerzen und Kreuze auf ihm ab oder verreiben ölgetränkte Tücher auf dem Stein, um etwas von der Heilkraft des Erlösers mitzunehmen.
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Orte des Leids Ein Rundgang führt im Inneren der Kirche entlang der letzten Leidensstationen Jesu. Pilger erklimmen rechts die Treppenstufen zum Golgota-Felsen, dem Kreuzigungshügel. Oder sie steigen weiter hinten im Schein der elektrischen Lampe hinunter in die Kreuzauffindungsgruft. Minuten nach der Schließung gehört die Kirche den Besuchern. Die Mönche kehren erst kurz vor Mitternacht aus ihren Wohnräumen an die heiligen Stätten zurück.
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Jesus ganz nah Für ein paar Augenblicke nur verharren Pilger am Heiligen Grab und beten. Dann jagt sie ein mürrischer Mönch wieder hinaus. Denn vor der hölzernen Ädikula, dem haushohen Rundbau über dem Grab, warten jeden Tag tausende Gläubige. Umso intensiver möchte jeder die wenigen Minuten im Kerzenlicht der kleinen Grabkammer erleben. In der Nacht beten hier Mönche und Priester der Kirche nach einem eng getakteten Zeitplan. Wer überzieht, bekommt Ärger mit den anderen Gemeinschaften. An der Schwelle zum Grab hört die Nächstenliebe auf.
Froher Botschafter
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»Nein, ich bin nicht Jesus«, sagt Carl James Joseph und hat damit nur dem Namen nach Recht. Denn Joseph, der Jacob heißen möchte, sieht nun mal nicht aus wie ein Amerikaner, der vor 47 Jahren in der »kanadischen Wildnis gezeugt« und in Detroit aufgewachsen ist. Weil Jacob das weiß und weil er die Blicke der Touristen genießt, kommt er täglich zur Grabeskirche, lässt sich fotografieren und flüstert jedem, der es hören möchte, bereitwillig sein Evangelium ein. Seine eigene Reise im Sinne eines Wanderpredigers hat Jacob vor vier Jahren nach Jerusalem gebracht. Seitdem versucht er, jede Nacht am Heiligen Grab zu verbringen. Doch allzu oft verscheuchen ihn die orthodoxen Mönche von dort. Ab Mitternacht beanspruchen sie den engen Platz für ihren Gottesdienst. Danach sind die Armenier an der Reihe, gefolgt von den Franziskanern. Auch in der Nacht bleibt der Andrang vor dem Grab groß.
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Der Partykönig von Lüchow-Dannenberg
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Ob Teenie-Club, Schützenfest oder Silberhochzeit. In der wendländischen Provinz organisiert Jan Eggert Partys für Geld. Ein Geschäftsbesuch zwischen Dorfschönheiten und Kräuterschnaps einsichten
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Text Max Knieriemen
Jan Eggerts Eltern wollten, dass er Ingenieur wird. Stattdessen lebt er von Partys.
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s ist vier Uhr morgens. In der Luft liegt der Geruch von Pubertätsschweiß und Maschinenöl. Normalerweise stehen hier Hebebühnen, Mechaniker schrauben an Autos rum, jetzt schrauben Teenager-Jungs an Teenager-Mädels, die Lichtanlage blinkt zu Deephouse-Beats. Auch wenn kaum einer im Raum älter als 20 ist, könnte sich die Szene auch in einem verlassenen Industriegebiet einer Großstadt abspielen. Dreißig Quadratmeter Clubkultur, wo niemand sie vermuten würde. Der Mann, der sie hierher gebracht hat, schaut skeptisch drein. »Meine Welt ist das ja nich«, sagt Jan Eggert. Er bevorzugt Schlager und war noch niemals in New York, aber anders als Udo Jürgens hat er keine Sehnsucht danach, in zerrissenen Jeans durch San Fransisco zu flanieren. Er trägt eine ordentliche Anzughose und geht nach nebenan, wo gefällige »Air Play«-Charthits laufen. Etwa einmal im Monat veranstaltet er auf den zwei Floors der »Eventhalle«, sonst eine Autowerkstatt, einen Diskoabend. An allen anderen Samstagen steigt die einzige Party im Landkreis für junges Publikum in Eggerts Club »P6« im benachbarten Dannenberg. Er ist gerade mal 30 und managt nahezu das gesamte Nachtleben in einer der dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands. Keine Stadt der Republik ist so weit von einer Autobahnauffahrt entfernt wie Lüchow. Für junge Leute hat die Gegend wenig zu bieten, die meisten ziehen nach der Schule weg. »Wenn das Abitur nach 13 Jahren wieder eingeführt wird, ist das ein Riesenvorteil für uns«, sagt Jan Eggert. Dabei sind die Diskoabende nur eine von vielen Erwerbsquellen für die Firma »Eggert-Entertainment«, den größten Umsatz macht der Jungunternehmer
Fotos Jan Hellerung
mit Veranstaltungstechnik für Firmenevents und Dorffeste, aber bekannt ist er vor allem als Alleinunterhalter auf privaten Festen. Bevor sich die Nacht über den Kreis Lüchow-Dannenberg gelegt hat, ist Jan Eggert mit seinem schwarzen Audi im Innenhof eines Landgasthauses vorgefahren. Der makellose blaue Anzug sitzt zu Beginn des Abends perfekt, formvollendet mit rot getupftem Einstecktuch. Mit dabei hat er drei Koffer, einen mit Akten, einen mit CDs, einen mit Laptop. Das Gasthaus Sültemeier befindet sich in einem großen Bauernhof mit Fachwerk und den wendlandtypischen roten Ziegelsteinen. Jan Eggert betritt den akkurat herausgeputzten Festsaal und begrüßt den Wirt. Man kennt sich. Eggert steckt die Stromkabel ein und prüft die Kabelverbindungen, der Wirt kommt zur Bühne und kündigt an, gleich mit einer Runde Boonekamp zurückzukommen, das ist der ortstypische Kräuterschnaps. Der Soundcheck geht