WIR-Schreibwettbewerb zum Thema "Ist der Zug schon abgefahren"

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Ist der Zug schon abgefahren? Die Beiträge zum Schreibwettbewerb des WIR-Magazins 2018


Inhaltsverzeichnis

◊ Der Streckenläufer, von Ingeborg Woitsch

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◊ Tile Kolup, von Herbert Feid

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◊ Kajaltränen, von Oliver Fahlenbach

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◊ Der Zug ist abgefahren, von Bianca Körner

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◊ Ist der Zug abgefahren?, von Sabine Lutz

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◊ Knapp daneben, von Wolfgang Rönspieß

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◊ Der verpasste (Um)Zug, von Ingo Huse

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◊ So kann´s kommen..., von Heike Oldenburg

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◊ Die frühen Reisenden, von Kerstin Fischer

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◊ Ist der Zug schon abgefahren?, von Matthias Popp

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◊ Leben heißt Veränderung, von Andrea Kerstinger

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◊ Entgleist, von Sandy Brandt

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◊ Alles ist möglich – Lea will ans Meer, von Barbara Gase

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◊ ohne Titel, von Beate Geist

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◊ Ist der Zug schon abgefahren?, von Elke Acker

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◊ Der letzte Zug, von Kathrin Völker

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◊ Ist der Zug schon abgefahren?, von Sabine Luz

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◊ Stillstand, von Oliver Bruskolini

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◊ Ist der Zug schon abgefahren?, von Wolfgang Bachelier

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◊ Anderssein ist nicht gestattet, von Sabine Horn

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◊ Die Zugfahrt des Lebens, von Kirsten Kröger

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◊ Systemwechsel, von Milan Leander

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◊ Eine eigenartige Zugfahrt, von Peter R. Blank

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◊ s -bahn fahrt, von Suncica Todorovic

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◊ Ist der Zug schon abgefahren?, von Britta Maßmann

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◊ Ist der Zug schon abgefahren?, von Evelyn Hagedorn

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◊ Ist der Zug schon abgefahren?, von Martina Lindenau

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Der Streckenläufer von Ingeborg Woitsch, 1. Platz beim WIR-Schreibwettbewerb Diese Erde, er liebt sie seine Erde, dunkel und schwer wirft sie sich auf, hier, weit weg von aller Welt. Oktobererde, Wintererde. Er kniet und gräbt sich mit beiden Händen hinein, große, starke Hände, steht auf und hebt sie hinauf, die dunkle Schicht gegen das Herbstlicht, riecht an ihr, atmet sie, zerreibt sie mit breiten Fingerspitzen und lässt sie wieder zurückrieseln wie einen erdigen Bach. So begrüßt er mich immer. Er nennt mich nur „du“. Er weiß nicht, wer ich bin, aber er liebt mich wie eine, die immer dagewesen ist. Ein weiter Himmel steht über seinem Haus, Wind streicht durch seinen Garten. Ich sehe ihn nicht anders, auch, wenn ich nicht dort bin, sehe ich ihn dastehen, draußen in seinem Garten, der bald ein Feld ist, zwei Ziegen und ein Esel gehören dazu. Er ist der alte Vater einer Freundin, die nicht viel mit ihm anfangen kann. Der übriggebliebene wirre Alte. Er glaubt es nicht, dass er achtzig Jahre alt sein soll. „Achtzig?“, er schüttelt den Kopf und lacht ungläubig. Ein stummer missgelaunter Patriarch sei er ein Leben lang gewesen. In ihrem Leben. Meine Freundin mag ihren Alten nicht. Einmal auf einer Durchreise habe ich ihn das erste Mal gesehen, und wer weiß schon, warum einem einer das Herz anrührt und dann war er einfach ein wortloser Freund, so einer, den man im Sterben nicht allein lässt. Und früher? Ein Bauer war er nicht. Streckenläufer war er, als alles noch anders war. Und jetzt? Jetzt dreht er sich um, die Freude zieht durch sein Gesicht wie ein helles Wetter, seine Hände sind voller Erde und Leben, so winkt er hinein in die Stube, wenn er mich von der Straße kommend sieht mit Laptoptasche und Handgepäck, in die Stube, wo er jetzt alleine lebt. Ich komme vorbei alle Monate lang. Auf meinen Geschäftsreisen seit fünf Jahren lege ich hier einen Halt ein. Und ich denke an ihn immer einmal und bete, dass es ihm gut gehen möge, einfach, weil ich ihn mag, diesen

