ANNA BOLENA Gaetano Donizetti
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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»Keiner ist am Ende der Oper derselbe« → Interview mit Eric Génovèse
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Ein Schmuckstück Donizettis → Interview mit Evelino Pidò
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Zwei Königinnen – grundverschieden → Theo Stemmler
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Heinrich VIII. → Oliver Láng
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Prozess und Hinrichtung der Anne Boleyn → Uwe Baumann
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Entstehungsgeschichte und Rezeption → Chris Tina Tengel
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Anna Bolena – Wendepunkt in Donizettis Schaffen → Daniel Brandenburg
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Theatrale Wirklichkeit der alten italienischen Oper → Fedele D’Amico
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Donizetti in Wien → Leopold Kantner
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Etwas Geschichte darf schon sein → Walter Dobner
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Ambiziosa, un serto io volli, e un serto ebb’io di spine. Mein Ehrgeiz griff nach einem Diadem, doch ich erwarb mir eine Dornenkrone. Anna Bolena, 1. Akt
ANNA BOLENA → Tragedia lirica in zwei Akten Musik Gaetano Donizetti Text Felice Romani
nach dem Drama Henri VIII. von Marie-Joseph de Chénier (1791) und der Tragödie Anna Bolena von Alessandro Ercole Graf Pepoli (1788) Orchesterbesetzung 2 Flöten, 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Schlagwerk, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 2 Hörner, Banda, Trommeln Spieldauer ca. 3 Stunden 30 Minuten (inkl. einer Pause) Autograf Verlagsarchiv Ricordi Uraufführung 26. Dezember 1830, Teatro Carcano, Mailand Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 2. April 2011
DIE HANDLUNG 1. Akt Die Liebe des englischen Königs Enrico (Heinrich VIII.) zu seiner zweiten Frau Anna Bolena (Anne Boleyn) hat sich in Hass verwandelt. Unter den Höflingen munkelt man bereits über eine neue Liebe des Monarchen. Er hat sich in Giovanna ( Jane) Seymour verliebt, eine enge Vertraute Annas. Giovanna fürchtet die Enthüllung ihres Verhältnisses. Im Kreis ihrer Hofdamen wartet Anna auf das Erscheinen des Königs. Der Page und Hofmusiker Smeton hat sich in die unglückliche Königin verliebt. Auf Annas Bitte hin improvisiert er eine Romanze, in der er sich mit der »ersten Liebe« einer noch Ungekrönten identifiziert, und stürzt damit die Königin in tiefe Verwirrung: Anna fühlt sich an ihre ersten Liebe zu Riccardo (Richard) Percy gemahnt, den sie, obwohl durch eine heimliche Ehe gebunden, zugunsten Enricos verließ. Anna warnt Giovanna vor dem Fehler, sich vom Glanz eines Thrones blenden zu lassen. Dann entlässt sie die Abendgesellschaft, da mit dem Erscheinen ihres Gatten nicht mehr zu rechnen ist. Giovanna, die zu einem geheimen Stelldichein mit dem König verabredet ist, macht sich Vorwürfe, die »Schlange am Busen« der nichtsahnenden Königin zu sein. Dem König gegenüber lehnt sie die Position einer Favoritin ab und erklärt die Ehe zur Voraussetzung ihrer Hingabe. Sie beteuert Enrico, der ihr unterstellt, gleich Anna in ihm nur den König zu lieben, die Aufrichtigkeit ihrer Gefühle. Der König verspricht ihr daraufhin »Heirat, Zepter und Thron«, denn Anna hätte ihr Herz vor der Hochzeit mit ihm bereits an einen anderen vergeben und ihn auch nach der Hochzeit betrogen. Giovanna schreckt vor der Erfüllung ihrer Wünsche zurück. Enrico hat Percy, von dem er weiß, dass er Annas früherer Geliebter war, aus der Verbannung an den Hof zurückberufen. Percy, der den Ausritt Enricos zur Jagd nutzen will, um sich einzuführen, trifft zunächst auf Rochefort, Annas Bruder, der ihm bestätigt, dass Annas Ehe unglücklich sein. Nur eine unerfüllte Liebe wie die seine habe Dauer, sagt Percy. Die Warnungen Rocheforts schlägt er in den Wind: nach dem Verlust Annas habe er nichts mehr zu verlieren. Zudem bekennt er von Rachegedanken der untreuen Anna gegenüber nicht frei zu sein. Doch als neben dem sich sammelnden Jagdgefolge auch Anna erscheint, fühlt er sein Herz schlagen wie in der Zeit seiner allerersten Verliebtheit. Der König begrüßt den aus der Verbannung Heimgekehrten und stürzt Anna, die auf diese Wiederbegegnung in keiner Weise gefasst war, zusätzlich in Verwirrung, indem er betont, dass nur ihre Bitten es waren, die ihn zur DIE H A N DLU NG
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Aufhebung der Verbannung veranlasst hätten. Percy dankt der Königin mit einem Handkuss, beiden gelingt es nur mit Mühe, ihre Erregung zu beherrschen. Enrico beauftragt seinen Offizier Hervey, die beiden zu beschatten, und erklärt die Jagd für eröffnet. Der verliebte Page Smeton hat vor einiger Zeit ein Medaillon mit Annas Porträt aus ihrem Besitz gestohlen. Aus Angst, dass es bei ihm entdeckt werden könnte, möchte er es unauffällig in Annas Gemächer zurückzubringen, verliert sich dann aber in zärtlichen Träumereien vor dem Abbild der Angebeteten, und muss sich, um nicht von Anna und ihrem Bruder Rochefort überrascht zu werden, verstecken. Rochefort überredet Anna zu einem Treffen mit Percy, den die Verzweiflung über ihre Ablehnung sonst unberechenbar mache, und verspricht den Zugang zu ihren Gemächern zu sichern. Anna will Percys Vorwürfen zuvorkommen, in dem sie bestätigt, dass sie für ihren Ehrgeiz und ihre Untreue bitter bestraft worden sei. Percy verzeiht und beteuert seine ungebrochene Liebe. Wenn er sie wirklich liebe, müsse er ihr entsagen und England auf ewig verlassen, fordert Anna. Percy will lieber sterben und sich in sein Schwert stürzen. Smeton, der vermeint, Percy wolle Anna töten, wirft sich aus seinem Versteck dazwischen, Anna sinkt in Ohnmacht. Da kündigt Rochefort das Nahen des Königs an. Dieser überrascht die beiden Rivalen um Annas Gunst mit entblößten Schwertern. Als Smeton seine Unschuld beteuert und dabei seine Brust entblößt, entgleitet ihm Annas Medaillon – das corpus delicti wird von Enrico als definitiver Beweis ihrer Untreue gewertet. Der König stellt Anna, Smeton, Percy und Rochefort unter Arrest und kündigt eine richterliche Untersuchung an. Alle wissen, dass diese zu Schuldspruch und Tod der Angeklagten führen wird.
2. Akt Der gefangengesetzten Anna versichern ihre Hofdamen unverbrüchliche Treue. Da bringt Hervey den Befehl, dass die Hofdamen Anna zu verlassen haben, um ebenfalls vor Gericht zu erscheinen. Anna trägt ihnen auf, ihre Unschuld zu bezeugen. Giovanna nähert sich der Verlassenen und beschwört sie, ein Geständnis im Sinne der Anklage abzulegen: Dies sei die einzige Möglichkeit, sich der Hinrichtung zu entziehen. Doch Anna lehnt ein Leben in Schande ab. Dann erwarte sie Schande und Tod, insistiert Giovanna, und lässt erkennen, dass der König selbst und seine Geliebte ihr diese Ausflucht einräumen wollen. Wer die Untergebene sei, die es wage, ihr eine solche Niedrigkeit anzuempfehlen, will Anna wissen, dabei die göttliche Rache über die unbekannte Rivalin beschwörend. Da bricht Giovanna zusammen und offenbart sich als die Verräterin; aber sie selber sei ein Opfer der Verführungskünste Enricos und durch grausame Gewissenbisse gestraft. Doch als Anna 3
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sie von jeder Verantwortung freispricht, fühlt Giovanna, dass Annas Verzeihung und ihre Umarmung eine noch schwerere Bestrafung bedeuten als Annas Fluch. Enrico hat Smeton glauben lassen, dass Anna vor dem Schafott nur gerettet werden könnte, wenn er vor Gericht einräumt, ein Verhältnis mit ihr gehabt zu haben. Smeton hat diesen Meineid geschworen und den Richtern dadurch den Vorwand für das Todesurteil geliefert. Enrico will sich der Begegnung mit Anna und Percy, die den Richtern zur Urteilsverkündung vorgeführt werden sollen, entziehen. Doch Percy erklärt, vor Gericht zu bezeugen, dass Anna ihn in ihrer Unterredung zornig abgewiesen habe. Als Enrico mit dem Geständnis des Pagen kontert, bezichtigt ihn Anna, dass er dieses nur durch Manipulation fabriziert hat. Percy offenbart daraufhin seine heimliche, vor der Verbindung Annas mit Enrico geschlossene Ehe mit Anna, die ihre Beziehung legitimiere. Enrico deutet dies als zusätzliche Bestätigung eines Schuldspruchs um, der auch seine gemeinsame Tochter mit Anna delegitimiere. Giovanna fleht bei Enrico um Annas Leben, als die Todesurteile von Anna, Percy, Smeton und Rochefort verkündet werden. Vergebens will Giovanna Enrico zur Begnadigung der Königin bewegen. In der Kerkerhaft im Tower bekennt Rochefort Percy gegenüber, dass es sein Ehrgeiz war, der Percys Beziehung zu Anna zugunsten ihres Aufstiegs auf den Thron hintertrieb. Doch als Hervey den beiden Verurteilten mitteilt, dass Enrico sie begnadigt, lehnen beide ab: Percy, weil er die Begnadigung angesichts von Annas Unschuld als Demütigung empfindet, Rochefort, um sich seiner Mitverantwortung zu stellen. Anna, die wieder mit ihren Hofdamen vereint ist, deliriert. In der Vorstellung durchlebt sie ihren Liebesverrat an Percy und beruhigt ihre Schuldgefühle im Sehnsuchtsbild ihrer gemeinsam mit Percy erlebten Kindheit, Jugend und ersten Liebe. Unter Trommelwirbeln werden die verurteilten Gefangenen versammelt. Smeton klagt sich seiner Hybris an, angenommen zu haben, durch seinen Meineid zu Annas Retter werden zu können. Die umnachtete Anna fantasiert Smetons Harfe als zerstört und bittet den Himmel um Frieden. Die andern hoffen, dass sie aus ihrem Delirium nicht mehr erwachen möge. Doch Festklänge, die aus der Ferne zur Feier der Hochzeit Enricos und Giovannas laden, reißen Anna in die Realität zurück. Sehenden Auges bereitet sie sich zum Gang auf das Schafott. Sie verzeiht dem Paar in der Hoffnung, sich dadurch auch selbst der Gnade Gottes würdig zu erweisen. Als die Gerichtsdiener erscheinen, um die Verurteilten zum Richtplatz zu führen, sinkt Anna ohnmächtig zusammen.
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SYNOPSIS Act 1 The love of King Henry VIII for his second wife, Anne Boleyn, has turned to hate. There are already rumours among the courtiers about the king’s new love. He has fallen for Jane Seymour, a close confidante of Anne. Jane fears that her relationship will become public knowledge. Together with her ladies in waiting, Anne waits for the king to arrive. The page and court musician Smeaton has fallen for the unhappy queen. At Anne’s request he improvizes a romance in which he identifies himself with the »first love« of an as yet uncrowned queen, and plunges the queen into confusion. Anne feels she is being reminded of her first love, Richard Percy, who she left for Henry, despite being bound by a secret marriage. Anne warns Jane of the folly of being blinded by the splendour of a throne. Then she dismisses the group, since her husband is no longer likely to appear. Jane, who has a secret tryst with the king, accuses herself of being a snake in the bosom of the unsuspecting queen. She refuses to become the king’s mistress, insisting on marriage before submitting to him. She assures Henry, who suspects her – like Anne – of loving him only for his royal state, of the truth of her feelings. The king promises her in return »marriage, sceptre and throne”, as he claims Anne had given herself to another even before her marriage to him, and had cheated him after it. Jane shrinks from the fruition of her desires. Henry knows that Percy was Anne’s former lover, and he recalls him to court from exile. Percy, trying to use Henry’s departure for the hunt as a chance to make his way in unobserved, meets Rochefort, Anne’s brother, who confirms that Anne’s marriage is an unhappy one. Percy replies that only an unrequited love like his can last. He dismisses Rochefort’s warnings, saying he has nothing more to lose after losing Anne. He also confesses that he is haunted by thoughts of revenge on the faithless Anne. When Anne appears with the gathering hunting party, he nevertheless feels his pulse race as in the days of his first love. The king welcomes the returned exile and throws Anne, who was completely unprepared for this encounter, into even deeper confusion by declaring that it was only her pleas that moved him to revoke the banishment. Percy thanks the queen by kissing her hand, and both struggle to master their excitement. Henry commissions his officer Hervey to shadow the two, and declares that the hunt is up. Meanwhile, the lovesick page Smeaton had stolen a miniature of Anne from her some time earlier. Afraid it might be discovered in his possession, he tries to return it to her unnoticed, but loses himself in tender thoughts at the sight of her portrait, and has to hide to avoid being surprised by Anne and her brother Rochefort. 5
SY NOPSIS
Rochefort persuades Anne to meet Percy, who he says is behaving erratically in his despair at her rejection, and promises to give him safe access to her rooms. Anne seeks to avoid Percy’s accusations by confirming that she has been bitterly punished for her ambition and faithlessness. Percy forgives her and declares his unbroken love. Anne responds that if he really loves her, he must give her up and leave England forever. Percy would rather die, and draws his sword to throw himself on it. Smeaton, who mistakenly thinks Percy is trying to kill Anne, rushes between them from his hiding place, and Anne swoons. Rochefort announces the approach of the king. Henry surprises the two rivals for Anne’s favour with naked swords. When Smeaton pleads his innocence and bares his breast, Anne’s medallion slips from him, and Henry takes this as decisive evidence of her infidelity. The king puts Anne, Smeaton, Percy and Rochefort under arrest and announces that they will be tried. Everyone knows that this will result in a guilty verdict and death for the accused.
Act 2 The ladies in waiting pledge their undying loyalty to the imprisoned Anne. Hervey enters with the order for the ladies to leave Anne and themselves appear in court. Anne tells them to bear witness to her innocence. Jane approaches the abandoned Anne and urges her to confess to the charge. She claims this is the only way to escape execution. But Anne rejects a life of shame. Jane insists that this will leave her to shame and death, and declares that the king himself and his lover want to leave her this escape. Anne demands to know who the craven soul is who dares to recommend such baseness to her, swearing divine revenge on her unknown rival. Jane breaks down and reveals that she is the traitor, but is herself the victim of Henry’s seductive arts and is punished by fearful pangs of conscience. When Anne absolves her of any responsibility, Jane feels that Anne’s forgiveness and embrace are even worse punishment than Anne’s curse. Henry has given Smeaton to believe that Anne can only be saved from the scaffold if he admits to the court that he had an affair with her. Smeaton has perjured himself, and his testimony gives the judges the pretext for the death penalty. Henry wants to avoid meeting Anne and Percy, who are being brought before the judges for sentencing. But Percy declares he will testify in court that Anne had furiously rejected him at their meeting. When Henry counters with the page’s confession, Anne accuses him of fabricating this by manipulation. Percy then reveals his secret marriage with Anne before her marriage to Henry, which he claims legitimizes their relationship. Henry takes this as additional confirmation for a guilty verdict, which also makes his daughter with Anne illegitimate. Jane begs Henry to spare Anne’s life when the death sentences are pronounced for Anne, Percy, Smeaton and Rochefort. Jane seeks in vain to move Henry to pardon the queen. SY NOPSIS
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Imprisoned in the Tower, Rochefort admits to Percy that it was his ambition that thwarted Percy’s relationship with Anne and led to her taking the throne. But when Hervey announces to the two condemned prisoners that Henry is pardoning them, they both refuse. Percy feels that the pardon is an insult, given Anne’s innocence, and Rochefort accepts his share of responsibility. Anne, who is reunited with her ladies in waiting, is delirious. In her mind she relives her betrayal of Percy’s love and soothes her feelings of guilt with images of the childhood, youth and first love she shared with Percy. As the drums roll, the condemned are assembled. Smeaton laments his hubris in assuming that his perjury could buy Anne’s safety. The demented Anne imagines that Smeaton’s harp is destroyed and begs heaven for peace. The others hope that she will not wake from her delirium. But distant sounds of celebration summoning revellers to Henry’s wedding to Jane drag Anne back to reality. With clear eyes she prepares to mount the scaffold. She forgives the couple in the hope that she herself will prove worthy of God’s mercy. When the bailiffs come to lead the condemned to the place of execution, Anne falls in a swoon.