schnell. Während hinter der Bühne die erste Runde Bier und Boonekamp fließt, tröpfeln das Ehepaar Rikettke und ihre ersten Gäste ein. Prosecco und Küsschen, C&A-Anzüge und Familientratsch, die Feier zur Silberhochzeit von Detlef und Beate nimmt langsam Form an. Etwa sechzig Auftritte im Jahr absolviert Jan Eggert als Alleinunterhalter. Gerne würde er noch mehr Aufträge abtreten, um etwas mehr Zeit für seine Familie zu haben, aber in der Provinz ist es schwer, gutes Personal zu finden. Dabei hat Jan Eggert schon alles vororganisiert, auf einem Formblatt ist alles notiert, was für seine Party von der Stange notwendig ist. »Wir haben komplette Musiksets für die Abende vorbereitet, da muss sich nur einer hinstellen und auf Play drücken. Aber die Leute wollen alle einen Nine to Five-Arbeitstag.« Er selbst hatte den nie. Allein an diesem Samstag hat er schon die Technik für die Bühne eines Volksfest gemanagt und wird danach spät in der Nacht noch einmal in der Eventhalle nach dem Rechten sehen, zeitgleich stellen seine Leute auf Veranstaltungen in Stuttgart und Berlin die Bühnentechnik. Seine Alleinunterhalter bespielen am selben Abend zwei Schützenfeste, eine Hochzeit und einen Geburtstag. Nun steht er hinter seinem Mischpult und beobachtet die Situation genau. Er kennt überraschend wenige Gäste. Aber Jan Eggert hat gelernt, sein Publikum zu lesen. »Die Alten sind leichter zum Tanzen zu animieren.« Heute wird es wohl nicht schwer werden, das Silberehepaar ist um die Fünfzig, wie die meisten Angehörigen. Detlef Rikettke ist ein großer muskulöser Mann mit wenigen Haaren. Einer von fünfzehn Geschwistern, braungebrannt von seiner Arbeit auf dem Bau. Die Rede liest er ab, spricht von seinem Trauversprechen, dass er Beate für gute und schlechte Zeiten gegeben hat, »aber an schlechte kann ich mich bei Dir gar nicht erinnern.« Rikettkes haben bei Jan Eggert vor allem Schlager angefordert. »Auf keinen Fall englischsprachige Musik spielen, dann läuft dat schon.« Die Kellner laufen mit der Vorspeise auf: Suppenmarsch. Danach gibt es dann erst einmal Hintergrundmusik, gedimmte gesangslose Versionen von Schlager-Klassikern. Mit 18 hat sich Jan Eggert als Alleinunterhalter selbstständig gemacht. Er tingelte durch den Landkreis, seine Veranstaltungen wurden immer größer. »Ich war damals jünger und konnte gut die Leute ziehen.« Schließlich begann er Gasthäuser und Festhallen für seine Veranstaltungen anzumieten. Eggert-Entertainment wurde immer größer, größer als alle Mitbewerber. Vor etwa einem Jahr machte die einzige verbliebene Diskothek im einsichten
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Nachdem das Abendessen verdaut ist, starten die ersten Walzerrunden. Hier tanzt Detlef Rikettke mit einer Frau – es ist nicht seine eigene.
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Auch bei den Rikettkes gibt es einen Bayern-Fan, damit ist Streit garantiert. Dank des Siegs im Pokalendspiel konnte Onkel Thorsten den Abend genießen.
Landkreis pleite. Seitdem ist Jan Eggert auch hier eingestiegen. Man kann ihn mit Fug und Recht als Party-König von Lüchow und Dannenberg bezeichnen. Bei der Silberhochzeit auf dem Reiterhof beginnen jetzt die ersten Paare Walzer zu tanzen. Vor der Tür steht Dieter Damaschke und raucht. Sein Sohn war im selben Jahrgang wie Eggert. »Was ham die Eltern nich alles auf den Kopf gestellt, um seine Karriere zu verhindern.« Als er 2008 expandierte, in größere Bühnen investierte, wurde viel geredet, ob er sich denn damit nicht übernommen habe. Seine Mutter ist Sparkassenangestellte, sie hatte schon viele Unternehmen in die Insolvenz gehen sehen. Sein Vater ist Beamter beim Veterinärsamt. Er sei ähnlich wie Jan Eggert, der heute kaum irgendwo anzuecken scheint, ein »aalglatter Typ«, erzählt Damaschke. Die Familie Eggert ist sehr auf Sicherheit bedacht, da fällt ein Unternehmer aus der Reihe, vor allem wenn das Geschäftsmodell Party heißt. Es kam anders. Eggert nimmt hastig eine Mahlzeit im Nebenraum ein, wo im Fernsehen ein Fußballspiel beginnt. Aber dafür hat er keine Zeit. Zwar könnte er die Playlist in seinem Computer ewig weiterlaufen lassen, aber ein Alleinunterhalter muss Bühnenpräsenz zeigen. Als nach dem ausgedehnten Showprogramm die ersten Familien mit Kindern den Heimweg antreten, gewinnt das Geschehen auf der Tanzfläche gemeinsam mit dem Alkoholpegel an Fahrt. Die Paare lösen sich auf und die Bewegungen werden ausgelassener. Jetzt packt Jan Eggert die Hits aus. Als er »Atemlos durch die Nacht« auflegt, verlassen die älteren Damen fluchtartig die Raucherecke, um zu tanzen. Der Meister selbst singt alle Lieder mit tödlicher Textsicherheit bei geschlossenem Mikrofon mit und wippt gleichförmig mit den Beinen. Nur die ganz jungen und die ganz alten Rekittkes sitzen bei Bier und Weinschorle weiter an den Tischen. Jan Eggerts Gespür hat ihn nicht getrogen, die Jungen sind nun mal schwerer zum Tanzen zu animieren. Die Älteren aber führt er über die Tanzfläche wie ein Marionettenspieler seine Puppen. In der Mitte steht jetzt Beate Rikettke mit fünf ihrer Schwägerinnen und findet kein Halten mehr. Eine Tanzrunde dauert drei bis vier Songs.
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Die Rikettke-Schwestern legen eine kleine Verschnaufpause ein, aber nur solange bis Jan Eggert Helene Fischer auflegt.