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Alten, der mein Vater sein könnte, es aber nicht ist - Gott sei Dank. Er nennt mich nur ´du` und weiß meinen Namen nicht und die seinen erkennt er nicht mehr. Komisch, dass er immer genau weiß, wenn ich komme, dass ich es bin? Als wäre ich jetzt, wo er alt ist und die Welt ihm fremd und undurchschaubar wird, die Richtige. Das Hausen, wie er sagt, hat er gelernt. Seit Kindesbeinen an weiß er, wie man alleine leben kann. Holzschlagen, Ziegenmelken, der Garten, er kann es noch – ich kann es nicht. Ich lebe in Hotelzimmern, chatte in Cafés und sitze im Büro. Über der Stube ist ein kleines Haus. Es liegt am Bahndamm. Es gab eine lange Zeit, in der er hier nicht alleine war. Er ist einer, der weiterlebt, ein Streckenläufer, auch wenn die Kinder fremd sind und einem der Tod das Weib weggerissen hat. Er winkt hinein in die Stube, geht voran, setzt einen Topf Wasser auf den Herd. Dann eilt er davon mit in die Luft gestreckten schwarzen Händen. Aus dem Baderaum höre ich dann Wasserlaufen und Bürstenschrubben und diese fremden hohlen Laute, wie ein Stöhnen. Ich schaue herum in der alten Küche, es steht alles an seinem Platz. Dann steht er da mit diesem Gesicht, in das ein Lachen und ein Weinen zugleich geschrieben sind. Hilflos, plötzlich steht er da. Und ich deute auf den Topf, der brodelnd große Blasen wirft. Wieder dieses überraschte Glucksen in ihm. Er brüht Kaffee auf, nie trinke ich Kaffee, nur hier, schiebt zwei Tassen auf den Tisch, den ein braun kariertes Wachstuch bedeckt. Jetzt sitzen wir da, in dieser alten Welt und schauen uns an, aus einer fremd vertrauten Entfernung. Er zieht einen kleinen Schreibblock und Kugelschreiber aus der Tischschublade und ich schreibe ihm auf, was ich ihm sagen will. „Brauchst Du etwas? – Was ist mit Deinem Fuß?“ Er liest es aufmerksam, denn hören kann er kaum mehr, ich kann es nicht genau feststellen, aber ich glaube, mein alter Freund ist fast taub. Zuerst wollte ich sein Leben aufschreiben. Wie man immer etwas Sinnvolles tun und festhalten will. Jetzt bin ich einfach nur da, schaue aus dem Fenster,

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hole etwas aus der Apotheke im Dorf, Anglerzeug, Waschpulver, einen Ring Schwarzwurst, Salz, Rasierklingen. Er spricht komisch, die Sprache wird ihm fremd. Es ist nicht wirklich die Sprache, über die wir uns verstehen, sie ist ein Vehikel aus Ersatzteilen, nicht wirklich zuverlässig. „Der Alte muss ins Heim“, sagt meine Freundin. Er will nicht, er sagt, es wird alles richtig sein. Ich glaube auch, dass es richtig sein wird. Und, dass ich vielleicht da sein werde oder irgendeiner vom Himmel geschickt da sein wird, wenn es soweit ist. „Es überkommt einen“, sagt er auf meine Frage, ob er den Tod fürchte. „Nein, es überkommt einen und der Herrgott fügt es“. Er hat nicht unsere Angst vor dem Sterben und ich habe sie auch nicht. „Der Alte muss ins Heim!“, sagt meine Freundin. „Nein“, werfe ich ihr laut hin, ich mag meine Freundin, aber „ich sage ihm nicht, dass es für ihn das Beste wäre“. Auf sie höre er nicht, der alte Sturkopf, der ewige Eigenbrötler. Sie hat natürlich Recht, denn lang wird es so nicht mehr gehen. Wenn nur der Himmel alles fügt, denke ich und bete für ihn aus 300 km Entfernung. Er finde das, was ich mache gut, sagt er einmal unvermittelt, als er am Fenster steht und über irgendetwas nachdenkt. So dringend ist es ihm, dass er es aufgeregt wiederholt, ja das, was ich mache, finde er gut. Und ich weiß gar nicht, wer mein Leben je so bestätigt hätte. „Das, was ich mache“. Dabei weiß er nichts von mir, er fragt nicht und kann es nicht fassen, wenn ich erzähle und Zettel schreibe: Die Stadt, in der ich lebe, meine Arbeit mit Texten, - es passt nicht mehr in sein mögliches Bild – dennoch sei es gut. Manchmal fürchte ich mich vor dem Moment, in dem er mich nicht mehr erkennen wird. Wenn ich ans Gartentor käme, und es muss ja eines Tages so kommen, wenn ich also schon am Gartentor stehe und er auf mich zukommt mit langsamen Schritten und einem Misstrauen im Gesicht oder einer blinden Abwesenheit, stumm und fragt: „Was wollen Sie hier?“ – Ich habe Angst vor dieser Fremdheit, in der alles vergessen scheint. Und ich habe Angst vor mir, wie viel Freundschaft in mir für den dann Fremden noch bestehen bleibt.