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SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Mit Anna Bolena, seiner 35. Oper, errang der 33jährige Gaetano Donizetti im Jahre 1830 endlich den internationalen Durchbruch. Mitermöglicht hatte ihn Felice Romanis sprachlich und dramaturgisch meisterhaftes Libretto und sein komplexes Figurentableau, das Donizetti alle Möglichkeiten zur Entfaltung seiner Charakterisierungskunst bot. Darüber hinaus führte Donizettis Bestreben, die damaligen Konventionen hinsichtlich der äußeren formalen Anlage sowie der Grundstruktur der Personen- und Konfliktkonstellationen von innen her aufzubrechen und dadurch die dramatische Entwicklung wirkungsmächtiger zu beglaubigen, zu einer grundsätzlichen Fortentwicklung der italienischen Belcanto-Oper, wie Daniel Brandenburg (ab Seite 50) und Evelino Pidò, der Premierendirigent der aktuellen Produktion, ab Seite 14 veranschaulichen. Chris Tina Tengel schildert in ihrem Beitrag (Seite 42) einerseits die Voraussetzungen, die zur Entstehung dieses so wichtigen Marksteins in der Geschichte der italienischen romantischen Oper führten, und gibt andererseits einen Überblick über die frühe Rezeptionsgeschichte der Anna Bolena. Nach einem jahrzehntelangen weltweiten Siegeszug verschwand das Werk für zwei Generationen von den internationalen Spielplänen. Erst eine Neuproduktion an der Mailänder Scala im Jahre 1957 mit Maria Callas in der Titelpartie sorgte für die glanzvolle Wiederentdeckung der Anna Bolena. Die Besprechung dieser Premiere durch Fedele D’Amico (hier erstmals auf Deutsch ab Seite 56) zeigt, wie dieses Ereignis den Anstoß zur Neuevaluierung des Repertoires des sogenannten dramatischen Belcantos gab. Nichtsdestotrotz fand die Anna Bolena-Erstaufführung an der Wiener Staatsoper erst 2011 statt – Einblick in seine Überlegungen zur Inszenierung gewährt Regisseur Eric Génovèse ab Seite 10. Walter Dobner beschreibt ab Seite 70 die Vorliebe Donizettis für historische Stoffe und Persönlichkeiten, die er Opernhandlungen zugrunde legte und im Sinne der Bühnenwirksamkeit auf sehr freie Weise verarbeitete. Wie sehr sich im aktuellen Fall die tatsächlichen Ereignisse rund um Anne Boleyn und den englischen König Heinrich VIII. von der in Anna Bolena erzählten Geschichte unterscheiden, dokumentieren Theo Stammler (Seite 18) und Oliver Láng (Seite 26). Abgerundet wird das Programmbuch um den Beitrag Leopold Kantners, der über das Nahverhältnis Gaetano Donizettis zu Wien berichtet (Seite 64). Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
→ KS Anna Netrebko als Anna Bolena, 2011
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»KEINER IST AM ENDE DER OPER DERSELBE«
Gedanken des Regisseurs Eric Génovèse zu seiner Inszenierung
Mit der Inszenierung von Anna Bolena stellte sich Eric Génovèse 2011 dem Publikum der Wiener Staatsoper vor. Der Künstler ist ein erfolgreicher Regisseur, Theater- und Filmschauspieler (so war er in zahlreichen Hauptrollen jahrelang an der Comédie-Française zu erleben) und wirkt auch in zahlreichen Musiktheaterproduktionen mit – etwa als Bassa Selim in Mozarts Entführung aus dem Serail. 1991 wurde er vom französischen Kulturminister zum Chevalier des Arts et Lettres ernannt. Anlässlich der Staatsopern-Erstaufführung von Anna Bolena gab er Andreas Láng das folgende Interview.
Herr Génovèse, die Geschichte von Anna Bolena spielt ja im 16. Jahrhundert. Haben Sie die Handlung in dieser Epoche belassen? Im Prinzip, ja. Ich wollte natürlich keinen Historienfilm mit schweren, überladenen Roben und Gewändern, die den Sängerinnen und Sängern auf der Bühne jede Bewegung rauben. Ich mag das Klare und Einfache. Also haben wir von den Kostümen her ein stilisiertes Ambiente dieser Zeit gewählt, das 16. Jahrhundert gewissermaßen nachempfunden, angedeutet. Ich glaube übrigens, dass sich die wenigsten Belcanto-Opern, die sich auf historische Begebenheiten stützen, in eine andere Epoche als die vom Komponisten und Librettisten vorgegebene verschieben lassen, da sich andernfalls inhaltliche Ungereimtheiten ergeben. EG
Und wie sieht es diesbezüglich mit dem Bühnenbild aus? Wir zeigen keine 1:1 Darstellung der Schauplätze, wie etwa des Schlosses Windsor oder des Towers von London. Unser Bühnenbild, das durch wenige Veränderungen gleichermaßen Korridor des Schlosses, Gefängnis oder Vorraum des Gerichtsaales sein kann, dreht sich wie ein Uhrzeiger ständig weiter. Wir symbolisieren dadurch die Atmosphäre und einzelne Aspekte der Handlung, wie das Vergehen der Zeit oder Heinrichs Intrige, durch die Anna Bolena und die Ihrigen zu Fall gebracht werden. EG
Donizetti und sein Librettist Romani haben in Anna Bolena keine schablonenhaften Typen, sondern echte Persönlichkeiten kreiert. Eindeutig: Jeder der Handelnden ist psychologisch detailliert gezeichnet und muss im Laufe der Handlung eine persönliche Entwicklung durchmachen. Keiner ist am Ende der Oper derselbe, der er am Beginn war. Nur nebenbei bemerkt: Zumindest Anna Bolena entspricht charakterlich nicht den historischen Vorlagen, da sie in dem Stück eindeutig Sympathieträgerin ist, was kaum der Realität entsprach. Donizetti und RoEG
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IM GE SPR ÄCH MIT ER IC GÉNOV È SE
mani haben also vor dem Hintergrund eines geschichtlichen Stoffes neue, glaubwürdige Charaktere erfunden. Haben wir eigentlich eine Schwarz-Weiß Zeichnung der Handelnden vor uns? Zum Beispiel sympathische Anna und unsympathischer Heinrich? Wie gesagt, Anna Bolena ist sicher eine Frau, mit der das Publikum Mitleid haben soll. Und dass Heinrich keine Engelsgestalt ist, liegt auf der Hand. Ich finde es nichtsdestotrotz interessanter – das gilt beispielsweise auch für einen Jago – wenn man den negativen Personen eines Werkes auch einige menschliche, positivere Züge verleiht und sie nicht als bloße Ungeheuer durch die Szenerie schickt. Die Liebe Heinrichs zu Giovanna Seymour etwa ist echt und ehrlich. EG
Letztlich ist Anna aber irgendwo dennoch Schuld an ihrem Schicksal. Sie hätte Heinrich nicht heiraten sollen. Gibt es in Anna Bolena überhaupt wirklich reine, unschuldige Charaktere? Der naive, verliebte Page Smeton und in gewissem Sinne Percy – das sind richtige romantische Figuren. Im Libretto der Oper geht Percy sogar in den Tod, obwohl er eigentlich begnadigt wäre, nur weil seine große Liebe, Anna Bolena, nicht am Leben bleiben darf. Zu Anna Bolena möchte ich aber noch anmerken, dass sie sicherlich Mitschuld an ihrem Schicksal hat, wir aber in diesem Zusammenhang eines nicht vergessen dürfen: das Los der Frauen in dieser Zeit war nicht einfach. Und Anna Bolena, die zunächst auch keine besondere Stellung hatte, wollte nicht eine vorübergehende Bettgenossin des Königs sein, um dann irgendwann abgelegt und verbannt zu werden. Die einzige Chance eine dauerhafte gesicherte Position zu erlangen – zumindest glaubte sie das – war, Heinrich zu heiraten. EG
Der Chor hat in Anna Bolena eine wichtige Funktion… ... wenn auch keine sehr aktive. Man erinnert sich ein wenig an das antike griechische Theater: Die Handlung wird vom Chor teils erzählt, teils kommentiert. Nur die Hofdamen, die Anna betrauern und trösten, werden wirklich aktiv in die Handlung einbezogen. Für einen Regisseur ist diese etwas passive Funktion des Chores nicht einfach, da er zwar vorhanden, aber nicht wirklich in die Szenerie eingebunden ist. Ich belasse ihn daher an manchen Stellen fast schattenhaft im Unbestimmten. EG
Vielleicht noch eine Frage zu Ihrer Arbeitsweise: Wie bereiten Sie sich auf eine Operninszenierung vor? IM GE SPR ÄCH MIT ER IC GÉNOV È SE
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Zunächst vertiefe ich mich in die Materie, lese und höre alles an, was es im Zusammenhang mit dem jeweiligen Werk gibt. Im Falle der Anna Bolena habe ich daher auch die Schauspiel-Vorlagen studiert, die Felice Romani beim Schreiben des Librettos gekannt und verwendet hat. Dann ist es für mich wichtig, dass ich die Partitur wirklich auswendig beherrsche, da ich – aus der Praxis kommend – bei den Proben auf der Bühne bei den Sängerinnen und Sängern sein will. Ich inszeniere nicht vom Regiepult aus. Ich bin auch Schauspieler und will den Interpreten helfen, eine Möglichkeit zu finden, auf ideale Weise das auszudrücken, was vom Komponisten in der Musik festgelegt worden ist. EG
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»K EIN ER IST A M EN DE DER OPER DERSELBE«
EIN SCHMUCKSTÜCK DONIZETTIS
Premieren-Dirigent Evelino Pidò im Gespräch
Maestro Pidò, Sie haben Gaetano Donizettis Oper Anna Bolena schon mehrfach dirigiert... Ja, das stimmt, was insofern ungewöhnlich ist, als dass Anna Bolena ein Werk ist, das international nicht allzu häufig aufgeführt wird. Ich hatte Gelegenheit, dieses Stück in unterschiedlichen Konstellationen zu leiten, nämlich sowohl als alleinstehende Oper als auch im Verbund mit den anderen beiden Teilen der Königinnen-Trilogie von Donizetti, also Maria Stuarda und Roberto Devereux. Und ich habe Anna Bolena sowohl in szenischen als auch in konzertanten Aufführungen geleitet. EP
Anna Bolena war der Durchbruch Gaetano Donizettis als Komponist tragischer Opern. Was zeichnet dieses Werk im Gegensatz zu früheren aus – immerhin ist es, heitere und ernste Opern zusammengenommen, sein 35. Werk für das Musiktheater? Anna Bolena war ein großer Schritt für Donizetti, alleine schon aus dem Blickwinkel des Formalen. Die Oper ist ein Idealbeispiel für die Belcanto-Form, in dem Sinne, als dass die Abfolge Scena, Rezitativ, Arie, Cabaletta eingehalten wird. Gleichzeitig aber gelang es Donizetti, einen dramatischen Bogen über das Ganze zu spannen – und diesen zu halten, obgleich die Oper ja recht lang ist. Wir verwenden für die Wiener Produktion die neue kritische Ausgabe von Ricordi und machen nur einige wenige Striche in der Partitur. Die Uraufführung am Mailänder Teatro Carcano im Jahr 1830 war ein großer Erfolg für Donizetti: Kein Wunder, denn die dramatische Kraft einerseits, die wunderbare Musik andererseits sind hinreißend und faszinierend. Sie unterstützen die Charaktere. Man kann sagen, dass Anna Bolena ein ausgezeichnetes Gemälde Donizettis ist, ein Schmuckstück. EP
Apropos Gemälde: Sie stammen aus einer Maler-Familie, wieweit denken Sie in der Musik als Maler, inwiefern in Farben? Das ist manchmal tatsächlich eine gute Annäherung! Mitunter stehen Farben für Stimmungen, für Gefühle, für Atmosphäre oder Ausdruck. Daher ist eine Kombination der Elemente Farbe und Klang durchaus zulässig. Das betrifft natürlich nicht nur Anna Bolena, sondern die BelcantoOpern ganz allgemein. EP
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IM GE SPR ÄCH MIT EV ELINO PIDÒ
Inwieweit nimmt Donizetti (musikalische) Charakterisierungen auch in dieser Oper vor? Natürlich ist Enrico VIII. ein böser, widerlicher, erschreckender König. Er liebt eine Reihe von Frauen – und er betrügt ebenso viele. Aber sein Charakter enthält auch Kraft und Macht. Anna Bolena wiederum ist ebenso mehrdeutig, ist eine ungemein ehrgeizige Frau – ihr Wunsch war es, über die Heirat mit Enrico Königin von England zu werden –, gleichzeitig liebte und liebt sie Lord Percy aus tiefstem Herzen. Percy ist von Donizetti als eine typische romantische Tenor-Rolle entworfen. Sehr genau ist die Rivalität von Anna Bolena und Giovanna Seymour gezeichnet – das muss man hervorheben! Auch Giovanna ist keine eindimensionale Figur, sondern wird von unterschiedlichen Emotionen getrieben: Sie liebt König Enrico VIII., sie liebt aber auch die Macht. Und sie ist Anna Bolena gegenüber voller Reue. Donizetti hat für all diese Personen jeweils etwas Besonderes komponiert, denken Sie nur an das wunderbare Duett zwischen Enrico und Giovanna am Beginn, das wunderschöne Duett zwischen den beiden Frauen, das Terzett und das großartige Finale! EP
Gibt es für Sie in dieser Oper Stellen, die besonders heikel sind, die eine besondere Herausforderung darstellen? Vor allem die Rezitative! Es besteht in solchen Fällen oftmals die Gefahr, dass diese vom Publikum als langweilig empfunden werden könnten. Daher muss man diese mit großer Sorgfalt umsetzen und alle Nuancen hervorheben. Ein Rallentando an einer Stelle kann etwa genauso notwendig und wichtig sein wie ein Augenblick der Stille an einer anderen. Wichtig ist hier die Feinarbeit! Und es ist eine Herausforderung, das Interesse auch auf das Orchester zu lenken, um eine tiefgehende Konversation mit der Bühne zu erreichen. Auch der Chor ist in dieser Oper ein echter Protagonist. EP
Sie gelten als Dirigent, der sich besonders intensiv und genau vorbereitet. Wissen Sie, ich hasse Routine! Daher studiere ich für jede Premiere, für jede Aufführungsserie eines Werkes das Stück neu ein. Schließlich lernt man jedes Mal etwas dazu – man kann immer einen höheren Reifegrad erreichen! So ändert sich meine Interpretation auch jedes Mal, nicht die Grundkonzeption, aber doch viele Details. Abgesehen davon muss man seine Interpretation ja auch an jede Besetzung anpassen: Jede Sängerin, jeder Sänger unterscheidet sich von seinen Kollegen grundlegend, und dem muss ein Dirigat entgegenkommen. Grundsätzlich erfordern gerade die BelcantoEP
IM GE SPR ÄCH MIT EV ELINO PIDÒ
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Opern besonders genaue Überlegungen. Ein Beispiel: Die Theater, in denen wir heute spielen, stammen zu einem großen Teil aus dem 19. Jahrhundert, haben also die Akustik, die der Komponist im Ohr hatte. Das Instrumentarium allerdings hat sich seither verändert. Das muss man beachten, wenn man die Dynamikanweisungen studiert: Ein Fortissimo mit historischen Instrumenten ist deutlich leiser und weniger schwer als ein Fortissimo mit modernem Instrumentarium. Würde man also die dynamischen Anweisungen 1:1 umsetzen, dann hätten die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne keine Chance und würden vom Orchesterklang »zugedeckt«. Dieses Gespräch führte Oliver Láng
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EIN SCHMUCKST ÜCK DON IZET T IS
Theo Stemmler
ZWEI KÖNIGINNEN– GRUND– VERSCHIEDEN
Anne Boleyn und Jane Seymour