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Zum Ende hin kommt immer ein besonders schmissiges Lied, »bevor wir zur Theke schreiten.« Die Leute brauchen Trink- und Verschnaufpausen und die gibt Eggert ihnen. Für den Abschluss hat er eine besondere Idee. »Ich mag das nicht, wenn der Abend so ausklingt und die letzten vereinzelt auf der Tanzfläche stehen. Dann doch lieber ein gemeinsamer Abschluss mit Lagerfeuer. Ich würde sagen, halb drei max.« Doch die Rekittke-Schwestern halten erstaunlich lange durch, bis Jan Eggert endlich ins Mikrofon sagt: »Wir kommen zum Lagerfeuer«. Das besteht aus einem vierarmigen Kerzenhalter in der Mitte des Raumes. Darum sitzen nun die Partygäste, reichen Sektflaschen herum und lauschen andächtig Eggerts Romantik-Repertoire. Als letztes Lied läuft »Sierra Madre del Sur«, kurz vor dem Refrain ertönt Jan Eggerts Stimme: »Und wir singen alle mit!« Alle singen mit. Als der Wirt das Licht anmacht und Eggert dem Silberhochzeitspaar seine Rechnung präsentiert, ist es drei Uhr. Dass auf den Grundpreis von 350 Euro bis 22 Uhr einige Stunden à 45 Euro hinzugekommen sind, scheint sie nicht zu stören. Die Hochzeitgesellschaft schwärmt betrunken und glücklich nach Hause, Jan Eggerts Abend ist noch nicht vorbei. Er setzt sich in seinen Audi und sieht noch einmal nach, wie die Geschäfte in der Eventhalle laufen. Sie laufen gut. Auch wenn er kein Mensch der Subkultur ist, schaut er sich die Disko gerne an. Vielleicht ist er doch mehr Geschäftsmann als Partykönig. Gefragt nach seinem Traum-Club, erzählt er nichts von guter Musik, schöner Innenausstattung und einer persönlichen Note. Er hätte gerne eine große Multifunktionshalle mit unterschiedlichen Veranstaltungsmöglichkeiten. Unter der Woche könnte man Firmenevents veranstalten und an den Wochenenden große Partys für Jugendliche. Das Interieur komplett verschiebbar, je nachdem, womit sich gerade am meisten Geld verdienen lässt. »Natürlich müsste man dazu näher an einem Ballungsgebiet sein«, aber wer weiß, wohin es Eggert noch bringt. Zunächst plant er zumindest die Expansion seines Imperiums in den Nachbarlandkreis Uelzen. •
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Text Jennifer Hinz
Fotos Christophe Gateau Links: Ina macht gute Miene zur düsteren Tour. Unten: Einer der letzten beiden Lokschuppen Deutschlands steht in Berlin-Pankow.
Im Zwielicht Die Suche nach dem großen Kick in Berlin treibt Touristen und Neuberliner zu Verzweiflungstaten. Die »Twilight Berlin Tour« wirbt mit Abenteuer und verkauft Illusionen
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erlin ist Sinnbild für Abenteuer, kreative Entfaltung und den Geist der Rebellion. Ihr Ruf eilt der Stadt weit voraus und lockt Menschen aus den grauen Industriestädten Deutschlands und der Welt. »Mal richtig was erleben« steht auf den imaginären Fahnen, die sie schwingen, wenn sie auf dem betonierten Acker südlich von Berlin aus dem Flugzeug steigen. Mit Reiseführern und anderem touristischen Schnickschnack lässt man sich nicht abspeisen. Es gilt, das »echte« Berlin zu erkunden. Eine Tour ist die Lösung. Die Twilight Berlin Tour, ein Best of aller Abenteuer, die die Stadt bei Nacht zu bieten hat. Es ist 18 Uhr und unter dem Fernsehturm am Alexanderplatz kommen acht *Name v. d. Redaktion geändert.
Menschen zusammen: Vier Neuberliner, Anfang 20, im Hipster-Look, der außerhalb Berlins beliebt und in der Stadt bereits wieder out ist, zwei Däninnen und ein Paar aus Wales. 20 Euro hat jeder bezahlt, um endlich jene dunklen Ecken aufzuspüren, über die Blogger weltweit schreiben und die für sie bisher unauffindbar waren. »Treffe die Freaks, die bei Nacht aus ihren Löchern kriechen auf Berlin´s härtester Tour. Von der Öffentlichkeit versteckte Plätze, Menschen am Rande der Gesellschaft – an der äußersten Ecke der Konter-Kultur«, heißt es auf der toureigenen Website. Um Teil des nächtlichen Spektakels werden zu dürfen, müssen die Teilnehmer mindestens 18 Jahre alt sein, aber keinesfalls klaustrophobisch oder ängstlich, fordert der Veranstalter.
