LA BOHÈME Giacomo Puccini
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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Das Abenteuer von gestern → Oliver Láng
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Die Toilette der Grazien → Henri Murger
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Paris um 1900 → Karlheinz Roschitz
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Puccini und Leoncavallo streiten um die Bohème → Richard Specht
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Die Entstehungsgeschichte der Bohème → Oliver Láng
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Puccinis Theaterinstinkt → Andreas Láng
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Puccini und die Bohème → Oliver Láng
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Kürze und Prägnanz statt rhetorischer Höhenflüge → Jürgen Maehder
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Die Oper im musikalischen Überblick → Dieter Schickling
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Romantik der Armut → Thomas Chorherr
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Die Tuberkulose → Andreas Láng
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Sterbende Frauen in der Oper → Peter Dusek
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La bohème an der Wiener Staatsoper → Andreas Láng
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Puccini und die Wiener Oper → Oliver Láng
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Che gelida manina, se la lasci riscaldar. Wie eiskalt ist dies Händchen, lassen Sie es mich wärmen. Rodolfo, 1. Bild
LA BOHÈME → Oper in vier Bildern Musik Giacomo Puccini Text Giuseppe Giacosa & Luigi Illica
nach Henri Murgers Scènes de la vie de bohème Orchesterbesetzung 2 Flöten, 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 1 Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Basstuba, Harfe, Pauken und Schlagzeug, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 4 Trompeten, 4 Piccoloflöten, 2 Trommeln, Gläser, Glocken Spieldauer 2 Stunden 30 Minuten (inklusive einer Pause) Autograf Verlagsarchiv Ricordi Mailand Uraufführung 1. Februar 1896, Teatro Regio, Turin Erstaufführung in Wien 5. Oktober 1897, Theater an der Wien Erstaufführung an der Wiener Hofoper 25. November 1903
DIE HANDLUNG 1. Bild Zwei junge Künstler – Rodolfo, ein Dichter, Marcello, ein Maler – wollen zu Weihnachten in ihrer armseligen Mansarde arbeiten. Sie haben kein Geld, es ist kalt und das Manuskript, das Rodolfo verheizt, wärmt nur für wenige Augenblicke. Auch Colline, ein Philosoph, kommt unverrichteter Dinge nach Hause – das Leihhaus war geschlossen und er konnte keine Bücher versetzen. Nur Schaunard, ein Musiker, hatte mehr Glück mit einem reichen Briten und bringt reichlich Speisen, Heizmaterial und Geld. Der Hausbesitzer Benoît verlangt die Miete. Die jungen Künstler lassen ihn in die Falle gehen: Als er ihnen von einem Liebesabenteuer erzählt, weisen sie ihn mit gespielter moralischer Entrüstung die Tür. Während die anderen zum Feiern aufbrechen, bleibt Rodolfo allein zurück, um einen Artikel zu beenden. Es klopft: Eine junge Frau, Mimì, bittet um Feuer für ihre erloschene Kerze. Die beiden jungen Leute verlieben sich ineinander.
2. Bild Im Quartier Latin wird gefeiert. Rodolfo kauft Mimì ein Häubchen und stellt sie seinen Freunden vor. Marcello trifft auf seine ehemalige Geliebte Musetta, die an der Seite Alcindoros, erscheint, eines ebenso alten wie reichen Galans. Sie lässt in aller Öffentlichkeit ihre Verführungskünste spielen und erobert Marcello aufs Neue.
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DIE H A N DLU NG
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3. Bild Ein trüber Februarmorgen an der Zollschranke, die einen Pariser Vorort von der Innenstadt trennt. Arbeiter, Fuhrleute, Milchfrauen werden durchgelassen und ziehen an dem Cabaret vorbei, in dem Marcello und Musetta einquartiert sind. Mimì sucht und findet Marcello. Sie beklagt sich über Rodolfos Eifersucht und häufigen Streit. Im Gespräch mit Rodolfo erfährt Marcello später die Gründe für dessen abweisendes Verhalten: Mimì ist todkrank und hat nur noch kurze Zeit zu leben, Rodolfo sieht die Gründe für ihre Krankheit in seiner Armut und will sich daher von ihr trennen. Mimì hat alles mitangehört. Die beiden Liebenden beschließen, erst im Frühjahr auseinanderzugehen.
4. Bild Monate später. Beide Liebespaare haben sich getrennt. Rodolfo und Marcello denken mit Wehmut an vergangene Zeiten. Plötzlich taucht Musetta auf und bringt die vom Tode gezeichnete Mimì. Die Freunde versetzen ihre letzten Besitztümer, um der Kranken den letzten Wunsch, einen Muff, zu erfüllen und Medizin zu erwerben. Rodolfo und Mimì tauchen noch einmal in ihre glücklichen Erinnerungen ein. Im Kreis ihrer Freunde stirbt Mimì.
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DIE H A N DLU NG
SYNOPSIS 1 Act Two young artists – Rodolfo, a poet, and Marcello, a painter – plan to work over Christmas in their squalid garret. They have no money, it is cold, and the manuscript that Rodolfo feeds the fire with provides only a few moments of warmth. Colline, a philosopher, also comes home empty-handed – the pawnshop was closed, so he was unable to pawn any of his books. Only Schaunard, a musician, had more luck with a rich Englishman and brings home plenty of food, heating fuel and money. The landlord Benoît demands the rent. The young artists draw him into a trap. When he tells them about his amorous escapades, they feign moral outrage and show him the door. When the others leave to go and celebrate, Rodolfo remains alone to finish an article. There is a knock at the door. A young woman, Mimì, asks Rodolfo to light her candle, which has gone out. The two young people fall in love.
2 Act The Latin Quarter is abuzz with celebrations. Rodolfo buys a Mimì a bonnet and introduces her to his friends. Marcello runs into his former lover Musetta, who enters on the arm of Alcindoro, a suitor as old as he is rich. In full view of all, she gives free rein to her seductive skills and once again wins Marcello’s heart.
SY NOPSIS
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3 Act A gloomy February morning at the customs barrier at the border between a Parisian suburb and the inner city. Workers, waggoners, dairywomen are allowed to enter, passing the cabaret where Marcello and Musetta are lodging. Mimì is looking for and finds Marcello. She laments Rodolfo’s jealousy and their frequent quarrels. In conversation with Rodolfo, Marcello later learns the reasons for his disdainful behaviour: Mimì is deathly ill and has only a short time to live. Rodolfo believes that the cause of her illness is his poverty, so he now wants to separate from her. Mimì has overheard their entire conversation. The two lovers decide not to part until the spring.
4 Act Several months later. Both couples have separated. Rodolfo and Marcello reflect wistfully on days gone by. Suddenly Musetta arrives with Mimì, who is clearly close to death. The friends pawn their last few possessions to fulfil the invalid’s last wish for a muff and to purchase medicine. Rodolfo and Mimì once again find solace in happy memories. Surrounded by her friends, Mimì dies.
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SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
La bohème erzählt vom teils unbeschwerten, teils von größter Not bedrängten Leben der vier Künstler-Freunde Rodolfo, Marcello, Colline und Schaunard sowie von der tragischen Liebesgeschichte zwischen Rodolfo und der an Schwindsucht erkranken Mimì. Die Oper basiert auf Henri Murgers zur Entstehungszeit populären Erzählungsfolge Scènes de la vie de bohème, die auch Puccinis Kollege Ruggero Leoncavallo vertonte. Über den daraus resultierenden Konflikt der beiden Komponisten erzählt Richard Specht (S. 24), die Entstehungsgeschichte der 1896 uraufgeführten Oper ist ab Seite 28 zu lesen und Oliver Láng beschreibt, wie sehr verklärte Erinnerungen an die eigene Jugend des Komponisten bei der Stoffwahl mitwirkten (S.40). Puccini entwickelte bei diesem Werk seinen an Manon Lescaut (1893) entwickelten musikalischen Stil weiter: Er arbeitet mit Leitmotiven, die auch als formale Orientierungshilfe dienen, und sorgt für Kontrastwirkungen zwischen lyrischem Melodienreichtum und ausgelassenen Ensembleszenen. Über vielfältige musikalische Aspekte dieser Oper schreiben Dieter Schickling (S. 62) und Andreas Láng (S. 34). Jürgen Maehder wirft einen spannenden Blick auf eine frühe Librettofassung der Oper und erläutert Hintergründe der Arbeitsweise Puccinis (S. 46); wie sehr die Autoren eine Pariser Atmosphäre trafen, die in gleichem Maße das Jahr 1830 der Spielhandlung als auch die Zeit der Entstehung des Werkes widerspiegelt, lässt Karlheinz Roschitzʼ Paris-Essay erspüren (S. 16). Mit Wien, respektive der Wiener Hofoper, verband Puccini eine enge künstlerische Partnerschaft. In zwei Beiträgen wird einerseits die Aufführungsgeschichte von La bohème an der Wiener Staatsoper (S. 84), andererseits Puccinis Beziehung zum Haus am Ring (S. 88) analysiert. Und Thomas Chorherr wirft einen genauen Blick auf jene oftmals beschworene, angebliche »Romantik« der Armut (S. 70).
Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
→ Henri Matisse Das Atelier unterm Dach, 1902
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Oliver Láng
DAS ABENTEUER VON GESTERN
Henri Murgers literarische Vorlage zu La bohème
In Paris war er Mitte des 19. Jahrhunderts eine Berühmtheit: Henri Murger, der 1822 geborene französische Schriftsteller und Journalist, der mit der episodenhaften Schilderung des Bohème-Lebens das Meisterwerk seines Lebens geschaffen hatte: Scènes de la vie de bohème. Murger, als Sohn eines Concierge und Schneiders deutscher Herkunft auf die Welt gekommen, studierte Malerei, war später Sekretär des russischen Gesandten in Paris, widmete sich jedoch bald ausschließlich dem Schreiben. Ein literarisch mittlerer Charakter, der ab 1845 in der Zeitschrift Le Corsaire in einer Fortsetzungsgeschichte lose Szenenbilder rund um die vier Künstler Rodolphe, Marcel, Schaunard und Colline veröffentlichte: Die Geschichten erzählen vom täglichen Dasein der Freunde, vom raffinierten Auftreiben neuer Geldquellen, von Liebesgeschichten, vom Leben in den kleinen Cafés, unangenehmen Vermietern und der Last der Armut. Die Schilderungen brachten Murger den Durchbruch, der Stoff gewann sein Publikum, alle interessierten sich für die liebenswerten und auch tragischen Erlebnisse der Bohemiens. Vor allem aber eines war gelungen: Ein Begriff war nun fest umschrieben worden, ein Typus geschaffen. Waren historisch als Bohemiens zunächst Herumziehende beziehungsweise die Bewohner Böhmens bezeichnet worden, so waren die Bohemiens nun das Codewort für die jungen, mittel-, doch nicht immer hoffnungslosen Künstler geworden, die zwischen Mut und Verzweiflung ihr Dasein gestalteten. Aus den Zeitungsfortsetzungen wurden später ein fünfaktiges Schauspiel (das Murger gemein mit Théodore Barrière schrieb) bzw. ein Roman. Die Uraufführung des Dramas im Théâtre des Variétés fand 1849 unter größtem Interesse statt, unter anderem war Louis Napoleon unter den Zuschauern. Murger, dessen Büste heute im Jardin du Luxembourg steht, war zu einem Namen geworden, seine Bohème zur Kulturgeschichte. Die Mischung aus Realismus, Romantik und sentimentalem Rückblick auf die Jugendzeit beeinflusste nachfolgende Literaten und fand ihren Eingang in die Oper. Die beliebten Szenen waren ohne Zweifel autobiographisch gefärbt, die zentralen Figuren der Geschichte hatten reale Vorbilder, wie der Puccini-Forscher Mosco Carner nachweist; Rodolphe, ein Dichter und Redakteur, ist ohne Zweifel Murger selbst nachempfunden, der Maler Marcel wiederum ist gleich aus drei unterschiedlichen Personen zusammengefügt, aus dem Schriftsteller Jules Champfleury und den Malern Marcel Lazare und François Tabar. Schaunard basiert auf einem Pariser Künstler-Original namens Alexander Schanne, der Philosoph Colline setzt sich aus dem Theologen Jean Wallon und einer geheimnisvollen Figur namens Trapadoux zusammen – dem Träger eines berühmten Mantels, der in der künstlerischen Nachempfindung für Medizin für Mimì versetzt wird. Die Parallele zur Literatur fand ihre tragische Steigerung: Murger, durch entbehrungsreiche Jahre gesundheitlich mitgenommen, fand wie viele seiner Helden einen frühen Tod. Doch was faszinierte die Leserschaft des 19. Jahrhunderts? Es war die 11
OLI V ER LÁ NG
durch die Unmittelbarkeit der Gefühle verbrämte Welt der Jugend, des Künstlerproletariats, das für eine Zeit des Lebens den Weg der konsequenten Traumerfüllung ging. Die Zutaten: Freundschaft, Witz und Frechheit, Disziplinlosigkeit, freie Liebe, Verachtung der bürgerlichen Umgebung, ein Leben ohne Sparstrumpf und Zukunftsvorsorge, die Kunst als Kraftquelle, Sinn und Verwirklichung. Vor allem aber war es die Atmosphäre. Bittere Armut schien oftmals vergoldet, der Schmerz über den tragischen Tod rührte im Herzen, hatte aber schmerzliche Süße, über allem dominierten unbändige Lebenslust und Erfüllung im Moment. Man hatte Freunde, auf die man zählen konnte, klar definierte Gegner, die man verachten konnte, eine Partnerschaft oder ein Kunstwerk, für die oder das man leben konnte. Alles war getragen von einem drolligen Chaos, einer fantastischen Improvisationsgabe, von einer Überlegenheit und emotionalen Intensität. Wenn etwa ein Bohèmien liebte, dann liebte er wirklich, mit vollem Herzen und voller Seele, und wenn es auch vielleicht nur für eine Nacht war. Und umgekehrt betrogen die süßen Mimìs, Musettes und andere hingebungsvolle und kokette Schönheiten ihre mittellosen Künstler vielleicht mit reichen Herzögen und noblen Grafen, feierten aber regelmäßig die romantische Wiederkehr zur wahren Liebe. Die bürgerliche Welt hatte einen heimatlichen Exotismus und frische Erotik in den Zeilen Murgers gefunden, ein unpolitisches Lebensprogramm, das so rau wie aufregend schien. Man ahnte eine Welt mit starken materiellen Zwängen, aber ohne gesellschaftliche Grenzen, in der zwischen all dem kümmerlichen Schmutz das Licht der Freundschaft leuchtete. Man sehnte sich hinein in diese Heimat der Heimatlosen, in das Glück der Unglücklichen, die Zufriedenheit der Unzufriedenen. Und für alle, die’s nicht erlebt hatten oder deren Erinnerung verschüttgegangen war: in eine aufmüpfige Zufriedenheit im Augenblick und eine Liebe über alles.
DAS A BEN T EU ER VON GE ST ER N
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Friedrich Hölderlin → Hälfte des Lebens
Weh mir, wo nehm’ ich, wenn es Winter ist, die Blumen, und wo den Sonnenschein, und Schatten der Erde?
Henri Murger
DIE TOILETTE DER GRAZIE
← Kostümentwurf von Marcel Escoffier
Fräulein Mimì, die meist bis spät in den Tag hinein schlief, erwachte eines Morgens mit dem Schlage zehn Uhr und war sehr erstaunt, Rodolphe nicht mehr neben sich, ja nicht einmal mehr im Zimmer zu finden. Und doch hatte sie ihn abends, ehe sie einschlief, an seinem Schreibtisch sitzen sehen; er hatte die Nacht auf eine hochliterarische Arbeit verwenden wollen, die bei ihm bestellt worden war und für deren Vollendung die junge Mimì sich besonders interessierte. Der Dichter hatte nämlich seiner Freundin Hoffnung gemacht, er werde ihr von dem Ertrag seiner Arbeit ein bestimmtes Frühjahrskleid kaufen; den Stoff dazu hatte sie eines Tages in den Zwei Affen bemerkt, einem berühmten Modemagazin, vor dessen Auslage Mimìs Koketterie gar häufig ihre Andacht verrichtete. Daher erkundigte sie sich auch, seit die fragliche Arbeit begonnen hatte, gelegentlich nach ihrem Fortgang. Oft trat sie, wenn Rodolphe schrieb, zu seinem Stuhl, neigte sich über seine Schulter und fragte ernsthaft: »Nun, macht das Kleid gute Fortschritte?« »Ein Ärmel ist schon da, sei unbesorgt«, erwiderte Rodolphe. Und eines Nachts, als Mimì hörte, wie Rodolphe mit den Fingern schnippte, was fast immer darauf deutete, dass er mit seiner Arbeit zufrieden war, richtete sie sich plötzlich im Bett empor und rief, indem sie den braunen Kopf durch die Gardinen steckte: »Ist mein Kleid fertig?« »Sieh«, antwortete Rodolphe, indem er ihr vier große Seiten voll enger Zeilen zeigte, »eben habe ich die Taille beendet«. »Welch ein Glück!« rief Mimì, »Jetzt bleibt nur noch der Rock; wieviel solcher Seiten braucht man für einen Rock?« »Das kommt darauf an; aber da du nicht groß bist, werden wir für zehn Seiten zu fünfzig Zeilen und dreiunddreißig Buchstaben einen ganz anständigen Rock haben können.« »Ich bin ja allerdings nicht groß« sagte Mimì ernsthaft, »aber es darf doch nicht so aussehen, als geizten wir mit dem Stoff: die Röcke werden jetzt sehr weit getragen, und ich möchte rechts schöne Falten haben, damit es rauscht.« »Gut«, erwiderte Rodolphe mit gleichem Ernst. »Ich werde zehn Buchstaben mehr auf die Zeile setzen, dann rauscht es.« Und Mimì schlief ganz glücklich wieder ein.