In einem renommierten Opernführer kann man über Donizettis Oper Anna Bolena lesen: »Sie handelt von den Ehewirren des sinnlichen Wüterichs und brutalen Despoten Heinrich VIII. von England...«. Nein – so einfach war diese traurige Geschichte nun doch nicht. Von königlichen Ehewirren kann nicht die Rede sein. Heinrich VIII. war zwar sechsmal verheiratet – doch soll so etwas auch in bürgerlichen Kreisen vorkommen. Er war weder Bigamist noch Schürzenjäger – einige Medizinhistoriker glauben sogar, Potenzstörungen bei ihm entdeckt zu haben. Im heutigen Urteil erscheint er nicht als sexueller Gourmand. Seine Aktivitäten auf diesem Gebiet waren im zeitgenössischen Vergleich eher bescheiden. Scarisbrick, einer der besten Biographen Heinrichs, hat es treffend formuliert: »Er war kein aufsehenerregender Wüstling... Verglichen mit Franz I. oder Karl V. war er fast die Genügsamkeit selbst.« Verwirrend ist allein die zuweilen zynische Hast, mit der er sich wiedervermählte. Und er litt auch nicht – entgegen einem weit verbreiteten Gerücht – unter der Syphilis. Diese können wir getrost seinem königlichen Rivalen Franz I. von Frankreich überlassen, der tatsächlich ein notorischer womanizer war. In Wirklichkeit litt Heinrich unter einer schmerzhaften, nicht heilenden Osteomyelitis (Knochenmarkentzündung), die sich als Folge einer Turnierverletzung entwickelt hatte. Der hünenhafte, fast 1,90 Meter große Heinrich war ja in seiner Jugend ein vielseitiger Athlet, der sich im Reiten, Fechten, Speerwerfen, Ringen, Tennisspiel hervortat, und erst später aufgrund dieses Sportunfalls zu jenem monströsen Dickwanst aufquoll, als der er meist dargestellt wird. Auch die Charakterisierung »brutaler Despot« bedient ein weit verbreitetes Klischee, das nur teilweise zutrifft. Er war kein willkürlich handelnder Despot, sondern musste oft genug auf das englische Parlament und diverse Adels-Clans Rücksicht nehmen. Brutal war er – doch wie jene Zeit allgemein, als man die zum Tode Verurteilten nicht einfach hängte oder enthauptete, sondern oft zusätzlich räderte, ausweidete, vierteilte und ihre auf Stangen gesteckten Köpfe zu beiden Seiten der Themsebrücke ausstellte. Viele Menschen hat Heinrich zwar hinrichten lassen – an seinem Hof saßen die Köpfe locker. Doch ist auch dies kein Alleinstellungsmerkmal: Mary, seine fromme, streng katholische Tochter aus der Ehe mit Katharina von Aragón, hat als spätere Königin zahlreichere Gegner hinrichten lassen als ihr übel beleumundeter Vater: Diese daher so genannte Bloody Mary ließ nicht weniger als dreihundert ihrer religiösen Widersacher verbrennen. Jähzornig war er (sein Kanzler Cromwell wurde gelegentlich von ihm geohrfeigt), doch kein Wüterich – aber auch sinnlich und zur Liebe fähig: Die Liebesbriefe, die er an Anne Boleyn schrieb, legen Zeugnis dafür ab. Damit sind wir bei der tragischen Titelgestalt der Oper angelangt. Ähnlich wie Heinrich VIII. hat auch Anne – salopp formuliert – eine überaus schlechte Presse gehabt. Ernsthaft: Kein Liebespaar ist so verleumdet worden wie 19
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eben dieses. Bei ihnen kann man nur von übler Nachrede sprechen. Diese wurde von politischen Gegnern aufgebracht und immer wieder mit neuen Einzelheiten angereichert, die zum Teil bis heute verbreitet und geglaubt werden. Der übelwollendste ihrer Gegner war Eustace Chapuys, damaliger Gesandter Karls V. am englischen Hof. Dieser lieferte Seiner Katholischen Majestät – einem Neffen der unglücklichen Katharina, der ersten Ehefrau Heinrichs! – zahlreiche Horrormeldungen über Anne, die ihm verhasst war, da sie mit reformatorischen Ideen sympathisierte. In seinen Berichten mutiert sie zu einer »diablesse de concubine« – zur teuflischen Konkubine. Später machten katholische Propagandisten sie vollends zur Hexe und zu einer hurenhaften femme fatale, die bereits im zarten Alter von fünfzehn Jahren mit dem Butler und dem Kaplan ihres Vaters geschlafen habe und später am französischen Hof unter anderem die Geliebte des Königs gewesen sei. Nichts dergleichen ist in ernstzunehmenden zeitgenössischen Quellen festgehalten. Apropos »französischer Hof«. Anne (ca. 1501 geboren) und ihre etwas ältere Schwester Mary fungierten dort etwa fünf Jahre als Hofdamen, nachdem sie bereits als Halbwüchsige – von 1513 bis etwa 1515 – im flandrischen Mechelen bei Margarete von Österreich, der Statthalterin der spanischen Niederlande, ebensolche Dienste geleistet hatten. An beide Höfe hatte sie ihr ehrgeiziger Vater als dortiger Gesandter vermittelt – für seine Töchter eine gute hochadlige oder gar königliche Partie und für sich selbst ein aristokratisches upgrading erhoffend: Er war zwar begütert, gehörte aber lediglich dem niederen Landadel an. Derartige gesellschaftlichen Ambitionen waren in jener Tudorzeit, einem Zeitalter der Emporkömmlinge, gang und gäbe: Der Vater Jane Seymours, der Nachfolgerin Annes, stammte aus demselben Milieu – und selbst der Vater Heinrichs VIII. hatte sich erst durch Einheirat zum ersten Tudorkönig aufschwingen können. Vom mehrjährigen Aufenthalt am äußerst kultivierten burgundischen und französischen Hof profitierten die beiden jungen Schwestern ungemein. Hier lernte Anne die gesellschaftlichen Fertigkeiten kennen, die sie später am englischen Hof als eine Art Geschmacksführerin auszeichneten: französische Etikette, elegant frivole Mode und witzige Konversation. Beide Schwestern kehrten nach dieser höfischen Lehrzeit 1520 oder 1521 auf die Insel zurück und wurden wiederum Hofdamen – nun bei Katharina von Aragón, der frommen, streng katholischen Königin. Mary heiratete umgehend Sir William Carey – und wurde gleichzeitig die Mätresse Heinrichs VIII., des Ehemanns ihrer Herrin. Sie blieb es fünf Jahre lang. Eine derartige Laufbahn war in jener Zeit an der Tagesordnung. Fast alle Frauen, zu denen Heinrich enge Beziehungen entwickelte, waren junge Hofdamen: Mary Boleyn (siehe oben), Elizabeth Blount (Mätresse und Mutter
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des königlichen Bastards Henry Fitzroy), Anne Boleyn (Ehefrau Nr. 2), Jane Seymour (Ehefrau Nr. 3), Catherine Howard (Ehefrau Nummer 5). Solche Verbindungen konnten am damaligen Königshof leicht geknüpft werden. Der Hof war eine geschlossene Gesellschaft und deren Mitgliederzahl überschaubar. Zur Zeit Heinrichs VIII. gehörten etwa fünfhundert Personen dazu. Für einen fast absolutistisch regierenden Herrscher war es ein Leichtes, Partnerinnen als Geliebte oder als Mätresse oder als künftige Königin auszusuchen. Die jungen Damen verweigerten sich nur selten: Wenn das Auge des Herrschers auf sie fiel, fühlten sie sich (mitsamt ihrer Familie) geehrt und versprachen sich – meist zu Recht – gesellschaftliche Förderung, die oft mit der Verleihung von Adelstiteln und großzügigen Schenkungen einherging. Anne Boleyn geriet um das Jahr 1526 ins Visier Heinrichs – nach dem Ende seiner Beziehung zu ihrer Schwester Mary. Er war aus vielen Gründen von ihr fasziniert. Sie war temperamentvoll, gebildet, sprachbegabt, musikalisch, witzig, vielseitig interessiert – auch an theologischen Themen. Dass sie auch selbstbewusst bis zur Arroganz und schnippisch war, nahm er in Kauf, schätzte es möglicherweise sogar angesichts der ihn umgebenden Speichellecker. Auch dass Anne – entgegen den verleumderischen Behauptungen ihrer Feinde – keine Frau »mit Vergangenheit« war, hat Heinrich wohl beeindruckt, gerade weil am Hofe lockere Sitten herrschten. Das Gräuelmärchen von Annes früher Liederlichkeit habe ich bereits erwähnt. Welche Männer spielten in Annas Leben nun wirklich – nachweislich – eine Rolle? Anna war aufgrund ihre Charmes und Esprits attraktiv: Dass eine solche Frau Bewerber um ihre Gunst hat, ist natürlich und sicher nicht ehrenrührig. Die Namen von drei Verehrern sind überliefert: Henry Percy, Thomas Wyatt und Mark Smeton. Henry Percy, Sohn des Grafen von Northumberland, hatte sich in Anne verliebt und wollte ihretwegen eine bereits bestehende Verlobung lösen und sie heiraten – romantic love also, und nicht eine der damals üblichen politisch oder ökonomisch motivierten Ehevermittlungen. Anne erwiderte die Liebe des jungen Percy. Doch die Ehe wurde aus politischen Gründen – vor allem durch den Kanzler Wolsey – verhindert. Percy heiratete dann seine Verlobte und musste später als Mitglied der jury an dem Prozess gegen Anne teilnehmen – Donizettis Librettist Felice Romani macht ihn dagegen zu einem der Angeklagten! Eine traurige Geschichte also – und sicher keine frivole Affäre. Nach Henry Percy trat Thomas Wyatt (1503-1542) auf den Plan. Er war seit 1523 am königlichen Hof tätig und neben dem Grafen von Surrey der bedeutendste Dichter der Tudorzeit. Um das Jahr 1525 oder 1526 wurde er Annes courtly lover – ob diese Beziehung über eine höfisch-konventionelle hinausging, ist sehr fraglich. Jedenfalls sind einige Gedichte Wyatts erhalten, in denen er auf seine Verehrung Annes anspielt. Bevor sich diese Beziehung T HEO ST EM MLER
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zu einer Affäre entwickeln konnte, wurde sie jäh von einem Rivalen beendet, gegen den Wyatt machtlos war: König Heinrich. In einem berühmt gewordenen Sonett beschreibt Wyatt mit verschlüsselnden Metaphern seinen Verzicht und Heinrichs Sieg: Wer jagen will: Ich weiß, wo eine Hindin ist. Was mich angeht – ich mag nicht mehr. Mit Diamanten ist in Lettern deutlich Um ihren schönen Hals geschrieben: Noli me tangere, denn ich gehöre Cäsar... Der junge Hofmusiker Mark Smeton war Annes letzter uns namentlich bekannter Verehrer, der später wie die übrigen vier Beschuldigten wegen angeblichen Ehebruchs mit der Königin hingerichtet wurde. Sein einziges nachweisbares Vergehen: In einem Gespräch mit Anne habe er geäußert, »ein Blick von ihr genüge ihm«. (Dass ein von ihm mitgeführtes Porträt-Medaillon Annes später zum verräterischen Beweisstück wird, ist vom Librettisten Donizettis – wie manch andere Einzelheit – frei erfunden.) Als Heinrich etwa im Jahr 1526 beginnt, um Anne zu werben, denkt er bereits seit einiger Zeit daran, sich von seiner Ehefrau Katharina zu trennen. In den folgenden sieben (!) Jahren betreibt Heinrich mit allen möglichen theologischen und juristischen Argumenten seine »Scheidung« – in Wirklichkeit die Annullierung seiner Ehe; zugleich versichert er Anne unter anderem in leidenschaftlichen Briefen glaubwürdig seiner Liebe. Zwei Gründe bewogen ihn, die Trennung anzustreben. Einmal fürchtete er ohne männlichen Thronfolger um den Bestand der jungen Tudordynastie: Noch nie hatte in England eine Königin geherrscht – das jahrelange kriegerische Chaos im 12. Jahrhundert um die als Thronfolgerin vorgesehene Mathilde galt auch Heinrich als abschreckendes Beispiel weiblichen Königtums. In der Tat hatte Katharina fünf Tot- und Fehlgeburten erleiden müssen und »nur« ein lebensfähiges Mädchen geboren: Mary. Von der um 1525 vierzigjährigen Königin erwartete Heinrich keinen Sohn mehr. Zum anderen spielte ein theologisches Argument in Heinrichs Überlegungen eine wichtige Rolle. Er hatte ja 1509 die Witwe seines jung verstorbenen Bruders Arthur geheiratet und führte nun für die Annullierung seiner Ehe ins Feld, sie habe gegen das biblische Verbot der Leviratsehe verstoßen. Eine solche Ehe mit einer kinderlosen Schwägerin wird im Buch Leviticus, 20:21, untersagt: »Wenn jemand seines Bruders Weib nimmt, ist das eine schändliche Tat; sie sollen ohne Kinder sein.« Nach jahrelangem Tauziehen mit dem Papst durchschlug Heinrich im Mai des Jahres 1533 den gordischen Knoten: Thomas Cranmer, der von ihm ernannte Erzbischof von Canterbury, annullierte Heinrichs Ehe mit Katharina und erklärte die im Jänner heimlich mit Anne geschlossene für gültig. 23
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Die Zeit hatte ja auch gedrängt. Anne war – nach jahrelanger sexueller Verweigerung – inzwischen hochschwanger und gebar vier Monate später eine Tochter, die – welche Ironie der Geschichte! – als Königin Elizabeth erfolgreicher als alle ihre männlichen Kollegen werden sollte. Heinrich aber war mit dieser Leistung seiner bis dahin geliebten Anne nicht zufrieden. Und nach zwei Fehlgeburten der Unglücklichen hielt er wieder Ausschau nach einer jungen Frau, die ihm endlich den männlichen Thronfolger schenken würde. Das Gute lag wieder nahe: Als Nachfolgerin Annes wählte sich Heinrich Jane Seymour aus, eine ihrer Hofdamen! Zur Trennung von Anne konnten – im Unterschied zu jener von Katharina – keine theologischen und juristischen Argumente bemüht werden. Stattdessen fädelte der Kanzler Cromwell zusammen mit dem ehrgeizigen Seymour-Clan und rachsüchtigen Anhängern Katharinas eine infame Intrige gegen die unbescholtene Anne ein: Sie habe mit fünf Männern – auch mit ihrem eigenen Bruder – Ehebruch begangen und dem König nach dem Leben getrachtet. Eine voreingenommene Jury sprach alle sechs Angeklagten schuldig und verurteilte sie zum Tode: Alle wurden enthauptet – alle waren unschuldig! Heinrich war wohl von Annes Schuld überzeugt und ließ sich daher zu solch schrecklicher Grausamkeit hinreißen. Er fühlte sich öffentlich erniedrigt, steigerte sich in pathologisches Selbstmitleid hinein und warf ihr schließlich sogar vor, sie habe ihn mit mehr als hundert Männern betrogen. Am Tag nach der Hinrichtung Annes verlobt sich Heinrich am 20. Mai 1536 in schamloser Hast mit Jane Seymour. Er heiratet sie zehn Tage später – eine Frau, die von Anne in jeder Hinsicht grundverschieden war. Im Gegensatz zu Anne war sie schüchtern, politisch abstinent und zurückhaltend – ja bieder. So sorgte sie dafür, dass die Damenmode am englischen Hof unter ihrer Regie züchtig wurde: Die Dekolletés waren nicht mehr gewagt, und die Farben der Kleider nun eher gedeckt. Janes Wahlspruch ist bezeichnend: »Zum Gehorchen und Dienen verpflichtet.« Annes Motto lautete ganz anders: »So wird es geschehen – murre, wer mag.« Mit Jane hatte Heinrich leichtes Spiel. Während ihn zuvor Anne gerade wegen ihrer koketten Widerborstigkeit fasziniert hatte, schätzte er nun die Sanftmut Janes. Als diese ihm auch noch den seit vielen Jahren ersehnten Thronfolger – den späteren König Edward VI. – schenkt, ist Heinrich überglücklich. Doch bald darauf erhält seine Freude einen argen Dämpfer. Jane stirbt zwölf Tage nach der Geburt des Thronfolgers am Kindbettfieber. Vielleicht hat Heinrich sie von all seinen Ehefrauen am meisten – aus Dankbarkeit? – geliebt. Jedenfalls lässt er sich zehn Jahre später an ihrer Seite in Windsor bestatten. Fazit: Im Fall Anne Boleyn geht es nicht um das Wüten eines Erotomanen, sondern vorwiegend um dynastische und politische Probleme. Dies ist allerdings kein Stoff für eine Oper – in ihr geht es um große Gefühle, um Liebe, Eifersucht und Tod. Donizettis Librettist hat sich daran gehalten. T HEO ST EM MLER
→ KS Edita Gruberova als Anna Bolena, 2015
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Oliver Láng
HEINRICH VIII.