In sich gekehrt warten die Teilnehmer, halten ihre Kräfte beisammen, um für alle Eventualitäten der kommenden fünf Stunden gewappnet zu sein. Eine kleine, unscheinbare Frau gesellt sich zur Gruppe. Sie nennt sich Ina* und ist der Tour-Guide für heute Nacht. Ina durchzecht Wochenenden in besetzten Häusern in Friedrichshain, trampt durch Europa und scheint genau die Richtige für ihren Job als Extrem-Tourguide zu sein. Auf Inas Kopf sitzt eine Schiebermütze. Über einem Hoodie trägt sie eine abgewetzte, schwarze Lederjacke. Unter ihren Mundwinkeln sitzt jeweils ein schwarzes Loch, da, wo sonst ein Piercing steckt. Rasch zählt sie durch und stellt fest: alle da. Die sorgsam ausgedruckten Tour-Voucher der Teilnehmer will sie nicht sehen. Abmarsch! Es geht in einsichten
den Untergrund. Allerdings nur zur wenig spannenden U-Bahn. Ina fischt hastig in ihrer Umhängetasche nach Tabakbeutel und Zigarettenpapier. Wenn sie nicht isst oder Bahn fährt, raucht sie. Seit fünf Jahren lebt die gebürtige Genferin in Berlin. Sie arbeitet als Fotografin und Filmerin. Mit den Touren verdient sie sich etwas dazu. 20 Minuten später steht die Gruppe in der grünen Pampa von Pankow im Nordosten von Berlin, zur Linken eine Autobahnauffahrt, zur Rechten die Kleingartenkolonie »Im feuchten Winkel«. Haust hier der »Rand der Gesellschaft«? Bevor erste Zweifel an Berlins härtester Tour aufkommen können, schlägt die Gruppe einen Trampelpfad ein, der an einem zwei Meter hohen verschlossenen Tor endet. Eine Brechzange ist nicht nötig, der Zaun ist ein paar Meter weiter niedergetreten. »Das Betreten des Geländes ist illegal, aber die Polizei kommt hier selten hin«, sagt Ina. Hinter dem Zaun verbirgt sich ein geschlossener Rangierbahnhof, dessen Gleise und Gebäude zusehends verwildern. Der Lärm der Autobahn ist nun ganz fern. Keine Menschenseele weit und breit. Wie kann so ein großes Gelände nur so unbemerkt bleiben? Gut, dass die Tour-Veranstalter es entdeckt haben. Vor einem kreisrunden Gebäude, das früher einmal der Lokschuppen war, kommt die Gruppe zum Stehen. »Achtet bloß darauf, wo ihr hintretet, wenn wir gleich reingehen«, warnt Ina. Das Abenteuer beginnt. Die Teilnehmer zücken Smartphones und Spiegelreflexkameras. Spannung, wie vor der Erkundung einer 3000 Jahre alten pharaonischen Grabkameinsichten
mer, breitet sich aus. Dann betritt die Gruppe das zirkuszeltähnliche Gebäude. Letzte Lichtstrahlen fallen durch das morsche Holzdach. Sie machen die Graffitis an den Wänden und die riesigen Löcher im Boden sichtbar. Klick! Aus einer Ecke des Schuppens kommen Stimmen. In verquerer Haltung posiert eine Frau in Kleid und Pumps. Ein Mann steht ihr gegenüber, zieht die Stirn kraus und blickt durch den Sucher der Kamera. Klick, und es blitzt. Die Entdeckerfreude ist getrübt, nicht nur Streetart-Künstler haben diesen Ort bereits entdeckt, sondern auch der Kommerz. Die Tour scheitert an ihren eigenen Versprechungen. Denn »versteckte Orte« offenbaren sich nicht auf dem Präsentierteller und Freaks meiden Gaffer. Womöglich reichte vor zehn Jahren bereits ein nächtlicher Spaziergang durch Mitte, um Touristen das Fürchten zu lehren. Heute ist das so einfach nicht mehr, und das weiß auch Ina. Als sie vor 15 Jahren das erste Mal nach Berlin kam, gab es noch zahlreiche verlassene Orte zu entdecken. Heute würde die Stadt immer moderner und verliere ihre Ecken und Kanten, sagt sie. Man habe kaum einen Ort mehr für sich allein. Dennoch gibt sie zweimal in der Woche vor, sich ernsthaft auf die Suche zu begeben. Nach dem, was nicht mehr ist, und was es mit Blick auf die großspurigen Versprechungen
der Tourwebsite vielleicht nie gab. Später wird sie die Teilnehmer durch Friedrichshain führen. Einem Ort, der früher für seine alternative Szene bekannt war und heute ein Paradebeispiel der Gentrifizierung ist. Verkauft wird ein Phantom aus der Vergangenheit. Früher machte die Gruppe, mit ein paar Sprayflaschen im Gepäck, einen Abstecher zur alten Eisfabrik in Mitte. Um auf das Gelände zu kommen, musste eine kleine Mauer überwunden werden. Das war vielen Teilnehmern dann doch zu abenteuerlich, man hat es gern flach. Die Eisfabrik flog aus dem Programm und wurde durch den RAW-Tempel ersetzt, einem Club- und Bar-Komplex, dessen größter Nervenkitzel darin besteht, nicht die öffentlichen Toiletten aufsuchen zu müssen. Kleine gelbe Kügelchen übersähen den Boden des Lokschuppens. Gelegentlich finden hier Softair-Waffenduelle statt. Keiner hört Ina mehr zu. Aber das ist gut, sagt sie. »Wenn alle abgelenkt sind und mit offenen Mündern dastehen, weiß ich, sie genießen die Tour.« So beharrlich die Teilnehmer die Auslöser auch drücken, ihre Gesichter bleiben ausdruckslos. Vielleicht dämmert es ihnen: Graffitis gibt es auch zu Hause und ein heruntergekommener Schuppen macht noch kein Abenteuer. •
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Text Charlotte Gerling
Fotos Jan Steinhauer
Seit es an der deutsch-polnischen Grenze keine Kontrollen mehr gibt, sollen Polizisten beider L채nder gemeinsam Verbrecher jagen. Festnehmen d체rfen sie aber niemanden
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Die Machtlosen
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Auf einem Autobahnrastplatz mitten im brandenburgischen Nirgendwo nahe der polnischen Grenze steht ein Lastwagen, mit dem etwas nicht stimmt. Es ist fast halb drei in der Nacht. Die blaue Plane des LKWs ist nachlässig nach oben geklappt. Man sieht drei gebrauchte rote Aufsitz-Rasenmäher, einen Polstersessel, kleinere Möbelstücke und braune Pakete – alles kreuz und quer in den Innenraum des LKWs gestopft. Zwei dunkelhaarige Männer Anfang 20 in Jogginghose und Kunststoffsandalen laden Päckchen aus und werfen sie in einen weißen Kastenwagen direkt daneben. Sie scheinen es eilig zu haben. Der Autobahnpolizist Wolfgang Bonnawitz und sein Kollege vom polnischen Grenzschutz, Robert Channas, fahren in ihrem Auto näher heran. »Das schauen wir uns mal an«, sagt Bonnawitz. Heute Nacht sind die beiden ein Team. Ihre Aufgabe: Die Kriminalität im deutsch-polnischen Grenzgebiet eindämmen. Wolfgang Bonnawitz, 57 Jahre alt, hat eine dunkle Brille auf, trägt den Kopf leicht nach vorn gebeugt und versteckt seine schusssichere Weste unter einer dunkel- und hellblauen Uniform. Er sieht aus, als wollte er im Innendienst Berichte tippen. Robert Channas wirkt schon eher wie einer, der Verbrecher jagt: Der 35-Jährige trägt die Tarnfarben-Uniform des polnischen Grenzschutzes, darüber eine schwarze Schutzweste mit deutlich sichtbarer Waffe. Er ist muskulös, hat raspelkurze Haare. Eigentlich könnten die beiden sich gut ergänzen – die Nacht wird aber noch zeigen, wie machtlos sie sind. Wolfgang Bonnawitz ist derjenige, der als Ortskundiger organisiert, mit der Zentrale und mit den Kollegen telefoniert, der bestimmt, wann sie Pause machen. Die Streife findet rund um seine Dienststelle Fürstenwalde in Brandenburg statt. Robert Channas arbeitet normalerweise auf der anderen Seite der Oder in Świecko, 44 Kilometer von Bonnawitz’ Wache entfernt.