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HEN R I MU RGER
Kalrheinz Roschitz
PARIS UM 1900
Paris, Fin de siècle und »innere Erneuerung«
»Ich weiß von keinem, der das Paris jener Zeit so gut beschrieben hätte wie Puccini in La bohème«, schwärmte der junge Claude Debussy, nachdem er Puccinis Szenen aus Henri Murgers Vie de bohème in der Librettofassung von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica zum ersten Mal gehört hatte. Man würde da vom Schwung der Musik hinweggespült, wenn man keinen festen Halt hatte. Was Debussy aber am meisten in Staunen versetzte, war der Umstand, dass Puccini, als er in den neunziger Jahren an der Bohème arbeitete und sie 1896 dem Teatro Regio in Turin zur Uraufführung übergab, Paris, seine wirtschaftliche und kulturelle Prosperität, seine neue militärische Stärke überhaupt nicht kannte. Paris – das verband der Komponist mit jenen Bildern, Gefühlen und Stimmungen, wie der Journalist und Maler Louis-Henri Murger sie ab 1847 in seinen Scènes de la vie de bohème beschrieben hatte. Murger zeichnete Bilder aus dem Künstlerproletariat, das auf Pump lebte, hungerte, notdürftig Geld zusammenkratzte, aber auch seine armseligen Gewinne kindisch verprasste. Murger hat mit seinen Vorstellungen von den »Existenzen am Rande« an der Formulierung des Klischees vom Künstler als armen Einsamen, Ausgestoßenen, als verfolgter Avantgardist und »maudit« entscheidend mitgearbeitet. Besonders bemerkenswert an diesen »Szenen« ist aber, dass zwischen der literarischen Vorlage Murgers und dem Musiktheater Puccinis, ihrem »mächtigen Feind, der das trotz stattlichen Umfangs federleichte Werklein in vampirischer Umarmung ausgesogen hat«, keinerlei Diskrepanz zu spüren ist. Zum Unterschied zu Puccinis 1893 in Turin uraufgeführter Manon Lescaut nach dem Roman Abbé Prevosts, ist in der Bohème der trennende Graben zwischen literarischer Vorlage und den Operngestalten nirgends zu entdecken. Das heißt: Es lag vermutlich an den Genrebildern Murgers selbst, dass Puccini so untrügliches Gespür für Atmosphärisches, ja geradezu »französisches Empfindungsvermögen« entwickelt hatte... So stark, dass er mit seinem Werk einen für damals zeitlosen Blick auf eine soziologische Situation gewähren konnte, die man sich sogar heute noch als »französische Bohème« vorstellen könnte. Henri Murgers dichterisch-metaphorischen Anspruch, man müsse arm gelebt haben, um sich zu einem wahrhaftigen Künstler entwickeln zu können, signalisieren diese Geschichte und diese Figuren von Anfang an. In Murgers Texten fand Puccini allerdings auch »magische« Orte, Stadtveduten und Genreszenen von Paris, die ihn in ihrer suggestiven Kraft inspirierten: Wie das Café Momus, das Puccini im Quartier Latin ansiedelt – obwohl es in Murgers Original am rechten Seine-Ufer nahe der Kirche Saint-Germain l’Auxerrois lokalisiert wird. Das Momus gibt ihm die Möglichkeit, das Stadtbild, die Ansichten von Boulevards in seine Handlung einzubeziehen, die Atmosphäre der Boulevards zu komponieren, mit gesellschaftskritischen Blicken Szenen der Lebens- und Liebeslust, aber auch eine eindrucksvolle Parade der Flanierenden, Artisten und des Militärs zu bieten. Der Name erinnert übrigens sinnigerweise an Momus, eine Gestalt der grie 17
K A R LHEINZ ROSCHITZ
chischen Mythologie, den Gott der Satire, der Schreiber(linge) und Poeten, einen Geist teuflischer Phantasie und unfairen Kritikastertums... Im dritten Bild der Oper bezieht Puccini die sogenannte Barriere d’Enfer, den alten Mauerdurchlass mit den Zollhaus-Pavillons von Claude Nicolas Ledoux an der Place Denfert-Rochereau im 14. Arrondissement (Viertel Montparnasse) ein. Und genau dort befindet sich – ob diese Symbolik gewollt, nur geahnt oder zufällig ist, ist schwer zu sagen – der Platz mit dem Abgang in die »Unterwelt« von Paris, zu den Katakomben, den einstigen Pariser Steinbrüchen, die bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Teil als unterirdisches Beinhaus für rund sechs Millionen Pariser Bürger benutzt wurden. Bei Puccini ein Ort für Säufer, gescheiterte Existenzen, Huren, den Menschen als Ware. Hier gewinnt Mimì in ihrer Verzweiflung die Erkenntnis, dass ihr Tod nahe ist... Eine Eurydike der Kleinbürger, hier, am Abgang zur Unterwelt! Politik und radikale Auseinandersetzung mit sozialen Fragen haben Puccini vermutlich nicht sonderlich interessiert. Aber Murgers Bilder inspirierten ihn, Armut und Wohlhabenheit, Lebenslust und tiefe Traurigkeit dieser Tristan und Isolde-Geschichte in einer Welt sehr junger, unfertiger, enthusiastischer und sicher nicht sonderlich begabter Strandgutgestalten zu zeichnen. Aber ein wenig spiegelt sich in seinem Frankreich die zwischen der großen Krise zu Anfang der neunziger Jahre und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufblühende Welt großer Prosperität. In der Wissenschaft, in den Sozialreformen, in den Künsten, in Gesellschaft und Mode. Die Belege dafür waren Puccini natürlich bekannt: Die grandiose Weltausstellung von 1889 hatte Frankreich den Ruf eindrucksvoller Innovationskraft auf den Gebieten der Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Kunst eingebracht. Der Zolltarif von 1892, das ausgebaute Eisenbahnnetz, sorgfältigere Bodenbearbeitung, Bewässerungsprojekte, neue landwirtschaftliche Maschinen, Fortschritte der Chemie und Technik bedeuteten bessere Erträge... Die Zeitungen waren voll von diesen Meldungen. Die Industrie stellte auf Massenproduktion um, neue Formen der Energieerzeugung, Automobil, Dampfturbine erschlossen neue Wege. Den Autofahrer Puccini interessierte das. 1900 wurde die erste Linie der Pariser Metro eröffnet. Gesellschaftlich bedeutete das alles einen Aufstieg des Großbürgertums in gute Positionen, was nicht zuletzt vom wachsenden Reichtum ermöglicht wurde. Der »Salon« wurde zum Mittelpunkt gesellschaftlichen Lebens. Wesentliche Änderungen bewirkte diese Entwicklung aber auch für die »classes populaires« (Arbeiter und Bauern), die in die Städte zogen. Zwar war Arbeit mit 10- bis 15-Stundentagen die Regel. Aber die Arbeiter erkämpften sich Schutzgesetze. Und der 1895 gegründete, sehr revolutionär orientierte Gewerkschaftsbund (C.G.T.) setzte höhere Löhne durch. Die Wohnungen der »classes populaires« waren allerdings so dürftig und entbehrten jeden Komforts wie das heruntergekommene Atelier der vier Künstler in La bohème. Doch am Samstag ging man ja ins Café-Concert... K A R LHEINZ ROSCHITZ
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Als Victor Hugo 1885 starb, hatten beim prunkvollen Staatsbegräbnis viele das Gefühl, die ganze Epoche werde zu Grabe getragen, der Glanz der Kulturmetropole Paris drohe zu verblassen. Die akademieorientierten Parnassiens wurden zu Vorgestrigen gestempelt. Eine neue literarische Generation trat auf den Plan, die in ihrer Jugend Frankreichs große geistige Krise erlebt hatte, die durch die militärische Niederlage von 1870 gegen Deutschland und die Absetzung Kaiser Napoleons III. ausgelöst worden war. Die neue Jugend ließ sich von Richard Wagner berauschen und suchte nach neuen künstlerischen Formen. Als Lyrik-Vorbilder entdeckte man Charles Baudelaire, Paul Verlaine, Arthur Rimbaud und Stéphane Mallarmé, die ihre Halluzinationen und Besessenheiten, Träume und Ängste durch Symbole wiederzugeben versuchten – in einer Sprache, die wie die Musik unmittelbar, ohne Mithilfe der Vernunft, auf den Leser wirken sollte. So entstand die dunkel-geheimnisvolle, musikalische Lyrik der Symbolisten – »das Geheimnis, die wahre Heimat der Poesie«! Ihnen traten bald die »Unanimisten« entgegen, junge Dichter und Künstler, die sogar eine brüderliche Gemeinschaft gründeten und einen Verlag betrieben und damit ähnliche Tendenzen verfolgten wie schottische und Wiener Künstlergruppen in ihrem sozialistisch gefärbten Werkstattdenken. Und auch in der Romankultur wandte man sich jetzt von der Ästhetenkultur ab: Man stürzte sich in den politischen Kampf, der etwa um die Affäre Dreyfus und die zwei Weltanschauungslager entbrannte, aber auch um sich für nationale und religiöse Traditionen, für Fortschritt und Humanität – wie Anatole France und Romain Rolland – zu engagieren und eine »innere Erneuerung« (Positivismus gegen Idealismus) zu schaffen. Besonders krass zeigte sich der Gegensatz zwischen der idealistischen Elite und dem herrschenden Materialismus auf den Theaterbühnen. Die kleinen Vorstadtbühnen verschwanden. In Konzertcafés feierten Sänger wie Polin, Mayol und sehr bald die Mistinguette mit eher anspruchslosem Repertoire ihre Erfolge, Music-Halls wie die Folies Bergère, Olympia und Parisiana machten Paris durch Ausstattungsrevuen weltberühmt. Moulin de la Galette, Tabarin, Moulin Rouge und der Zirkus machten dem Theater Konkurrenz. Kein Wunder, dass in diesem Umfeld das literarische Theater, etwa des Symbolisten Maurice Maeterlinck, eines Romain Rolland oder des jungen Paul Claudel – ebenso wie die große Oper, vor allem der »Abgott« Richard Wagner, und nur bedingt Jules Massenet, Camille Saint-Saëns oder Vincent d’Indy – eine reine (bildungs-)bürgerliche Angelegenheit blieb. Da konnten sich Theaterfachleute noch so sehr um Inszenierungskünste bemühen (wie im 1887 gegründeten Théâtre Libre oder im Théâtre d’Art von 1893). Immerhin löste in der Opernszene 1902 die Uraufführung von Claude Debussys lyrischem Drama Pelléas et Mélisande eine wahre Revolution aus, auch wenn das Publikum das Werk anfangs ablehnte. Am heftigsten vollzog sich die Revolution in der Folge in der bildenden Kunst, vor allem in der Malerei, in der sich nach bürgerlicher 21
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Meinung eine Zertrümmerung eines Weltbilds vollzog, wie sie von Paul Gauguin seit 1886 von Pont-Aven aus, von den »Nabis« und von Paul Cézanne erkämpft wurde. Eine Revolution, an der die Architektur allerdings am allerwenigsten teilnahm. Da dominierten noch der Boulevardstil Napoleons III. und Baron Georges-Eugène Haussmanns (gestorben 1891) und Bauleistungen wie Charles Garniers Opernhaus, das 1875 eröffnete Palais Garnier, mit dem das Bürgertum der Selbstdarsteller sich das prunkvollste Denkmal der Zeit setzte. Sollte es doch eine Synthese »der Pracht von Venedig und Byzanz und der klassischen Strenge von Rom und Florenz« bieten. Sonst regierte in den Bauten der neunziger Jahre, besonders in den »vornehmen« Stadtvierteln, ein historischer Mischstil mit wuchernden Orientakzenten und pompösen Vermengungen europäischer Stilelemente wie der Gotik, ein Stil, der noch bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts verständnislos als »geschmackund stillos« kritisiert wurde. »Modern style« und »Style nouille« bekämpften einander. Die Kunstgeschichte hat diese fatalen Aburteilungen der Epoche allerdings in unserer Zeit längst korrigiert. Was man für die Jahre um 1896 und für die von Wohlstand, Industrialisierung, Reichtum des Kolonienreiches und allgemeinen Fortschritten getragene Gesellschaft nicht übersehen sollte, ist der Sport. Höhere Gesellschaftsschichten betrieben ihn als standesgemäße Unterhaltung. Aber die studierende Jugend entdeckte ihn mehr und mehr als »chic« und »patriotisch« – als Gegenmittel gegen die muffige Dekadenz der Zeit der Väter, gegen den Pessimismus der Fin-de-siècle-Generation um 1890. Wobei der Einfluss der Zeitphilosophie eines Henri Bergson oder Maurice Blondel, die den »elan vital« und die »action« höher werteten als die Intelligenz, gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Triumphe feierten Radsport (Tour de France seit 1903), Automobilrennen (1894) und die französische Kunst des Fliegens. Bedeutete es doch für die Zeitgenossen »nicht bloß einen Sport, sondern einen Stolz, eine Befreiung, einen Aufstieg zum Ideal«, schreibt Jacques Chastenet 1949, »was der Bergsonismus für die geistige Elite war, bedeutete die Aviatik für die ganze Nation«. Fatal nur, dass die Hetzpropaganda der nationalistischen Presse diese Tendenzen dazu benützte, den Idealismus in Begeisterung für einen Ersten Weltkrieg umzumünzen. »Der Krieg ist in ihren Augen eine besondere Gelegenheit«, schrieb Agathon, »die edelsten menschlichen Tugenden, jene, die sie als die höchsten bewerten, die Energie, die Selbstbeherrschung, die Opferbereitschaft zu bewähren.«
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Richard Specht
PUCCINI UND LEONCAVALLO STREITEN UM DIE BOHÈME
Duplizität der Ereignisse: bei all seinen drei ersten berühmtgewordenen Opern ist Puccini in Kollisionen mit anderen schöpferischen Musikern geraten. Bei der Manon mit Massenet, bei der Tosca mit Franchetti, bei der Bohème mit Leoncavallo. Aber während die beiden ersten nur hinter den Kulissen und sozusagen unblutig verliefen, gab es mit dem Dichterkomponisten des Bajazzo einen schweren Zusammenstoß, und es ist nicht ganz leicht festzustellen, welche Motive hier hineinspielten und welchem der beiden Maestri der Freispruch gebührt. Es wird wohl so zugegangen sein, wie in der Weltgeschichte, die auch nicht immer nach ethischen Gründen entscheidet: der Stärkere trägt den Sieg davon. Vermutlich hatte Leoncavallo recht... aber recht behalten hat Puccini. Ruggero Leoncavallo hatte dem Kameraden noch während dessen Arbeit an der Manon ein Opernbuch angeboten, das er selbst – vorläufig wenigstens R ICH A R D SPECH T
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→ Schlussapplaus nach einer BohèmeVorstellung mit KS Mirella Freni und KS Luciano Pavarotti unter Carlos Kleiber
– nicht in Musik setzen wollte und das den Titel Vie de bohème trug. Sei es, dass die geringe Sympathie Puccinis für den Textautor bestimmend war, sei es, dass er einiges Misstrauen gegen den Altruismus eines Kollegen empfand, der sonst seine Texte immer selbst komponierte und diesmal aller Wahrscheinlichkeit nach einen Ladenhüter und sicher ein für den Eigengebrauch zu schwaches Buch an den Mann bringen wollte – kurz, Puccini, der damals Murgers Roman noch gar nicht kannte, sah sich das Libretto überhaupt nicht an, lehnte es ab, und hatte wohl den ganzen Vorfall nach ein paar Wochen vergessen. Ungefähr ein Jahr danach treffen sich die beiden, begrüßen einander amikal und kommen in ein Komponistengespräch, will sagen über Opernrivalen, Sänger, Direktoren, Verleger, über die eigene Arbeit, und Puccini – ich erzähle die Szene frei nach dem schon erwähnten, bisher unübersetzten Buch, Giacomo Puccini intimo, das zwei seiner Freunde, Guido Marotti und der Maler Ferruccio Pagni verfasst haben – Puccini also äußert mit einem tiefen Seufzer der Befriedigung, schon um den andern zu ärgern: »Ich habe ewig lange ein gutes Opernbuch gesucht, und jetzt habe ich eines gefunden, über das ich ganz selig bin.« Leoncavallo spitzt die Ohren: »Was ist das für ein Sujet?« – »Die Bohème, nach Murgers Roman von Illica und Giacosa... aber was hast du denn?« Der feiste Leoncavallo, zuerst krebsrot im Gesicht, als wollte ihn der Schlag rühren, dann käseblass, war aufgesprungen und keucht: »Was? Auch du die Bohème?! Im vorigen Jahr biete ich dir mein Libretto an und jetzt unterstehst du dich, mir zu sagen, dass du den gleichen Stoff nach einem Buch von Giacosa und Illica komponierst? Und wenn ich dir nun mitteile, dass ich meine Vita di Bohème selbst in Musik gesetzt habe?« – »Vortrefflich«, erwidert Puccini rasch, »das heißt eben, dass es zwei Bohème geben wird!« – »Niederträchtig!« schreit der andere, »die Idee ist von mir ausgegangen...« »Schön, und die Musik wird von mir ausgehen!« Leoncavallo schäumt: »Gut, dann gehe ich zum Secolo und werde in einer Notiz mein Vorrecht feststellen lassen!« Puccini schnaubt: »Und ich gehe zum Corriere della Sera!!« Beide grußlos ab nach verschiedenen Richtungen. Und die erstaunten Leser erfahren des Morgens von einer Bohème, die der Maestro Leoncavallo vollendet habe und mittags von einer Bohème, an die der Maestro Puccini soeben die letzte Hand anlege. Zeitlich hat Leoncavallo das Rennen gewonnen: noch während Puccini tief in der Arbeit an seinem Werk steckte, wurde die Konkurrenzoper in Paris und einige Zeit darauf in Wien mit schwachem Erfolg aufgeführt, zu Gustav Mahlers Zorn, der den von seinem Vorgänger geschlossenen Vertrag zähneknirschend einhalten und obendrein zusehen musste, wie das benachbarte Theater an der Wien gleichzeitig das von ihm besonders geliebte Werk Puccinis spielte; er übernahm es kurze Zeit nachher und hat es in einer entzückenden Aufführung hingestellt, durch die Leoncavallos dürftige Oper endgültig in Vergessenheit gerückt wurde. Puccinis Annahme, es werde eben zwei Bohème geben, hat sich nicht bewahrheitet. Es gibt nur eine einzige...
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PUCCIN I U N D LEONCAVA LLO ST R EIT EN UM DIE BOHÈME
Oliver Láng
DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER BOHÈME
»Eines regnerischen Nachmittags, an dem ich nichts zu tun hatte, nahm ich ein Buch zur Hand, das ich nicht kannte: Henri Murgers Erzählung (Scènes de la vie de bohème) schlug wie ein Blitz in mich ein. Die Atmosphäre der Künstlerkreise, die die Erzählung schildert, der jungen, unbemittelten und doch so fröhlichen und unbeschwerten Menschen, ließ sofort Jugenderinnerungen in mir entstehen, ich fühlte mich gleichsam wie zu Hause. Ich brauchte Szenen und Gefühle, die zum Herzen sprechen, damit der Gesang in mir erwacht! Hier fand ich alles, was ich suche und liebe: die Ursprünglichkeit, die Jugend, die Leidenschaft, den Humor, die im Geheimen vergossenen Tränen und die Liebe, die Freuden und Leid bringt.« So lässt Arnaldo Fraccaroli, Musikerkollege, Vertrauter und früher Biograph Puccinis, den Komponisten auf die Entstehungszeit des Werkes zurückblicken. Wahrheit oder Dichtung? Obgleich solche nachträglichen Werkstattberichte oftmals zur Legendenbildung tendieren, darf man dieser Erzählung im Großen und Ganzen durchaus glauben. Denn die Studienjahre Puccinis in Mailand waren von einer Bohème-Atmosphäre geprägt, und in romantischer Verklärung erkannte er wohl manches Element seiner Jugend wieder. Zu dieser persönlichen Begeisterung kam noch die allgemeine: Die literarische Vorlage des Librettos, die obengenannten Scènes de la vie de bohème von Henri Murger, erfreute sich damals seit Jahren größter Beliebtheit. Sowohl die Erzählungen als auch ihre spätere dramatisierte Fassung wurden vom Publikum geschätzt und waren in aller Munde. OLI V ER LÁ NG
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Doch noch ein weiterer Stoff beschäftigte Puccini zu dieser Zeit. Bei der Suche nach einem erfolgsversprechenden Sujet war er nicht nur auf die Bohème gestoßen, sondern auch auf La Lupa – Die Wölfin. Die literarische Vorlage stammte vom Schöpfer des Cavalleria rusticana-Plots, vom sizilianischen Dichter Giovanni Verga, den Puccini in seiner Heimat sogar besuchte, um Details der avisierten Bühnenversion zu besprechen. Wie ernst es dem damals jungen Komponisten um diese Mord- und Totschlaggeschichte zunächst tatsächlich war, ersieht man unter anderem daran, dass er am Schauplatz der Handlung, also in Sizilien, Studien zur dortigen Volksmusik anstellte, um sie in seine Oper einfließen zu lassen. Dadurch hoffte er, eine möglichst hohe musikalische Authentizität zu erreichen – eine Arbeitsmethode, die Puccini bekanntlich auch später immer wieder anwandte. Doch nach ersten Skizzen wurde die Arbeit abgebrochen. Angeblich führte Richard Wagners Stieftochter Blandine Gravine diese Entscheidung herbei, indem sie Puccini auf »abstoßende« Elemente der Handlung hinwies. Wie dem auch war, in einem Brief vom 13. Juli 1894 klärte der Komponist seinen Verleger Giulio Ricordi über das Ende des Lupa-Vorhabens auf: »Die Gründe dafür sind das Dialoghafte, das im höchsten Grad Ruckartige des Librettos, die unangenehmen Charaktere – ohne eine einzige leuchtende, sympathische Figur, die hervortritt!« Der Weg für die Bohème war somit frei. Zwei Librettisten – Giuseppe Giacosa und Luigi Illica – wurden bald herangezogen, doch die gemeinsame 29
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Arbeit war durchaus beschwerlich. Puccini pflegte einen bekanntermaßen herben Umgang mit seinen Textdichtern, Wutausbrüche und Zorntiraden waren auf der Tagesordnung; Illica soll den Komponisten nach einem solchen Eklat sogar zum Duell gefordert haben. Es lag an Ricordi, den Streit immer wieder zu schlichten und diplomatisch einzugreifen. »Oh dieses Libretto! Ich habe es nun schon dreimal von vorne bis hinten umgeschrieben, ja einige Teile vier- oder fünfmal neu entworfen!« beklagte sich etwa Giacosa bei Ricordi. Die Ursache dieser Zwistigkeiten lag aber nicht nur in fortlaufenden Änderungswünschen des Komponisten, sondern vor allem darin, dass sich Puccini über den exakten Verlauf der Handlung, wie auch über Details des Librettos genaue Gedanken gemacht hatte – und somit glaubte, den Librettisten Vorschriften machen zu müssen. Diese wiederum versuchten, ein erträgliches Maß an Eigenständigkeit zu wahren; ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie naheliegenderweise ihre Einwände gegen die fortlaufenden unflätigen
← Autograph der Partitur (Puccini zeichnete einen Totenkopf um Mimìs Tod anzuzeigen)
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Beschimpfungen Puccinis hatten, die auf der Tagesordnung standen. Dazu kam noch, dass manches, bevor es überhaupt im Libretto ausformuliert war, bereits im Kopf des Komponisten musikalische Gestalt angenommen hatte. Der Text musste also – und das ist bekanntlich der ungewöhnliche Weg – dem musikalischen Gedanken angepasst werden und nicht umgekehrt. Puccini und seine Librettisten übernahmen das Szenenhafte aus der Erzählung Murgers und schufen nach langen Diskussionen eine vierteilige Form (ein geplanter fünfter Teil, der im Hof in der Rue Labruyère spielen sollte, wurde verworfen), in der das Tragische wie auch das Lebhafte Platz fand. Da sich die Vorlage Murgers für eine stringente Vertonung aufgrund der fragmentarischen Form und der sehr großen Anzahl der handelnden Figuren nicht eignete, wurde der Plot rund um die Liebes- und Sterbegeschichte Mimìs zentriert. Diese ist im Original auf zumindest zwei Personen aufgeteilt und in vielen Aspekten anders gelagert: Die Mimì Murgers ist deutlich koketter, grisettenhafter, das stille Sterben einschließlich des Wunsches nach einem Muff stammt aus einer anderen Episode, nämlich jener der schwindsüchtigen Francine. Man zog also zusammen und vereinfachte, passte die Charaktere an. Doch blieb – und das ist die besondere Leistung der Librettisten – in der Atmosphäre und im Gesamtüberblick der Charakter des Originals durchaus gewahrt. 1893 war die erste Fassung des Bohème-Buches fertiggestellt, die Kompositionsarbeit schloss Puccini Ende 1895 ab; man weiß nicht nur von seinem Arbeiten inmitten lärmender und zechender Freunde, sondern auch von einer feuchtfröhlichen Abschlussfeier des von Puccini gegründeten sogenannten Bohème-Clubs. Alles in allem war für Puccini der Weg bis zur Fertigstellung kein einfacher. Von una consegna erculea, einer Herkulesarbeit sprach er im Rückblick, auch kam es zu etlichen nachträglichen Änderungen in der Komposition durch seine Hand. Es war der erst 29-jährige Arturo Toscanini, der die Uraufführung der Oper im Teatro Regio in Turin dirigierte. Puccini zeigte sich begeistert: »Toscaninis Interpretationen sind tatsächlich Wunder, und sein unvergleichliches Gedächtnis eine Offenbarung. Toscanini ist Gott nahe, wenn er dirigiert...« Die szenische Umsetzung der Uraufführung fand unter Aufsicht Puccinis statt, der auch später großes Interesse an den Gestaltungen seiner Opern zeigen sollte. Und dennoch: Der Erfolg war nach dieser ersten Aufführung am 1. Februar 1896 kein absoluter, das Publikum erwärmte sich zwar nach und nach für das Werk, doch die italienische Musikkritik zeigte sich teils reserviert. Erst eine Aufführungsserie in Palermo im Teatro Massimo brachte den ersehnten Erfolg; die Bohème hatte sich somit mit einem Schlag vom Meisterwerk zum anerkannten Meisterwerk gewandelt. Ein anerkanntes Meisterwerk, das alsbald seinen Weg auf die Bühnen der Welt fand.