Wer war er? Wer war dieser König, den die einen als grausamen Despoten geißelten, den das 19. Jahrhundert als Inbegriff des ruchlosen Herrschers festschrieb, dessen Missetaten sogar ein englischer Kinderreim tradierte? Jener, der aus einem letztlich auch persönlichen Konflikt die Kirche spaltete, sich als geistliches Oberhaupt einsetzte, unter dessen Regierung an die 60.000 Menschen hingerichtet wurden, der selbst vor der Ermordung eines Humanisten wie Thomas Morus nicht haltmachte? Wer war also dieser Herrscher, den andere wiederum als wesentliche Reformkraft feierten, als König, der England im Spiel der europäischen Mächte eine größere Rolle einbrachte, der seinem Land militärische Macht verlieh? Und der als »herrlicher Ritter« sein Volk begeisterte, als Troubadour um Liebe focht, aus Liebe Krisen heraufbeschwor, als Musiker und Komponist glänzte, seinen Hof mit großen Künstlern veredelte? Es war Heinrich VIII., englischer König, ein Monarch, der fast 40 Jahre regierte und dessen Kinder den Weg des Landes für mehr als weitere 50 Jahre bestimmen sollten. Holbeins berühmtes Gemälde aus dem Jahr 1536 – im letzten Lebensviertel Heinrichs – zeigt trotz allem einen Mann mit geringer Ausstrahlung. Sein Gewicht hatte zu dieser Zeit das Maß der Stattlichkeit überschritten, der kurz geschorene Bart, die verschwindenden Augen, der kleine Mund, eine DurchOLI V ER LÁ NG
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schnittsmiene, die keinen kühnen Geist hinter der glatten Stirn vermuten lässt. Lang schien damals bereits das Zeitalter vorüber, in dem er, Heinrich, als strahlende Lichtfigur vor das Volk getreten war und eine neue Epoche eingeläutet hatte, eine Epoche der Festlichkeit und des Prunkes, der rauschenden Feiern und der Freude, der Ritterlichkeit und Männlichkeit. Vorbei die Jahre seines Vaters Heinrich VII., dem der – lange tradierte, wenn auch ungerechte – Ruf des Erbsenzählers und Krämergeistes anhaftete. Auch bei diesem täuscht das Bild: Die dürren Finger, die gepressten, schmalen Lippen, die verschlossene Haltung des Brustbildes von Michael Sittow zeigen sicherlich keinen äußerlich attraktiven Herrscher, doch war es Heinrich VII., der 1485 den York-König Richard III. in jener legendären Schlacht von Bosworth besiegte, in der Shakespeare Richard »Ein Königreich für ein Pferd« rufen ließ. Das Königreich fiel dann schließlich Heinrich VII. zu, er ehelichte Elisabeth von York und beendete die seit 30 Jahren währenden Rosenkriege, einte das Reich. 1493 kam Heinrich auf die Welt, als Zweitgeborener, daher zunächst nicht im Rampenlicht der englischen Geschichte, doch sein älterer Bruder Arthur starb, jung mit Katharina von Aragón vermählt. Nach dem Tod seines Vaters wurde Heinrich König: Das Erbe war größer, als vielfach angenommen. Nicht nur ein befriedetes Land, sondern auch eines, das wirtschaftlich und militärisch für große Taten gerüstet war. Man vergesse nicht, dass vieles, was der junge König mit Fortune und Ausdauer umzusetzen vermochte, durchaus auch der vorgeleisteten Arbeit seines Vaters zuzurechnen war. So oder so: Heinrich VIII. gefiel ausnehmend gut, war beliebt, amüsierte sich prächtig. »Unter tausend edlen Gefährten ragt er erhabener als alle hervor, er besitzt die Kraft, die seines erhabenen Körpers würdig ist. Mit der Hand ist er nicht weniger behende als im Herzen tapfer, sei es, dass eine Sache mit scharfem Schwert ausgefochten werden muss, sei es, mit gesenkter Lanze anzugreifen, sei es, dass es gilt, einen Pfeil auf das gegenüberliegende Ziel zu schnellen. Eine feurige Kraft liegt in seinen Augen, Schönheit auf seinem Antlitz, und eine Farbe auf beiden Wangen, wie es bei Rosen zu sein pflegt.« Das schrieb immerhin Thomas Morus. Viele standardisierte Huldigungsformeln mögen in diesem Text enthalten sein, doch spiegelt er die Freude einer jubelnden Nation wider. Der junge Heinrich verstand es auch, das Volk auf seine Seite zu ziehen. Eine frühe Tat seiner Regentschaft war es, zwei besonders unbeliebte Steuereintreiber seines Vaters grausam hinrichten zu lassen. Es mag ein berechneter Schachzug gewesen sein, um sich von der vorhergehenden Politik abzuheben, doch dieser – nach heutigem Sprachgebrauch populistische – Akt zeigt freilich einen Hang zu öffentlich wirksamen Handlungen, die verwerflich sind, aber umso prägnanter ein Charakterbild nach außen hin formen. Es wird auch später die Propaganda sein, die Heinrich einzusetzen versteht, um Stimmungen zu kanalisieren und zu lenken. 27
HEIN R ICH V III.
Politisch motiviert die erste (und längstandauernde) Ehe, die der junge König schloss. Katharina von Aragón, die Witwe seines Bruders, durfte dank päpstlicher Dispens – aufgrund der schwägerschaftlichen Ehe – ihm angetraut werden. Sie betrachtete im Stillen das bunte Treiben Heinrichs, berichtete von Maskenspielen und Feiern, und wird die eine oder andere Affäre ihres Gemahls wissend übergangen haben. Diese Affären freilich, früher hochgespielt, werden heute mitunter zur Seite gerückt, denn nur zwei uneheliche Kinder Heinrichs sind bekannt. Allerdings wird er, so muss man auch im Zuge des üblichen Umgangs an den königlichen Höfen annehmen, durchaus kein Kostverächter gewesen sein. Doch man arrangierte sich, und alles wäre gut gegangen, wenn Katharina einen Sohn auf die Welt gebracht hätte. Mehrfache Fehlgeburten ließen die Hoffnung auf einen männlichen Erben versickern. Was folgte, war tiefgreifend: Heinrich trennte sich nach langem Hin und Her von Katharina, akzeptierte politische Implikationen, brach mit dem Papst, der einer Scheidung beziehungsweise Annullierung nicht zustimmte, und heiratete Anne Boleyn. Die Diskussion über die wahren Gründe dieser Trennung hält bis heute an, und es wird bis ins Letzte nicht möglich sein, die sachlichen und psychologischen Motivationen zu nennen. Mehrere Ansatzpunkte gibt es freilich; die Sicherung der Thronfolge einerseits (das Tudor-Geschlecht saß ja noch nicht allzu lange im Sattel und wahrlich dunkelblau war Heinrichs Blut nicht, zumal einer seiner Ururgroßväter noch Bierbrauer gewesen war), andererseits religiöse Gründe basierend auf dem Buch Leviticus, demzufolge eine solche schwägerschaftliche Ehe mit Kinderlosigkeit bestraft sei. Zuletzt auch die unbändige Liebe zu Anne Boleyn, deren beredtes Beispiel bis heute erhaltene feurige Liebesbriefe sind. Und die Durchsetzungssucht des Königs freilich: Nicht nur die jahrelange sexuelle Zurückhaltung Anne Boleyns ließen seinen Ehrgeiz zum Willenssieg zur Höchstform auflaufen, sondern auch der Widerstand der Kirche gegen diese Verbindung. Der in späteren Jahren zunehmend zur Cholerik neigende Monarch war keiner, der ein Nein akzeptierte, und so ließ er es bis zum Äußersten kommen, stieß den Papst von sich, machte sich zum Oberhaupt der englischen Kirche und konnte so die Ehe mit Katharina für ungültig erklären. Doch auch die große Liebe sollte keinen Bestand haben, unter Vorwänden wurde Anne nicht viel später hingerichtet, und an unglücklichen Nachfolgerinnen fehlte es nicht. Fast schon absurd etwa die Geschichte der Anna von Kleve, seiner vierten Frau, die Heinrich via Portrait, gemalt vom Hofmaler Holbein, kennen lernen sollte. Nach ausgehandeltem Ehekontrakt traf er sie spät und war von ihrem tatsächlichen Aussehen so enttäuscht, dass die Ehe nur kurzen Bestand hatte. Immerhin blieb das Verhältnis der beiden gut, Holbein allerdings fiel, so berichtet die Legende, in Ungnade. Was anfangs ein prächtiges Rittertum, getragen von Schwung und Kraft gewesen war, das verkam zu einem gefährlichen System: Langjährige Weggefährten wie der für Heinrich bestimmende Kardinal Wolsey wurden entOLI V ER LÁ NG
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machtet, teils hingerichtet, Schauprozesse und Intrigen nahmen Raum ein, Grausames stand auf der Tagesordnung. Das Schicksal der Machthaber war wechselhaft und gefährdet, das Volk durch Geldabwertung auch wirtschaftlich bedrängt. Klöster wurden aufgelöst, das Geld der Kirche sanierte die leckenden Staatskassen, brutale Hinrichtungen jener, die den Bruch mit dem Papst nicht ohne Weiteres hinnehmen wollten, zeugten von einer erbarmungslosen Machtdarstellung. Der spanische Botschafter Chapuys schrieb 1535 über die Ermordung von Mönchen und Priestern, die den königlichen Kurs nicht mittrugen: »Nachdem man sie unter den Galgen geschleift hatte, ließ man die Verurteilten einen nach dem anderen auf einen Karren steigen, der unter ihnen weggezogen wurde, so dass sie hingen; danach wurde sofort der Strick durchgeschnitten, und man richtete sie auf und stellte sie an einer dafür hergerichteten Stelle auf, um sie stehend zu erhalten und ihnen die Schamteile abzuschneiden, die ins Feuer geworfen wurden; man schnitt sie auf und riss die Eingeweide heraus, hierauf wurde ihnen der Kopf abgeschlagen und ihre Körper gevierteit. Zuvor hatte man ihnen das Herz ausgerissen und ihnen damit den Mund und das Gesicht eingerieben.« Hochverrat als Todesurteil war ein gefährliches, schnell zur Hand gehendes Instrument der Ausschaltung einzelner Personen. In all dem, in den – mehrfach letztlich wenig erfolgreichen – Schlachten, die Heinrich zu verantworten hatte, in den erschreckend konsequent geführten Unternehmungen wie eben der Kirchenabspaltung, drohen große Projekte wie ein Europa umfassender, ungemein fortschrittlicher Friedensvertrag, den Heinrich initiierte, unterzugehen. Was bleibt ist eine Figur, die zwischen Genusssucht und politischer Durchschlagskraft, zwischen unbedingtem persönlichen, ja absolutistischen Willen zur nicht einmal hinterfragten einzelnen Macht, zwischen fast absurder Selbstdurchsetzung changiert. Sicherlich kein mittlerer, aber auch kein großer Charakter: trotz aller Zurechtrückungen der neueren Literatur doch ein noch immer erschreckender.
→ Nächste Seiten: KS Anna Netrebko als Anna Bolena, Francesco Meli als Riccardo Percy, Dan Paul Dumitrescu als Lord Rochefort und Elisabeth Kulman als Smeton, 2011
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HEIN R ICH V III.
HEINRICH VIII. UND SEINE EHEFRAUEN »Bluff Henry the Eighth to six spouses was wedded: One died, one survived, two divorced, two beheaded.« (»Der grobe Heinrich VIII. war verheiratet mit sechs Frauen: eine starb, eine überlebte, zwei wurden geschieden, zwei geköpft.«) Englischer Kinderreim
GEBOREN
GESTORBEN
HEIRAT
DAUER DER EHE
Katharina von Aragón
1485
1536
1509
etwa 24 Jahre
1533 aufgelöst
Anne Boleyn
um 1501
1536
1533
etwa 3 Jahre
1536 hingerichtet
Jane Seymour
um 1509
1537
1536
etwa 1 1/2 Jahre
1537 verstorben
Anna von Kleve
1515
1557
1540
etwa 1/2 Jahr
1540 aufgelöst
Catherine Howard
um 1524
1542
1540
etwa 1 1/2 Jahre
1542 hingerichtet
Catherine Parr
um 1512
1543
etwa 3 1/2 Jahre
NAME
1548
HEIN R ICH U N D SEIN E EHEFR AU EN
überlebt
→ Heinrich VIII. und seine Ehefrauen
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ZWEI BRIEFE KÖNIG HEINRICHS An Anne Boleyn Meine Liebste, ich schreibe dies, um Euch meine große Einsamkeit zu bezeugen, unter der ich seit Eurer Abreise leide und ich versichere Euch, die Zeit Eurer Abwesenheit scheint mir länger als vierzehn Tage. Ich denke, dass dies Eure Liebenswürdigkeit und meine fieberhafte Liebe verursachen, denn sonst hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass so eine kurze Dauer mich bekümmern könne, aber da ich Euch nun bald besuchen werde, scheine ich schon halb von meinen Qualen befreit zu sein. Ich bin auch ganz zufrieden mit den Fortschritten, die mein Buch macht, dem ich heute Stunden gewidmet habe, weshalb ich Euch diesmal nur einen kürzeren Brief schreiben kann, nachdem ich auch etwas Kopfschmerzen habe. Ich wünsche mich (besonders abends) in meiner Liebsten Arme, deren schöne Brüste ich bald zu küssen hoffe. Mit dessen Hand geschrieben, der nach seinem Willen Euer war, ist und sein wird, Henry Rex
An Jane Seymour Meine liebe Freundin und Gebieterin,
← Liebesbrief Heinrich VIII. an Anne Boleyn
der Überbringer dieser wenigen Zeilen von Eurem vollkommen ergebenen Diener wird ein Zeichen meiner wahren Zuneigung für Euch in Eure teuren Hände legen. Ich hoffe, Ihr bewahrt es für immer in Eurer aufrichtigen Liebe zu mir. Ich weise Euch auf ein Spottgedicht hin, das gegen mich gerichtet ist: wenn es Euch unter die Augen gelangt, bitte ich Euch, es nicht zu beachten. Ich bin nicht davon unterrichtet, wer der Verfasser ist, aber wenn er gefunden wird, soll er dafür augenblicklich bestraft werden. Was die Dinge betrifft, die Euch abgehen, so habe ich meinen Lordkanzler gebeten, sie Euch zu beschaffen. Daher hoffe ich, Euch bald in meinen Armen zu wissen und verbleibe für heute als Euer einzig liebender Diener und Fürst Henry Rex
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Z W EI BR IEFE KÖN IG HEIN R ICHS
Uwe Baumann
PROZESS UND HINRICHTUNG DER ANNE BOLEYN
Am 30. April wurde Mark Smeton, ein junger Musiker aus der Hofhaltung der Königin, plötzlich verhaftet und in Cromwells Haus verhört; Smeton gestand (unter der Folter?)‚ Ehebruch mit der Königin verübt zu haben. In den nächsten Tagen wurden Henry Norris, der langjährige Kämmerer des Königs, Sir Francis Weston, William Brereton und Annes Bruder, Lord Rochford, ebenfalls verhaftet und in den Tower geworfen; am 2. Mai traf dieses Schicksal auch die Königin. Bei ihrer Ankunft im Tower fragte sie Sir William Kingston, den Kommandanten des Tower, ob sie sterben müsse ohne dass ihr Gerechtigkeit widerfahren solle. Die Antwort Kingstons, selbst der ärmste Untertan des Königs habe Anspruch auf Gerechtigkeit, entlockte ihr nur ein Lachen; sie wusste, was sie erwartete. Nur wenig später wurde Anklage wegen Hochverrats erhoben. Alle wurden des Ehebruchs und der Konspiration gegen den König beschuldigt. Dabei war die Anklage des Ehebruchs im Grunde strafrechtlich irrelevant, sie dienU W E BAUM A N N
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te lediglich dazu, die Angeklagten in ein schlechtes Licht zu setzen und damit zugleich die Konspiration gegen den König wahrscheinlich zu machen. Die Anklagen wegen Ehebruchs liefern auch heute noch deutliche Hinweise darauf, auf wie schwachen Füßen die Anklagen insgesamt standen. Die Beschuldigungen, zwanzig an der Zahl, waren alle unter Nennung der Beteiligten, des genauen Datums und des genauen Orts sowie stereotyp mit der Formel »sowie zu anderen Zeiten und an anderen Orten« abgefasst. Elf von den konkret genannten Beschuldigungen sind eindeutig zu widerlegen, da Anne und der betreffende Mann zum angegebenen Datum nicht am gleichen Ort waren, zwei weitere Daten wären unter der Voraussetzung, dass König und Königin zusammen waren, ebenso zu eliminieren; einige weitere Daten sind aus allgemeinen Überlegungen heraus wenig wahrscheinlich: so soll Anne am 6. und 12. Oktober 1533 mit Henry Norris in Westminster ehebrecherisch verkehrt haben, obwohl sie erst vier Wochen zuvor, am 7. September 1533, von Prinzessin Elisabeth entbunden worden war. Es liegt der Schluss nahe, dass die Vorwürfe des Ehebruchs wie der Konspiration gegen den König realiter unbegründet waren; Anne sowie alle übrigen Angeklagten, mit Ausnahme Smetons, plädierten in ihren Prozessen auch auf »Nicht schuldig«. Anne beschwor ihre Unschuld darüber hinaus bei ihrem Seelenheil; es gibt meines Erachtens keinen Grund, an der Ernsthaftigkeit dieses Schwurs zu zweifeln. Im Sinne der Anklage waren sowohl die Königin als auch alle Mitangeklagten wohl unschuldig. Was sie sich hatten zuschulden kommen lassen, waren Verstöße gegen die Etikette. So herrschte in der Hofhaltung der Königin ein lockerer Ton, bisweilen wurden die Scherze zu weit getrieben; und in einigen Fällen begab man sich auch auf gefährliches Terrain, man scherzte und lachte über die geringen Fähigkeiten des Königs, seiner Gemahlin beizuwohnen. Damit war unter Umständen die Nachfolgefrage tangiert, und dies konnte im Sinne des 1534 verschärften Gesetzes als Hochverrat ausgelegt werden. Wie unschuldig die einzelnen auch gewesen sein mochten, als Norris, Weston, Smeton und Brereton am 12. Mai der Prozess gemacht wurde, wussten sie schon beim Einzug der Geschworenen, dass ihr Schicksal besiegelt war: voreingenommenere Richter und Geschworene waren kaum vorstellbar. Mit größter Sorgfalt waren sie von Cromwell ausgewählt worden, alte Freunde Königin Katharinas und Sir Thomas Mores, persönliche Feinde der Angeklagten, loyale und von Cromwell abhängige Staatsdiener. Und sie alle taten wie von Cromwell gewünscht ihre Pflicht: Alle vier Angeklagten wurden für schuldig befunden und zum Tod durch Schleifen, Erhängen und Vierteilen verurteilt. Damit war der Spielraum im Verfahren gegen die Königin und ihren Bruder von vornherein durch die geschickte Regie Cromwells sehr eingeengt, da die Logik nun einmal für Ehebruch wenigstens zwei Beteiligte erforderte und vier Männer dieses Vergehens bereits für schuldig befunden worden waren. Weder Anne noch ihr Bruder hatten eine Chance, als sie am 15. Mai vor dem Gericht des Lord High 37
PROZE S S U N D HIN R ICH T U NG DER A N N E BOLEY N
Stewart erscheinen mussten, wo 26 Mitglieder des Adels über sie zu Gericht saßen. Und auch sie wurden – ungeachtet ihrer klugen Verteidigung – einstimmig schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Am 17. Mai wurde das Urteil an Norris, Weston, Smeton, Brereton und Rochford vor dem Tower vollstreckt. Der König hatte in allen Fällen die Strafe in Enthaupten umgewandelt. Am 19. Mai wurde Königin Anne innerhalb des Towers enthauptet, nachdem der Erzbischof von Canterbury ihre Ehe mit dem König noch am 18. Mai – ohne Angabe von Gründen – für ungültig erklärt hatte. Anne, die ungewöhnliche Königin, die nicht nur in ihrer Liebe zu Heinrich die Konventionen ihrer Zeit hinter sich ließ, die intelligent und tatkräftig ihren Einfluss in der Politik zur Geltung brachte, ging gefasst und ruhig in den Tod. Während dieser ereignisreichen ersten Maiwochen des Jahres 1536 machte der König weiter Jane Seymour den Hof und vergnügte sich Abend für Abend mit ihr auf Banketten und Gesellschaften. Er war offensichtlich von Annes Schuld überzeugt, oder er wollte es sein; mit Sorgfalt kümmerte er sich um die Einzelheiten der Hinrichtung: aus St. Omer ließ er einen Scharfrichter kommen, der Anne mit dem Richtschwert enthaupten sollte; der König wollte ihr die Schmach des Hinkniens ersparen; sie sollte aufrecht stehend mit erhobenem Haupt sterben dürfen. Am Tag der Hinrichtung Annes gewährte Thomas Cranmer dem König eine Dispens, die es ihm gestattete, Jane Seymour zu heiraten; sie stammten beide von Edward III. ab und waren so weitläufig miteinander verwandt. Am 20. Mai schlossen Heinrich und Jane Seymour einen vorläufigen Ehevertrag, zehn Tage später heirateten sie heimlich und am 7. Juni stellte der König Jane als seine Königin der Öffentlichkeit vor. Am nächsten Tag begleitete Königin Jane ihren Gatten zur feierlichen Parlamentseröffnung. Dieses neu gewählte Parlament verabschiedete bald darauf schon ein zweites Sukzessionsgesetz, das die Nachfolge auf die Nachkommen aus der Ehe Heinrichs mit Jane festschrieb; bis dahin war der König ermächtigt, allein einen Nachfolger zu bestimmen.