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Channas und Bonnawitz nehmen an einem EU-Programm teil, das die Kooperation zwischen Brandenburgern und Polen verbessern soll. Polnische und deutsche Polizisten gehen gemeinsam auf Streife, lernen Sprache und Polizeirecht des anderen Landes. Mehr als 250 Beamte haben in den vergangenen Jahren daran teilgenommen, beworben hatten sich deutlich mehr. Sie sollen ein drängendes Problem lösen: Seit Polen 2004 Mitglied der EU geworden und drei Jahre später dem SchengenRaum beigetreten ist, nutzen internationale Banden es aus, dass trotz Grenzöffnung die Zuständigkeit der Polizei auf beiden Seiten der Oder endet. Schafft es ein Einbrecher, sein Diebesgut aus Brandenburg bis über den Fluss zu bringen, bleibt er oft unbehelligt. Denn ein deutscher Polizist darf ihm zwar auf die andere Seite der Grenze folgen, festnehmen dürfte ihn aber nur ein polni-
Im Grenzgebiet sind 2013 insgesamt 651 Autos gestohlen worden, fast die Hälfte davon in Frankfurt/Oder. Nur jeder fünfte Dieb wurde gefasst.
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91 Wolfgang Bonnawitz ist einer von 124 deutschen Beamten, die für ihren Job Polnisch lernen.
scher. Diese Lücke haben Diebe für sich entdeckt. Die Deutschen sind deshalb auf Kollegen-Hilfe aus Polen angewiesen. Wie gut das bisher funktioniert, kann man an einem Satz von Riccardo Nemitz, dem Landesvorsitzenden des Bundes der Kriminalbeamten, ablesen: »Die Zusammenarbeit bei der grenzüberschreitenden Kriminalität funktioniert nicht so, wie wir uns das vorstellen. An der Grenze ist halt Schluss.« Wolfgang Bonnawitz und Robert Channas sollen in dieser Nacht beweisen, dass es besser gehen könnte. Das Problem ist nur: Sie sind zwar ein Team, aber eines, das nicht viel darf. Als sie auf dem Autobahnparkplatz ankommen, wissen sie: Wenn hier wirklich etwas nicht in Ordnung ist, müssen sie sich schnell Verstärkung holen, festnehmen dürfen sie nämlich niemanden. Auch nicht als deutsch-polnische Doppelstreife. »Wenn jemand wegläuft, dürfte Robert hinterher laufen, ihn aber nicht festnehmen«, sagt Wolfgang Bonnawitz. Denn das ist eine hoheitliche Aufgabe, die auf der deutschen Seite der Grenze nur ein deutscher Beamter übernehmen darf. Aber der Deutsche Bonnawitz bräuchte einen Kollegen zur Unterstützung, wenn er jemanden festnehmen will – alleine ist das Risiko zu groß. Nicht umsonst fahren Polizisten immer zu zweit auf Streife. Zu heiklen Einsätzen würde die Zentrale deshalb immer voll einsatzfähige Teams mit zwei Kollegen der Brandenburger Polizei schicken. Channas und Bonnawitz sind zwar auch zu zweit, im Grunde aber allein. Ein Beamtenschicksal aus dem Alltag der europäischen Integration.
»Mehr Freiheit für uns alle bedeutet auch mehr Freiheit für Verbrecher.«
92 Gut 200 deutsch-polnische Streifen gibt es im Jahr, die meisten davon auf polnischer Seite.
Aber sie sollen nicht für immer machtlose Beobachter bleiben: Im Mai 2014 haben Bundesinnenminister Thomas de Maizière und sein polnischer Kollege Bartłomiej Sienkiewicz ein neues Polizeiabkommen unterzeichnet. Der Bundestag und das polnische Parlament müssen zwar noch zustimmen. Aber dann, endlich, dürfen deutsche und polnische Polizisten im jeweils anderen Land auch hoheitliche Aufgaben übernehmen: einen Ausweis kontrollieren oder jemanden vorläufig festnehmen. Drei Jahre haben die Verhandlungen für den Vertrag gedauert. Es geht um nationale Interessen, außerdem tickt die Justiz beider Länder anders: Was eine Straftat ist, wird in Polen oft harmloser eingestuft als in Deutschland und entsprechend weniger streng verfolgt. Die meisten Straftaten finden aber auf deutscher Seite statt – klar, dass vor allem Deutschland an der Aufklärung interessiert ist.
Auf dem Parkplatz leuchtet Wolfgang Bonnawitz mit einer Taschenlampe zwischen den Paketen herum und notiert sich die Seriennummern der Rasenmäher. Robert Channas stellt Fragen und übersetzt für seinen Kollegen – die beiden jungen Männer sprechen Polnisch. Seitdem es an der Grenze nur noch vereinzelt Kontrollen gibt, sind die Straftäter im Vorteil, meint Bonnawitz. Früher hätten viele die »grüne Grenze« bei Guben als Übergang benutzt, wo der Fluss nur knietief ist. »Heute müssen sie sich keine nas-
sen Füße mehr holen, sondern fahren einfach durch«, sagt er. Sie, das sind meist Banden mit Mitgliedern aus Deutschland, Polen, Litauen und weiteren Ländern, die sich die Arbeit aufteilen. »Der Ärmste ist der, der das Auto von Berlin nach Polen bringt. Er kriegt das wenigste Geld und hat die größte Gefahr, erwischt zu werden«, sagt Bonnawitz. Die offene Grenze hat die Arbeit der Polizisten schwieriger gemacht. »Mehr Freiheit für uns alle bedeutet auch mehr Freiheit für Verbrecher«, sagt Robert Channas. Und die Anpassung der Dienstvorschriften an das Zusammenwachsen der beiden Länder sei eben »keine Revolution, sondern eine Evolution«, sagt er. Langsam und behäbig. Auf dem Parkplatz holen die beiden jungen LKW-Fahrer schließlich die richtigen Unterlagen für ihren Transport aus dem Fahrerhäuschen. Sie arbeiten für eine Versandfirma, die Ware zwischen England und Polen transportiert – alles vollkommen legal, so sieht es aus. Wolfgang Bonnawitz hat Zweifel. Er will später anhand der Seriennummern kontrollieren, ob die Rasenmäher als gestohlen gemeldet sind.