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»Hier fand ich alles, was ich suche und liebe: die Ursprünglichkeit, die Jugend, die Leidenschaft, den Humor, die im Geheimen vergossenen Tränen und die Liebe, die Freuden und Leid bringt.«
Giacomo Puccini über Henri Murgers Roman Scènes de la vie de bohème, der die Grundlage der Oper La bohème bildete
Puccini an den Direktor des Corriere della Sera
MAILAND, 21.3.1893
Sehr geehrter Herr Direktor!
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie in Ihrer geschätzten Zeitung einen Platz für diesen kurzen Brief fänden. Die Erklärung von Maestro Leoncavallo im gestrigen Secolo muss der Öffentlichkeit meine Ehrlichkeit deutlich gemacht haben; denn wenn Maestro Leoncavallo, dem ich seit langem freundschaftlich verbunden bin, mir vorher anvertraut hätte, was er mich vorgestern Abend wissen ließ, hätte ich sicher nicht an die Bohème von Murger gedacht. Nun bin ich – aus leicht verständlichen Gründen – nicht mehr in der Lage, dem Freund und Musiker einen Gefallen zu tun, wie ich gern möchte. Übrigens, was liegt dem Maestro Leoncavallo daran? Er wird musizieren, ich werde musizieren. Das Publikum soll urteilen. Das Zuvorkommen in der Kunst bedeutet nicht, dass man dasselbe Sujet mit denselben künstlerischen Intentionen interpretieren muss. Ich lege nur Wert darauf, mitzuteilen, dass ich seit circa zwei Monaten, das heißt bis zu den ersten Vorstellungen von Manon Lescaut in Turin, ernsthaft an meinem Vorhaben gearbeitet hatte, ohne daraus ein Geheimnis zu machen. Giacomo Puccini
Andreas Láng
PUCCINIS THEATERINSTINKT
Einige Aspekte zur Musik der Bohème
Die Meinungen über die Qualität von Puccinis Musik im Allgemeinen und seiner Bohème im Besonderen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Experten ein Streitthema. Die Uraufführungskritiken – zumindest im Falle der Bohème – fielen bekanntlich fast durchwegs negativ aus, und selbst die Komponistenkollegen spalteten sich in prominente Ablehner und Befürworter der Kompositionsweise Puccinis. Gustav Mahler galt als einer der schärfsten Gegner. Eine Bohème-Aufführung im Theater an der Wien quittierte er lediglich mit höhnischem Gelächter, in der später entstandenen Tosca nervte ihn das ständige »Gebimbaumbummelt« der Glocken im 1. und 3. Akt. Nichtsdestotrotz öffnete er den Werken Puccinis mit der Bohème-Erstaufführung im Jahre 1903 die Wiener Hofoper. In seiner Brust wohnten wohl zwei Seelen, jene des Komponisten Mahler, der an der Musik des Kollegen kein gutes Haar ließ, und jene des Operndirektors Mahler, der den Erfolg, den eine Bohème beim Publikum nun einmal hatte, in seinem Haus benötigte. Doch der Gesinnungswechsel der Fachwelt ließ nicht allzu lange auf sich warten, und Puccini erhielt auch offiziell jenen Platz im Komponistenolymp, der ihm seitens eines großen Publikums von Anfang an zuerkannt worden war. Aber woran hatte »man« sich bei der Bohème eigentlich gestoßen? Nun, die Kritikpunkte unterschieden sich durchaus voneinander, ja widersprachen sich sogar zum Teil, je nach Geschmack, Beruf oder Nationalität derjenigen, die sie äußerten. Den akademisch geschulten, konservativen Feuilletonisten in und außerhalb Italiens gingen die handwerklichen Freiheiten, die sich Puccini aus gestalterischen Gründen gestattete, die stilistisch fremden und neuartigen Wege, die er beschritt, entschieden zu weit: Die Quintenfolgen im dritten Bild beispielsweise, oder die fast montageartige An- und Nebeneinanderreihung unterschiedlichster musikalischer Formen im zweiten Bild boten sich als Zielscheibe geradezu an. Der damals jungen italienischen Avantgarde war die Oper als Gattung an sich ein Dorn im Auge, da sie die einzige Chance der Erneuerung in der reinen Instrumentalmusik sah. Für den Musikwissenschaftler Fausto Torrefranca war der Opernkomponist Puccini aus diesem Grund ein Abbild der, seiner Meinung nach, dekadenten italienischen Musik. Den italienischen Nationalisten gingen die Einflüsse des französischen Impressionismus in Puccinis Stil zu weit, den meisten französischen Komponisten wiederum, allen voran Claude Debussy, war die Musik, speziell die Bohème wiederum zu italienisch. Den einen schien die Musik zu sentimental, zu gefühlvoll, den anderen zu realistisch, zu veristisch. »Banal und unintellektuell« lautete es von dieser Seite, »allzu komplex und konstruiert« von jener. Wie dem auch war. Die Wogen haben sich geglättet, Puccini wird längst als legitimer Nachfolger Giuseppe Verdis verehrt und geliebt, sein Name wird in einem Atemzug mit allen anderen Großen seiner Zunft genannt, und als 35
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← Straßenmaler in Paris, im Hintergrund Sacre Cœur
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Säulen der internationalen Opernspielpläne sind seine wichtigsten Werke ohnehin unverzichtbar. Wie sehr Puccini stets um eine authentische musikalische Atmosphäre gerungen hat, um dem jeweiligen Thema und der Situation gerecht zu werden, geht aus zahlreichen Skizzen und Vorstudien hervor. Puccinis oft Jahre dauernde, langwierige Suche nach Handlungsentwürfen, die seiner Kompositionssprache entgegenkamen, zeigt sich in der verhältnismäßig überschaubaren Werkliste: Acht abendfüllende Opern, eine kurze Oper, drei zusammenhängende Einakter und eine Handvoll an Stücken abseits der Theaterbühne. Bereits vorhandene, fertige Opernlibretti zu vertonen ging ihm zudem zutiefst gegen den Strich, da er die Texte gemeinsam mit den Dichtern erarbeiten wollte – formal wie dramaturgisch. Im Falle der Bohème ließ er beispielsweise allein das letzte Bild von seinen beiden Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa viermal von Grund auf neu erarbeiten, um schlussendlich immer noch Verbesserungen vorzuschlagen. Und ein Beweis für Puccinis Theaterinstinkt lässt sich etwa an seinem (befolgten) Wunsch erkennen, das ursprünglich an zweiter Stelle stehende Barrière d’Enfer-Bild um eins nach hinten zu verschieben und stattdessen das daraufhin erstellte lebendigere und fröhlichere Momus-Bild einzufügen. Puccini hatte nämlich erkannt, dass das Barrière d’Enfer-Bild im direkten Anschluss an den romantischen Abschluss des Beginns den Spannungsbogen unweigerlich abgeflacht hätte und umgekehrt nach einem lebendigen Zwischenbild viel wirksamer zur Geltung käme. Sein dramaturgisches Gespür zeigt sich aber auch an seinem Bestreben, weit ausladende Szenen, allzu komplizierte Handlungsstränge grundsätzlich zu vermeiden. Je kürzer, je eher der Inhalt auf den Punkt gebracht wird, desto besser das Ergebnis, lautete seine Devise. Und so hielt er die beiden Bohème-Mitschöpfer wiederholt zur Reduktion, zur Verknappung an: »... quello che bisogna ridurre e molto è il 2° atto« – »im zweiten Akt muss noch sehr viel gekürzt werden« hieß es etwa in einem seiner Briefe. Puccinis, Giacosas und Illicas gemeinsame, intensive und auf Grund unterschiedlicher künstlerischer Auffassungen immer wieder von zahllosen heftigen Auseinandersetzungen geprägte Arbeit am Libretto dauerte nicht weniger als zwei Jahre. Der kompositorische Prozess erfolgte zum Teil parallel, was ganz selten zur paradoxen Situation führte, dass die Musik bei manchen Passagen bereits früher fertiggestellt war als der dazugehörige Text. Den populären Musettewalzer im zweiten Bild schrieb Puccini auf einige roh skizzierte Worte, die erst im Nachhinein durch die heute gültigen ersetzt wurden. Aber er ging sogar noch weiter. Bereits als Musikstudent am Mailänder Konservatorium schrieb Puccini ein Capriccio sinfonico, dessen Allegro vivace-Hauptthema er praktisch unverändert in die Bohème als leitmotivähnliches Motiv übernahm, ja die Oper überhaupt mit diesem Motiv eröffnen lässt. PUCCIN IS T HEAT ER INST IN KT
Und Rodolfos Nei cieli bigi im ersten Bild stammt manchen Autoren zufolge aus dem nicht vollendeten Opernentwurf La Lupa, den Puccini zugunsten der Bohème aufgegeben hatte. Mosco Carner weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass »Puccini bei der Übernahme aus einem anderen Werk die ursprüngliche verbale Bedeutung übergeht, die an die musikalische Phrase gebunden war, und diese einfach benutzt, weil sie zum Seelenzustand einer gegebenen Person oder Situation passt.« Diese Feststellung thematisiert eine der Stärken der BohèmePartitur, beziehungsweise der Puccini’schen Musik im Allgemeinen: Er benutzt musik-atmosphärische Visitenkarten – für Charaktere, Momente, ja ganze Szenen. Das erwähnte Rodolfo-Motiv zeigt zum Beispiel den jungen, romantischen, von Gefühlen überbordenden Liebhaber. Ob er nun mit der selben Melodie den leuchtenden Himmel Siziliens besingt wie ursprünglich in La Lupa oder die rauchenden Schornsteine von Paris wie schlussendlich in La bohème, ändert nichts an der treffenden musikalischen Charakterisierung der grundsätzlichen seelischen Verfassung des Betreffenden. Die oben erwähnte, musikalisch wie inhaltliche montageartige An- und Nebeneinanderreihung im Momus-Bild, in dem etwa unter anderem Marschrhythmen, Chöre, Walzer erklingen, trifft gerade durch diese zunächst kritisierte formale Struktur das belebte Straßen- beziehungsweise Kaffeehausambiente ideal. Mit dem Orgelpunkt und den darüber gesetzten Quintenfolgen am Beginn des dritten Bildes gelingt es Puccini, beim Publikum augenblicklich ein Gefühl für die Winterstimmung der Handlung zu wecken. Doch auch winzige Details wie das Feuer im Ofen (1. Bild) werden stimmungsbildend musikalisch porträtiert. Aber obwohl jedes Bild und jede Szene eindeutig ihr je eigenes, sofort erfassbares Charakteristikum erhält, sind die einzelnen Akte durch immer wiederkehrende Motive und musikalische Strukturen zu einem Ganzen miteinander verknüpft. Von allen Komponenten abgesehen, seien es jene wie Form, Struktur, Dramaturgie oder Dynamik, Tempo, Rhythmus – für die Puccini zum Teil sehr genaue Anweisungen an die Interpreten gestellt hat –, ist schließlich das wichtigste Element neben dem Melodienreichtum und dessen Einsatz der Aspekt der Klanggestaltung. Die Instrumentation, die extrem differenzierte Farbgebung arbeitet nie als Selbstzweck, als bloßer Klangeffekt, sondern spiegelt stets die darzustellende Atmosphäre wider und kommt, wie der deutsche Musikwissenschaftler Walter Maisch es bereits wenige Jahre nach dem Tod des Komponisten formulierte, »zusätzlich immer wieder als vereinheitlichender Faktor der Mannigfaltigkeit in Harmonik, Melodik und Rhythmik« zur Geltung.
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Ulrich Schreiber
»Seine Fähigkeit, musikalische Bilder mit Menschen zu malen, ist in dieser Oper erstmals voll entwickelt, und die nun erreichte Ökonomie des Orchestersatzes hat Puccini nie übertroffen.«
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Oliver Láng
PUCCINI UND DIE BOHÈME Über die Lebensumstände des Komponisten
Die einen leben ihre Bedrängnisse und quälenden Zustände in komplexen, verstörenden Bühnenfiguren aus, schaffen sich verblüffende Alter Egos, die parallel das persönliche Leid durchwandern. Andere kanalisieren ihre gesellschaftlichen Ansichten auf das Opernpodium, schaffen sich so ein Forum für persönliche, auch politische Aussagen. Und wieder andere: Sie benützen ihre persönliche Biographie mitunter als Stimmungssteinbruch, als gemeinschaftlichen Ort der Erinnerung, als atmosphärisches Timbre – so einer war Giacomo Puccini. Ohne Zweifel steht zunächst einmal fest: La bohème ist auch autobiographische Rückblende, vielleicht nicht im Detail, aber – ungleich wirkungsvoller – im großen Überblick. In der Tat könnten die Opernszenen teils aus dem Leben Puccinis entsprungen sein, aber nicht nur die Szenen, sondern auch einzelne Figuren, Situationen. Nachempfunden einem Lebensstil und einer Gesellschaft, der Puccini ein musikalisches Denkmal geschaffen hatte. Seine Oper wiederholte musikalisch, was Henri Murger in der literarischen Vorlage gelungen war: Ein Bild zu festigen, das bislang OLI V ER LÁ NG
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in seiner Art zwar bekannt, aber noch amorph und mehrdeutig war. Die Welt der Bohème, der Studenten und mittellosen Künstler, hatte es auch natürlich schon vor ihrer literarischen beziehungsweise musikalischen Festschreibung gegeben – doch nun ist sie genau definiert, in ihren Färbungen und Stimmungen ein allgemein bekanntes Gut. Doch wie konkret ist Puccinis persönliches Studentenleben in der Oper zu finden? Wieweit hat er seine Jugend verklärt? Es ist wohl von beidem etwas darin. Die Elemente der Not, des Hungers sind in ihrer Opernform edelbitter verbrämt, in ein süßgoldenes Licht getaucht. Puccini, der seine Mailänder Studienzeit in Armut verlebte, dachte an die Geldnot und den Hunger nicht gerne zurück. Stolz war er auf die Armut der Jugend nicht, wohl umgekehrt: die Armut reizte schon damals seinen Stolz. Was ihn aber mit Sicherheit noch an diese Jugendzeit band, war ein anderer Aspekt der Bohème, jener der Kameradschaft, der engen Partnerschaft, der Geselligkeit im überschaubaren Rahmen, der jugendlichen, hoffnungsgetriebenen Kraft. Begeben wir uns auf die Spur: 1880 reiste der junge Giacomo Puccini aus der Provinz nach Mailand, um im dortigen angesehenen Konservatorium zu studieren; einer seiner Lehrer war der nicht minder angesehene Amilcare Ponchielli, der Schöpfer der La Gioconda, einer seiner Kollegen Pietro Mascagni. Da die finanzielle Situation der Familie Puccini – der Vater war vor Jahren gestorben – ein solches Studium nicht ohne weiteres gestattete, konnte der Mailänder Aufenthalt nur durch ein Stipendium der Königin Margherita und durch einen wohlhabenden und -meinenden Verwandten – Nicola Cerù – ermöglicht werden. Und auch so nur mehr schlecht als recht. Das Leben in Mailand hatte den jungen Puccini jedenfalls dennoch in den Bann gezogen. »Wie reich ist dieses Mailand!« schrieb er in einem Brief an seine Mutter, die heimatliche Bezugsperson blieb. Aber auch ein »Maledetta la miseria!« – »Verwünschte Armut!« – entkam ihm. Mit mehr oder weniger Disziplin, mehr oder weniger Hingabe widmete er sich den Studien, lieferte eine Beschreibung eines Tagesablaufes an die Mutter. »Am Morgen stehe ich um halb neun auf; wenn ich Unterricht habe, gehe ich fort. Wenn nicht, übe ich ein bisschen Klavier. Nicht allzuviel, aber ich muss üben. Weiter: Um halb elf mache ich eine Frühstückspause, dann gehe ich weg. Um eins komme ich nach Hause und arbeite ein paar Stunden für Bazzini [einen Lehrer]; dann etwa zwischen drei und fünf bin ich wieder beim Klavier und schaue ein wenig die klassische Musikliteratur durch. Um fünf gehe ich zu einer einfachen Mahlzeit (bescheiden und ausgiebig) und esse eine Minestrone alla Milanese, die, um die Wahrheit zu sagen, recht gut ist. Davon esse ich drei Teller, dann noch ein Stückchen Gorgonzola, dazu einen halben Liter Wein. Dann zünde ich mir eine Zigarre an, begebe mich in die Galleria und gehe dort ein bisschen hin 41
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und her, wie ich das gewohnt bin. Dort bleibe ich bis neun und komme dann todmüde nach Hause.« Dazu kamen noch die Besuche in einer Osteria, in der den angehenden Künstlern ordentlich Kredit gewährt wurde, freilich auch die Opernbesuche, die teils nur mit weiterer finanzieller Unterstützung der Mutter möglich waren. Ja, auch die bescheidene Bitte um ein wenig Olivenöl geht in die Heimat, denn er möchte Bohnen kochen, die in Mailand mit Leinöl oder Sesamöl zubereitet wurden. Doch das Lebensbild, das er brieflich in die Heimat sendet, ist soweit harmonisch, wenn auch immer vom Knappheit geprägt. »Am Abend, wenn ich Geld habe, gehe ich ins Kaffeehaus, doch es gibt viele Abende, an denen ich nicht hingehe, denn ein Punsch kostet dort 40 Centesimi. An Hunger leide ich nicht, ich esse schlecht, aber ich schlage mir den Bauch voll mit Minestrone, dünner Brühe. Mein Bauch ist zufrieden«, schrieb er ein andermal an die Mutter. Wieweit er das Zufriedene in den Briefen verstärkte, ist nicht zu sagen; doch die Möglichkeit, dass Giacomo Puccini seine Mutter nicht mit seiner Not zusätzlich belasten wollte und daher manches etwas rosiger klingen ließ, als es tatsächlich war, sollte durchaus in Betracht gezogen werden. An die Bohème erinnernd waren sicherlich manche Lebensumstände, die in vielerlei Anekdoten überliefert sind: Als Puccini in seiner Mailänder Studienzeit eine Zeit lang mit Pietro Mascagni ein Zimmer teilte, sollen Gläubiger mittels folgender einfacher, aber wirkungsvoller Methode an der Nase herumgeführt worden sein: Klopfte ein Gläubiger Mascagnis an der Tür, so versteckte sich dieser im Kasten, Puccini öffnete und gab an, der Zimmerkollege weile auswärts. Klopfte nun ein Gläubiger Puccinis, so tauschte man die Rollen. Eine andere Anekdote ist in die Musikgeschichte eingegangen: Um – verbotenerweise – im Zimmer kochen zu können, veranstaltete Puccini »Lärm« am Klavier, um die Kochgeräusche der Mitbewohner zu übertönen – übrigens zur Freude der nichtsahnenden, aber sehr musikliebenden Vermieterin. Szenenwechsel, Ortswechsel: Puccini ist, Jahre später, ein anerkannter, vermögender Komponist, seine Opern werden in allen großen Häusern der Welt gegeben, von Buenos Aires bis St. Petersburg; seine Liebe aber gilt nicht der großen internationalen Geselligkeit, dem weltgewandten Umgang, nicht der hofierenden Menge, sondern der Authentizität der kleinen heimatlichen Welt. Dort, im etwas entrückten Dorf Torre del Lago in unmittelbarer Umgebung seines Geburtsortes Lucca findet er Glück, Natur und Atmosphäre, die er zum Arbeiten braucht. Zwischen schnellen Automobilen, Booten, der Jagd und dem See Massaciuccoli lebt er abseits der schicken Gesellschaft. Natürlich liebt er den Luxus, doch was braucht er? Bekannte, so herzlich wie damals in Mailand, so unmittelbar und unverstellt. Und die trifft er eben in Torre del Lago, wo er sich mit Künstlerkollegen in einer kleinen umgebauten Schenke trifft, um den BohèmeOLI V ER LÁ NG
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Club zu gründen. Man kennt heute noch die Regeln, die die Ernsthaftigkeit vertreiben sollten. 1. Die Mitglieder des Bohème-Clubs, getreu dem Geiste, in dem er gegründet wurde, geloben einander unter Eid, es sich wohl sein zu lassen und besser zu essen. 2. Poker-Gesichter, Pedanten, schwache Mägen, Dummköpfe, Puritaner und andere Elende dieser Art sind nicht zugelassen und werden hinausgeworfen. 3. Der Präsident wirkt als Vermittler; er hindert jedoch den Schatzmeister, das Mitgliedsgeld einzusammeln. 4. Der Schatzmeister ist ermächtigt, sich mit dem Geld heimlich davonzumachen. 5. Die Beleuchtung des Lokals hat durch eine Petroleumlampe zu geschehen. Wenn das Brennmaterial fehlt, sind die Holzköpfe der Mitglieder zu nehmen. 6. Alle vom Gesetz erlaubten Spiele sind verboten. 7. Schweigen ist verboten. 8. Weisheit ist nicht erlaubt, außer in besonderen Fällen. Doch auch daheim in Puccinis Haus wurde gefeiert, mitunter allerdings ganz ohne Puccini selbst, der inmitten des Lärmes am Klavier saß und arbeitete. Gerade die Schwaden schweren Tabakrauchs, der Umgebungslärm einer Kartenpartie, hitzige politische Diskussionen regten seine Phantasie an, und während rund um ihn gefeiert wurde, schuf er das, was von da an die Opernwelt so zart und tief berühren sollte. Es war also seine eigene, neu erschaffene und höchstpersönliche Bohème, die ihm, dem letztlich tiefinnerst stillen, ja schüchternen Menschen ein Asyl bot, und Heimat war: Eine Bohème, die ihn ganz demokratisch König sein ließ, die die Fesseln der Welt vergessen ließ – und vor allem eines bot: Eine Reminiszenz der jugendlichen Hoffnung, allerdings ganz der knechtenden Not und Armut beraubt.