→ KS Anna Netrebko als Anna Bolena, 2011
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»Gutes, christliches Volk, ich bin nicht hierher gekommen, um eine Predigt zu halten. Ich bin gekommen, um zu sterben, denn entsprechend dem Gesetz und durch das Gesetz bin ich zum Tode verurteilt, und daher wehre ich mich nicht dagegen. Ich bin hierher gekommen weder um anzuklagen noch um darüber zu sprechen, wodurch ich beschuldigt und zu sterben verurteilt wurde. Aber ich bete zu Gott, den König zu schützen und ihm eine lange Herrschaft über euch zu gewähren, denn einen sanftmütigeren und ganädigeren Herrscher gab es
niemals, und auch zu mir war er immer ein guter, sanftmütiger und gnädiger Fürst. Und sollte sich ein Mensch in meine Sache einmischen, so verlange ich von ihm, bestmöglich zu urteilen. Daher nehme ich Abschied von der Welt und von euch allen, und wünsche von Herzen, dass ihr alle für mich beten mögt. Mein Herr, hab Mitleid mit mir, Dir empfehle ich meine Seele. Jesus Christus empfehle ich meine Seele; Herr Jesus empfange meine Seele.«
Anne Boleyns überlieferte letzte Worte am Schafott
Chris Tina Tengel
ENTSTEHUNGSGESCHICHTE UND REZEPTION
Mailand im Sommer 1830: Ein Zusammenschluss von Adeligen und Dilettanten übernimmt die Leitung des Teatro Carcano. In Konkurrenz zum Teatro alla Scala soll eine Opernstagione der Extraklasse stattfinden, mit zwei allerersten Gesangsstars: Giuditta Pasta als Primadonna, gemeinsam mit Tenor Giovanni Battista Rubini. Die beiden interessantesten italienischen Opernkomponisten der jüngsten Generation »nach Rossini« werden für je ein neues Werk einge laden: Vincenzo Bellini und Gaetano Donizetti. (Der nach Paris entrückte Gioachino Rossini gewinnt allmählich »Altmeister«-Status: Die Premiere seiner letzten, Syntax und Formstrukturen des »Belcanto« endgültig kodifizierenden italienischen Oper, der Semiramide, liegt bereits sieben Jahre zurück.) Vincenzo Bellini, der Jüngere, ist in Mailand »Platzhirsch«, seit er 1827 mit dem hochdramatischen Pirata seinen Durchbruch erlebt hat. Neuerlich gemeinsam mit Felice Romani, dem italienischen Libretto-»Papst« der Ära, neuerlich am Teatro alla Scala gelang ihm 1829 mit La straniera der zweite Erfolgs-Streich. Dagegen reiht der einflussreiche FranÇois-Joseph Fétis in seiner »Revue musicale« Gaetano Donizetti unter die »obskuren Imitatoren der Rossinianischen CHR IS T INA T ENGEL
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Manier«, deren Werke kaum je aus den Städten herauskamen, für die sie geschrieben wurden. Gaetano Donizetti, der Geduld brauchte, um seine Karriere aufblühen zu sehen, hat den Großteil seiner rund 25 Bühnenwerke der 1820er Jahre für Neapel komponiert. Impresario Domenico Barbaja hob ihn 1827 in eine Position ähnlich der Rossinis ein Jahrzehnt früher: Mitwirkung bei der künstlerischen Leitung der Musikbühnen Neapels, speziell des Teatro San Carlo, samt Verpflichtung, jährlich vier neue Opern zu liefern. In rascher Folge entstand so unterschiedlich Experimentelles wie die Semiseria Otto mesi in due ore, der Borgomastro di Saardam mit Zar-und-Zimmermann-Sujet oder die Theater-auf dem-Theater-Farce Le convenienze ed inconvenienze teatrali (auch Viva la mamma!). Das »seriöse« Genre bedienen Emilia di Liverpool (EnglandRomantik!), L’esule di Roma (erstmals bei Donizetti mit »Wahnsinns«-Thematik), Il castello di Kenilworth (erstmals Elisabeth I. als Opernfigur, erstmals eine Oper mit zwei großen Frauenrollen) und Imelda de’ Lambertazzi (erstmals eine große heldische Baritonpartie). Mit dem um Noah und die Sintflut komponierten Opern-Oratorium Il diluvio universale erweist Donizetti dem Rossini des Pariser Moïse et Pharaon seine Reverenz. Aus dem nördlichen Italien schlug Donizetti wesentlich weniger Enthusiasmus entgegen. Sogar eine von seinem ehemaligen Lehrer Johannes Simon Mayr, einer geschätzten Autorität, daheim in Bergamo auf die Beine gestellte Aufführung von L’ajo nell’imbarazzo, einem Werk, das überall sonst ein Erfolg war, entwickelte sich im Karneval 1830 zum Fiasko. Donizetti aus Neapel mit gekränkter Eitelkeit: »Da oben pfeifen sie mich aus, hier applaudieren sie.« Speziell in Mailand hat Donizetti einen Erfolg nötig: Nur ein Werk von ihm ist bisher am Teatro alla Scala herausgekommen, Chiara e Serafina, 1822 – ein Reinfall. Die Anfrage des Teatro Carcano im Juli 1830 kommt für ihn in mehrfacher Hinsicht zum richtigen Zeitpunkt: Ohne Zögern unterschreibt er den Kontrakt. Für die Libretti beider Opern haben die Geldgeber Felice Romani im Auge, den Angesehensten der Zunft. Er zögert erst, weil er noch Aufträge unerfüllt liegen hat – Romani, dem Rossini, Mayr, Mercadante, Meyerbeer, Pacini Operntextbücher verdanken, ein Profi in den Vierzigern, ist für seine Hinhaltetaktik berüchtigt. Am 10. November, zwei Monate nach dem vereinbarten Abgabetermin, hält Gaetano Donizetti das fertige Textbuch in Händen und zieht sich umgehend in die Villa von Giuditta Pasta am Comer See zurück. Ab diesem Moment ersetzen Vermutungen den Blick in die »Werkstatt«: Hat »die« Pasta dem Komponisten Ratschläge gegeben, Vorschläge gemacht? (Hätte ihr Donizetti die Partie der Anna nicht genauestens »auf die Stimmbänder« komponiert, er hätte seine Aufgabe verfehlt!) Musikologen werden in Anna Bolena später Entlehnungen aus früheren Donizetti-Opern von Enrico di Borgogna bis Il paria aufspüren: Wie weit hat die in London und Paris als Rossini- und Mozart-Interpretin gefeierte, in die Musik zwischen Paisiel 43
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lo, Paër , Zingarelli und Pacini eingelebte Giuditta Pasta, sie wird 33, seit 15 Jahren steht sie auf der Bühne, auf musikalische Details Einfluss genommen? Hier war sie die Meisterin und Donizetti der Lehrling! Die beinahe hypnotische Wirkung von Pastas Stimme ist oft beschrieben worden – sie verfügte zwar über die Extremhöhe bis zum Cis, muss aber ein »soprano sfogato« gewesen sein, vom Timbre und der für sie bequemsten Tessitura her – nach heutigen Kriterien – ein Mezzo. (Bellini wird für sie 1831 die Sonnambula und Norma komponieren.) Das »Metall« war so nicht gleichmäßig über die komplette vokale Spannweite verteilt, aber gerade dieses Singen »mit mehreren Stimmen« erregte die Zeitgenossen. Ein faszinierendes Bild: Gaetano Donizetti am Klavier, Giuditta Pasta ihm »einflüsternd«... in unserer Fantasie! Der eine Monat, der Donizetti für die Niederschrift der Anna Bolena bleibt, reicht ihm: Am 10. Dezember werden die Noten an Ensemble und Orchester verteilt, und die Proben in Mailand beginnen, unter Donizettis Leitung. Premiere hat Anna Bolena am 26. Dezember, dem traditionellen Eröffnungs-Termin der Karnevals-Stagione. Noch ganz unter ihrem Eindruck schreibt Donizetti zwei einander seltsam widersprechende Briefe: an einen Freund, wie wütend ihn die mäßige Aufführung gemacht hätte, und seiner Frau, dass sie nicht hätte besser sein können (»Erfolg, Triumph, Delirium«). Die tags darauf in der Gazzetta di Milano erscheinende Besprechung wischt über den ersten Akt der Oper hinweg, erwähnt nur die Tenor-Cabaletta und den animato-Abschnitt des Finales, würdigt aber ausgiebig den zweiten. Der schöne, »grandiose« Aufbau mehrerer Nummern wird gerühmt, und die (»mayrische«) harmonische Komplexität des Sopran-Tenor-Bass-Terzetts. Vor allem: welche Kraft des deklamierten Gesangs, welcher Zauber perfekten Klanges bei Giuditta Pasta und Giovanni Battista Rubini! Anna Bolena war ein Erfolg, vom ersten Moment an, kein Zweifel. Ein derart glänzender Erfolg, dass die viel später in einer ersten Felice-Romani-Biografie erzählte Geschichte lange geglaubt wurde: Bellini hätte erst unter dem Eindruck der Anna-Bolena-Premiere den von ihm ursprünglich fürs Teatro Carcano bearbeiteten Ernani-Stoff zugunsten von La sonnambula aufgegeben, weil er auf dem Gebiet der »tragischen« Oper die Konfrontation mit Donizetti scheute. (In Wahrheit waren Zensur-Rücksichten ausschlaggebend.) Auch Donizetti arbeitete bei Anna Bolena nicht zum ersten Mal mit Felice Romani zusammen, dem Könner, Poeten, Dramaturgen. Aber zum ersten Mal hatte er ein erstrangiges, dramatisch stimmiges Libretto in Händen, mit motivierten Charakteren, interessant ineinander verschachtelten Szenenfolgen, vor allem aber mit einer Heroine, die ans Mitgefühl des Publikums appellierte. Noch stellte eine Oper mit tragischem Ende im »lieto-fine«-süchtigen Italien eine Ausnahmeerscheinung dar: der tödlich verwundete Protagonist in der Zweitfassung seines Tancredi (1813), das Liebespaar in Vaccais Giulietta e Romeo (1825) oder Desdemona in Rossinis Otello (1816) gehen Anna CHR IS T INA T ENGEL
→ Giuditta Pasta als Anna Bolena
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Bolena zwar am Weg in den Tod voran, zum ehernen Bestandteil der tragedia lirica wird die tödliche Schlusswendung aber erst mit Anna Bolena. Im Falle Donizetti: Parisina, Gemma di Vergy, Maria Stuarda, Lucia di Lammermoor – alles Sujets mit unschuldig leidenden und in den Wahnsinn und/oder Tod getriebenen Sopran-Hauptfiguren! Donizetti bleibt in Mailand, um die Carcano-Erstaufführung seines älteren, für Neapel und dort bereits für Giovanni Battista Rubini geschriebenen Gianni di Calais vorzubereiten. Etwa einen Monat nach der Anna-BolenaPremiere nimmt er sich die Bolena-Partitur nochmals vor, um vor allem an der Tenorpartie Änderungen vorzunehmen: Auf Wunsch von Rubini? Die Soli des Percy wirken wie von einem weitatmenden, melancholischen Bellini-Melos beseelt – tatsächlich war Rubini, der mit süß-goldenem Falsett die musikalischen Verführungskünste der Kastraten in die Tenorlage rettete, Bellinis Ideal-Interpret von der ersten bis zur letzten Oper des Jungverstorbenen. Donizetti nützt die Umarbeitungsgelegenheit jedoch, um (wie die Partiturhandschrift zeigt) auch an anderen Stellen ins orchestrale Gewebe einzugreifen. Er tut, was heute als Sakrileg angesehen würde: Er kürzt wild, einen Takt hier, vier Takte dort. Um die dramatische Sogwirkung geht es, ums Lebendige und Mitreißende. Anna Bolena – immer voll, widerspruchslos als beste Novität der Saison akklamiert: So berichtet im Mai 1831 die Allgemeine musikalische Zeitung aus Mailand. Donizetti – ein würdiger Schüler seines Lehrers Johann Simon Mayr, zugleich ganz er selbst. Aber musste er das wunderbare Trio des 2. Aktes mit einer so ordinären Cabaletta abschließen, der »Konvention« gehorchend? Die ewig auf »Unkonventionelles« erpichten Deutschen, wo doch das italienische »melodramma« bis weit in die 1840er Jahre hinein vom Spiel zwischen Nachbeten und Sich-Abstoßen vom belcantistischen Form- und MelodiebildungsSchematismus, also vom Sich-Beziehen auf die »Konvention«, lebte! Als wenig später Anna Bolena Paris erreicht, greift wiederum FranÇoisJoseph Fétis zur Feder, um zu kritisieren – speziell die »laute« Instrumentation! – und um das gängige Donizetti-Bild festzuschreiben: anfangs skrupellos im Rossini-Fahrwasser, durch die Bindung an Neapel mit seinem fordernden Publikum dann zu sorgfältigerer Schreibweise gezwungen, mit Anna Bolena zu neuen, davor ungeahnten Höhen aufgestiegen. (Auch darin, welche Abschnitte der Anna-Bolena-Partitur er lobt, wird Fétis zur vox populi: das ins 1. Finale integrierte Anna-Enrico-Duett, die Percy-Soli, die Konfrontation der »donne«, das harmonisch gewagte Trio, das vielgliedrige Wahnsinns-Finale der Anna.) In Italien folgt 1836 Giuseppe Mazzini in seiner Filosofia della musica genau dieser Darstellung. An Anna Bolena rücken nun die romantisch-poetischen Momente in den Vordergrund: der »Schwanengesang« der Anna, die an der Schwelle zum Tod von einer zarten Erinnerung an die Liebe berührt wird – »göttlich«! Andererseits: Wer fühlte beim musikalischen Blitze-Zucken von CHR IS T INA T ENGEL
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Enricos Salirà d’Inghilterra nicht sein Herz in die Hose rutschen, wer verstünde in diesem Moment nicht, was Tyrannei bedeutet? Die Anna-BolenaGlorifizierung hat begonnen. Im gleichen Jahr wie Paris, 1831, als die erste dort gespielte Donizetti-Oper, erreicht Anna Bolena auch London. Bis zur Jahrhundertmitte erscheint sie in zumindest 25 europäischen Städten, von Brüssel bis St. Petersburg; bis New Orleans (1839) und New York (1843) verbreitet sich ihr Ruf. Auffallend, wie lange – bis 1881 – sie sich neben dem, nun die italienischen Bühnen beherrschenden, Œuvre von Giuseppe Verdi hält. Erst die Verismo-Mode lässt für Relikte des Belcanto kaum mehr Raum im Repertoire; die Kenntnis, wie die Musik von Rossini, Bellini, Donizetti zu singen ist, schwindet... 1956 wirkt eine pionierhafte Neuproduktion in Donizettis Geburtstadt Bergamo als Initialzündung für die Anna-Bolena-Premiere an der Mailänder Scala im Jahr darauf, die mit Maria Callas und Giulietta Simionato zur Legende wird. Seither haben Sopranistinnen wie Leyla Gencer, Beverly Sills, Renata Scotto, Montserrat Caballé, Joan Sutherland, Katia Ricciarelli, Anna Netrebko oder Edita Gruberova die Anna gesungen: keine wie die andere – jeder Abend ein Abenteuer. Haben die Zeitgenossen in Anna Bolena einen plötzlichen Sprung Donizettis von Mediokrität zu Größe empfunden, vom imitativen Stil zur künstlerischen Eigenständigkeit, wird das Werk heute, da die Donizetti-Renaissance seit den 1960er Jahren zu einer Neubewertung des Frühwerks geführt hat, als logischer Kulminationspunkt seiner Entwicklung gesehen. Stellvertretend William Ashbrook in seiner Donizetti-Studie von 1982: »Der Verdienst der Anna Bolena liegt nicht in einem radikalen Bruch mit Donizettis früheren Strukturmustern, sondern in der durchgehend höheren Ausdrucksintensität, zu der ihn die gut durchgestalteten Charaktere stimulierten, die er mit seiner Musik zum Leben erweckte.« Johannes Simon Mayr brauchte weniger Worte. Nachdem er Anna Bolena gehört hatte, sprach er Donizetti erstmals als »maestro« an.