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Über Funk kommt ein anderer Einsatz: Mit rot blinkenden Leuchtbuchstaben auf der Rückseite ihres Wagens sollen Bonnawitz und Channas Autofahrer vor einem Stau weiter vorne auf der Autobahn warnen. Die Fahrbahn ist für einen Schwerlasttransporter gesperrt. Und das dauert. Eine Dreiviertelstunde müssen die beiden blinkend auf dem Pannenstreifen stehen. Das Blaulicht auf dem Dach ihres Wagens huscht flackernd über die Leitplanke. Das Funkgerät knistert, von Zeit zu Zeit spricht schwer verständlich eine knarzende Stimme. Aber die Funksprüche gehen ausschließlich an andere Streifen. Bonnawitz und Channas hören, dass ihre Kollegen in der Nähe einen Hubschrauber angefordert haben. Aus eigener Erfahrung wissen sie, dass der Hubschrauber meistens gebraucht wird, um jemanden zu verfolgen, der aus seinem Auto gestiegen ist und zu Fuß flüchtet. Eine Aufgabe, die sie als deutsch-polnische Streife nicht übernehmen könnten. Was sie machen können: Am Pannenstreifen stehen und die deutsch-polnische Freundschaft vorantreiben. Sie zeigen sich gegenseitig Bilder von ihren Ehefrauen und Kindern und tauschen später ihre privaten Telefonnummern aus. Bis der Schwerlasttransporter durch die Baustelle gefahren ist, wird wohl nicht mehr als eine weitere halbe Stunde vergehen. Bis Deutsche und Polen im Grenzgebiet effektiv zusammen auf Verbrecherjagd gehen können – darauf müssen sie wohl noch länger warten. • einsichten
Seit Polen 2007 dem Schengen-Raum beigetreten ist, sind Personenkontrollen an der Grenze grundsätzlich untersagt und nur noch in Ausnahmefällen zulässig.
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Text Behrang Samsami
Fotos Christopher Puttins
In der Nachtfalle Die Ärztin Aline le Claire arbeitet in der Notaufnahme der Berliner Charité. Zwischen Kaffee und Blutwerten bleibt keine Zeit für Schlaf und Kinderwunsch
»Alles okay?«, fragt Aline le Claire und geht nah an die Patientin heran, die einen Pappbecher umfasst. Es ist 23 Uhr. Schlafenszeit. Aber nicht für le Claire. Die 31-jährige Assistenzärztin hat erst vor einer Viertelstunde ihren Nachtdienst in der internistischen Notaufnahme des Berliner Virchow-Klinikums angetreten. Sie steht vor dem Bett, in dem die Patientin aufrecht sitzt, und schaut sie aufmerksam an. Dann wirft le Claire einen Blick auf das Klemmbrett, das sie in der rechten Hand hält und auf dem der Fall skizziert ist: Die 32-jährige Patientin wurde mit Brustschmerzen von der Feuerwehr eingeliefert. Das war um 16 Uhr. »Sowohl als Patient als auch als Arzt braucht man hier starke Nerven«, sagt le Claire, als sie in den Schwesternstützpunkt der Notaufnahme zurückgekehrt ist. »Bis wir alle Laborwerte beisammen haben, kann es dauern. Wenn viel los ist, bis zu acht Stunden.« Für viele Patienten sei es schwierig zu verstehen, warum lange nichts passiere. »Wenn viel los ist, müssen die Kollegen bis zu sieben Patienten parallel behandeln. Dann haben natürlich schwerere Fälle Vorrang.« Die Ärzte der internistischen Notaufnahme behandeln jährlich mehr als 20.000 Patienten. »Die Bevölkerung wird älter, und je älter die Patienten werden, desto komplexer sind die Erkrankungen, die sie mitbringen«, sagt Johanna Bokemeyer, eine der zwei Oberärztinnen in der Notaufnahme. »Eine Klinik der Maximalversorgung, wie die Charité eine ist, darf keinen Kranken wegschicken.« Wochentags herrscht ein Drei-Schichten-System. Zwei Assistenzärzte werden von mindestens einer der beiden Oberärztinnen unterstützt. Nachts hat ein Oberarzt Bereitschaft. Er schläft in der Notaufnahme und arbeitet, sofern Bedarf besteht. Im Schnitt wird er zwei- bis dreimal pro Nacht geweckt. Bokemeyer sagt: »Für unser Empfinden haben wir die gerade noch mögliche ärztliche Personaldecke. Wir wünschten uns mindestens drei Fachärzte mehr.« Gibt es denn Mittel? »Ich sag mal: Nein.« Fehlen oft Ärzte? »Nein, die gehen auch zur Arbeit, wenn sie krank sind. Es nimmt sich selten jemand heraus zu fehlen.« Im Schnitt sei monatlich aber einer der Ärzte ein paar Tage krank. »Wir wissen, dass eine solche Notsituation nicht beherrschbar ist – das ist der Motor zu kommen.« Viele Ärzte wollen nicht, dass sich ihre Kollegen überarbeiten und Patienten in Gefahr bringen. »Das ist ein menschlicher Antrieb – vielleicht unser Berufsschicksal.« Wie lässt sich mit einer solchen Belastung – verschärft im Nachtdienst – ein Familienleben vereinbaren? Die Oberärztin kennt eine junge Kollegin mit zwei kleinen Kindern, die aus Rücksicht auf ihre Familie keinen Nachtdienst am Wochenende leisten wollte. Im Gespräch darüber sei sie fast in Tränen ausgebrochen. Ihre Kollegen hätten danach deren
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Schicht mit übernommen. Eine Falle, aus der keine Klinikärztin herauskommt. Das probate Gegenmittel: eine Kita für die Nacht. Von 2008 bis 2012 gab es eine Nachtbetreuung im Virchow-Klinikum. »Die Eltern äußerten sich positiv über das Angebot, nutzten es aber zu wenig, weil sie fürchteten, als ›Rabeneltern‹ zu gelten«, sagt Regine Schallenberg von der Ina.Kinder.Garten gGmbH, die die Kita betreibt – jetzt allerdings nicht mehr nachts. »Die Gesellschaft hat immer noch den Konsens, dass ›man so etwas nicht macht‹«, meint Schallenberg. Aline le Claire hat einen Partner, aber noch keine eigene Familie. Sie weiß, wie schwierig das sein würde. Le Claire arbeitet in dieser Nacht mit Vilmar Frauendorf zusammen, einem Assistenzarzt. Die Berlinerin und ihr Kollege sitzen mit vier Pflegern im Schwesternstützpunkt eng an eng an vier Computern, tragen Informationen zu Patienten ein und besprechen die Fälle. Hier gehen auch Anrufe von anderen Stationen des Klinikums oder von Notärzten ein, die der Notaufnahme neue Patienten anmelden. Bald ist es Mitternacht. Le Claire muss zur nächsten Patientin: Eine 67-Jährige, die erschöpft wirkt und ausgestreckt auf dem Bett liegt. Sie hat sich vor einer Woche im Ostsee-Urlaub den Kopf geprellt und klagt seitdem über Herzrhythmusstörungen. Die Assistenzärztin spricht laut und fragt: »Was führt Sie zu uns? Was ist denn schlecht? Versuchen Sie's zu erklären, sonst ist es schwierig für mich, es einzuschätzen.« Die Patientin hat wenig Kraft und braucht Zeit, die richtigen Worte zu finden. Obwohl le Claire wenig davon hat, hört sie geduldig zu.