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Mir war nichts bewusst, als ich im November 1900, unvergessliches Datum, auf der hinteren Plattform einer langsamen Pferdebahn von Florenz bergan nach Fiesole fuhr. Ich fuhr oder ging dort alle Tage, dieses Mal spielte am Weg ein Leierkasten. Damit keine Banalität fehlte, war es ein Leierkasten, der mich mit dem Maestro Puccini bekannt machte. Solange hatte ich weder von seiner Existenz erfahren nach die Bohème gehört. Die wenigen Takte, die ein Wind mir zutrug, veranlassten mich, von meinem Tram abzuspringen.
Ich stand und ließ mich entzücken; die reizendste Akrobatin, die auf einem Teppich im Staub ihre lockeren Gliedmaße vorgeführt hätte, wäre schwerlich imstande gewesen, mich so lange zu fesseln. Dies meine erste Begegnung mit einem vollkommenen Darsteller des leidenschaftlichen Lebensgefühls jener Tage: seinem Schmelz, Aufschwung, Todesverlangen. Ich vernahm die große Arie des Rodolfo, Akt 1, auf einer Landstraße...
Heinrich Mann → Ein Zeitalter wird besichtigt
Jürgen Maehder
KÜRZE UND PRÄGNANZ STATT RHETORISCHER HÖHENFLÜGE Zu einer frühen Librettofassung des ersten Bohème-Aktes
Der Entstehungsprozess von Giacomo Puccinis Opernpartituren bedeutete für seine Librettisten einen langen Leidensweg; in stetem Gedankenaustausch mit dem Komponisten hatten sie eine Theaterform zu erschaffen, deren musikalisch-szenische Gestalt dem Komponisten deutlich vor Augen stand, obwohl dieser nicht über die Sprache verfügte, um seine Vision selbst zum Libretto formen zu können. Die größte Hürde bei der Konzeption einer neuen Oper bildete für Puccini immer die Stoffwahl. Hunderte von Briefen und eine beeindruckende Anzahl abgebrochener oder liegengelassener Opernprojekte bezeugen die vollständige Abhängigkeit des Komponisten von der Präsenz einer szenischen Vorstellung, ohne die der musikalische Schaffensprozess nicht beginnen konnte. War dann einmal die Entscheidung für einen Stoff gefallen, so entwarf der designierte Librettist eine »tela«, d.h. einen ProsaJ Ü RGEN M A EHDER
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entwurf des Handlungsgerüstes zum Zwecke der besseren Überschaubarkeit der Personenkonstellationen und der Verteilung von Schauplätzen und Massenszenen. Der Ausdruck »tela«, wie »canovacchio« der Tradition der Commedia dell’arte entnommen, wurde in dem Briefwechsel zwischen dem Verleger Giulio Ricordi und seinem Librettisten Luigi Illica in vollständig selbstverständlicher Weise als terminus technicus für die Prosaskizze eines Librettos eingesetzt. Die Arbeit am versifizierten Librettotext fand ihren Niederschlag normalerweise in einer »bozza«, einer handgeschriebenen oder auch in Gestalt von Korrekturfahnen gedruckten Textskizze, die im Laufe des Kompositionsprozesses noch mehreren Arbeitsgängen von Korrekturen und Bearbeitungen unterzogen wurde. Die systematische Erforschung von Puccinis Librettoskizzen begann im Jahre 1985, als der Autor der vorliegenden Zeilen in einem Abstellraum des Rathauses von Castell’Arquato (Piacenza) zwei Librettoskizzen von der Hand Giulio Ricordis aus dem Nachlass Luigi Illicas auffinden konnte, die frühe Fassungen des 1. Bildes und eines – zwar von Puccini unkomponierten, aber in Ruggero Leoncavallos Bohème-Oper vorhandenen »Atto del Cortile in via Labruyère 8« – für La bohème überlieferten, der in Puccinis Oper zwischen dem 2. und dem 3. Bild angesiedelt worden wäre. Inzwischen hat die PucciniForschung zu den meisten Bühnenwerken Puccinis Konvolute von Librettoskizzen indentifizieren können; besondere Bedeutung für die Forschung erlangte eine in Puccinis Villa in Torre del Lago (Lucca) aufbewahrte Librettoskizze für Turandot, die die ursprüngliche ungeschiedene Einheit von Akt I und Akt II belegt. Wie ein in der Biblioteca Passerini-Landi (Piacenza) aufgefundener Brief Giulio Ricordis beweist, unterzog sich im Falle der Bohème niemand anderer als Puccinis Verleger selbst der Mühe, die Textvarianten der beiden Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa mit Puccinis Änderungswünschen zu kollationieren und das Resultat handschriftlich zu kopieren: 19. 8. 1893 Mein lieber Illica, ich habe so verfahren, wie Sie mir sagten, und habe es ausgebessert, so gut es ging. Kontrollieren Sie es nochmals, dann zeigen wir es einmal Puccini, und dann geben wir es dem Comm. Giuseppe = dann... schreibe ich es nochmals ab. Auf Wiedersehen. Herzlich Ihr Giulio Ricordi Die Ausbildung einer spezifischen Librettosprache für Puccinis Werke, d.h. eines metrisch gebundenen und gereimten Textes mit der Diktion und Wort 47
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wahl der italienischen Prosakomödie des Fin de siècle, jenseits aller Künstlichkeit der italienischen Librettodichtung des Ottocento, jedoch sehr wohl mit ihrem Kunstanspruch, wird normalerweise mit der Entstehung des Librettos von La bohème angesetzt. Dieses Libretto entstand als Produkt eines veritablen Teamworks zwischen den beiden Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa, dem Verleger Giulio Ricordi und dem Komponisten selbst. Die Zusammenarbeit zwischen Illica und Giacosa wird traditionsgemäß als arbeitsteilige Librettoproduktion in der Tradition der französischen Librettistik des 19. Jahrhunderts interpretiert; Illica habe Charaktere und Handlungsführung entworfen, während die korrekte Versifizierung Giacosas Domäne gewesen sei. Dass man den Verfasser mehrerer Dramen in »versi martelliani«, aber auch erfolgreicher Prosakomödien als Berater für die Versifizierung des Bohème-Librettos heranzog, erscheint plausibler, wenn man annimmt, dass es vor allem die Komödienstruktur der »pièce« Vie de Bohème von Henri Murger und Theodore Barrière war, die den Gedanken an den damals prominentesten Autor italienischer Prosakomödien nahelegte. Zahlreiche Charakteristika des Bohème-Librettos, besonders die in ihm realisierte Überwindung der artifiziellen Libretto-Kunstsprache des italienischen Ottocento, sind zweifellos auf Giacosas Mitarbeit am Libretto zurückzuführen. Die Textgrundlage von Puccinis Oper erscheint im Rückblick als Fusion zweier Genres von Theater: Seine Versstruktur erscheint dem italienischen »melodramma« des 19. Jahrhunderts sowie den durch die Dichter der Scapigliatura eingeführten Neuerungen der Versmetrik verpflichtet, während Personencharakteristik, Dialogführung und Sprachniveau eher auf die italienische Prosakomödie des Fin de siècle verweisen. Da die Zusammenarbeit zwischen Illica und Giacosa, zu denen als Katalysator der Verleger Giulio Ricordi hinzutrat, die Basis für Puccinis Operntheater zwischen 1895 und 1907 bildete, sollen die Protagonisten dieser Zusammenarbeit kurz vorgestellt werden. Um 1900 war Luigi Illica (1857-1919) durch die Erfolge der Opern Cristoforo Colombo (Musik von Alberto Franchetti, Genova 1892), La Wally (Musik von Alfredo Catalani, Milano 1892), Andrea Chénier (Musik von Umberto Giordano, Milano 1896) und La bohème (Torino 1896) zweifellos der prominenteste Librettist Italiens. Man würde nicht fehlgehen, den Zeitraum von 1894 bis 1904 geradezu als das Operntheater Luigi Illicas zu bezeichnen, da die überwiegende Mehrzahl der in diesem Zeitraum uraufgeführten Opern bedeutender wie weniger bedeutender Komponisten auf Libretti von Luigi Illica verfasst wurde. Angesichts der dominierenden Rolle Illicas im italienischen Musiktheater des Fin de siècle wird häufig vergessen, dass er auch auf eine erfolgreicher Karriere als Theaterautor zurückblicken konnte, die freilich in dem Moment ihr Ende fand, als die Karriere als Librettist die Oberhand gewann. Im Gegensatz zu der marginalen literarischen Bedeutung Illicas kommt Giuseppe Giacosa (1847-1906) in der Geschichte der italienischen J Ü RGEN M A EHDER
→ KS Piotr Beczała als Rodolfo
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Literatur eine bedeutende Stellung zu, die sich vor allem auf seine Rolle bei der Entwicklung einer italienischen Gesellschaftskomödie in Prosa stützt, die er unter dem Einfluss Ibsens, Tschechows, George Bernard Shaws und Oscar Wildes schuf. Als Verfasser der Prosakomödien Tristi amori (Roma 1887), Come le foglie (Milano, Teatro Manzoni, 1900) und Il più forte (Milano 1904), als Direktor der Accademia dei Filodrammatici in Mailand und als Präsident der italienischen Gesellschaft der Theaterautoren war Giacosa stark in das offizielle Kulturleben Italiens eingebunden; seine Mitwirkung bei der Konzeption der Libretti für Puccini litt häufig unter der Arbeitsüberlastung des vielbeschäftigten Autors. Der Verleger Giulio Ricordi (1840-1912), selbst als Komponist unter dem Pseudonym Jules Burgmein mit zwei Opern, einer Operette und zahlreichen Klavierwerken hervorgetreten, leitete den Ricordi-Verlag von 1888 bis 1912 und begründete dank seiner weitsichtigen und zunehmend internationalen Geschäftspolitik die Monopolstellung des Verlags im Bereich der italienischen Oper, die in den Jahrzehnten nach seinem Tode von seinem Sohn Tito und von den folgenden Verlagsdirektoren wieder verspielt wurde. Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Giulio Ricordi und Giacomo Puccini, das sich etwa in Puccinis Brief-Anrede »fratello, amico e padre« widerspiegelt, ging weit über die geschäftlichen Aspekte einer Beziehung von Autor und Verleger hinaus und umfasste zuweilen alle Lebensbereiche des Komponisten. Die oft beschworene Künstlichkeit der italienischen Librettosprache des 19. Jahrhunderts wird nur verständlich, wenn man das allgemeine Stilniveau der poetischen Sprache im Italienischen seit Petrarca betrachtet. Die seit der Dichtung der Renaissance fundamentale Dichotomie von Volkssprache und gehobener Sprache der Kunstdichtung beherrschte die italienische Literatur bis zum Ende 19. Jahrhunderts; erst Anfang der 1890er Jahre konnte Giovanni Pascoli in seinem Gedichtzyklus Myricae den Versuch wagen, Kunstdichtung mit dem Vokabular und der Grammatik der Volkssprache zu schreiben. Am Beispiel von Rodolfos Arie »Che gelida manina...«, deren Erstfassung im Manuskript aus dem Rathaus von Castell’Arquato wesentliche Rückschlüsse auf die poetischen Modelle der Librettisten Puccinis zulässt, versuchte Kurt Ringger, die Sprache der italienischen Opernlibrettistik als Kunstsprache zu beschreiben. Das Libretto-Italienisch erweist sich somit als Kunstsprache, die sich im Spannungsfeld zweier ästhetischer Ebenen entwickelte: einerseits als extrem kodierte Kunstsprache (die allerdings für den Italiener in der spätestens seit Petrarca wohlbekannten Tradition des lyrischen Ausdrucks durchaus aufgehoben blieb), andererseits als allmähliche Annäherung an die umgangssprachliche Alltagsdiktion. Ob der Tenor »Deserto sulla terra,/ col rio destino in guerra« (Verdi, Il trovatore, I,3) singt oder »Che gelida manina,/ se la lasci riscaldar« – beides gehört, vom Standpunkt des Standard-Italienischen aus betrachtet, eindeutig in die Sphäre des Libretto-Italienischen. J Ü RGEN M A EHDER
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Einem ausländischen, an sprachlichen Phänomenen höchst interessiertem Opernliebhaber wie Stendhal fiel diese Besonderheit natürlich auf: »Heureuse et belle langue italienne, dans laquelle on peut écrire de telles choses sans paraître exagéré et sans encourir le ridicule!«¹ Ein Vergleich der Frühfassung des Librettos für den 1. Bild von La bohème, die aus der »bozza« im Rathaus von CastellʼArquato transkribiert wurde, mit der Fassung der Erstausgabe des Librettos führt zu dem Ergebnis, dass Puccini gerade diejenigen Passagen veränderte oder eliminierte, die der intendierten quasi-alltäglichen Diktion entgegenstanden. Puccinis im Briefwechsel mit allen Librettisten wie ein Refrain rekurrierendes Insistieren auf Kürze und Prägnanz dürfte mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass die folgenden beiden Strophen Rodolfos und Marcellos, die das Verbrennen von Rodolfos Drama Le Vengeur hätten begleiten sollen, bereits im Manuskript mit einer Wellenlinie gekennzeichnet wurden. Nicht nur musste die auf beide Sprecher verteilte Durchführung eines längeren Gedankenganges artifiziell und der Situation wenig angemessen erscheinen, sondern auch die stilisierte Sprechweise – ablesbar an der poetischen »dieresi« auf dem Wort »mondïal« – stand dem eher informellen Dialog der Szene entgegen. Durch die Streichung dieser beiden Strophen wurden die kurzen Momente vergänglicher Wärme in den gesungenen Dialog verlegt, dessen Entwicklung das Aufflackern und Verlöschen der Flammen exakt widerspiegelt: RODOLFO Però se un giorno i posteri Privi di tanta ebbrezza, Ti chiederan contezza Dʼun genio mondïal...
RODOLFO Doch wenn die Nachkommen, frei von diesem Rausch, dich eines Tages nach einem großen Genie fragen...
MARCELLO Io, mostrando un termometro, Risponderò: mi pento! – Ma cʼera il fuoco spento E un freddo sideral.
MARCELLO Ich werde, ein Thermometer haltend antworten: ich bereue es, doch das Feuer war erloschen, und es herrschte eisige Kälte.
Aus Gründen der szenischen Wirksamkeit dürfte Puccini die folgende Szene zwischen den drei Bohemiens gestrichen haben, in der Illica versucht hatte, einen akustischen Vorgang auf der Bühne zum auslösenden Faktor des Dialogs werden zu lassen. Es liegt auf der Hand, dass das Klingen eines auf den Bühnenboden geworfenen Geldstücks selbst gegen einen durchsichtig instrumentierten Orchestersatz keine Chance hätte, wahrgenommen zu werden; Aufgabe des Komponisten wäre es also gewesen, den Effekt durch Klangmalerei im Orchester darzustellen. Die Synchronisierung derartiger Effekte 51
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zwischen Orchestergraben und Bühne ist meistens misslich; durch die Streichung konnte Puccini dieser Schwierigkeit aus dem Wege gehen und ein dramatisch retardierendes Moment eliminieren. Dalla porta di mezzo entra Schaunard: lo seguono due garzoni, portando lʼuno provviste di cibi, bottiglie di vino, sigari, e lʼaltro un fagotto di legna. Vedendo i tre innanzi al camino Schaunard getta alcuni scudi a terra.
Durch die Mitteltür tritt Schaunard ein: ihm folgen zwei Knaben, von denen der eine Esswaren, Wein und Zigarren, der andere ein Holzbündel trägt. Schaunard sieht die drei am Kamin und wirft einige Geldstücke auf den Boden.
RODOLFO senza muoversi, quasi estasiato Dolce suon raccolgo a volo.
RODOLFO fast begeistert, aber ohne Bewegung Welch zarter Klang kommt mir zu Ohren.
MARCELLO immobile, stupefatto Cantan gli angeli nellʼetra.
MARCELLO regungslos, überrascht Die Engel singen im Himmel.
Schaunard getta a terra un altro scudo.
Schaunard wirft ein weiteres Geldstück auf den Boden.
COLLINE scettico È il tuo pendolo.
COLLINE skeptisch Das ist dein Pendel.
RODOLFO È una cetra!
RODOLFO Es ist eine Leier!
MARCELLO È un gorgheggio dʼusignolo Che si crede in primavera.
MARCELLO Es ist das Trällern einer Nachtigall, die glaubt, es sei Frühling.
Der Auftritt Schaunards leitet eine Szene ein, in der die Librettisten, vor allem aber Puccini selbst noch viele Änderungen anbringen sollten. Die zugrundeliegende dramaturgische Idee, eine Soloszene Schaunards, dem die Freunde keine Beachtung schenken, weil sie durch die Esswaren viel zu sehr abgelenkt sind, war nur in Gestalt eines mehrschichtigen Dialogisierens aller Beteiligten zu realisieren. Dass die endgültige Fassung in wesentlichen Teilen offenJ Ü RGEN M A EHDER
→ KS José Carreras als Rodolfo
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bar von Puccini stammt, belegt Seite 9 des Manuskriptes. Auf der linken, normalerweise für Korrekturen freigelassenen Seite trug Puccini seine neue Version von Schaunards Monolog ein, während Seite 10 auf der rechten Hälfte die Einleitung dieser Passage, auf der linken ein nachträglich eingeklebtes Blatt in Illicas Handschrift mit deren Fortsetzung zeigt. Nach der nur leicht veränderten Szene mit dem Hauswirt BenoÎt lassen die drei Freunde Rodolfo allein, der in einem einleitenden kurzen Monolog gleichsam die Geschehnisse der folgenden Szene vorausträumt: Rodolfo chiude lʼuscio, sgombra un angolo della tavola, vi colloca calamajo e carta, avvicinando una candela rimasta accesa.
Rodolfo schließt die Tür, macht eine Ecke des Tisches frei, richtet Tinte und Papier her und holt eine noch brennende Kerze.
RODOLFO Mettiamoci allʼimpresa tosto; di buona lena. siede e si mette a scrivere Il feltre ed il castoro. pausa Vediam. smette Non sono in vena. Quel fuoco accende ai sogni la fantasia divezza. siede presso il fuoco semispento e si lascia andare a fantasticare Essere in due ... la notte … soli soli – Dolcezza! bussano timidamente allʼuscio Chi è la?
RODOLFO Machen wir uns gleich an die Arbeit; mit neuer Kraft. setzt sich und beginnt zu schreiben Der Filz und der Biber. Pause Sehen wir einmal. hört auf Ich bin nicht in Stimmung. Dieses Feuer regt in den Träumen die entwöhnte Fantasie wieder an. sitzt neben dem halb erloschenen Feuer und gibt sich dem Fantasieren hin Zu zweit sein ... in der Nacht ... ganz allein – wie wundervoll! man klopft schüchtern an der Tür Wer ist da?