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HISTORISCHE DOKUMENTE ZU ANNA BOLENA Virginia Donizetti an ihren Schwiegervater 21. Dezember 1830 »Sobald mein Gaetano auf der Bühne erschienen ist, bitte ich Dich, mir den Gefallen zu tun, mir einen genauen Bericht des Erfolges zu geben. Denn ich muss gestehen, dass ich ihm nicht traue; daher wende ich mich an Dich, um sicher zu sein, dass meine Leiden verringert werden, da Du Dir vorstellen kannst, in welcher Aufregung ich lebe, umso mehr, als ich die Empfindlichkeit seines Charakters kenne. Ich verlasse mich daher auf Dich, damit Du mir während der Tage, wenn er aufgeführt werden soll, Gesellschaft leistest.«
Donizetti kurz nach der Uraufführung an seine Frau Virginia »Erfolg, Triumph, Delirium – es schien, als habe das Publikum den Verstand verloren. Alle sagen, sie könnten sich nicht erinnern, jemals einen derartigen Triumph erlebt zu haben.«
Giuseppe Mazzini, italienischer Freiheitskämpfer »Die Individualität aller Charaktere wird mit seltener Energie in vielen Werken Donizettis wiedergegeben und genauestens befolgt. Wer hat nicht in dem musikalischen Ausdruck von Heinrich VIII. die strenge tyrannische Sprache fühlen können, die an dieser Stelle von der Handlung erfordert wird? Anna Bolena ist ein solches Werk, das dem Charakter eines musikalischen Epos nahekommt. Smetons Romanze, das Duett der beiden Rivalen, Percys »Vivi tu«, Annas himmlisches »Al dolce guidami« und allgemein die Ensembles, all dies verleiht dieser Oper einen Platz an der Spitze des Repertoires.« HISTOR ISCHE DOK UMEN T E
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Allgemeine Theaterzeitung über die Wiener Erstaufführung der Anna Bolena (Theater in der Josefstadt) 5. Februar 1832 »Der Beifall, den das Ganze fand, war dem Verdienste der Leistungen angemessen, und es ging kein ausgezeichneter Moment ohne Anerkennung vorüber. Das Haus war überfüllt, und es sprach sich auch heute wieder überall die Theilnahme aus, welche die Leistungen dieses Theaters von Seite des Publikums stets begleitet.«
Gaetano Donizetti an den Grafen Gaetano Melzi über eine Aufführung in Neapel 12. Juli 1832 »Anna Bolena hatte am 6. des laufenden Monats einen guten Erfolg, und (etwas Seltenes an einem Galaabend) der Hof applaudierte viermal und rief die Aufführenden und den armen Maestro auf die Bühne. Dasselbe geschah am nächsten Abend.«
Der französische Tenor Louis Duprez über eine Gastspielreise »Wir sangen fast überall unsere ewige Anna Bolena, die immer Gefallen fand.«
Gaetano Donizetti über die Eröffnung der italienischen Spielzeit am Wiener Kärntnertortheater 1842 »Die Eröffnung der Italiener geschah mit Mercadantes La Vestale; der Misserfolg war groß, man versuchte, die Situation ein wenig mit Anna Bolena zu mildern.«
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HISTOR ISCHE DOK UMEN T E
Daniel Brandenburg
Anna Bolena – Wendepunkt in Donizettis Schaffen
Die Tragedia lirica Anna Bolena (Libretto von Felice Romani) markiert einen Wendepunkt im Œuvre Gaetano Donizettis. Mit dem Triumph dieser Oper etablierte er sich in Italien als einer der führenden Komponisten in der Nachfolge Gioachino Rossinis. Der Auftrag zu diesem Werk ging von einer Gruppe reicher Adeliger und Kaufleute aus, die dem Teatro Carcano in Mailand für die Saison 1830/31 eine Reihe besonders glanzvoller Produktionen ermöglichen wollte. Zu diesem Zweck hatte man keine Kosten gescheut und mit Giuditta Pasta, Giovanni Battista Rubini und Filippo Galli Kräfte ersten Ranges verpflichtet. Zum Ensemble gehörte ferner auch das hoffnungsvolle Nachwuchstalent Elisa Orlandi, dessen aussichtsreiche Karriere jedoch bereits drei Jahre später durch einen frühen Tod beendet wurde. DA N IEL BR A N DEN BU RG
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Für Donizetti bot das Engagement die Möglichkeit, nach dem Misserfolg seiner Oper Chiara e Serafina in Mailand (Teatro alla Scala 1822) endlich den Durchbruch zu schaffen. Die Bedingungen waren günstig, denn obwohl Romani das Libretto verspätet ablieferte, hatte der Komponist noch etwa einen Monat und damit relativ viel Zeit, sich mit dessen Vertonung zu beschäftigen. Er verlebte diese Wochen in der Villa der Giuditta Pasta am Comer See. Die Diva war sicherlich sehr erfreut darüber, denn das Arrangement bot ihr Gelegenheit, ausgiebig auf die Gestaltung der Titelpartie des neuen Werks Einfluss zu nehmen. Der italienische Opernbetrieb des frühen 19. Jahrhunderts hatte seine festen Regeln und Konventionen, an die sich ein Komponist zu halten hatte, wollte er einigermaßen erfolgreich sein. Auch Anna Bolena ist deshalb ein Opernwerk, das alle äußeren, damals für die Gattung bestimmenden formalen Momente einhält. Dies gilt sowohl für die Rollen und den diesen zugeordneten Stimmtypen, als auch für die Grundstruktur der Personen- und Konfliktkonstellationen, die äußere formale Anlage der Szenen sowie für die auf einer Abfolge von Arien und Ensembles fußende Grundstruktur der Akte. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, dass Donizetti diese Rahmenbedingungen geschickt für sich zu nutzen wusste. Er experimentierte im Detail, mit der Melodik und den formalen Proportionen der einzelnen Gesangsnummern. Sein Ziel war, die Szenen untereinander enger zu verknüpfen und die konventionellen formalen Vorgaben besser mit der dramatischen Entwicklung in Einklang zu bringen. Durch eine neue Qualität der melodischen Erfindung und eine dramaturgisch ungewöhnlich stringente Gestaltung des zweiten Akts gelang es ihm, neue Wege zu beschreiten, auch in der Charakterisierung der Personen. Der Librettist Romani schuf dafür die Voraussetzungen, indem er die Handlung konsequent auf das tragische Ende zusteuern ließ, in einer ständigen Steigerung hin zu Annas wahnhafter Umnachtung am Ende des zweiten Akts. Die Szene der Begegnung zwischen Anna und Giovanna Seymour ist beispielhaft für das Vorgehen des Komponisten. Es ist der Moment, in dem Anna begreift, dass sie nicht aus blinder Eifersucht zur Gefangenen und Todeskandidatin geworden ist, sondern weil Enrico die Absicht hegt, seine Geliebte zur Ehefrau und Thronfolgerin zu machen. Sie erfährt, dass die Hofdame Giovanna ihre Rivalin ist, erlebt wie diese sie flehentlich um Verzeihung bittet und merkt, wie ihr Hass daraufhin in Mitleid umschlägt. Die Vertonung dieser Szene, einer sogenannte Scena mit dreiteiligem Duett, scheint sich auf den ersten Blick vollkommen an die Gattungskonvention zu halten. Genauer betrachtet zeigt sich aber, dass die Melodik zwar nicht neu, jedoch mit einer dramatischen Kraft und Intensität ausgestattet ist, die wir sonst eher von Bellini kennen. Wirklich neu ist die Führung der Stimmen, die Dialogstruktur, die sich auch auf den Duett-Teil erstreckt. Donizetti greift 51
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dazu auf eine altbewährte Technik zurück, wie sie im 19. Jahrhundert in der sogenannten »aria con pertichini« üblich war: Er bereichert die Melodie mit kommentierenden Einwürfen und erweitert das Duett auf diese Weise, wie der Opernforscher Sieghart Döhring treffend festgestellt hat, zu einem Dialog, der Auslöser und Träger von Affekten sein kann. Die dreiteilige Anlage bleibt äußerlich bestehen, wird inhaltlich aber aufgelöst. Im ersten Teil verstummt Giovanna angesichts der durch das Wissen um eine Rivalin rasend erzürnten Anna. Nur durch einen Kniefall und ein Schuldbekenntnis kann sie deren Aufmerksamkeit wieder auf sich ziehen. Im zweiten ist Anna sprachlos und bittet wie in Trance die um Vergebung flehende Giovanna fortzugehen. Die beiden Teile spiegeln die Affektsituation in einer Weise, wie sie sich in einem Gespräch ergeben könnte. Zugleich schaffen sie damit das Problem, dass an dieser Stelle nun mehr keine traditionelle Cabaletta folgen kann. Donizetti war sich dessen bewusst und entwarf für die Cabaletta drei Versionen. Er entschied sich schließlich für die dritte, die eigentlich ein gewagtes Experiment war: um die dialogische Struktur des Duetts zu wahren verzichtete er auf eine Wiederholung der Cabalettenmelodie. Anna stimmt eine Phrase an, die eher lyrischen Charakter hat – dramatisch bedingt, weil sie Giovanna vergibt. Dann werden die Gesangslinien der beiden Frauen untereinander differenziert geführt und erklingen erst in der Überleitung zur Coda simultan, ein Vorgehen, dass wieder in der dramatischen Verdeutlichung einer inneren Situation begründet ist. Die Fähigkeit Donizettis, traditionelle Formen von innen her neu zu erfüllen, zeigt sich auch in der letzten großen Arie der Titelheldin. Auch in diesem Fall ist der breit angelegte mehrteilige formale Rahmen mit Zwischensätzen und Choreinwürfen nichts ungewöhnliches. Donizetti nutzt diesen Rahmen jedoch, um die Auswirkungen der Tragödie auf das Schicksal der einzelnen Hauptpersonen in einer einzigen Nummer wie in einem Brennglas zusammenzufassen. Anna sitzt im Gefängnis, wartet im Kreis ihrer Hofdamen auf ihre Hinrichtung, verfällt im rezitativischen Teil (Scena) dem Wahn, es sei ihr Hochzeitstag mit dem König und sie fühlt sich von dem verratenen Percy verfolgt und beschimpft, dann schweifen im ersten ariosen Satz (»Al dolce guidami«) ihre Gedanken zurück zum früheren Liebesglück mit diesem Mann. Doch plötzlich reißen sie Trommelwirbel aus ihrer Wahnwelt heraus und befördern sie zurück in die Wirklichkeit: Ihre Mitverurteilten werden an ihr vorbei zur Hinrichtung geführt. Durch diesen Kunstgriff kann Donizetti die tragische Besiegelung des Schicksals, wie sie am Ende einer Oper erfolgen muss, in der Soloarie sichtbar machen. In diesem ersten Übergangsteil begegnet Anna Percy nicht mehr nur im Wahn, sondern in der Realität. Mit einer Preghiera (Gebet), mit der Anna in ihre frühere Umnachtung zurückfällt, schließt dieser Teil. Doch schon bald bringen Kanonenschläge und Glocken sie wieder in die Realität zurück, es sind Klänge, die im folgenden Abschnitt der Szene DA N IEL BR A N DEN BU RG
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Giovannas Ernennung zur Königin verkünden. Anna sammelt daraufhin erneut ihre Kräfte und verzeiht in einer musikalisch ekstatisch aufgeladenen Cabaletta dem Paar. Sie tut es in der Hoffnung, im Jenseits göttliche Gnade zu erlangen. Die Zeitgenossen erkannten vor allem das innovative Potenzial des zweiten Akts, die Allgemeine Musikalische Zeitung (18. Mai 1831) lobte dessen Ausgestaltung und wünschte sich, dass Donizetti »seine betretene neue und eigene Bahn nie mehr verlassen möge.« Und der italienische Philosoph, Politiker und Literat Giuseppe Mazzini, einer der herausragenden Intellektuellen der Risorgimento-Bewegung, rühmte die Individualität, die einzigartige Ausdruckskraft, die Donizetti – ganz im Gegenteil zu Rossini und vor allem in Anna Bolena – seinen Bühnenfiguren verliehen habe. Noch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts skizziert der Dichter Antonio Ghislanzoni in einer Persiflage mit dem Titel L’arte di far libretti – Die Kunst, einen [italienischen] Operntext zu schreiben einen Operntypus, der sich nicht wesentlich von dem Donizettis unterscheidet. Die routinierte Konventionalität war eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren einer Unterhaltungsindustrie, die großen Bedarf an immer neuen Kompositionen hatte, und erleichterte einen reibungslosen Ablauf der Produktion, vom Erstellen des Librettos über dessen Vertonung bis hin zur Realisierung der Oper auf der Bühne. Donizetti nutzte die Gunst der Stunde und wagte in einer musikalisch-dramatischen Umdeutung des formalen Rahmens eine Erneuerung von innen heraus, die auch durch die besondere gesangliche und darstellerische Leistung von Ausnahmekünstlern wie Giuditta Pasta in der Rolle der Anna, Giovanni Battista Rubini als Percy, Elisa Orlandi als Giovanna und Filippo Galli als Enrico VIII. seine Anna Bolena zu einem triumphalen Erfolg werden ließ.