»Sowohl als Patient als auch als Arzt braucht man hier starke Nerven« Aline le Claire
Gegen drei Uhr wird es ruhiger in der Notaufnahme. Die Patientin, die über Brustschmerzen geklagt hat, ist von der Assistenzärztin nach Hause geschickt worden, weil ihre Blutwerte unauffällig waren. Für die 67-jährige Frau, die Herzrhythmusstörungen hatte, hat le Claire ein freies Bett in einem anderen Krankenhaus gefunden. Ärzte und Pfleger haben jetzt Zeit, Tee oder Kaffee zu trinken, Salat zu essen oder sich in der Küche etwas aufzuwärmen. Einige von ihnen gähnen. Le Claire sitzt am Computer und unterhält sich mit ihren Kollegen, um nicht müde zu werden. Damit sie fit bleibt, hat sie sich vor dem Nachtdienst für ein paar Stunden hingelegt. Das tut sie oft. Sie treibt auch viel regenerativen Sport – Jogging, Fitness,
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Zeit für eine Pause bleibt eher selten – rund 50 Patienten werden täglich in der Internistischen Notaufnahme des Virchow-Klinikums behandelt. An Feiertagen wie Weihnachten oder Silvester sind es sogar bis zu 100 Personen.
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Yoga. Le Claire sagt: »Wie die Pflegekräfte das ihr Leben lang machen, bewundere ich total. Ich finde es sehr, sehr anstrengend.« In der Regel leisten Assistenzärzte in der Notaufnahme vier bis fünf Nachtdienste im Monat. Le Claire bleibt noch sechs weitere Monate auf dieser Station. Danach geht ihr Jahr in der Notaufnahme, einem von sechs Abschnitten ihrer Ausbildung zur Fachärztin, zu Ende. Und in fünf Jahren? »Ich werde meine Internisten-Ausbildung abgeschlossen haben. Als Fachärztin will ich mich weiter spezialisieren, aber wahrscheinlich nicht mehr mit 100 Prozent.« Das heißt? »Ich werde Mutter sein, wenn es biologisch passt.« Ihr Traum sind drei Kinder. »Familie ist ein schwieriges Thema für Ärzte in Deutschland, vor allem für Ärztinnen. Ich denke, dass es nicht zu vereinbaren ist, Vollzeit im Krankenhaus zu arbeiten und ein Kleinstkind zu haben.« Viele ihrer Freundinnen, die auch in Kliniken beschäftigt sind und Kinder haben, arbeiten in Teilzeit. »Mein Freund würde mir zur Seite stehen. Als Informatiker für Start-ups ist er relativ flexibel. Auf ihn
kann ich zählen, aber auch ich will etwas vom Kind haben.« Auf der anderen Seite habe die Charité einen guten Ruf und ziehe Menschen an, die Karriere machen wollen. »Die haben wenig Verständnis, weil auch alle anderen, die es hier zu etwas gebracht haben, ihr Leben lang Verzicht geübt haben.« In den restlichen Stunden der Nacht ist in der Notaufnahme wenig los. Eine Mutter von zwei Kindern ist gekommen, weil sie zu Hause Herzrasen und überhöhten Blutdruck hatte. Le Claire vermutet: eine Stresssituation. Ein 50-Jähriger mit 2,5 Promille Alkohol im Blut klagt über Bauchschmerzen, die schon zwei Wochen anhalten. Obwohl seine Blutwerte noch nicht gut sind, lehnt er eine Infusion ab. Er will heim. »Jedes Jahr kommen die Bauchschmerzen wieder. Immer für zwei Monate, exakt zur gleichen Zeit.« Das müsse von seiner Zeit im Bürgerkrieg herrühren, sagt er zur Assistenzärztin. Kurz vor acht Uhr, nach der Übergabe an die Kollegen vom Frühdienst, packt le Claire ihre Sachen zusammen, verabschiedet sich, steigt dann auf ihr Fahrrad und fährt heim. •
»Wir wünschten uns mindestens drei Fachärzte mehr.« Gibt es denn Mittel? »Ich sag mal: Nein.« Johanna Bokemeyer
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Wir danken: Den Mentorinnen und Mentoren des 10. Ausbildungsjahrgangs 2013 – 2014
Das ist die EJS Die Evangelische Journalistenschule (EJS) in Berlin ist eine leistungsstarke Medien-Ausbildungsstätte. Das belegt die Bilanz ihrer Absolventinnen und Absolventen. Sie arbeiten bei angesehenen Zeitungen, Zeitschriften, Online-Redaktionen, Rundfunkanstalten oder TV-Sendern. Viele von ihnen wurden mit Journalistenpreisen ausgezeichnet. Für die Qualität der Ausbildung spricht das vorliegende Magazin der Volontärinnen und Volontäre des 10. Jahrgangs. 1995 in Berlin neu etabliert, steht die EJS in der Tradition der bereits 1950 gegründeten Christlichen Presseakademie, der ältesten unabhängigen journalistischen Ausbildungseinrichtung in Deutschland. Die Journalistenschule ist ein Geschäftsbereich des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (GEP), des zentralen Medienunternehmens der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ihrer Gliedkirchen und Werke. Die evangelische Kirche engagiert sich für eine fundierte Ausbildung von jungen Journalisten, um ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung in den Medien gerecht zu werden. Ein unabhängiger, couragierter, nachdenklicher und werteorientierter Journalismus ist nach Überzeugung der evangelischen Kirche unverzichtbar für Orientierung, Meinungsbildung und Verständigung in einer demokratischen Gesellschaft. Neben der professionellen Vermittlung des journalistischen Handwerks legt die EJS wert auf die gründliche Reflexion ethischer Standards.