Mit dem Auftritt Mimìs beginnt eine Liebesszene, die mehr als alle übrigen Szenen des 1. Bildes die Intention Puccinis enthüllt, die Sprache des Librettos so weit wie möglich der italienischen Alltagssprache der Zeit anzunähern. In der Urfassung des Dialogs vor der Selbstdarstellung Rodolfos als Dichter und Liebender überraschen zwei »a parte«-Passagen des Tenors, die in einer Situation großer räumlicher Nähe kaum glaubhaft gewesen wären und sicher eliminiert wurden, um die gemeinsame Suche nach dem Schlüssel realistischer zu gestalten. Die Reimpaare »Siamo al bujo« »(Belle nuove)«/ »Mʼè caduta non so dove...« und »Lʼacciarino...« »In fede mia/ Non so proprio dove sia« gehörten sicher nicht zu den stilistischen Glanzpunkten des Librettos; ihre Streichung befreite den Dialog von überflüssigem Ballast und gab Puccini eine Textgrundlage an die Hand, über der sich der scheinbar völlig natürJ Ü RGEN M A EHDER
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liche Dialog zwischen Rodolfo und Mimì aufbauen ließ. Dass in dieser Version Rodolfo selbst die eigene Kerze auslöscht, um mit Mimì im Dunkeln zu sein, mutet wie die nachträgliche Bestätigung eines Regieeinfalls an, der in Aufführungen der letzten Jahrzehnte mehrfach zu sehen war.
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RODOLFO profittando della circostanza spegne la propria candela, poi finge grande sorpresa Ecco! Anche il mio s’è spento!
RODOLFO profitiert von der Situation und löscht auch seine Kerze, dann gibt er sich überrascht Oh! Auch meine ist ausgegangen!
MIMÌ Siamo al bujo.
MIMÌ Es ist dunkel.
RODOLFO fra se (Belle nuove)
RODOLFO für sich (Gute Nachrichten)
MIMÌ Come far?
MIMÌ Was können wir tun?
RODOLFO Pensando sto. si muovono a tastoni
RODOLFO Ich denke gerade. sie tasten sich vor
MIMÌ M’è caduta non so dove… Cerchi –
MIMÌ Ich weiß nicht, wo er mir hingefallen ist... suchen Sie –
RODOLFO Cerco – trova la chiave Eccola... si pente e la intasca No.
RODOLFO Ich suche…findet den Schlüssel Hier...bereut es und steckt ihn in die Tasche Nein.
MIMÌ L’acciarino?...
MIMÌ Der Anzünder?...
RODOLFO In fede mia Non so proprio dove sia.
RODOLFO Ganz ehrlich, ich weiß wirklich nicht, wo er ist.
MIMÌ Oh! Che noja!
MIMÌ Oh! Wie ärgerlich!
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RODOLFO (Son contento)
RODOLFO (Ich bin froh)
MIMÌ Come faccio a rientrar?
MIMÌ Wie soll ich wieder hineinkommen?
RODOLFO Il destin i lumi ha spento… È il destin che ne avvicina. le prende una mano
RODOLFO Das Schicksal hat das Licht gelöscht... Dieses Schicksal führt uns zusammen. er nimmt sie bei der Hand
MIMÌ Ah!
MIMÌ Ah!
Der intendierte Stilgegensatz zwischen den Sprachebenen Rodolfos und Mimìs wurde von Illica und Giacosa durch den Kunstgriff realisiert, in den beiden Arien des 1. Bildes eine komplexe Dichtungsgattung für Rodolfo einer extrem kunstlosen Textgestalt für Mimì gegenüberzustellen. Wie auch die Erstausgaben des Librettos veranschaulicht Giulio Ricordis Manuskript noch die Strophenform von Rodolfos Arie, eine Folge von sieben Settenario-Strophen mit dem Reimschema ABB – ACC – DEE – DFF..., das als Abwandlung der Reimordnung der »Terzarima« interpretiert werden kann. Spätere Librettodrucke dagegen bringen den Text als fortlaufende Folge ungegliederter Zeilen. Während die »Terzarima« in Endecasillabi, der Vers der Divina Commedia, eine konstante Erscheinung innerhalb der italienischen Literaturgeschichte bildete, wurden Terzarime aus Settenari erst in der lyrischen Dichtung des 19. Jahrhunderts heimisch.2 Im Gegensatz zur artifiziellen Strophenform Rodolfos gibt sich Mimìs Arientext absichtlich kunstlos; zwei parallel gebaute Teile beginnen jeweils bei der Selbstpräsentation und verlieren sich gleichsam in die Bereiche von Mimìs Tagträumen. Am Ende geht der Sprecherin der Inhalt aus, so dass sie ihre Selbstcharakteristik abbrechen muss. Wie Seite 25 des Librettoskriptes zeigt, griff Puccini in sparsamer, aber entscheidender Weise in den Text ihrer ersten Strophe ein; durch die Einfügung der Worte »o legger quelle cose« verwandelte er eine Reihe von Metaphern, die Illica auf die künstlichen Rosen Mimìs bezogen hatte, in eine kurze Beschreibung von Mimìs literarischen Vorlieben. Unmittelbar nach dem Ende von Mimìs Arie, auf Seite 27 des Manuskriptes von CastellʼArquato, beginnt eine Frühfassung des abschließenden Liebesduettes, deren Existenz bis zur Auffindung des Manuskriptes unbekannt war. Puccinis Gründe für die tiefgreifende Änderung des Aktschlusses sind nur teilweise aus einem undatierten Brief rekonstruierbar, der in der Biblioteca Passerini-Landi in Piacenza aufgefunden wurde:
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→ KS Mirella Freni als Mimì und KS Plácido Domingo als Rodolfo
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Lieber Illica, ich wünsche mir von Dir eine Gefälligkeit: Nachdem ich das Finalduett des ersten Aktes nochmals gespielt habe, finde ich es viel, aber viel zu lang – ich möchte es kürzen, brauche aber Deine Mitarbeit = S. 11.12. der Korrekturbögen. Man könnte mit dem ›vieto chi son‹ etc. bis ›vivo‹ streichen, die anderen Strophen kürzen und die Takte des ›mi chiamano Mimì‹ um einige Verse verlängern. Die Längen beginnen für mich ab ›sei sola al mondo‹ und Rodolfos ›attimo divino‹: Es sind mehr oder weniger leidenschaftliche Momente und somit musikalisch langsam, was Langeweile und Eintönigkeit verursacht. Das liegt auch an der Musik, aber auf jeden Fall muss gekürzt werden. So bitte ich Dich, in den Korrekturbögen zu streichen, und sie mir dann zum sofortigen Korrigieren zu schicken. Entschuldige und wappne Dich mit Geduld, ich werde Dich noch öfters belästigen... Die musikalischen Gründe mögen als Erklärung für die tiefgreifende Umgestaltung des Textbestandes einleuchten, sie vermögen aber nicht die Änderung der Handlungsführung zu erklären, die in den letzten Textworten des Librettos sichtbar wird. Es liegt auf der Hand, dass mit dem zurückhaltenderen, auf Seiten Mimìs quasi keuschen Schluss des 1. Bildes eine Idealisierung der Frauengestalt verbunden ist, die ihre Wirkung auf ein Publikum im umbertinischen Italien nicht verfehlen sollte. Zugleich liegt auf der Hand, dass stilistische Abgründe das Liebesduett von dem small talk des Kennenlernens trennen. Puccinis linguistisches Sensorium musste sich wehren gegen die rhetorischen Höhenflüge Rodolfos am Ende dieses Aktes, wenn die Verlebendigung des alltäglichen Dialogs in den Szenen zuvor ihm ein wesentliches Anliegen war. Obwohl er eine musikalische Skizze zu den Textworten »Sei sola al mondo – io vagabondo« gegenüber Seite 27 notierte und sogar mit dem Vermerk »buono« versah, wurde – zweifellos auf Veranlassung Puccinis – die folgende Passage vollständig entfernt: RODOLFO O mia bimba gentil, Mimì, Maria, Oh! lasciami cercar nella pupilla Tua, la scintilla – della poesia.
RODOLFO Oh! liebes Mädchen, Mimì, Maria, Oh! lass mich in deinen Augen den Funken der Poesie suchen.
MIMÌ Signor...
MIMÌ Mein Herr...
RODOLFO Sei sola al mondo – io, vagabondo – Diamci la mano e camminiamo insieme,
RODOLFO Du bist allein auf der Welt – ich ein Vagabund – reichen wir uns die Hand und gehen gemeinsam, mit der Sonne J Ü RGEN M A EHDER
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Col sole in fronte della giovinezza, Col genio dell’amor che fa poeti. Insieme, o mia Mimì, viviam la vita. Noi scambieremo un bacio a ogni dolore! La vita farà piangere i tuoi occhi? E un bacio di Rodolfo, o mia Mimì, Muterà quel dolore in una ebbrezza!
der Jugend auf dem Antlitz, mit der Aura der Liebe, die Poeten schafft. Lass uns, meine Mimì, gemeinsam leben. Tauschen wir bei jedem Schmerz einen Kuss aus, und ruft das Leben bei dir Tränen hervor, dann wird ein Kuss von Rodolfo, oh meine Mimì, den Schmerz in Rausch verwandeln.
Die Schlusszeilen der Urfassung, die ein offenes Einverständnis Mimìs signalisieren und zugleich auf den Zuschauer als überraschender Schlusseffekt wirken, entstammen deutlich der literarischen Tradition des zeitgenössischen Sprechtheaters, d.h. der Gesellschaftskomödie des Fin de siècle. MIMÌ staccandosi dallʼabbraccio di Rodolfo Andiam ... per or ... non più!
MIMÌ löst sich aus Rodolfos Umarmung Gehn wir ... für jetzt ... genug!
RODOLFO E ... la chiave, Mimì?
RODOLFO Und ... der Schlüssel, Mimì?
MIMÌ mettendo il suo nel braccio di Rodolfo Tienila tu! – escono correndo e ridendo
MIMÌ hakt sich bei Rodolfo ein Behalte du ihn! – Rasch verlassen sie den Raum, lachend.
Man vergegenwärtige sich die Wirkung der Zeilen »E ... la chiave, Mimì?«/ »Tienila tu!« innerhalb einer hypothetischen Aufführung des Librettos als Sprechtheater, und die Ähnlichkeit zu Aktschlüssen Oscar Wildes, etwa zu den berühmten Schlusszeilen von Lady Windermereʼs Fan (1892) oder The Importance of being Earnest (1895) würde offenbar. Trotz der bedeutenden Einflüsse der Gesellschaftskomödie auf das Libretto von La bohème bewirkte der Gattungsunterschied von Prosakomödie und Opernlibretto, dass eine im Sprechtheater nicht nur akzeptable, sondern auch elegante Lösung für Puccinis Musiktheater sich als ungeeignet erwies. Nicht die Notwendigkeit, größere Vielfalt innerhalb der musikalischen Bewegungsvorstellung des Liebesduettes zu schaffen, kann als Grund für die Eliminie 59
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rung des abschließenden Dialogs angesehen werden, denn dieser hätte das musikalische Tempo ja eher wieder gesteigert, sondern die von Puccini erfühlte Notwendigkeit eines leise verklingenden Verklärungsschlusses. Dieser aber wäre mit den Textworten der Urfassung des 1. Aktes nicht komponierbar gewesen.
Weiterführende Literatur Virgilio Bernardoni, Verso Bohème. Gli abbozzi del libretto negli archivi di Giuseppe Giacosa e Luigi Illica, Firenze (Olschki) 2008. Gabriella Biagi Ravenni/Dieter Schickling, Giacomo Puccini, Epistolario I, 1877-1896, (= »Edizione Nazionale delle Opere di Giacomo Puccini«), Firenze (Olschki) 2015. Michele Girardi, Giacomo Puccini. L'arte internazionale di un musicista italiano, Venezia (Marsilio) 1995; English translation: Puccini. His International Art, Chicago (Chicago Univ. Press) 2000. Daniela Goldin, La vera fenice. Librettisti e libretti tra Sette- e Ottocento, Torino (Einaudi) 1985. Arthur Groos/Roger Parker (edd.), La bohème, »Cambridge Opera Handbook«, Cambridge (Cambridge University Press) 1986. Adriana Guarnieri, Musica e letteratura in Italia tra Ottocento e Novecento, Milano (Sansoni) 2000. Helmut Kreutzer, Die Bohème. Beiträge zu ihrer Beschreibung, Stuttgart (Metzler) 1968. Jürgen Maehder, Paris-Bilder. Zur Transformation von Henry Murgers Roman in den »Bohème«-Opern Puccinis und Leoncavallos, in: Michael Arndt/Michael Walter (edd.), Jahrbuch für Opernforschung 2/1986, Bern/Frankfurt (Peter Lang) 1987, pp. 109‑176. Jürgen Maehder, Giacomo Puccinis Schaffensprozeß im Spiegel seiner Skizzen für Libretto und Komposition, in: Hermann Danuser/Günter Katzenberger (edd.), Vom Einfall zum Kunstwerk – Der Kompositionsprozeß in der Musik des 20. Jahrhunderts, »Schriften der Musikhochschule Hannover«, Laaber (Laaber) 1993, pp. 35-64. Jürgen Maehder, »Der Dichter spricht« – Livelli di discorso musicale nella »Bohème« di Leoncavallo, in: Jürgen Maehder/Lorenza Guiot (edd.), Ruggero Leoncavallo nel suo tempo, Atti del I Convegno Internazionale di Studi su Leoncavallo a Locarno 1991, Milano (Sonzogno) 1993, pp. 83-115. Kurt Ringger, »Che gelida manina« – Betrachtungen zum italienischen Opernlibretto, in: »Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft«, 19/1984, pp. 113-129. Peter Ross, Der Librettovers im Übergang vom späten Ottocento zum frühen Novecento, in: Lorenza Guiot/Jürgen Maehder (edd.), Tendenze della musica teatrale italiana all'inizio del Novecento. Atti del IVo Convegno Internazionale di Studi su Leoncavallo a Locarno 1998, Milano (Sonzogno) 2005, pp. 19-54. Hans-Joachim Wagner, Fremde Welten. Die Oper des italienischen Verismo, Stuttgart/Weimar (Metzler) 1999.
¹ Kurt Ringger, »Che gelida manina...«, Betrachtungen zum italienischen Opernlibretto, Arcadia (Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft), 19/1984, S. 113-129 (Zitat auf S. 127) 2 W. Theodor Eiwert, Italienische Metrik, München (Huber) 1968, S. 126.
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→ Studentenpärchen an der Seine in Paris
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Dieter Schickling
DIE OPER IM MUSIKALISCHEN ÜBERBLICK
Musikalisch hat Puccini nach der Uraufführung der Bohème nicht mehr allzu viel geändert. Ein einziger größerer Eingriff findet sich vor Musettas Auftritt im zweiten Bild durch die Einfügung einer längeren Szene. Im Übrigen handelt es sich nur um nicht sehr wesentliche Kürzungen und Ergänzungen, die überwiegend wie auch diese größere wohl schon im Premierenjahr vorgenommen wurden. La bohème war von Anfang an ein geschlossenes und keiner ernsthaften Korrektur mehr zugängliches Stück – auch von Puccinis eigenem Verständnis her eben ein Meisterwerk. Die Oper beginnt mit dem Thema des schnellen Mittelteils aus dem Capriccio sinfonico. Puccini hat diese Übernahme wie meistens in solchen Fällen bewundernswert in den neuen Zusammenhang integriert – man könnte auch umgekehrt sagen: den neuen Zusammenhang dem alten Modell angepasst. Thematisch beherrscht die Capriccio-Musik den Anfang des ersten Bildes. In die Nischen ihres peitschenden Rhythmus schmiegen sich die Dialoge zwischen den Freunden Rodolfo, Marcello und Colline. Die ganze Szene mit ihren zahlreichen Taktwechseln und farbigster Instrumentierung klingt wie eine freie, spontane Improvisation und ist doch musikalisch aufs Genaueste aus vorhandenem Material konstruiert. Mit dem Erscheinen Mimìs ändert sich auch musikalisch die Szenerie. Zaghaft tastet sich Akkord zu Akkord, mit vorweggenommenen fragilen leitmotivischen Elementen aus Mimìs klanglicher Sphäre, aber bei alledem wird eine äußerste Vielfalt der orchestralen Farben bewahrt. Aus der erregten Suche nach Mimìs verlorenem DIET ER SCHICK LING
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Schlüssel entwickelt sich fast unvermittelt, nur durch eine plötzliche TempoRückung in weniger als die halbe Geschwindigkeit angekündigt, Rodolfos berühmte Arie »Che gelida manina«. Der Form nach ist es natürlich keine klassische Arie, sondern ein durch Wagners Bruch mit der Nummernoper bestimmter epischer Monolog. Inhaltlich lässt er die Handlung nicht stocken, sondern treibt sie mit der Schilderung von Rodolfos Existenz voran. Musikalisch enthält er die Elemente, die solche Soli in Puccini-Opern von nun an immer charakterisieren: die Deklamation in der Nähe der gesprochenen Sprache (was eine komplizierte rhythmische Notierung mit unzähligen Triolen in verschiedenen Ton- und Pausenlängen verlangt), damit zusammenhängend synkopierte Einsätze der Singstimme auf schwachen Taktteilen, sozusagen hinter dem Orchester, und vor allem das unspektakuläre Ende nach einem Höhepunkt im Mittelteil – diese Stücke sind nicht auf den Beifall des Publikums hin geschrieben, sondern trachten ihn zu verhindern, indem sie gleichsam rezitativisch enden. In solch »natürlichem« Sinn (wie Wagner vielleicht gesagt hätte) geht Rodolfos Solo fast unmerklich in das der Mimì über, das von einer überwältigenden deklamatorischen Freiheit charakterisiert ist, die Handlung auch wieder nicht anhält, sondern von Mimìs Leben redet, und an den melodischen Höhepunkten extensiv Puccinis berühmte Oktavenverdopplung demonstriert, also eine parallele Begleitung der Singstimme in den führenden Orchestergruppen. Bei aller offenkundigen Primitivität des Verfahrens kann man sich seiner starken Wirkung kaum entziehen, und man sollte nicht vergessen, dass erst die Profanierung in den Niederungen der Alltagsmusik und der darin übermäßige und unökonomische Gebrauch diese Technik ihres Reizes beraubt hat: Nämlich dass sie eine knappe melodische Floskel für ganz kurze Zeit »leuchten« lassen kann. Auch Mimìs Arie endet auf kaum überbietbare Weise unspektakulär in einem vielsilbigen eintaktigen Rezitativ auf nur drei Tonhöhen – das Stück versandet gegen alle Operntradition in absichtlicher und realistischer Belanglosigkeit, aus der das Liebesduett sich dann gleichsam aus einem musikalischen Nichts erhebt, die Zuhörerin und den Zuhörer genauso plötzlich überfallend, wie die Liebe die beiden Personen auf der Bühne überfällt. Puccini hat mit solchen Stücken das überraschte Publikum quasi zum Komplizen seiner Komposition gemacht. Übrigens legt er auch hier den musikalischen Höhepunkt bereits an den Anfang und nimmt dem Schluss seinen normalerweise gewohnten Effekt: Wenn der Vorhang fällt, ist die Bühne leer, und das Liebespaar hört man nur noch von draußen singen – an einer konventionellen Stelle zerbricht Puccini die konventionellen Erwartungen seines Publikums und zwingt es, eine normale Situation auf der so überaus unnormalen Opernbühne zu akzeptieren. So dezent das erste Bild endet, so schrill beginnt das zweite. Es ist eines der berühmtesten Beispiele für die um diese Zeit (aber meist in ganz anderer Musik) aufkommende Technik der Montage. Dieses Bohème-Bild wurde kom 63
DIE OPER IM MUSIK A LISCHEN Ü BER BLICK
poniert, als Gustav Mahler mit seiner 3. Sinfonie begann, einer der großräumigen Montagen in der musikalischen Weltliteratur. Die Montage macht sich zunutze, dass der Hörer ihre Elemente kennt und sich folglich in vertrauter Umgebung wähnt. Aber dieses Wähnen ist natürlich ein Wahn. Denn widersprüchliche Elemente zusammenzufügen bedeutet keine Addition von schon Vorhandenem, sondern eine neue Wirklichkeit. Puccini rechtfertigt seine Montage natürlich durch eine Anknüpfung an den Realismus der Szene. Wir befinden uns vor dem Café Momus im Quartier Latin; die Straße ist voller Menschen, die die Regieanweisung aufzählt: Bürger, Soldaten, Dienstmädchen, Jugendliche, Kinder, Studenten, Näherinnen, Polizisten, fliegende Händler. Ein chaotisches Treiben also, Anlass genug, auch die Musiken all dieser Gruppen durcheinanderzumischen, und dazu die Themen der Bohemiens, die hier wieder mit Rodolfo und seiner neuen Freundin Mimì zusammentreffen. Puccinis Verfahren ist äußerst raffiniert; um es ganz zu begreifen, müsste man es geradezu von Takt zu Takt verfolgen. Die Handlung führt als frische Figur Musetta ein, Marcellos Dauerliebe, die aber gerade ein Verhältnis mit dem reichen alten Alcindoro hat. Begleitet von Girlanden der Flöte und der Klarinette beginnt sie ihr berühmtes Walzerlied »Quando meʼn vo«. In Puccinis originaler Komposition (nicht in der Fassung, wie wir sie aus Einzel-Schallplattenaufnahmen kennen) ist dieses Stück das klassische Beispiel für eine von ihm künftig oft angewandte Technik: die Störung schöner Melodien. Puccini lässt die Arie nämlich nicht für sich als geschlossene Nummer stehen, sondern verschmilzt sie mit der Handlung, indem er andere ständig dazwischenreden lässt. Der Belcanto, der »schöne Gesang«, bleibt zwar erhalten, aber er ist zugleich integraler Bestandteil der dramatischen Situation (so hatte Wagner sich einmal umgekehrt Tristan und Isolde als »italienische« Oper vorgestellt) – der Sänger soll weder tatsächlich noch gar musikalisch an die Rampe treten, sondern Darsteller einer wahrhaftigen Geschichte bleiben. In dieser Anlage von Musettas Lied hat Puccini wiederum den Versuch gemacht, der Kunstform Oper auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts einen vernünftigen Sinn zu geben und sie aus dem Ghetto ihrer kulturgeschichtlichen Absurdität zu erlösen.¹ Die letzte Strophe wird mit einem orgiastischen Aufschwung des Orchesters eingeleitet und dann überhaupt nicht mehr von der Protagonistin gesungen, sondern im Wesentlichen von ihrem Freund Marcello, was sowohl die dramaturgische Wahrheit stützt als auch den Montage-Charakter bekräftigt. Dann mischt sich, den Walzertakt schroff zerschneidend, der Marschrhythmus einer Militärkapelle hinein, die Gassenjungen grölen eine Phrase, die aus der kirchlichen Ministranten-Gregorianik stammt, bis sich alles im Marschrhythmus mit versprengten Floskeln aus den anderen musikalischen Welten sammelt – eine der genialsten Passagen in Puccinis gesamten Œuvre. Es entsteht so nicht nur einfach ein farbiges Genrebild. Vielmehr bricht die musikalisch verschränkte Montage den Folklorismus auf. Wir befinden uns dank dieses DIET ER SCHICK LING