→ Nächste Seiten: KS Anna Netrebko als Anna Bolena, Francesco Meli als Riccardo Percy, Dan Paul Dumitrescu als Lord Rochefort und Elisabeth Kulman als Smeton, 2011
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Fedele D’Amico
THEATRALE WIRKLICHKEIT DER ALTEN ITALIENSICHEN OPER
Die Besprechung der Anna Bolena-Premiere an der Mailänder Scala am 14. April 1957 erschien in Il Contemporaneo, in der Ausgabe vom 27. April 1957, und wurde von Sergio Morabito übersetzt nach: Fedele D’Amico, Scritti teatrali 19321989, Mailand 1993, S. 75ff. Der Musikkritiker erfasste die Tragweite dieses Ereignisses, das einen wesentlichen Anstoß gab zur Neuevaluation des Repertoires des sogenannten dramatischen Belcantos. In der Folge dieser Neuevaluation sind heute auch manche Aspekte dieser Partitur, die D’Amico noch als redundant ansah, durch zahlreiche Inszenierungen und Audioaufnahmen rehabilitiert worden, wie etwa die Wiederholungen der Cabaletten und Stretten in Arien und Ensembles; nachfolgende Sängergenerationen haben auch den Männerstimmen die Techniken des Ziergesangs zurückerobern können. Die eigentliche Bedeutung von Fedeles Reflektion, an die zu erinnern sich auch heute nicht erübrigt hat, ist das Verständnis der Opernbühne als Ort musikalisch-theatralischer Vergegenwärtigung, der durch ein neu durchdachtes Zusammenspiel und -wirken seiner Elemente vermeintliche musikhistorische Gewissheiten und Werturteile zu suspendieren vermag. FEDELE D’A MICO
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Wenn die Scala anlässlich der Ausgrabung der Anna Bolena eine Aufführung normaler Qualität geboten hätte, wären wir gewiss bei unserer Meinung von gestern geblieben, die sich auf die Lektüre der Partitur oder unser Vertrauen auf Donizettis moderne Biographen gründete: dass diese Oper nämlich kaum mehr darstellen dürfte als eine Ansammlung von Gemeinplätzen und dass ihr Erfolg bei den Zeitgenossen (Anna Bolena markierte 1830 den Durchbruch Donizettis) sich nur durch den oberflächlichen Zeitgeschmack erkläre. Jetzt wurde offenbar, dass der damalige Erfolg auf der spontanen Übereinstimmung beruhte zwischen dieser Oper und den großen Sängern, für die sie komponiert wurde, deren Talente zu größeren und kleineren Anteilen konstitutiv für ihre Entstehung und Geburt waren. Es ist richtig, dass wir einigen ernsten Opern jener Epoche (lassen wir die komischen Opern, die einen andern Sinn haben, ebenso beiseite, wie einige von Italienern komponierte französische Opern, etwa den Guillaume Tell) aufgrund langer Vertrautheit einen autonomen Wert zuerkennen, der in den Partituren objektiviert ist und sich dort ohne weiteres nachweisen lässt. Aber es sind ihrer sehr wenige: von Donizetti selbst vielleicht nur die Lucia di Lammermoor, sowie die drei letzten Opern Bellinis1, welche zudem seit vielen Dekaden die ungeheure internationale Resonanz, die sie im 19. Jahrhundert besaßen, nahezu völlig eingebüßt haben; es handelt sich um wie durch ein Wunder lebendig gebliebene Oasen, nachdem das Repertoire des primo ottocento2 ein durch den Wechsel der Gesangsstile allmählich verursachter Abfluss seines unverzichtbaren Nahrungsquells beraubt hat, nämlich »seiner« Sänger. Erst Verdi hat jenes Panorama umgestaltet: weil er sehr bald damit aufhörte, ein einfaches Ideenmaterial, das in recht allgemeiner Art und Weise arrangiert war, zu liefern, eine lose Ansammlung musikalischer und dramatischer Situationen und Affekte, denen erst die große Sängerpersönlichkeit Form verlieh. Verdi entschlackte jedes Einzelelement und richtete es funktional auf eine reflektierte, in der Partitur fixierte Dialektik aus. Erst mit ihm strafft sich der Tumult der Leidenschaften des romantischen Risorgimento in angemessenen und verbindlichen, präzise definierten Strukturen. Damit die »Anne Bolene« wiederauferstehen und uns beweisen können, dass sie aus mehr bestehen als aus Gemeinplätzen, muss ein Verantwortlicher die heikle Operation vollbringen, den gesanglichen Kosmos zu rekonstruieren, innerhalb derer sie entstanden sind und außerhalb derer ihr Sinn verschlossen bleibt. Ebendies haben der Dirigent Gianandrea Gavazzeni und, was seinen Teil angeht, der Regisseur Luchino Visconti an der Scala in einem umfassenden Sinne unternommen. Die Spielfassung einer Oper zu erstellen, Wiederholungen und schwächere Passagen sowie Abschnitte, für die die zur Verfügung stehenden Sänger un1 D’Amico meint sicherlich La sonnambula, Norma (beide 1831) und I Puritani (1835), überspringt bei seiner Zählung aber Bellinis weniger erfolgreiche Beatrice di Tenda von 1833. 2
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der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
T HEAT R A LE W IR K LICHK EIT DER A LT EN ITA LIENSICHEN OPER
geeignet sind, zu eliminieren, war eine auch zu Donizettis Zeit geübte Praxis, die auf die wechselnden Ansprüche des Publikums oder des Sängerensembles reagierte; das geschah in der Mehrzahl der Fälle freilich sehr rasch, unreflektiert und pragmatisch. Gianandrea Gavazzeni hat hingegen eine ausschließlich kulturell motivierte und von historischem Bewusstsein geleitete Restaurierung unternommen, die sich auf die Prinzipien der damaligen Zeit berufen darf. (Will man eine kritische Anmerkung wagen, dann wäre es die eines nicht zu weit, sondern nicht weit genug gehenden Eingriffs; vielleicht hätte die Monochromie, die auf den letzten drei Bildern lastet, durch Striche oder szenische Hilfsmittel aufgehellt werden können.) So wurden etwa aus der Tenorpartie jene Techniken des Ziergesangs entfernt, in denen Rubini3 brillierte, die aber für einen modernen Tenor seit Jahrzehnten verloren sind; und entsprechend ist man bei der Basspartie vorgegangen. Mit dem Ergebnis, dass sich Gianni Raimondi [als Percy] ganz in seinem Element fühlen und seine großen expressiven Möglichkeiten unbelastet und mit unfehlbarem Stimmklang entfaltet konnte; und Nicola RossiLemeni [als Enrico VIII.] konnte, auch wenn seine Stimme seit einiger Zeit nicht in Bestform ist, mit der Eindrücklichkeit seiner Artikulation beeindrucken, jenem Feld, auf dem er über unbegrenzte Möglichkeiten verfügt. Keinerlei Anpassung war hingegen bei den beiden weiblichen Hauptrollen vorzunehmen. Giulietta Simionato, die schon immer eine ausgezeichnete Vokalisation besaß und deren Stimme heute auch über großes Volumen verfügt, gab eine der bedeutendsten Interpretationen ihrer Karriere. Was die Protagonistin angeht, so stand von Anfang an fest, dass die Callas sich in ihrer Partie wie selbstverständlich zu Hause fühlen würde. Der Dirigent musste nur den Stab heben, um diesen Schatz zur Entfaltung zu bringen. Und wieder waren ihre zornigen Akzente ebenso wie ihre mit mezza voce geflüsterten Bekenntnisse »au confessional du cœur« [»im Beichtstuhl des Herzens«] die einer Sängerin, die eine der umwerfendsten Erscheinungen der modernen Opernbühne bleibt; mit Sicherheit die Einzige, die instinktiv in der Lage ist, das Klima der italienischen Oper des primo ottocento wiederherzustellen, das vom Ziergesang noch durchdrungen und doch bereits auf die Dramatik des Romantizismus ausgerichtet ist; das vom Rossini des Otello, der Armida, der Donna del lago, der Semiramide bis hin zur Traviata reicht. Die Fähigkeit der Callas, die musikalischen Linien der Koloraturen zu einer Art lyrischem Seufzer zu verklären, indem sie diese in das Gewebe einer transzendentalen Prosodie einbettet, welche sich mit einem unglaublichen Reichtum an Akzenten artikuliert, oder sie in eine langgezogene leidenschaftliche Interjektion verwandelt, offenbart den Lebensnerv dieser Musik: eben 3 Giovanni Battista Rubini (1795-1854); für seinen Tenor, der über eine große Süße und einen phänomenalen Umfang verfügte, komponierte Vincenzo Bellini die männlichen Hauptrollen seiner Opern Bianca e Fernando, Il pirata, La sonnambula und I Puritani, Donizetti schuf für ihn neben dem Percy auch den Fernando in Marino Faliero (1835).
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→ Maria Callas als Anna Bolena und Nicola Rossi-Lemeni als Enrico VIII.
jenen nämlich, den die Zeit begraben hatte und den wir im fixierten Notentext nicht wiederfanden. Er war das Entscheidende, das wir in der Präsenz der Pasta oder der Malibran4 zu erahnen glaubten. Aber erst die Callas gab uns Gewissheit. Auf der gleichen Linie von Gavazzenis präzisem Dirigat, das darauf ausgerichtet war, in den Gleisen einer millimetergenauen Einstudierung die autonomen Entfaltungsmöglichkeiten der Sänger zu befördern, bewegte sich die Inszenierung in der Regie von Luchino Visconti und in Bühnenbildern und Kostümen von Nicola Benois. Ebenso weit entfernt von »meldodramatischer« Gestik wie von dem Versuch, diese durch eine naturalistische zu ersetzen, hat Visconti sein Augenmerk darauf gerichtet, den Arrangements der Massen wie der Solisten eine monumentale Natürlichkeit zu erhalten, ermöglicht durch Symbole von volkstümlicher Klarheit: der plötzliche Auftritt der Seymour, der Rivalin der Königin, flammendrot im grauem Ambiente; der König, der ständig aus Geheimtüren erscheint und in ihnen verschwindet, als Verschwörer im eigenen Haus. Ohne Aufdringlichkeit, ohne Selbstgefälligkeit scheint alles der Konvention eingefügt, und dennoch findet sich keine Spur von Plumpheit, alles ist lebendig und funktional; der ursprüngliche Adel der Volksmythologie der italienischen Oper wurde hier direkt und ohne Distanzierung erfasst. Im perfekten Zusammenklang mit der musikalischen Dialektik steht das Arrangement der Solisten in den Concertati ebenso wie die Arme der Callas, die in der Wahnsinnszene wie ein Nachtvogel erscheint. Vielleicht genau weil die Partitur dieser Oper an und für sich kein sich selbst genügendes Meisterwerk ist, könnte diese außerordentliche Aufführung in unserm lebendigen Bewusstsein der italienischen Oper vor Verdi Epoche machen. Einerseits versammelt die Anna Bolena in der Tat die typischsten Motive unserer Operntradition, ihre Mythen von Ehre, Liebe und 4 Die beiden primadonne assolute des primo ottocento: Für Giuditta Pasta (1797-1865) komponierte Bellini die Amina, Norma und Beatrice, Donizetti die Anna Bolena und die Bianca in Ugo, Conte di Parigi; Maria Malibran (1808-1836) nahm sehr erfolgreich einige dieser Partien in ihr Repertoire auf.
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T HEAT R A LE W IR K LICHK EIT DER A LT EN ITA LIENSICHEN OPER
Verrat, ausgedrückt in der musikalischen Sprache der Zeit, erfasst auf der Hälfte ihrer Entwicklung zwischen der Epoche Rossinis und Mayrs und jener Verdis. Andererseits ist sie typisch besonders für Donizetti, in ihrem Alternieren zwischen gewaltsamem Aufbegehren und melancholischer, von Sehnsucht nach dem Idyll verzehrter Selbstzurücknahme, welches im Herzen seiner Protagonistin verankert ist. Vor allem aber hat uns diese Aufführung eine Wahrheit mit Händen greifen lassen, die Vielen gar nicht und Wenigen nur abstrakt bekannt ist: dass die alte italienische Oper, in ihrer theatralen Wirklichkeit, eine Vitalität und eine Daseinsberechtigung besaß, die jene, die man dem schriftlich fixierten Dokument, der Partitur entnehmen kann, unendlich übersteigt. Das Publikum und die Intellektuellen jener Zeit, die an die Oper glaubten, waren nicht einfältiger als wir; im Gegenteil, sie hatten eine Realität vor sich, die nicht deswegen weniger lebendig war, weil sie für uns heute nur mühsam zu rekonstruieren ist. Und besser als wir wussten sie, dass das Theater eine höchst komplizierte Angelegenheit ist, eine Mischung disparatester Ingredienzien. Vor allem dafür haben wir den für diese Aufführung Verantwortlichen dankbar zu sein; nicht zufällig endete dieser Abend wie in der großen Zeit: mit der von den Enkeln derer, die vor hundert Jahren den Kutschen der Primadonnen die Pferde ausspannten, um sie unter Fackelschein nach Hause zu begleiten, im Triumph durch die Straßen geführten Callas.