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Tile Kolup von Herbert Feid, 2. Platz beim WIR-Schreibwettbewerb Karl Hartmann fasste sich immer öfters an die Stirn, aber körperlich war er mit seinen 89 Jahren noch recht fit. Die zwei Treppen bis zu seiner Woh-nung schaffte er mit Leichtigkeit. Nur im Kopf war manchmal einiges durcheinander. Aber Jahreszahlen waren dem ehemaligen Studienrat für Geschichte fest verankert, wie 1194 bis 1250, die Lebensjahre seines Lieb-lingskaisers Friedrich II. Sonst war der Zug für ihn abgefahren, seitdem seine Frau vor zehn Jahren verstorben war und ihn in der viel zu großen Wohnung zurückgelassen hatte, wie in einem leeren Wartesaal. Und dann, als er frühstücken wollte, richtig Hunger verspürte und sah, dass auf dem Teller Krümel lagen, die Tasse ausgetrunken war und am Messer noch Reste von Marmelade klebten, da bekam er einen Schreck und zitterte. War es schon soweit? Inzwischen kam ein Mal in der Woche eine Frau von der Caritas. Sie besorgte ihm die Wäsche und putzte durch die Wohnung. Ihren Namen konnte er sich nicht merken. Er ärgerte sich darüber, suchte in den Unterlagen nach, schrieb ihn sich auf und vergaß den Zettel. Das Telefonat kam so unvermittelt die der berühmte Blitz aus heiterem Himmel. „Hallo Opa, ich bin‘s! Wie geht’s dir?“ Eine helle freundliche Stimme. Hier bleiernes Schweigen. Opa? Also, mein Enkel? Etwa Thomas Sohn? Karl wusste nicht weiter, rieb sich die Stirn. Er freute sich, dass er sofort auf den Namen seines Sohnes gekommen war, der vor vielen Jahren nach Australien verschwunden war. Hatte der einen Sohn? Oder nicht eine Tochter? Karl fühle sich schlecht. „Wie geht es deinem Vater?“ Karls Stimme zitterte. Wie hießen nur die Kinder von Thomas. Hatte er zwei? Alles Kopfkratzen half nichts. Er hasste es, so alt geworden zu sein, und nicht mehr die Namen seiner Enkelkinder erinnern zu können. Was ist das für ein Leben! „Du, ich bin grad in Frankfurt gelandet und sofort bestohlen worden. Kannst

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du mir mit etwas Geld aushelfen?“ Karl verstand nicht mit wem er sprach und fühlte sich in die Enge getrieben. Natürlich würde er seinem Enkel helfen, wenn er nur hier in Berlin wäre und nicht so weit weg in Frankfurt. „Wieviel brauchst du denn?“, brachte Karl grad noch so heraus, während er sich seinen Kopf zermarterte, wie der Junge heißen könnte. „Das ist total nett von dir, Opa. Wieviel kannst du in zwei, drei Stunden auftreiben?“ „Ich weiß nicht, tausend Euro oder so, oder brauchst du mehr?“ Karl überlegte krampfhaft, wie er seinen Enkel dazu bringen könnte, seinen Namen zu nenne. Hatte nicht Thomas bei seinem letzten Telefonat etwas über seine Kinder gesagt? Karl konnte sich an nichts erinnern. Er musste sein grausames Schicksal hinnehmen. Dann rang er sich durch. „Wie war dein Name noch einmal?“ Für Sekunden Schweigen auf der anderen Seite, dann wieder die helle Stimme. „Na, hör mal, Opa. Du hast meinen Namen vergessen? Das ist ja allerhand. Du, ich bin jetzt in Druck, brauche dringend Geld, besorg so viel du kannst, wenigstens ein paar tausend. In drei Stunden kommt mein Kumpel vorbei, holt das Geld ab und bringt es mir nach Frankfurt. Gib ihm auch deine Kontonummer und Geheimzahl mit, damit Daddy dir das Geld sofort überweisen kann. Ich muss jetzt Schluss machen, bitte hilf mir! Ich vertraue dir!“ Es knackte, dann war die Verbindung tot. Karl war wieder allein. Er hörte sein Herz schlagen. Endlich war Leben in sein tägliches Einerlei gekommen. Es war, als ob nach langer Zeit wieder ein Zug in den Bahnhof einfährt. In freudiger Erregung machte er sich für den Besuch in seiner Bank fertig. Es dauerte ewig, bis der die Unterlagen finden konnte, aber die Tatsache, dass er jetzt für seinen Enkel zu sorgen hatte, brachten seine müden Gehirnzellen allmählich auf Trab. Auf dem Girokonto waren noch genau 680,45 Euro, die könnte er seinem Enkel sofort geben, denn bald würde wieder seine Pension eingezahlt werden, und ein paar Euro hatte er ja auch immer noch als Reserve zuhause. Gerade als er zufrieden und glücklich mit sich und der Welt war und sich auf den Weg machen wollte, fiel ihm ein, dass - ja wie war denn nur sein