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Verfahrens nicht in einem angeblichen Paris von 1830, sondern bei einem italienischen Komponisten von 1895. Die Montage rekonstruiert eine künstlerische Wahrheit, die ihren einzelnen Elementen nicht zukommen könnte. Das dritte Bild bietet atmosphärisch eine ebenso krasse Differenz zum zweiten, wie dieses sich vom ersten unterschied. Nach dem ausgelassenen Treiben im Quartier Latin spielt es an einer Zollstation im Süden von Paris mitten im folgenden Winter. Es liegt Schnee. Im Orchester spielen über einem endlos langen Quintenorgelpunkt der Violoncelli vor allem Flöten, Harfen und Violinen, unterstützt von einzelnen Triangelschlägen und rhythmisch notiertem Gläserklingen aus der benachbarten Kneipe. Diese Instrumentation ist von klirrender Kälte, und der ungewöhnliche Effekt der leeren Quinten über eine so lange Strecke hat bei den zeitgenössischen Kritikern erhebliche Irritationen hervorgerufen, während der uralte Verdi gerade diese Stelle sehr gelobt haben soll². Der ganze Anfang des Bildes ist nichts als fröstelnde Atmosphäre – die Wärme der Kneipe, aus der Fetzen von Musettas Walzer und ein Chor fröhlicher Zecher dringen, ist unsichtbar hinter die Szene verlegt. Nur langsam kommt eine Handlung in Gang: Mimì, von Motiven ihres Arienthemas aus dem ersten Bild angekündigt, ist auf der Suche nach Rodolfo. Es folgt die dramaturgisch fragwürdige Szene, in der Rodolfo seine doppelte Motivation für die Trennung von Mimì erläutert. Auch musikalisch stimmt etwas nicht in dieser Passage: Rodolfos Schilderung von Mimìs bedrohlichem Husten (»Una terribil tosse«) und der für ihn daraus folgenden Konsequenzen vollzieht sich in der Musik auf ein ekstatisches Thema (6 Takte nach Ziffer 21), das überhaupt nicht zum vergleichsweise banalen Zusammenhang des Texts passt. Es scheint so gut wie sicher, dass diese Musik ursprünglich anders gedacht war – etwa für einen echten und nicht nur vorgetäuschten Eifersuchtsausbruch. Die mühsamen Änderungen am Charakter der Mimì von Murgers Vorbild zu Puccinis Wunschbild haben auch noch in der Musik Schlacken hinterlassen – das von Puccini so gefürchtete BarrieraBild geht trotz seiner großen musikalischen Schönheit musikdramaturgisch nicht auf. Das gilt auch noch für den Übergang in den Dialog zwischen Mimì und Rodolfo der sich bald durch die Hinzufügung eines keifenden Streits von Musetta mit Marcello zum Quartett erweitert, eigentlich nur bestehend aus zwei raffiniert parallel geführten Duetten. In Mimìs einleitendem »Ascolta« fallen Wort- und Musikakzent ganz gegen Puccinis sonstige Praxis deutlich auseinander3, so dass auch diese Melodie wohl ursprünglich zu einem anderen Text gehört, wobei Puccinis erprobte Übernahmetechnik diesmal erstaunlicherweise gar nicht gut funktioniert. Das melodische Material des »Halb-Quartetts« Mimì-Rodolfo stammt aus dem Lied »Sole e amore« von 1888, eine auch durch seine klare Instrumentierung unerhört schöne Passage. Die erneute Übernahme demonstriert 65
DIE OPER IM MUSIK A LISCHEN Ü BER BLICK
wiederum, dass Puccini das dritte Bohème-Bild sozusagen bereits komponiert hatte, bevor er richtig wusste, was sein Inhalt sein würde. Abgesehen von dem frostigen Quintenanfang gehört die gute und in sich stimmige Musik offenbar nicht recht zur Handlung des Bilds – seine Brüchigkeit ist unverkennbar, wenn man nicht nur bewusstlos der Musik lauscht. Auf ganz merkwürdig äußerliche Weise hat Puccini endlich dem Bild so etwas wie Geschlossenheit zu geben versucht: An den Anfang und den Schluss hat er zwei jeweils gleiche kadenzierende Akkordschläge im Fortissimo des Orchesters gesetzt, was weder zum Anfang noch zum Schluss passt – eine gleichsam verzweifelte Geste, die Einheit bestätigen soll, wo keine besteht. Mit dem vierten Bild begibt Puccini sich wieder auf sichereres Gebiet: Er kehrt zunächst zur Stimmung des ersten Bilds zurück. Wir sind erneut in der Bohemien-Dachstube, und die Männerfreunde sind so allein und auf sich verwiesen wie zu Beginn der Oper. Marcello und Rodolfo hängen den Erinnerungen an ihre verflossenen Geliebten nach – Anlass für die Musik, mit wenig neuem Material in altbekannten Motiven die bisherige Geschichte zu reflektieren. Puccini hat während der Entstehung des Librettos und noch bis kurz vor Ende der Komposition darauf gedrängt, diese Anfangsszene abzukürzen – mit dem sicheren Instinkt des Musikers, der sich hier nur wiederholen konnte. Erst mit dem Erscheinen von Musetta und Mimì ändert sich nicht nur das szenische, sondern auch das musikalische Bild, gleich zu Anfang mit einem äußerst dissonanten Akkord, der mit einem Sforzato von Holzbläsern und Solobratsche über einem Quintentremolo der Bässe instrumentiert und kaum mehr tonal interpretierbar ist, bevor er sich in den »korrekten« Dominantakkord von a-Moll auflöst. Knappe Bläsersynkopen drücken die Erregung der Situation aus: Mimì ist todeskrank zu Rodolfo geflohen, sie will in der Kälte seiner Dachstube sterben, um da die Wärme der Liebe zu finden. In den Überlegungen, wie man Geld auftreiben könnte, um für die frierende Mimì einen warmen Muff zu besorgen, singt Colline ein etwas alleinstehendes Lied auf seinen alten Mantel, den er zu diesem Zweck verkaufen will. Puccini fängt die sonderbare Stelle musikalisch mit Akkordzitaten aus dem letzten Akt der Manon Lescaut ab, wie er gleich darauf Mimìs Solo »Sono andati« mit Klängen beginnt, die deutlich an die letzte Manon-Arie erinnern. Der merkwürdige Reflex auf die vorige Oper lässt sich nur als Versuch erklären, Mimìs Figur und Schicksal eben doch als Ergebnis leichtfertigen weiblichen Tändelns darzustellen – was zur Mimì der Oper wenig passt, wenn auch zur Mimì in der Vorlage des Henri Murger. Puccini ging da offenbar einiges im Kopf herum, und das waren anscheinend nicht nur kompositorische Probleme, sondern vor allem solche seiner eigenen männlichen Existenz, die (im Leben bewusst, im Kunstwerk wohl eher unterbewusst) eines sehr bestimmten Bildes von der Frau bedarf – eines so reizvollen wie Angst erzeugenden Bildes zugleich. DIET ER SCHICK LING
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Der bald danach eintretende Tod ist gleichsam beiläufig gestaltet: Mimì scheint einzuschlafen, was die Musik durch eine Deklamation auf gleicher Tonhöhe über sechs Takte nachvollzieht. Die Heldin stirbt also ohne große Geste, ganz unspektakulär, so wie der Tod wohl wirklich sein mag. Was La bohème an ihrem tränenseligen Schluss gerade noch vor dem Abgleiten in eine schlechte Sentimentalität bewahrt, ist eben diese wirklichkeitsnahe Beobachtung eines Sterbens: Es wird nicht in strahlender Kantilene der Sterbenden vorgeführt, sondern in einem fast unmerklichen Verlöschen der Stimme. Das Verfahren charakterisiert insgesamt die Technik des reifen Puccini, die eine Technik an der Schwelle des 20. Jahrhunderts ist. Hier sollen nicht mehr gesellschaftliche Theater-Ereignisse verhandelt werden, sondern Geschichten von real existierenden Menschen, gleich aus welcher Zeit. Seit längerem schon hat es Puccini wenig interessiert, was ein gewöhnliches Opernpublikum auf der Bühne zu sehen wünschte. Er kümmerte sich nur noch darum, was er selbst für interessant hielt. Deshalb hat er auf La bohème so viel Mühe verwandt, und deshalb hat er diesen Anspruch nie mehr verringert.
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Etwa um die Zeit, als Puccini Musettas Lied schrieb, verwendete er die gleiche Musik für die Gelegenheitskom- position des »Piccolo Valzer«; es ist nicht zu entscheiden, was hier die Henne ist und was das Ei. Siehe Mosco Carner, Puccini, 1981, S. 144 Siehe Norbert Christen, Giacomo Puccini, 1978, S. 38f
DIE OPER IM MUSIK A LISCHEN Ü BER BLICK
Thomas Chorherr
ROMANTIK DER ARMUT Der Anzug, verknittert und mit einem Riss am Ärmel, stammte aus einer Kostümleihanstalt. Der verbeulte Hut detto. Geschminkt wurde ich von einer Maskenbildnerin des Fernsehens. Geschminkt? Ich alterte unter ihren Händen, wirkte unrasiert – »three day stubble« sagt man auf Neudeutsch. DreiTage-Bart. Ich sollte aussehen wie – nein, nicht wie ein Sandler. Wie ein Bettler. Das war – vor wieviel Jahren eigentlich? Vor vielen. Ich war Lokalreporter der Presse und wollte dem Leben nachgehen. Dem echten, wahren Leben, so wie man es damals in der City an etlichen Ecken sah. Das Leben, wie es ein junger Journalist aufzuspüren hat. Ich wollte betteln gehen. Wollte wissen, wie es ist, auf der Straße zu sitzen, den Kopf zu senken und die Hand aufzuhalten. Ich wollte das tun, was Günter Wallraff, der berühmt-berüchtigte deutsche Undercover-Reporter, auch getan hat: unerkannt eine Tätigkeit ausüben, die umstritten ist oder gefährlich oder auch nur interessant. In Wien zu betteln, schien mir – nun, sagen wir: interessant. Armut vorzutäuschen schien mir eine Reportage wert sein. Ich saß dann vor einer Kirche in der Mariahilfer Straße und nachher vor einem Kaufhaus und wartete auf die Mildtätigkeit der Menschen. Und siehe, es zahlte sich aus. Es waren zwar nur Münzen, die ich sammeln konnte, und wenn Sie mich fragen, wieviel die »Losung« war, kann ich es nicht mehr sagen. Aber es war nicht wenig. Die Kameraleute des Fernsehens, die mein Bettelabenteuer insgeheim aufnahmen, und der Polizist, der sicherheitshalber vorher informiert worden war – sie alle waren erstaunt. Auch ich war verblüfft. Ist das Wienerherz wirklich golden? Wochen später erfuhren wir, dass sogar ausländische Zeitungen über das Abenteuer eines jungen Wiener Journalisten berichtet hatten. Eine spanische Gazette meinte sogar, es sei skurril, die Bettelei in ihrem Land zu rügen, da doch in Wien selbst Journalisten Almosen erbitten müssten, noch dazu am Straßenrand. Ob die Zeitung es ernst gemeint hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich – siehe oben – eine düstere Facette des Lebens ausreizen wollte. Ich wollte Armut vortäuschen. Ich war um der beabsichtigten Reportage willen frech. Ich wollte ein Abenteuer erleben. Die vorgetäuschT HOM AS CHOR HER R
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te Armut war für mich ein Erlebnis, in der Tat. Dass ich die echte, wahre Armut damit fast zum Scherz deklassierte, ist mir damals nicht in den Sinn gekommen. Es war für mich – ja, es war bis zu einem gewissen Grad romantisch, vor einer Kirche zu sitzen und zu betteln. Auch der Armut kann gelegentlich die Romantik innewohnen. Viele Male habe ich mich seither mit dieser Romantik der Armut beschäftigt, habe über sie nachgedacht, mich gefragt, warum so viele Dichter sie nicht nur negativ beschreiben, als Unglück. Warum so viele Schriftsteller und Poeten die Armut nicht nur als Unglück betrachten, als gottgewolltes Schicksal, aus dem man sich mit eigenen Kräften nicht herauswinden könne. Rodolfo und Marcel, Schaunard und Colline sind Figuren, die Henri Murger aus dem Pariser Leben gegriffen haben muss. Vie de bohème: Murger, zu dessen Szenen Giacomo Puccini seine Musik schrieb, hat noch nichts von den »Bobos« gewusst, die heute in den europäischen Großstädten wildern. Bobos, die »Bourgeois Bohèmiens«. Die modernen Jungen, die neue Elite, wie David Brooks in seinem Buch schreibt, der die Bobos gleichsam soziologisch untersuchte. Eine neue Subkultur seien sie, idealistisch lebend, dabei durchaus wohlhabend, nonkonformistisch, manche heruntergekommene Stadtviertel aufwertend. Bobos: Bohemiens, die bisweilen eine Armut vortäuschen, der sie nicht anhängen, weil Armut im Geiste hier nicht zählt. Gewollte Romantik ist es, nicht die echte Romantik der Armut. Nicht die fröhliche Armut, wie sie Karl Heinrich Waggerl beschreibt. Gewiss, er wusste, was es bedeutet, Hunger zu haben: »Der Armut kann ja jedes kleine Missgeschick zum unabwendbaren Verhängnis werden. In meinem vierten oder fünften Jahr etwa mussten wir die Heimat ganz verlassen und auf die Wanderschaft gehen. Die Schwester blieb bei Verwandten zurück und verdiente sich ihr Brot. Aber mich konnte niemand gebrauchen. Ich war weiter nichts als eine ständig wachsende Plage. Unstillbar gefräßig und gänzlich unnütz.« Ständig wachsende Plage? Und doch hat dieser selbe Waggerl sie nicht als Plage empfunden, diese Armut. Der Frohsinn ist ihm nie vergangen. Genauso, wie Peter Rosegger, der Waldbauernbub, trotz seiner Armut nicht Trübsal blies – ganz im Gegenteil. Mit den anderen Kindern des Dorfes wartete er am Straßenrand, wenn Pilgergruppen vorüberwanderten, deren Ziel Mariazell war. »Wir zogen unsere zerfahrensten Kleidchen an, und mit fliegenden Lumpen hüpften wir der Straße zu. Dort knieten wir nieder auf den Sand, aber so, dass wir auf unsere eigenen Fersen zu hocken kamen und wenn eine der Kreuzscharen nahte, so rissen wir die Hauben vom Kopf, stellte die selben als Gefäß vor uns hin und schlugen zuerst mit zagender, bald mit kecker Stimme zahlreiche Vaterunser los. Die Früchte blieben nicht aus. Männer schossen Kreuzer in unsere Hauben, Frauen warfen uns Brot und Kuchen zu, welche, wie die Spuren ihrer Zähne daran bewiesen, sie ihrem eigenen Munde entzogen hatten.« Die Lektüre verblüffte mich. Rosegger tat, 71
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was hundert Jahre später auch mir eingefallen war: verkleidet betteln. Gleichsam aus Spaß um Almosen bitten. Aus Spaß? Ich erinnere mich an den Sommer 1945. Der Bub, ins Salzburgische verbracht, stand mit Freunden vor einem von den amerikanischen Besatzern beschlagnahmten Gasthaus, ein Kochgeschirr in der Hand, und wartete auf die GIs, die beim Verlassen des Speisesaals uns die Essensreste in die Töpfe schaufelten. Romantik der Armut? Wir haben es damals nicht als Bettelei empfunden. Freilich auch nicht als romantisch. Wir hatten Hunger gehabt. Waren wir arm? Damals gewiss, jedenfalls nach den Indikatoren der International Development Association. Sie klassifiziert die absolute Armut heute nach Pro-Kopf-Einkommen. Wer nicht mehr als 150,– US-Dollar verdient, ist arm. Doch halt: stimmt es, was die IDA als genügende Nahrung klassifiziert? Absolut arm ist, wer weniger als 2160 bis 2670 Kalorien täglich zu sich nimmt. Dass ich nicht lache! Noch bis in die späten vierziger Jahre betrug unsere tägliche Kalorienzahl, nach der Lebensmittelrationierung berechnet, kaum 2000. Haben wir, die damals das Gymnasium besuchten, dies als »absolute Armut« empfunden? Wenn ja, dann war es eine romantische. Die Mädchen, die wir in der Tanzschule verehrten, waren genauso arm wie wir. Deswegen scheint mir kein abwegiger Gegensatz zwischen Romantik und Armut zu bestehen. Ja, es gibt eine »Culture of Poverty«. Gewiss, in der sogenannten Maslow’schen Bedürfnispyramide scheinen die körperlichen Bedürfnisse gewissermaßen die Basis, gefolgt von Sicherheit und sozialen Beziehungen. Die Spitze bilden »soziale Anerkennung« und schließlich »Selbstverwirklichung«. Mit anderen Worten: Bert Brecht hatte recht, als er meinte: »Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« Und doch hat Rilke die Armut als »großen Glanz aus Innen« bezeichnet. Und der Franziskaner Jakopone da Todi dichtete: »(...) Edle Armuth, hehres Wissen, Keinem Dinge dienen müssen, Mit Verachtung Alles missen, Was geschaffen in der Zeit. (...)Wer noch wünscht ist Knecht der Habe, Ist verkauft um liebe Gabe; Wer da denkt, dass er sie habe, Der hat doch nur Eitelkeit, Gott kommt nicht zum Herz gegangen, Das im Ird’schen eng befangen; Armuth so groß umfangen, Daß sie Raum der Gottheit beut.« Bobos und Romantik? Romantische Bohemiens? Vier Freunde, die in einer Pariser Dachwohnung hausen, verheizen ein Manuskript, um nicht frieren T HOM AS CHOR HER R
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zu müssen, und sind trotzdem heiter, bis Mimìs Schicksal sie alle trifft. Die Biedermeier-Maler haben es verstanden, auch die Armut so auszudrücken, dass sie mehr Bewunderung als Mitleid erregt. Aber die Mietskasernen? Die Bassena als Gesprächszentrum, das Klo am Gang? Die »Bettgeher«, jene Menschen, die als Untermieter schichtweise dieselbe Schlafstatt benützen, einer am Tag, der andere in der Nacht? Die Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnungen, die ärmlichen Hütten auf dem Lande, die angeblich, nur angeblich jedem Paar Platz bieten, wenn es nur glücklich ist? Das ist Armut ohne Romantik, ganz bestimmt. Und Armut heißt auch eines der bekanntesten Stücke von Anton Wildgans. Eine bitterarme Familie weiß nicht, woher sie das Geld zur Linderung der Krankheit des Vaters nehmen soll. Die Tochter wäre sogar bereit, sich einem reichen Untermieter hinzugeben. Es kommt nicht dazu. Der Vater stirbt. Vorhang! Wildgans hat Armut geschildert, wie er sie sah, ganz ohne Romantik. Andere Poeten sahen es anders. Ferdinand Raimund lässt in jedem seiner Stücke einen Armen auftreten, der freilich am Ende reich wird. Romantik pur ist der Gesang der Köhlerfamilie (Vater wohlgemerkt Alkoholiker), die auf Befehl des reichen Rappelkopf ihre Hütte räumen muss: »So leb’ denn wohl, du stilles Haus, wir zieh’n betrübt aus dir hinaus.« Am Ende bleiben sie natürlich nicht obdachlos, weil der Alpenkönig den Menschenfeind psychisch geheilt hat – klinischer Fall einer überstandenen Schizophrenie. Im Verschwender wieder singt ein Bettler, während die Gäste des Herrn von Flottwell lachend tafeln: »Oh lasst mich nicht vergebens klagen, seid nicht zu stolz auf eure Pracht! Ich sprach wie ihr in gold’nen Tagen, drum straft mich jetzt des Kummers Macht.« Aber der Bettler ist natürlich eine Allegorie, Verschwender Flottwell bekommt seinen Reichtum zurück und der Tischler Valentin, samt zahlreicher Familie, singt am Ende: »Die Küh’ treiben die Sennerinnen just von der Alm, Genügsamkeit bleibt doch die köstlichste Salm. Der Reiche liegt schlaflos im goldenen Saal, doch kummerlos schlummert die Kuh in dem Stall.« Romantik der Armut? Der Reiche liegt bei den Biedermeier-Dichtern wirklich schlaflos: Die Bösen, die sich an fremdem Gut, und sei es nur fremden Gedanken und Ideen, vergangen haben, werden im Zeitalter romantischer Bedürfnislosigkeit bestraft, ob bei Raimund, Nestroy oder auch bei Wilhelm Kienzl und seinem Evangelimann. Dass die Statistik von heute der Romantik von damals einen dicken Strich durch die Rechnung macht, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Rund 1,5 Millionen Österreicherinnen und Österreicher haben pro Monat weniger als 1.300,– Euro, die Armutsgefährdungsschwelle. Hier auch nur eine Spur von Romantik zu suchen, fällt selbst dem Journalisten schwer. Er hat nach dem improvisierten Bittgang das Bettelgewand ausgezogen. Aber in den allermeisten Fällen fehlt das Happy End. Murgers und Puccinis Bohemiens brechen am Ende in Tränen aus. Bobos tun das nicht.