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FEDELE D’A MICO
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»Donizetti entwickelt eine Sensibilität für die Abgründe und Selbstzweifel seiner tragisch zerrissenen Figuren – von Anna Bolena bis Maria di Rohan kaum zufällig meist Frauen –, die noch über Bellinis vokale Vergegenwärtigung von Weltschmerz hinausreicht.« Uwe Schweikert
Leopold Kantner
DONIZETTI IN WIEN
»... die Arie des Figaro im Barbiere von Rossini ... tutti mi chiedono, tutti mi vogliono etc. ... da haben wir den Fall ... Paris: Kommen Sie sogleich. Nein! Neapel: beeilen Sie sich, nein! Bologna: hier die Vertragsbedingungen, wenn Sie sich hier fest niederlassen, nein. Wollen Sie ... den Posten eines Hofkapellmeisters in Wien? ... Das scheint mir gut!« So schrieb Donizetti im Juni 1842 an die Gräfin Appiani und tatsächlich, gerade im Frühjahr 1842, auf der Höhe seines Ruhmes, allseitig umworben, entschied er sich, nicht zur Freude seiner Verwandten und Bekannten, für Wien. Begonnen hat die Affäre allerdings wie ein beliebiges, vorübergehendes Ereignis. Schon 1840 bekundete Donizetti lebhaftes Interesse, für Wien eine Oper zu schreiben und sie dort aufzuführen. Zunächst zogen sich die Verhandlungen mit dem Impresario der Scala in Mailand und dem Kärntnertortheater in Wien, Bartolomeo Merelli, einem Mitschüler Donizettis bei Simon Mayr, etwas in die Länge, doch im Frühjahr 1842 war es dann soweit. Er trifft am 27. März in Wien ein und schreibt sogleich seinem Freund Persico in Neapel begeistert: »Wien ist schön, schön, schön!« Dieser erste Eindruck wird alsbald noch gesteigert durch die Welle der Sympathie, welche ihm allseits entgegenschlägt, zuerst seitens des Wiener Hochadels. Kaiser Ferdinand und seine Gattin, die Kaiserinmutter, die Erzherzöge, alle überhäuften Donizetti mit Komplimenten und gaben sich so leutselig, dass der Maestro begeistert schrieb: »Ich wurde von der ganzen kaiserlichen Familie behandelt, als wäre ich einer von ihnen.« Nun rückte der Tag der Premiere seiner Oper näher, die ja der eigentliche Grund seines Wienbesuches war. Wird das Wiener Publikum ebenso enthusiastisch reagieren wie Kaiserhof und Hocharistokratie? Dem musikalischen Wien war Donizetti mit seinen Opern ja kein Unbekannter: schon 1827 fand seine Oper L’ajo nel imbarazzo begeisterte Aufnahme, ihr folgten in den nächsten 24 Jahren nicht weniger als 13 Opern: neben den heute noch bekannten Stücken, wie L’elisir d’amore, Regimentstochter, Lucrezia Borgia, Lucia di Lammermoor, auch solche, die man heute in Wien leider nur vom Hörensagen kennt, wie Belisario oder Les Martyrs. Das Donizetti-Fieber übertraf womöglich noch den Rossini-Taumel der zwanziger Jahre! Ereignishaft die Premiere der Linda di Chamounix am 19. Mai 1842, mit dem Komponisten am Dirigentenpult! Der Erfolg schien sogar den Zeitgenossen als unerhörter Superlativ: 17mal wurde Donizetti vor den Vorhang gerufen, Blumenkränze flogen ihm zu, ein Lorbeerkranz wurde ihm ins Haus gesendet; die Allgemeine Theaterzeitung fasst die Stimmung so zusammen: »... einen größeren, allgemeineren und stürmischeren Enthusiasmus hat noch nie jemand in Wien erregt, wie Donizetti.« Die kaiserliche Familie war nicht nur zur Premiere erschienen, sondern auch in den Reprisen anwesend »... ihren Applaus mit jenem des Publikums vereinend«, schrieb Donizetti an Giovanni Ricordi. Das offizielle musikalische Wien wollte nun nicht hinter der Begeisterung 65
LEOPOLD K A N T N ER
des Hofes und des Publikums zurückstehen. So wurde unter dem Datum des 28. Mai 1842 Donizetti als Ehrenmitglied der »Gesellschaft der Musikfreunde in Wien« aufgenommen. Donizetti versäumte nicht, diese Ehrung seinen Freunden und Verwandten in Italien gebührend mitzuteilen. Nun war für Donizetti der Moment der Entscheidung gekommen: Sollte all das nur ein vorübergehender Glanz sein, oder wird er sich an Wien binden? Schon hatte Graf Kolowrat im Auftrag des Kaisers sondiert, zu welchen Bedingungen Donizetti geneigt wäre, die Position eines kaiserlichen Kammerkapellmeisters und Hofkompositeurs zu übernehmen, eine Position, welche nach Mozart Koželuch und Krommer innehatten, die aber seit dessen Tod (1831) nicht mehr besetzt war. Den außerordentlich großzügigen Bedingungen des Hofes konnte sich Donizetti nicht verschließen: sechs Monate im Jahr Anwesenheitspflicht, darüber hinaus völlig frei; sodann die Verpflichtung, Kammerkonzerte zu arrangieren und zu dirigieren und für Oper und Hofburgkapelle je ein Werk pro Jahr herauszubringen – dies alles für ein Salär von stattlichen 4.000 Gulden! Mit seinen Gedanken bleibt Donizetti aber auch auf den Reisen dieses Sommers und Herbstes 1842 in Wien: Der Lorbeerkranz, den er in Wien für Linda erhalten hatte, soll nach seinem Wunsch das ihm errichtete Standbild in Bergamo schmücken. Und noch im August, in Neapel, bemüht er sich um ein Textbuch für die nächste Wiener Oper. Statt der zunächst geplanten Caterina Cornaro wird nun für Wien Un Duello sotto Richelieu, Maria di Rohan ins Auge gefasst, und noch vor der Pariser Premiere des Don Pasquale geht er eilends ans Werk: »Ich werde in Wien mit 2 Opern erscheinen, auch das Werk für die Hofburgkapelle, ein Miserere, wird in Angriff genommen.« Donizetti selbst kehrt am 17. Jänner 1843 nach Wien zurück und bezieht Quartier im Hause Wipplingerstraße 394 (heute: Wipplingerstraße 5, Ecke Jordangasse; das Haus ist allerdings baulich verändert). Nun begann seine eigentliche Tätigkeit als kaiserlicher Kammerkapellmeister und Hofkompositeur. Im Kärntnertortheater wurde etwa eifrig die neue Oper Maria di Rohan einstudiert. Den Großteil seiner Zeit widmete Donizetti in diesem Frühjahr der Oper, die ihm besonders am Herzen lag, der Grand opéra Dom Sébastien. Am 5. Juni wurde in Wien die Premiere der Maria di Rohan von Donizettis Verehrern begeistert bejubelt. Der Maestro resümiert: »Kränze, Bouquetts, Zurufe, Vorhänge waren bis zur Sättigung reichlich. Was mir gefallen hat war, dass der kaiserliche Hof nach der Aufführung gute 12 Minuten stehen blieb, immer applaudierend und so mich immer wieder vor den Vorhang treten ließ!« Nach den üblichen Abschiedsbesuchen, auch bei Erzherzog Karl, rüstet er zur Abreise. In eigener Karosse, mit kaiserlichem Pass, in Begleitung seines Dieners Leopoldo verlässt der Cavaliere Donizetti für ein halbes Jahr Wien in hochgemuter Stimmung: »Ich scheide von hier, überaus zufrieden wegen der empfangenen Ehren, ich werde überaus zufrieden zurückkehren, weil es hier gut ist.« LEOPOLD K A N T N ER
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Nach seiner Rückkehr hält ihn in den ersten Wochen eine Erkältungskrankheit fest, doch konnte sich der gesundheitlich labile Komponist in dem Frühjahr 1844 ohne Opernpremiere einigermaßen erholen, es bleiben nur die üblichen Hofkonzerte. Deren erstes fand im Februar statt, wie im Vorjahr zu Gunsten des S. Elisabethspitals. Als im Juni sein Bruder Giuseppe aus Konstantinopel eintraf, freute sich Donizetti, neben seinem reich dekorierten Bruder mindestens ebenbürtig auftreten zu können – in seiner so hoch geschätzten Galauniform! Die zweite Jahreshälfte verbrachte er diesmal wieder in seiner Heimat, auf den am 5. Dezember Zurückgekehrten wartete bereits eine Aufgabe: ein kleines Hauskonzert bei der Kaiserin am 12. Dezember. Sodann ging es an die Adaptierung des Dom Sébastien in deutscher Sprache für das Kärntnertortheater. Am 6. Februar erlebte Donizetti wieder einen Operntriumph, der dem der Linda und der Maria di Rohan nicht nachstand: die deutschsprachige Premiere des Dom Sébastien. Die Oper, in deutscher Sprache gesungen, dirigiert von Donizetti, dessen Kenntnisse der deutschen Sprache über einige Redewendungen nicht hinausreichten, stellte gerade deshalb an den Dirigenten nicht geringe Anforderungen: »Bei den Rezitativen lief ich hinter den Noten her wie die Küken nach der Henne.« Der Oper, welche dem Komponisten so am Herzen lag, war nun Gerechtigkeit widerfahren, er hatte aber auch alle Kräfte eingesetzt: »Ich spielte Maschinist, Maler, Maskenbildner.« Das Frühjahr brachte noch die üblichen Hofkonzerte, es waren diesmal vier, und einige Konzerte in den Adelsfamilien der Metternich und Taaffe. Um den 10. Juli reiste Donizetti wieder, wie er glaubte, für ein halbes Jahr aus Wien ab, nicht ahnend, dass er nicht mehr wiederkehren würde. 21 Monate, verteilt auf vier Jahre, weilte Donizetti in Wien; nächst den allerersten Jahren seiner Ehe dürfen sie als die glücklichsten, ganz sicher als die erfolgreichsten seines Lebens angesehen werden. Als der Direktor der Grand-Opéra, Léon Pillet, Donizetti (der ja bereits korrespondierendes Mitglied der Académie des Beaux Arts war) einen Sitz im Institut de France in Aussicht stellte, wenn er seine österreichische Staatsbürgerschaft zugunsten der französischen aufgeben würde, reagierte der kaiserliche Hofkompositeur empört: » ... ich verdanke Alles meinem Vaterland ... es wäre ein schwarzer Undank!« Das war Donizetti: er radebrechte nur kümmerlich die deutsche Sprache, er konnte sich nicht mit den meteorologischen Bedingungen Wiens anfreunden – aber er wusste, wo die Heimat seines Herzens war: bei der Casa d’Austria.
Quellen: Leopold Kantner: Donizetti a Vienna, Bergamo 1983; G. Zavadini: Donizetti, Bergamo 1948.
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DON IZET T I IN W IEN
Walter Dobner
ETWAS GESCHICHTE DARF SCHON SEIN
Anmerkungen zu einigen historischen Figuren in Opern Donizettis
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Die Oper ist ein »unmögliches Kunstwerk«, konstatiert Oscar Bie gleich eingangs in seinem Buch über die Oper, um in der Folge mögliche Widersprüche dieses Genres zu beleuchten und bis hin zum Beginn des 20. Jahrhunderts die wesentlichen Enwicklungen am Beispiel ausgewählter Komponisten und Werke kenntnisreich wie mit besonderer Lust an der Pointe Revue passieren zu lassen. »Sind diese Melodienketten der Ensembles, der üppige Flor ihrer Vegetation ein Stück Fortschritt gegen Rossini?«, fragt er am Beginn seines Kapitels über Gaetano Donizetti. Entsprechend fällt sein grundsätzliches Urteil über dessen Opernœuvre aus: »In seinen tragischen Opern ist er oberflächlich, in seinen komischen gediegen; denn er ist mehr ein Komponist als ein Erfinder.« »Donizettis Melodie«, liest man weiter, »hat nicht den naiven und überlebenden Reiz der Bellini’schen.« Später gesteht Bie Donizetti eine hohe Wandlungsfähigkeit zu, um dann etwas versöhnlicher zu resümieren: »Leicht zerfließende Melodien, überlieferte Späße, Sinnlichkeit und Tanzeslust klingen aus der Epoche an unser Ohr.« Ob Bie, der als renommierter Musikkritiker beim Berliner Börsen-Courier wie als Privatdozent für Kunstgeschichte an der Technischen Hochschule Berlin tätig war, die über 70 Opern Donizettis und deren zum Teil sehr unterschiedliche Versionen tatsächlich im Detail gekannt hat? Man darf dies bezweifeln – abgesehen davon, dass eine akribische Donizetti-Forschung erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs eingesetzt und die folgende Publikation seiner Briefe zahlreiche neue Erkenntnisse zutage gefördert hat. Wären Bie diese Informationen für seinen Opernführer zur Verfügung gewesen, hätte er sich wohl auch mit der Frage auseinandergesetzt, weshalb sich so viele historische Persönlichkeiten in Donizettis Libretti finden. Um wenigstens einige anzuführen: In Adelia oder La figlia dell’arciere (Die Tochter des Bogenschützen) begegnet man dem Burgunderherzog Karl dem Kühnen, in Alahor di Granata dem König von Granada, Muley-Hassem, in L’assedio di Calais (Die Belagerung von Calais) dem englischen König Edward III. und dessen Gattin Isabella, in Il borgomastro di Saardam dem russischen Zaren Peter der Große, der hier als Pietro Mikailoff auf der Bühne steht, in Caterina Cornaro dem Zypernherrscher Lusignano, in Dom Sébastien dem gleichnamigen Portugieserkönig, in Fausta dem römischen Herrscher Konstantin dem Großen und seiner zweiten Frau Fausta, in Gabriella di Vergy dem Burgunderkönig Philippe II., in La favorita dem kastilischen Herrscher Alphonse XI. oder in Anna Bolena dem englischen Herrscher Henry VIII., seiner zweiten Gattin Anne Boleyn und seiner Mätresse Jane Seymour – die Liste ließe sich noch lange fortführen. »Meine Studien trugen mich so durch die Dichtungen des Mittelalters hindurch bis auf den Grund des alten urdeutschen Mythos; ein Gewand nach dem anderen, das ihm die spätere Dichtung entstellend umgeworfen hatte, vermochte ich von ihm abzulösen, um ihn so endlich in seiner keuschesten Schönheit zu erblicken. Was ich hier ersah, war nicht mehr die historisch WA LT ER DOBN ER
konventionelle Figur, an der uns das Gewand mehr als die wirkliche Gestalt interessieren muss, sondern der wirkliche, nackte Mensch, an dem ich jede Wallung des Blutes, jedes Zucken der kräftigen Muskeln, in uneingeengter, freiester Bewegung erkennen durfte: der wahre Mensch überhaupt«, umreißt Richard Wagner 1851 in seiner Mitteilung an meine Freunde, was er unter Mythos versteht. Damit beginnt auch so etwas wie eine Ideengeschichte des Librettos. Denn Mythen, Götter und Helden, später Geister und Ritter, gehörte vorerst das Interesse der Librettisten und der ihre Texte vertonenden Komponisten.
Übersinnliches wird sinnfällig, Unbegreifliches begreifbar »Was in alten Religionen, in Magie, Sage und Märchen seit Jahrtausenden von Generation zu Generation als geprägte dichterische oder bildnerische Form weitergegeben wird, entspringt dem Menschheitsdrang, Übersinnliches sinnfällig, Unbegreifliches begreifbar zu machen. Der Prozess der Mythenbildung versucht irrational-schöpferisch nichts anderes, als was die moderne Psychoanalyse mit der rationalen Erhellung seelischer Dunkelkammern anstrebt. Dass die altgriechische Mythologie unvergleichlich stark auf die abendländische Kunst einwirkte, beruht auf ihrer überlegenen literarischen und künstlerischen Formung«, versucht Kurt Honolka in seiner feuilletonischen Kulturgeschichte des Librettos eine Erklärung für diese Entwicklung. Nach den Mythen der Antike und Figuren aus der Welt der Romantik – »Ist nicht die Musik die geheimnisvolle Sprache eines fernen Geisterreiches, deren wunderbare Akzente in unserm Innern widerklingen und ein höheres, intensives Leben erwecken?«, liest man bei dem Dichter-Komponisten E. T. A. Hoffmann – sind es bald Gestalten aus der Geschichte, ohne die Opernlibretti bald nicht mehr auskommen. Je realistischer ein Stoff, desto dramatischer lässt er sich auch vertonen. Wobei realistisch in diesem Kontext keineswegs bedeuten muss, dass man sich dabei streng von der geschichtlichen Wirklichkeit leiten lässt. Mehrfach setzte sich Donizetti, hier ganz dem Trend der damaligen italienischen England-Mode folgend, mit der englischen Königin Elisabeth I. auseinander. Um die Beziehung ihres Geliebten, des Grafen Leicester, und die Königin selbst rankender Gesellschaftsklatsch, wie man heute sagen würde, bildet das Sujet von Il castello di Kenilworth. Mit exakter historischer Wahrheit hat es nichts zu tun. Aber die Handlung ist für Donizetti ohnedies nur Vorwand. Gibt es, zumal in einer solchen anglophilen Zeit, Aufregenderes, als zwei einander in tiefster Feindschaft verbundene Königinnen, die eine in Freiheit, die andere in Gefangenschaft, auf die Bühne zu bringen? Genau das steht im Mittelpunkt seiner Maria Stuarda, auch wenn Donizetti WA LT ER DOBN ER
→ KS Ildebrando D’Arcangelo als Enrico VIII., 2011
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sehr wohl wusste, dass die beiden einander nie begegnet sind. Auf Elisabeth I. trifft man bei Donizetti noch ein weiteres Mal: in Roberto Devereux, der Geschichte vom dramatischen Ende der Beziehung zwischen der Königin und dem des Hochverrats beschuldigten Grafen von Essex, der sich längst in die Gattin des Herzogs von Nottingham, Sara, verliebt hat. Freilich dienen die historischen Figuren hier nur als Folie für das eigentliche hier angesprochene Thema des Verlustes. Womit Donizetti neuerlich Persönliches verarbeitete. Denn das Werk entstand knapp nachdem er seine Eltern, ein Kind und schließlich seine Frau verloren hatte.
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»MEINE SCHULD IST, DASS ICH ES ALS HÖCHSTES GLÜCK ANSAH, GATTIN EINES KÖNIGS ZU SEIN.« Anna Bolena, 2. Akt
Die OMV ist seit langem Generalsponsorin der Wiener Staatsoper und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution mit voller Energie zu unterstützen. Wir freuen uns mit Ihnen auf die bewegenden Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring
nachhaltig #jungbleiben
Impressum Gaetano Donizetti ANNA BOLENA Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion: 2. April 2011) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng Basierend auf dem Programmheften dieser Produktion von 2011 Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Sergio Morabito: Die Handlung (englische Übersetzung von Andrew Smith) – Andreas Láng: Über dieses Programmbuch – Eric Génovèse / Andreas Láng: »Keiner ist am Ende der Oper derselbe« (Übernahme des Interviews aus dem Anna Bolena-Programmheft der Wiener Staatsoper 2011) – Evelino Pidò / Oliver Láng: Ein Schmuckstück Donizettis (Übernahme des Interviews aus dem Anna Bolena-Programmheft der Wiener Staatsoper 2011) – Theo Stemmler: Zwei Königinnen – grundverschieden (Übernahme aus dem Anna Bolena-Programmheft der Wiener Staatsoper 2011) – Oliver Láng: Heinrich VIII. (Übernahme aus dem Anna Bolena-Programmheft der Wiener Staatsoper 2011) – Uwe Baumann: Prozess und Hinrichtung der Anne Boleyn, in: Heinrich VIII., rororo, 1991 – Chris Tina Tengel: Entstehungsgeschichte und Rezeption (Übernahme aus dem Anna Bolena-Programmheft der Wiener Staatsoper 2011) – Daniel Brandenburg: Anna Bolena, Wendepunkt in Donizettis Schaffen (Übernahme aus dem Anna Bolena-Programmheft der Wiener Staatsoper 2011) – Fedele D’Amico (in der Übersetzung von Sergio Morabito): Theatrale Wirklichkeit der alten italienischen Oper, in: Il Contemporaneo, 27. April 1957 – Leopold Kantner: Donizetti in Wien, in: Linda di Chamounix-Programmheft der Wiener Staatsoper, 1997 – Walter Dobner: Anmerkungen zu einigen historischen Figuren in Donizettis Opern (Übernahme aus dem Anna Bolena-Programmheft der Wiener Staatsoper 2011)
BILDNACHWEISE Coverbild: Sharp Knife © MirageC Szenenbilder Seite 9, 20, 25, 30, 31, 39, 54, 55, 62, 63, 68, 69, 73, 76, 77: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Seite 33, 45, 64: AKG-Images Seite 59: Pinterest Seite 34: Biblioteca Apostolica Vaticana Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht extra gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.
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