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Name - von einigen tausend Euro gesprochen hatte. Im Nu verflog sein Glücksrausch. Wieso konnte er sich nicht mehr an seinen Enkel erinnern? Was hatte ihm sein Sohn von den Kindern erzählt? Zweimal im Jahr telefonierte sein Sohn mit ihm, zu Weihnachten und zum Geburtstag, aber hatte er wirklich zum 89. gratuliert? Auch das erinnerte Karl nicht mehr. Er musste sich setzten und rührte sich für einige Minuten nicht mehr. Es wurde schwarz um ihn. Und dann begann ihn etwas zu stören, wie ein Steinchen, den man im Schuh hat. Aber aufgeben, dass wollte er nicht! Nur nicht in Finsternis versinken, dann ist alles aus und man ist nur noch wie ein Stück Treibholz im Meer. Auf dem Tagesgeldkonto waren genau 7.032.40 Euro. Das würde er auflösen! Ob das reichen würde? Am liebsten hätte er jetzt das dankbar strahlende Gesicht seines Enkels gesehen, aber er wusste ja nicht einmal, wie er aussieht. Wie alt mochte er sein? Bestimmt kein Kind mehr, obwohl er sich gerade einen kleinen Jungen mit langen blonden Haare vorstellte. Und er schon 89! Was macht die Zeit nur aus dem Leben? Er fasste sich an den Kopf und da kam ihm der rettende Gedanke: Das Notizbüchlein angebunden am Küchenschrank. Karl blätterte hastig die Seite durch und da stand es schwarz auf weiß: Gustav Hartmann, sein Sohn, mit Telefonnummer und Adresse in Australien. Darunter Helene, seine Schwiegertochter, mit einem Kreuz dahinter. Sie war vor vielen Jahren da-hingegangen, etwas später als Karls Frau. Und darunter: Karin. Ja, Karin, ihre Tochter, mit den blonden Haaren! Dann nichts mehr. Kein Sohn? Hat-ten sie nur eine Tochter? Karl verstand die Welt nicht mehr. Wer hatte denn angerufen, ihn Opa genannt? Hinter Karin stand in Klammern Kenji Watanabe. Karl versenkte sich in die Vergangenheit, und je mehr er in sie hereinkroch, desto unsicherer wurde er. Ja, Karin hatte einen Japaner geheiratet, war mit ihm nach Japan gegangen, sich aber später scheiden lassen. Die beiden hatten einen Sohn! Jun. Daher die fast helle Knabenstimme? Also hatte nicht sein Enkel, sondern sein Urenkel ihn angerufen? Aber warum stand hinter Jun auch ein