Martin Bialecki, dpa Deutsche Presse-Agentur, Berlin Dr. Jacqueline Boysen, Evangelische Akademie zu Berlin, Berlin Anne Buhrfeind, chrismon, Frankfurt am Main Michael Elgaß, NDR, Haff-Müritz-Studio, Neubrandenburg Dr. Claudia Ingenhoven, rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg, Berlin Dr. Michael Inacker, Journalist, Vorstand WMP Eurocom AG Andreas Lorenz, Co-Mentor, ehem. DER SPIEGEL, Hamburg Dr. Matthias Kamann, DIE WELT, Berlin Andreas Krieger, AFP Agence France-Presse, Berlin Jens Olesen, WDR, Köln Joachim Reuter, stern, Hamburg Erhard Scherfer, ARD-Hauptstadtstudio, PHOENIX, Berlin Christine Thalmann, rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg, Berlin Janko Tietz, DER SPIEGEL, Hamburg Dr. Beatrice von Weizsäcker, Publizistin, München Birgit Wentzien-Ziegler, Deutschlandfunk, Köln Wolfgang Zügel, DIE WELT, Berlin
Außergewöhnlich ist die persönliche Betreuung der Volontärinnen und Volontäre durch Mentorinnen und Mentoren. Dabei handelt es sich um engagierte und angesehene Journalistinnen und Journalisten. Jedem EJS-Volontär steht ein Mentor für die Dauer seiner Ausbildung mit Rat und Tat zur Seite. So entstehen Beziehungen, die oft weit über das Ende der Ausbildung hinaus andauern. Die Ausbildung an der EJS entspricht einem klassischen Volontariat und ist kostenfrei. Die Ausschreibungsbedingungen für unseren 11. Jahrgang finden Sie auf unserer Website.
Archiv, Werkstatt, Blogs, Videos … Nutzen Sie unser Angebot!
DPA-NEWS-TIPPS
Ohne sie ist unsere Ausbildung nicht möglich: Dr. Alexander und Rita Besser-Stiftung Andere Zeiten e.V. aserto GmbH Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft mbH ddvg Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Europäische Kommission Europäisches Parlament FAZIT-Stiftung Karl-Gerold-Stiftung Norman Rentrop Stiftung der Hamburger Presse Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Nummer 7, 1. Juni 2014, www.drehscheibe.org
aus Lokalredaktionen für Lokalredaktionen
NEWS
herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung
Nr. 7
www.drehscheibe.org
Nov. 2013
EDITORIAL
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Kriminalität Arbeitsheft zum Modellseminar „Tatort Deutschland – Die Lokalredaktion deckt auf” des Lokaljournalistenprogramms der bpb.
SPUREN AM TATORT 02
Lokaljournalisten sollten sich nicht auf falsche Fährten locken lassen SCHWERVERBRECHEN
NOTFALLPLAN 07+ 03 +
Nach einem Mord: Eine Lokalredaktion im Ausnahmezustand RECHT
SENSIBLE BEREICHE 07+ 05 +
Probleme der identifizierenden Berichterstattung KORRUPTION
DIE INFORMANTENE 07+ 07 +
Wenn Lokaljournalisten im Sumpf der Vetternwirtschaft recherchieren GERICHTSREPORTAGEN
07+ 09 +
WENIGER IST MEHR Prozessberichterstattung mit Maß ONLINE-RECHERCHE
SCHNÜFFELN IM NETZ 07+ 11 +
Das Internet verrät oft mehr als der Polizeibericht AUFKLÄRUNG
UNSAUBER IM VEREIN 07+ 13 +
Wie sich über Machenschaften im Sport berichten lässt
HerzlicH Willkommen?!
Maximal 16 Volontärinnen und Volontäre durchlaufen in Berlin eine konsequent praxisorientierte 22-monatige Ausbildung in Print-, Online-, Radio- und TV-Journalismus. Dazu gehören mehrmonatige Praktika in allen Medien. Im Herzen Berlins stehen moderne Schulungsräume zur Verfügung. Sie sind technisch für die multimediale Ausbildung ausgestattet. Die EJS verfügt über ein Hörfunk- und TV-Studio, Recherche-Arbeitsplätze und eine Bibliothek.
MEhr AlS EIN MAgAzIN
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Ein Netzwerk lebt von seinen Teilnehmern. Sie können mitbestimmen, welche Themen bei den Modellseminaren des Lokaljournalistenprogramms der bpb behandelt werden.
LokaLzeituNgeN zeigeN, wie es FLüchtLiNgeN iN DeutschLaND ergeht
Vorschläge direkt an floeper@bpb.de
Kontakt: Oscar Tiefenthal, Schulleiter otiefenthal@ev-journalistenschule.de Dr. Thomas Schiller, Publizistischer Vorstand tschiller@ev-journalistenschule.de
Jet z t n ! ier e o b a nn
Sabine Seidel, Seminarbetrieb sseidel@ev-journalistenschule.de Dagmar Lopes, Seminarbetrieb und Bibliothek dlopes@ev-journalistenschule.de Weitere Informationen: www.evangelische-journalistenschule.de
Die drehscheibe ist Teil des Lokaljournalistenprogramms der Bundeszentrale für politische Bildung/ bpb.
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