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Andreas Láng
DIE TUBERKULOSE Oder die »Arme Leute« - Krankheit
»Mimì ist sehr krank. Es geht ihr täglich schlechter. Die arme Kleine ist verloren. Ein schrecklicher Husten quält sie. Mein Zimmer ist eine kalte Höhle. Sie ist eine Blume, verblüht durch die Armut. Liebe macht sie nicht gesund.« Rodolfo, La bohème, 3. Bild
Mimì, die so sympathische weibliche Hauptfigur, starb offenkundig an ihr. Heute gilt sie, zumindest in unseren Breiten, weitgehend als besiegt, respektive heilbar: die Tuberkulose, kurz auch TBC genannt. Wann genau dieses Leiden, das unterschiedlichste Organe befallen kann, in Mitteleuropa heimisch geworden ist, lässt sich derzeit nur schwer feststellen – entsprechende Funde aus dem Neolithikum belegen eine zumindest jahrtausende lange Existenz. Sicher ist, dass die durch das Mycobakterium tuberculosis hervorgerufene hoch ansteckende Krankheit im 19. Jahrhundert, also zur Handlungszeit von La bohème, in den europäischen Großstädten wie Paris, London oder Wien gelegentlich in bis zu 27 Prozent aller Todesfällen als Ursache auszumachen war. Mit anderen Worten: Mehr als ein Viertel der Menschen starb zu jener Zeit an der Tuberkulose, wobei die Mortalität je nach Gesellschaftsschicht und Alter schwankte – Armut und Elend förderten bekanntlich 74
→ Die Sanitätskommission untersucht im Jahre 1884 eine Elendswohnung in Wien
die Ausbreitung. So war die Todesursache im Jahr der Bohème-Uraufführung, also 1896, in Wien bei rund 66,6 Prozent der Buchbinder, 67,7 Prozent der Drechsler und 75 Prozent der Kamm- und Fächermacher die Tuberkulose. Eine mehr oder weniger zielführende Behandlung erfuhren ohnehin nur die reicheren Patienten, die meisten erhielten keine Behandlung und keinerlei finanzielle oder materielle Unterstützung, wodurch die Ausbreitung der Krankheit indirekt unterstützt wurde. In den häufigsten Fällen erfolgt die Infektion durch Inhalation in die Luftwege, die Inkubationszeit beträgt vier bis sechs Wochen. So romantisch die Liebe zwischen Mimì und Rodolfo also auch dargestellt wird, die Gefahr für Rodolfo, sich ebenfalls mit der so oft tödlichen Krankheit anzustecken, war ebenso groß wie jene der Ansteckung aller anderen Personen im Umkreis der armen Näherin. 75
Sie starb in der letzten Stunde der Nacht, bevor es Morgen wurde. Sie starb schwer und qualvoll, und niemand konnte ihr helfen. Sie hielt meine Hand fest, aber sie wusste nicht mehr, dass ich bei ihr war. Irgendwann sagte jemand: »Sie ist tot…« »Nein«, erwiderte ich, »sie ist noch nicht tot. Sie hält meine Hand noch fest…«
Licht. Unerträgliches, grelles Licht. Menschen. Der Arzt. Ich öffnete langsam meine Hand. Pats Hand fiel herunter. Blut. Ein verzerrtes, ersticktes Gesicht. Qualvolle, starre Augen. Braunes, seidiges Haar. »Pat«, sagte ich. »Pat!« Und zum ersten Male antwortete sie mir nicht.
Erich Maria Remarque → Drei Kameraden
Peter Dusek
STERBENDE FRAUEN IN DER OPER
»Hier steh ich – treu dir bis zum Tod!«
Es gibt kaum eine andere Szene, die so zu Herzen geht wie der stille Tod von Mimì in Puccinis Bohème: sie scheint zu schlafen, doch da fällt die Hand mit dem neuen Muff zur Seite. Rodolfo zieht die Vorhänge zu, Marcello bemerkt, dass Mimì nicht mehr atmet, und in die Stille ruft er dem Freund zu: »Coraggio! – Sei mutig!« Dessen finaler Aufschrei »Mimì« hat schon Tausende Opernfreundinnen und -freunde zu Tränen gerührt und Marcel Prawy hat das Ende der Bohème gar mit Isoldes Liebestod verglichen. Dabei ist dieses schlichte Sterben gar nicht typisch für den Umgang der Komponisten mit ihren Heldinnen auf der Opernbühne. Denn meistens wird sehr theatralisch gestorben. Etwa bei Verdis Traviata, die ebenso wie die Näherin Mimì an der Schwindsucht zu Grunde geht. In einem letzten Moment der trügerischen Hoffnung hält Violetta die vollständige Genesung für möglich, plant mit ihrem wiedergefundenen Alfredo eine Rückkehr zu Glück und Geborgenheit und stürzt in einem Moment zu Tode, an dem sie dem ewigen Leben nahe zu kommen scheint; das letzte Aufflackern der Liebe als letzter »Höhenflug« – es soll dieses Phänomen im realen Leben tatsächlich geben. Aber im Regelfall sind es weder Krankheit noch Altersschwäche, die auf der Opernbühne zum Tod der Helden oder Heldinnen führen. Eifersucht und Rache, Mord und Selbstmord, Intrige und maßloser Ehrgeiz oder Wahnsinn – sie sind die Charaktereigenschaften, die jede zweite Oper zu einer Tragödie werden lassen. Und eines gleich vorweg: In der Oper sind die tragischen Heldinnen so zahlreich wie ihre männlichen Gegenspieler. Nur in punkto Motiven-Zuordnung für die tödliche Kulmination ergeben sich erhebliche geschlechtsspezifische Unterschiede. Frauen sind etwa sehr oft Opfer von übersteigerter Eifersucht, die gar nicht so selten von der unerhörten Konkurrentin geschürt wird, oder sie agieren als »Erlöserin« für sündige Helden!
Eifersucht, vorwiegend männlich... Das klassische Beispiel ist Desdemona in Verdis Otello: Jago nützt die Minderwertigkeitskomplexe des Feldherrn und erzeugt ein Klima der Verdächtigung und des Misstrauens, das mit Hilfe des berühmten Taschentuchs zur »Explosion« führt. Otello erwürgt – wie in der Shakespeare-Vorlage – seine engelhaft schöne Gattin, begeht anschließend Selbstmord und muss zuvor noch erfahren, dass er seine junge Ehefrau völlig zu Unrecht der Untreue bezichtigt hat. Und Jago: Er fühlt sich durch das Avancement von Otello übergangen, ist offenbar vom erotischen Flair Desdemonas fasziniert und hat einen Zug zum Intriganten, zum »Durcheinanderbringer«, was wörtlich die Übersetzung von Diabollein ist. Und aus dem griechischen Diabolos leitet sich bekanntlich der Begriff »Teufel« ab. Ganz anders verhält es sich bei Wozzeck und seiner Marie: Hier wird von Alban Berg beziehungsweise Büchner eine Tragödie von sozialen »Outsi 79
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dern« geschildert. Der verarmte Soldat Wozzeck muss mit ansehen, dass die Mutter seines Kindes ein Verhältnis mit einem Offizier seiner Militäreinheit hat. Auf Mord folgt Selbstmord – und ein ahnungsloses Kind hüpft einer nicht weniger trostlosen Zukunft entgegen. Der gehörnte Ehemann Canio in Leoncavallos Bajazzo ersticht während einer Vorführung der Commedia dell’arte seine treulose Ehefrau Nedda und ihren Liebhaber Silvio – und warum: weil der verkrüppelte Tonio bei Nedda nicht zum Zug kam: also Eifersucht zum Quadrat und wieder ein kleines Stück Freiheits-Hoffnung weniger, wie es in Neddas Vogellied vorgetragen wurde. Die Eifersucht des eigenen Bruders führt zum tragischen Ende von Verdis La forza del destino: Leonora und Alvaro sind sich jahrelang nicht mehr begegnet und treffen eher zufällig in einer Eremiten-Zelle eines Klosters aufeinander. Doch die späte Wiederbegegnung dauert nicht lange. Sterbend tötet Don Carlos di Varga seine Schwester Leonora und lässt einen gebrochenen Indianer-Prinzen und einen Pater Guardiano zurück, der im Glauben einen Ausweg aus der Trostlosigkeit des Seins beschwört. Warum wird Carmen in der gleichnamigen Bizet-Oper von Don José erstochen? Vor die Alternative gestellt: Freiheit und Tod oder Verzicht auf den neuen Toreador zögert sie keinen Moment. Carmen sucht geradezu die tödliche Umarmung jenes Mannes, dessen Liebe sie einst mit ihrer Habanera entzündet hatte.
Mord und Selbstmord Oper steht für die ganz großen Gefühle und Emotionen: und es gibt sie tatsächlich – jene Stücke, die mit Mord und Selbstmord oder wahrlich »opernhaft« als Quasi-Katastrophe enden. Da ist beispielsweise die Kolcher-Prinzessin Medea, durch die Jason das goldene Vließ erkämpfte. Nun hat er sie für eine jüngere – Glauce/Kreusa – verlassen und will ihr auch ihre zwei Kinder wegnehmen. Doch die mit magischen Kräften ausgestattete Medea kämpft, winselt, weint und droht. Und am Ende sterben Glauce, die Kinder und sie selbst. Und wenn man Sängerinnen für die Cherubini-Oper hat oder die Aribert Reimann-Version spielt, dann hat man Beispiele für das Sterben von Frauen in der Oper, die an tragischer Abgründigkeit nicht überboten werden können. Ein Fast-Medea-Schicksal bahnt sich in Bellinis Norma an: wieder wird die ältere Druidenpriesterin Norma vom Vater ihrer Kinder wegen einer jüngeren Frau verlassen und gedemütigt. Norma will sich rächen, die Kinder umbringen und kündigt die Enthüllung einer unfassbaren Missetat an: Doch zuletzt klagt sie sich selber an, geht mit Pollione auf den Scheiterhaufen, übergibt die Kinder an die Rivalin und an den Vater und die beiden finden sich in der Stunde des Feuertodes: »Dort beginnt eine neue, heilige Liebe!« PET ER DUSEK
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Und in diese Kategorie gehören noch einige zentrale Werke der Opernliteratur: Elektra von Richard Strauss – nach Sophokles und Hofmannsthal: Sie beginnt über den Rache-Mord ihres Bruders an der eigenen Mutter einen fanatischen »Siegestanz«, bei dem sie am Ende leblos zusammenbricht. Lulu von Alban Berg/Frank Wedekind ist die Inkarnation der Kindfrau, die von einer Mörderin aus Verzweiflung zum Opfer von Jack the Ripper wird. Mit einem grauenhaften Schrei endet die von Friedrich Cerha vollendete BergOper. Prinzessin Salome lässt Johannes den Täufer köpfen, um seinen Mund küssen zu können. Und Strauss-Wilde lassen darauf die lüstern-unschuldige Tochter der Herodias von den Schilden der römischen Wachen erschlagen. Ihre mörderische jungfräuliche Begehrlichkeit ist sogar einem Herodes zu viel. Dabei steht der Zuhörer emotional im Regelfall ganz auf Seiten dieser singenden Mörderinnen, denen zumeist auch vokal das Letzte abverlangt wird. Und das gilt erst recht für die wohl populärste Opern-Mörderin: Tosca, gefeierte Diva in Rom um 1800, wird von Baron Scarpia nach Puccini-Klängen umworben. Dieser bigotte Lüstling wird erst heiß, wenn er Widerstand brechen muss. Und Tosca wehrt sich gegen sein Werben, seine Folter-Methoden und seine Sbirren. Als letzter Ausweg erdolcht sie den Polizei-Chef, will mit ihrem Geliebten, dem Maler Cavaradossi, aus der Engelsburg fliehen; doch Scarpia hat ihr eine letzte Falle gestellt: die Scheinerschießung von Cavaradossi ist nur vorgetäuscht und nun wird auch der Mord Toscas an Scarpia entdeckt: Da stürzt sich die Diva von der Engelsburg mit dem Satz »Oh Scarpia – Avanti a dio – Vor Gott sehen wir uns wieder!« Und Generationen von Opernbesucherinnen und -besucher haben ihr nicht nur verziehen, sondern einen unvergleichlichen Opernabend genossen, in dem menschliche Abgründe erlebbar sind, in die wir im realen Leben im Regelfall doch nicht geraten.
Machtgelüste Aber es gibt sie doch auch: die wirklich bösen Frauen, die aus Machtlust morden und dann im Irrsinn enden oder in der Einsamkeit ihrer Position: Lady Macbeth in Verdis Macbeth ist so ein Beispiel – ihr Mann ist nur ein Getriebener, alle verbrecherischen Initiativen gehen von ihr aus; und doch, wenn sie in ihrer ersten Arie (samt Stretta) aller Menschlichkeit abschwört, dann hat man auch für diese irregeleitete Karriere-Frau ein gewisses Verständnis. Und immerhin: sie büßt ja schon bei Shakespeare ihr Tun mit Wahnsinn und dem vergeblichen Händewaschen, um die Blutspuren zu tilgen... Ähnliches gilt auch für Katerina Ismailowa in der Schostakowitsch-Oper, die ja in der Erstversion Lady Macbeth von Mzensk heißt; oder für Maria Stuarda in der Donizetti-Oper und für Ortrud in Wagners Lohengrin. 81
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Todesangst und Wahnsinn Sehr groß ist auch die Kategorie: Sterben von Frauen im Wahnsinn: Ophelia, von Hamlet zurückgewiesen, endet im Wasser, Lisa stürzt sich in Tschaikowskis Pique Dame in die Newa. Lucia di Lammermoor verliert ihren Verstand, als ihr geliebter Edgardo bei der Hochzeit mit Ashton auftaucht und sie die Intrige ihres Bruders durchschaut; die Flötenarie mit anschließender Cabaletta gehört wohl zum Ergreifendsten, was zum Thema »Sterbende Frauen« je komponiert wurde. Julia greift zum Dolch als sie erkennt, dass Romeo Gift genommen hat, Leonora in Verdis Trovatore schluckt Gift, um die Treue zu bewahren, und Marguerite in Faust verstößt in Panik den Teufel alias Mephisto und stirbt vor dem Richterspruch: Gerettet! Ein besonders eindrucksvolles Beispiel von angsterfülltem Sterben findet man in den Dialogues des Carmélites von Francis Poulenc. Die Priorin, die ein mutiges Leben hinter sich hat, übernimmt die Todesängste und Schwächezustände, wie sie für die kleine Blanche offenbar bestimmt waren – das Theaterstück von Georges Bernanos heißt deshalb auch Die begnadete Angst.
Liebestod und Erlösung Die größte Gruppe unter den ständig gespielten Opern betrifft aber den Kontext: Erlösung bis hin zum Liebestod. Hierher gehört Gilda in Verdis Rigoletto, die sich für den schamlosen Herzog opfert und bei Nacht und heftigem Gewitter in die Spelunke von Sparafucile geht, um die vom Vater erkaufte Ermordung ihres Verführers zu verhindern; Aida lässt sich mit Radames in der Grabkammer zu Verdis Partitur einmauern, um mit ihrem Geliebten einen leibhaftigen Liebestod erleben zu können. Liù bringt sich um, damit Prinz Calaf seine Turandot bekommen kann, und die chinesische Prinzessin lernt so – zu Puccinis Melodienreichtum – zum ersten Mal die Liebe kennen... Mit dem Thema »Erlösung durch die Frauen« setzt sich ganz besonders Richard Wagner auseinander: Elisabeth opfert sich für Tannhäuser auf und stirbt, als er nicht mit den Pilgern zurückkehrt, Brünnhilde setzt im Ring des Nibelungen in der abschließenden Götterdämmerung die Welt in Brand und gibt den Ring den Rheintöchtern zurück; Isolde stirbt ihren geradezu zu Redensart stilisierten Wagner-Liebestod für Tristan, und Senta erlöst durch einen Sprung ins Meer den Fliegenden Holländer, der bis dahin vergeblich darauf gewartet hat, dass ihm eine Frau ewig treu bleibe! »Hier steh ich treu Dir bis zum Tod«! Und dann folgt Verklärung und Erhöhung! Wohl eine echte Männer-Phantasie... Und doch: Marcel Prawy hat wohl recht, wenn er das Sterben der kleinen Näherin Mimì mit all diesen Heroinen gleichsetzt, PET ER DUSEK
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die die Opernbühne bevölkern, unser Mitleid erregen und uns doch selten zum Weinen bringen. Puccinis Bohème tut es wohl immer!
→ KS Anna Netrebko als Mimì
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Andreas Láng
LA BOHÈME AN DER WIENER STAATSOPER In Wien, jener Stadt, von der Puccini einst behauptet hatte, sie als alternative Heimat zu Torre del Lago oder Viareggio zu empfinden, fand die Bohème ebenso schnell wie in Italien ihr Publikum. Vielleicht nicht gleich das passende Theater, denn an der Hofoper wehrte man sich mit Händen und Füßen dagegen, Puccinis Werken Einlass zu gewähren. Und so darf sich das Theater an der Wien mit der Feder schmücken, La bohème als erste Bühne der damaligen Kaiserstadt bereits ein Jahr nach der Uraufführung herausgebracht zu haben. Doch der Erfolg zwang Gustav Mahler geradezu, die Bohème gegen seinen Willen an die Hofoper zu übernehmen. Am 25. November 1903 war es dann so weit. Unter der musikalischen Leitung des damaligen Spezialisten für das italienische Fach an der Hofoper – Francesco Spetrino – und in den Dekorationen Anton Brioschis eroberte La bohème als erste Oper Puccinis das Haus am Ring, um es seither nie wieder zu verlassen. Prominente Sängerinnen und Sänger der Jahrhundertwende wie Selma Kurz (Mimì), Marie Gutheil-Schoder (Musetta), Fritz Schrödter (Rodolfo), Gerhard Stehmann (Marcello) oder Richard Mayr (Colline) standen für dieses erfolgreiche Debüt zur Verfügung. Für Puccini ging damit ein Traum in Erfüllung, zumal er von der Hofoper zur Premiere eingeladen wurde. Doch so sehr ihn diese Einladung freute, er schlug sie – inmitten der A N DR EAS LÁ NG
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Arbeit an seiner Madama Butterfly – aus, was insofern ungewöhnlich war, als Puccini nach Möglichkeit bei wichtigen Aufführungen seiner Werke stets anwesend zu sein versuchte. Die Inszenierung dieser ersten Bohème im Haus am Ring, vielmehr das szenische Arrangement, denn über ein solches ging die Regie am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht hinaus, stammte vom heute praktisch unbekannten August Stoll. Immerhin kannte dieser Paris, den Schauplatz der Handlung, von einem nicht lange zurück liegenden Besuch, was ihm und Brioschi erleichterte, die angestrebte illusionistische, naturgetreue Darstellung der Geschichte auf die Bühne zu stellen. Architektonisch war der Einfluss des Jugendstils deutlich auszumachen, vor allem im Anteil des Vegetativen. Eine Personenführung im heutigen Sinn fand nicht statt, das klischeehafte Rampensingen dominierte. Insgesamt billigten die Feuilletonisten der Inszenierung Zauber und Atmosphäre zu, empfanden sie jedoch streckenweise als zu dunkel und die Kostüme als zu düster. Mit der Direktion Hans Gregors zog ab 1911 auch hinsichtlich der Inszenierungen ein neuer Stil im Haus am Ring ein. Gregor war ein Verfechter der Bewegungsregie: Das Schauspielerische sollte im Vordergrund stehen – was ihm den Vorwurf der Unmusikalität einbrachte, auch und gerade bei den Puccini-Inszenierungen. In seiner Bohème-Neuproduktion vom 4. Oktober 1912 wurde ihm übel genommen, dass durch die ständige Bewegung und Unruhe auf der Bühne, durch das Massenaufgebot an Statisten, die andauernd wechselnde Beleuchtung das Musikalische zu sehr in den Hintergrund gedrängt worden sei. Gregor fühlte sich dem Realismus so sehr verbunden, dass bei ihm lebende Esel und Pferde ebenso zum Einsatz kamen wie ein tatsächlich brennendes Feuer im 1. Bild. Unter Antonio Guarnieri sangen damals abermals Selma Kurz die Mimì, Alfred Piccaver den Rodolfo, Berta Kiurina die Musetta. Die nächste Bohème-Neuproduktion folgte 1938 – die letzte Puccini-Inszenierung vor dem Zweiten Weltkrieg. Gemeinsam mit Robert Kautsky schuf der ungarische Regisseur Kolomán von Nádasdy eine stark romantisierende, etwas geschmäcklerische Umsetzung der Oper, die die inzwischen anerkannte Bewegungsregie von Gregor wieder zurücknahm. Dirigent dieser Premiere war Wilhelm Loibner, die Sängerinnen und Sänger der Hauptpartien hießen Esther Réthy (Mimì), Todor Mazaroff (Rodolfo), Alexander Svéd (Marcello), Else Schulz (Musetta), Herbert Alsen (Colline). Nach dem Zweiten Weltkrieg übersiedelte die Produktion aus der zerstörten Staatsoper in das Volksoperngebäude beziehungsweise ans Theater an der Wien, um im Theater an der Wien 1952 von einer impressionistisch angehauchten Inszenierung Josef Gielens abgelöst zu werden. Am Pult dieser Premierenproduktion stand Clemens Krauss, es sangen Sena Jurinac (Mimì), Wilma Lipp (Musetta), Karl Terkal (Rodolfo), Walter Berry (Schaunard). Diese Inszenierung wurde dann ihrerseits nach der Eröffnung der wiederhergestellten Staatsoper an das Haus am Ring übernommen. 85
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Die Premiere der wahrscheinlich bislang besten und zugleich letzten und nach wie vor gespielten Bohème-Produktion an der Staatsoper (eine Übernahme aus der Mailänder Scala) fand am 9. November 1963 statt und sorgte für einen der größten Opern-Skandale in der Zweiten Republik. Er entzündete sich an der Person des Souffleurs. Die italienischen Sänger, die gewohnt waren, im Souffleurkasten einen Maestro Suggeritore, also eine Art soufflierenden Subdirigenten vorzufinden, hatten diesen auch für ihre Auftritte an der Wiener Oper eingefordert. Der damalige Direktor und gleichzeitig musikalische Leiter der Neuproduktion, Herbert von Karajan, bewilligte das Engagement eines solchen Maestro Suggeritore, der Betriebsrat nicht. Da sich die beiden Fronten immer mehr verhärteten, kam es am 7. November 1963 schließlich zum Eklat: Das bereits erschiene Premierenpublikum musste wieder heimgeschickt, die Premiere der Bohème um zwei Tage verschoben werden. Dem Jubel des Publikums für die Leistungen von Herbert von Karajan (Dirigent), Franco Zeffirelli (Regie und Bühnenbild), Gianni Raimondi (Rodolfo), Mirella Freni (Mimì), Giuseppe Taddei (Schaunard), Rolando Panerai (Marcello) oder Hilde Güden (Musetta) tat dies keinen Abbruch – bis 2021 hat die Produktion rund 450 Aufführungen erlebt.
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Igor Strawinski
»Puccinis Genie der Sentimentalität ist in La bohème so vollkommen der dramatischen Substanz angepasst und so prächtig, dass sogar ich, wenn es mir gelingt, eine Karte zu bekommen, das Theater mit dem Lied meiner verlorenen Unschuld auf den Lippen verlasse.«
Oliver Láng
PUCCINI UND DIE WIENER OPER »Wenn ich jemals von Torre del Lago oder Viareggio fortzöge, müsste meine Heimat in Wien sein«, so notierte Giacomo Puccini einst voller Begeisterung über diese Stadt. Und doch: sein Weg an die Wiener Hofoper war lang. Bis 1903 dauerte es, bis endlich ein erstes Werk – La bohème – im Haus am Ring erklang, zu diesem Zeitpunkt war Puccini ein anerkannter Komponist und seine Opern wurden bereits auf der ganzen Welt aufgeführt. 1903 also: Mit La bohème startete die Wier Oper in ihr Puccini-Zeitalter, das, ebenso wie die Erstlingsproduktion, rasch prosperierte. Man spielte die Erstaufführung in prominenter Besetzung und malerischer Dekoration (siehe Seite 84), allein im ersten Jahrzehnt kam die Bohème auf 120 Vorstellungen. Der Komponist selbst war bei der Premiere – obgleich eingeladen – nicht anwesend: die Arbeit an der Butterfly hatte Vorrang. Das zweite Werk Puccinis, das die Hofoper auf den Spielplan setzte, war Madama Butterfly. Zwar hatte der Musikverlag Ricordi Berlin als deutschen Erstaufführungsort vorgezogen, doch immerhin konnte die Hofoper mit der Premiere am 31. Oktober 1907 endlich auf ihre erste österreichische PucciniErstaufführung verweisen. Wieder erfolgte eine Einladung der Hofoper, geschrieben am 17. Oktober 1907: Hochgeehrter Herr Puccini! Auf Ihre an Kapellmeister Spetrino gerichtete Anfrage beehre ich mich mitzuteilen, dass die Erstaufführung Ihrer Oper Madama Butterfly für den 30. Oktober in Aussicht genommen ist. Die Generalprobe findet am 28. Oktober statt. In der Woche vom 21. Oktober an werden die Orchesterproben abgehalten. Ich wäre sehr erfreut, wenn Sie den letzten Proben Ihres Werkes beiwohnen könnten. (...)
Diesmal reiste der Komponist an, vom 24. Oktober an residierte er im Bristol, jenem Hotel, in dem er auch bei allen seinen künftigen Wien-Besuchen wohnen sollte, und war bei den Proben anwesend. Doch seine Begeisterung über die Wiener Produktion fiel lauwarm aus. Die Sänger sagten dem KomponisOLI V ER LÁ NG
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→ Grußkarte Puccinis an Lili Schalk
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ten nicht so recht zu, die Natürlichkeit, die er für Butterfly einforderte, ging ihm ab. Die in Wien umschwärmte Selma Kurz beschrieb er als »nicht sehr intelligent, aber ganz gut.« Die szenische Umsetzung hingegen – Regie: Wilhelm von Wymetal, Ausstattungs-Entwurf: Alfred Roller, Ausführung: Anton Brioschi – schätzte er. Ein beglückter Brief vom 1. November: »Es war ein glänzender Erfolg – zehn Vorhänge nach dem ersten, fünfzehn nach dem zweiten und fünfzehn bis zwanzig nach dem dritten – obwohl die Frau schwach und der Tenor wenig wert war. Aber es war die Oper selbst, die die Menschen begeisterte – ich bin einfach erfreut darüber.« 1909 ging ein Brief aus der Hofoper an den Verleger Albert Ahn nach Köln, in dem sich der damals amtierende Staatsoperndirektor Felix von Weingartner – ganz allgemein gehalten – nach einer »neuen Oper« von Puccini erkundigte. »Sie würden mich sehr verpflichten, wenn Sie sich so weit mit ihm in Verbindung setzen sollten, dass er das Erstaufführungsrecht Wien, wenn möglich das deutsche Uraufführungsrecht der Hofoper überlässt.« Es sollte Fanciulla del West werden – und wenn auch nicht das »deutsche Uraufführungsrecht«, so doch die österreichische Erstaufführung. Zuvor allerdings kam noch die Tosca zum Zug, freilich um Jahre verspätet, war sie doch bereits 1907 in der Volksoper zu erleben gewesen. Am 26. Jänner 1910 stand sie in Abwesenheit des Komponisten zum ersten Mal auf dem Spielplan der Hofoper. Sie erhielt schlechte Kritiken, doch der Publikumserfolg war beachtlich. Zunächst gehörte die Oper zwar noch nicht zu den ganz großen Zugstücken, doch wurde sie ab der Neueinstudierung am 10. Jänner 1920 zum absoluten Publikumsrenner. Inzwischen waren die Verhandlungen bezüglich Fanciulla gediehen, und obgleich sich der nun amtierende Operndirektor Hans Gregor zögernd zeigte (weil er nicht an das Werk glaubte und abwarten wollte), wurde schließlich ein Vertrag abgeschlossen. Die österreichische Zensur erteilte am 25. Juni 1913 ihre Bewilligung und verlangt keinerlei Änderungen, ebenso die Generalintendanz der k.k. Hoftheater am folgenden Tag. Eine Woche zuvor war ein Kostenvoranschlag erstellt worden: Die Ausstattung machte eine Summe von 21.950 Kronen aus, dazu kamen später noch rund 5.500 Kronen für allerlei weitere technische Aufwände wie eine Windmaschine – in heutige Kaufkraft umgerechnet etwas über 125.000 Euro gesamt. Auch diesmal war Puccini in Wien und nahm mit größtem Engagement an den Proben teil, was durchaus zu Spannungen im Ensemble führte. »Die PUCCIN I U N D DIE W IEN ER OPER
Oper wurde von Hofoperndirektor Gregor inszeniert und es hatten bereits massenhaft Proben stattgefunden, als Puccini in Wien eingetroffen war. Nun muss man wissen, dass Puccini ein glänzender Regisseur war, den niemand zufriedenzustellen vermochte. So warf er denn auch damals alles über den Haufen und studierte sozusagen ganz von Neuem. Das irritierte die Hauptdarstellerin, die inzwischen zu internationaler Berühmtheit gelangte Marie Jeritza und unseren glänzenden Tenor Alfred Piccaver, die beide bereits so wütend waren, dass sie mit Streik drohten« erinnerte sich Richard Specht in seiner Puccini-Biografie über die Premieren-Vorbereitungen. Und Jeritza dazu: »Er ging die Musik Schritt für Schritt, Takt für Takt mit mir durch, hat mich geformt. Manchmal machte er mich so wütend, dass ich am liebsten geweint hätte. ›Jeritza‹, pflegte er zu sagen, ›wenn ich dich einmal um drei Uhr früh wecke und verlange, dass du ein hohes C singst, dann wirst du ein hohes C singen.‹« Schließlich sank sie, wie das Fremdenblatt berichtete, bei der Hauptprobe vor Erschöpfung und Anspannung in Ohnmacht – doch alle Konflikte konnten beigelegt werden, am 24. Oktober 1913 kam es endlich zur umjubelten Premiere. Bei diesem Wien-Besuch Puccinis wurde auch der Kontakt mit dem Kritiker Julius Korngold wieder aufgefrischt, mit dem Wunderkind Erich Wolfgang Korngold musizierte Puccini sogar gemeinsam. »In der Wiedergabe seiner Musik am Flügel überraschte er mich durch hartnäckige Bevorzugung zu langsamer Zeitmaße vor zu schnellen. ... Als ihm Erich die Indianermelodie aus dem Mädchen aus dem Goldenen Westen vorspielte, setzte er sich sofort hin, um sie korrigierend fast um die Hälfte breiter zu nehmen, sang auch dazu mit einer heiseren Komponisten- nein, Vorbeterstimme«, notierte Julius Korngold dazu. Nur ein Jahr darauf, knapp vor dem Ersten Weltkrieg, der auch die musikalischen Welten trennte, wurde Giacomo Puccini schließlich von Kaiser Franz Joseph am 2. April 1914 das Komturkreuz des Franz Joseph-Ordens mit dem Stern verliehen. Die nächste wichtige Station war das Jahr 1920, als das Trittico – also die Opern Il tabarro, Suor Angelica und Gianni Schicchi – neu herausgebracht wurden. Puccinis Verhältnis zu dem damals amtierenden Staatsopern-Direktor Franz Schalk und dessen Ehefrau Lily war ein gutes, wie zahlreiche auch persönlich gehaltene Briefe bezeugen. Es folgte ein längerer – übrigens von der Staatsoper mitbezahlter – Aufenthalt in Wien, der vom 4. Oktober bis zum 2. November 1920 dauerte. 25.000 Kronen wurden Puccini für Reise und Aufenthalt übermittelt, interessiert besuchte er auch andere Vorstellungen der Staatsoper, wie etwa Richard Strauss Die Frau ohne Schatten und Richard Wagners Parsifal. Zweiterer hatte ihn ja ein Leben lang fasziniert, wohingegen ersterer (und auch das beruhte auf Gegenseitigkeit) ihn teils weniger berührte. Vor allem von den beiden großen Darstellerinnen Maria Jeritza und
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Lotte Lehmann zeigte sich Puccini hingerissen, ebenso von Wilhelm von Wymetals Inszenierung des Trittico. Dass Jeritza die Giorgetta im Tabarro übernahm, war sogar der spezielle Wunsch Puccinis, was übrigens zu einem erweiterten Probenaufwand führte. In diese Zeit fiel auch Jeritzas Arbeit mit Puccini an der Rolle der Tosca, die sie häufig an der Hofoper sang: »Bei einer dieser Proben des zweiten Akts war ich, in Vorbereitung auf die Arie Vissi d’arte, vissi d’amore dabei, trauererfüllt auf das Sofa zu sinken, während Scarpia am Tisch Kaffee einschenkte. Beim Zugehen auf das Sofa rutschte ich aus und fiel, und da ich den musikalischen Ablauf nicht unterbrechen wollte, sang ich meine Arie liegend, an der Stelle, an welcher ich auf der Bühne hingefallen war. Puccini war erfreut: ›Zuletzt‹ rief er, ›haben wir genau die Art, wie Vissi d’arte gesungen werden muss! Nicht am Sofa liegend, nicht an der Rampe, sondern flach am Bühnenboden!‹« berichtete die Sängerin in ihrer Biografie. Glücklich blickte Puccini nach seiner Abreise aus Wien an die Wochen in der Hauptstadt zurück und bedankte sich – aus Viareggio – auch brieflich bei Direktor Franz Schalk: Verehrter Maestro Endlich kamen wir Freitagabend nach Hause – Ich denke mit großer Zuneigung an Sie, lieber Freund, und ich werde mich immer daran erinnern, mit welcher Freundlichkeit und Sorgfalt Sie sich meinen Opern gewidmet haben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir von den Aufführungen berichteten: Wenn es auch Änderungen bei den Künstlern – vor allem, was die Baritone betrifft – gibt. Mit allerbesten Empfehlungen an die verehrte Frau Lily auch von meiner Frau, Hochachtungsvoll, Ihr Giacomo Puccini
→ Telegramm von Puccini an Franz Schalk
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Puccinis letzte Wien-Besuche fanden im Jahr 1923 – ein Jahr vor seinem Tod – statt. Anlass war die Aufführung von Manon Lescaut an der Staatsoper, ein Ereignis, das bereits Monate zuvor zu einem regen Briefverkehr zwischen Puccini und Franz Schalk führte. So schrieb der Komponist im Februar an Schalk: Freund Schnabl sagt mir, dass Manon an der Staatsoper im April aufgeführt wird – ich bin darüber glücklich und habe mein Ziel erreicht – Danke, danke, allerliebster Freund! Ich werde dem Vertreter von Ricordi das Material zur Oper mit all den kleinen Korrekturen und der Arie aus dem 4. Akt schicken. Ich weiß, dass die Interpreten Frau PUCCIN I U N D DIE W IEN ER OPER
Lehmann und Piccaver sein werden. Ich denke, dass diese Künstler dafür gut geeignet sind – Ich empfehle Ihnen die Dekors, die hier an der Scala schön sind und gut zur Oper passen – Ich werde Ihnen eine kleine Fotografie schicken, um diese Idee den guten Bühnenbildnern Ihres Theaters vorzubringen. Wiederholt erkundigte er sich nach dem Premierentermin – es wurde der 15. Oktober 1923 – und äußerte sich in einem Brief an Sybil Seligman hingerissen über die Musikstadt Wien: »Ich glaube, dass sogar heute, wo es verlassen und so anders ist, als es war, Wien immer noch die führende Stadt der Welt ist – großartige Orchester, Konzerte, fantastische Chöre, und ein herrliches Opernhaus von allererstem Rang!« Im Mai 1923 erlebte Puccini an der Staatsoper die Josephs Legende und Elektra von Richard Strauss, Die Walküre von Richard Wagner und Madama Butterfly, Tosca sowie La bohème. Ein halbes Jahr später folgte die Premiere der Manon Lescaut, erneut hörte der Komponist La bohème, Madama Butterfly, Josephs Legende sowie Tosca und Parsifal. Während dieses Wien-Aufenthaltes verbrachte Puccini weiters eine knappe Woche im Cottage Sanatorium in Währing, um seine Zuckerkrankheit behandeln zu lassen, bevor er nach Salzburg weiterreiste. Giacomo Puccinis Tod am 29. November 1924 rief auch in Wien Bestürzung hervor. Lily und Franz Schalk schickten ebenso wie die Österreichische Bundesregierung Beileidschreiben, die Wiener Staatsoper veranstaltete am 14. Dezember eine Gedenkaufführung mit Mozarts Requiem und Puccinis Suor Angelica: mit Schalk als Dirigent und Lotte Lehmann als Angelica. Dankbar der Anteilnahme schrieb Elvira Puccini am 14. Dezember 1924 aus Mailand an Lily Schalk: »Verehrteste, Ihre guten und bewegenden Worte haben mich fühlen lassen, wie aufrichtig und tief Sie Programmzettel der Trauerfeier für Puccini und Ihr Mann meinem armen Giacomo freundschaftlich verbunden waren. Tröstlich der Gedanke, dass Wien, das er so liebte, das Gedenken an ihn in so würdevoller Weise feiert.« Schließlich sollte noch die Turandot zur Aufführung kommen: Nach längeren Verhandlungen mit dem Musikverlag Ricordi über Aufführungsmodalitäten sowie mit dem österreichischen Finanzministerium über die Kosten OLI V ER LÁ NG
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der Ausstattung, weiters mit dem Calaf der Erstaufführung – Leo Slezak – über den Premierentermin, konnte auch dieses Werk über die Bühne gehen. Im Vertragsentwurf mit Ricordi allerdings war zu lesen, dass – als Gegengeschäft für die Rechte an der Turandot – zumindest ein weiteres Werk des Verlags mindestens zehnmal zu spielen sei. Zur Auswahl standen Arrigo Boitos Nerone, Franco Alfanos La leggenda di Sakùntala, Riccardo Zandonais Francesca da Rimini oder Ildebrando Pizettis Dèbora e Jaéle. Die enge Verbindung zwischen der Wiener Oper und der Familie Puccini hielt an: Immer wieder erkundigten sich die Witwe Elvira und der Sohn Antonio nach Aufführungsterminen und Besetzungen, schickten Dankesschreiben – wie etwa rund um die Premiere der Turandot. Die Aufführungszahlen der Puccini-Werke jedenfalls hielten und halten sich seit der ersten Aufführung einer seiner Opern vor 105 Jahren konstant auf höchstem Niveau: Allein an die 1.100 mal erklangen bis 2021 jeweils La bohème und Tosca, insgesamt kommt man auf rund 3.900 Aufführungen der Opern Puccinis, deren alle, mit Ausnahme von Edgar und La rondine, im Haus am Ring gegeben wurden.
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Impressum Giacomo Puccini LA BOHÈME Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion: 3. November 1963) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng & Oliver Láng, Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau Textnachweise Oliver Láng: Die Handlung (englische Übersetzung von Andrew Smith) – Über dieses Programmbuch. Alle weiteren Texte, mit Ausnahme der untengenannten, sind Übernahmen aus dem Bohème-Programmheft der Wiener Staatsoper aus dem Jahr 2010. Bis auf die Texte von Henri Murger, Richard Specht, Giacomo Puccini und Heinrich Mann handelte es sich um Originalbeiträge. Weitere Übernahmen Dieter Schickling, Die Oper im musikalischen Überblick, in: Dieter Schickling, Puccini Biografie, 2007 CarusVerlag – Jürgen Maehder, Kürze und Prägnanz statt rhetorischer Höhenflüge, in: Programmheft der Staatsoper Stuttgart, Spielzeit 1991/92 (vom Autor für diesen Abdruck aktualisiert)
BILDNACHWEISE Coverbild: Performance Of Highliner Nathan Paulin On A Slackline At The Eiffel Tower In Paris (Photo by Samuel Boivin/NurPhoto via Getty Images) – Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH (S. 2/3, 18/19, 49, 68/69) – Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH (S. 52, 57) – Barbara Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH (S. 83) – AKGImages (S. 22, 36, 61) – Archiv der Wiener Staatsoper (S. 26/27, 75, 89, 91, 92) Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Kürzungen werden nicht gekennzeichnet.
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