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kleines Kreuz? Oder war alles ganz anders? Das Steinchen im Schuh drückte ihn wieder. Was war nur los? Sollte er nicht lieber bei der Caritas anrufen, und Frau – wie war doch noch ihr Name – die Sache vortragen? Er sah schon ihr be-sorgtes Gesicht vor sich, wenn er ihr erklären würde, dass vielleicht sein Enkel oder aber auch sein Urenkel angerufen hat. Vom ersteren wisse er nichts und der letztere scheint tot zu sein. Trostlosigkeit überfiel ihn. Nein! Dieses Mal würde er die Angelegenheit alleine regeln. So senil war er ja nun auch wieder nicht. Einer von den Beiden brauchte seine Hilfe! Und an einen Betrug, wie man es ab und zu in der Zeitung las, wollte er absolut nicht glauben. Karl gab sich zehn Minuten, um zu sich zu entspannen. Dann würde er zur Bank gehen, das Geld abheben und dem Bekannten von seinem – ja von wem nur – übergeben. Bestimmt wusste der mehr. Und vielleicht könnte er ihn sogar nach Frankfurt mitnehmen, und das Rätzel wäre gelöst! Das war doch die Lösung! Karl war zufrieden, aber nicht wirklich glücklich. Nach fünf Minuten nahm Karl einen Zettel und addierte den Girokontobetrag von 680,45 Euro zu dem Betrag vom Tagesgeldkonto von 7.032.40 Euro. Er zog einen dicken Strich unter die Summe, stand auf, holte seine Jacke, zog die Straßenschuhe an und setzte seinen Hut auf. Bevor Karl den Zettel in die Jackentasche steckte, blickte er noch einmal darauf. Seine Hand zitterte, er konnte seine Augen nicht mehr vom Zettel lösen. Nein, es war keineswegs der Betrag, der ihn erschreckte. Es war die Zahl, die er unterstrichen hatte, und die ihm jetzt nicht mehr losließ: 7.712,85. Er setzte sich, nahm den Hut ab, zog die Schuhe wieder aus und ein Koboldslächeln durchzog seinem Gesicht: Nein, SEIN Zug war noch längst nicht abgefahren. Am 7.7.1285 wurde Tile Kolup hingerichtet, der sich als Kaiser Friedrich II. ausgegeben hatte.

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Kajaltränen von Oliver Fahlenbach, 3. Preis beim WIR-Schreibwettbewerb „Shit. Das war’s. Wie konnte ich nur so dumm sein? Wieso? Wieso? Wieso? Ich habe es wirklich getan. Alles ist aus. Mein Leben ist vorbei!“, schrie Lynn nervös, während sie wie ein wildes Tier in Gefangenschaft in ihrem kleinen Zimmer auf und ab ging und zu weinen begann. Bis auf zwei Fingernägel hatte sie ihre French Glitter Nails komplett abgekaut, der Kajal und ihr Make-up vermengten sich mit ihren Tränen. Sie schaute in den Spiegel. „Alles verschmiert. Ich sehe völlig verheult aus. Das nennt man wohl „Kajaltränen“. Ich glaube nicht, dass der Trend sich durchsetzen wird! Hahaha“, murmelte Lynn vor sich hin, ehe sie anfing, hysterisch zu lachen. Dann blickte sie auf die Uhr. Die Zeit war knapp. Nur noch drei Minuten. Nein, nur noch zwei. Die Zeit raste, während Lynn auch ihre beiden letzten Nägel abbiss und ihre Fingerkuppen zu bluten begannen. „Fuck. Nur noch eine. Was mache ich nur?“, schrie sie. Sie setzte sich vor ihren Laptop und blickte in die Kamera. Es war 19:00 Uhr. Eigentlich hätte nun ihre Show beginnen müssen. Das Mädchen mit den kurzen rötlichen Haaren hatte in der Aufregung vergessen, ihre Echthaar-Extensions anzubringen. Als sie diesen Fauxpas bemerkt hatte, pfefferte sie diese mit voller Wucht auf ihr Bett und warf ihren Laptop wütend auf den Boden. „So kann ich doch keine Schminktipps geben! Ich muss die Show absagen. 2,7 Millionen Abonnenten… Sie werden mich hassen. Ich habe versagt!“, brabbelte sie vor sich hin. Plötzlich vibrierte ihr Smartphone. „Mist! Das ist Babsi! Die wird mir die Hölle heiß machen! Sie löscht mich bestimmt aus ihrer Kundendatei. Sie war schließlich auch gegen dieses Treffen mit Mike.“ Babsi war Lynns neue Managerin, die sich nur um die

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angesagtesten Youtube-Stars kümmerte. Lynn drückte den Anruf weg. Dann öffnete sie den Chatverlauf von letzter Nacht und starrte paralysiert auf den Chat mit Mike, in dem ein Video zu sehen war. „Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe es wirklich gemacht und dann auch noch im Suff abgeschickt?! Meine Karriere ist am Ende! Dabei bin ich doch keine 13 mehr. Amateurfehler! Das durfte mir nicht passieren. Mit 16 ist man in diesem Business doch erwachsen!“, dachte sich Lynn. Dann erblickte sie die zwei blauen Häkchen hinter dem Video, die auch beim näheren Hinblicken nicht verschwanden. Mehrmals schaltete Lynn ihr Handy an und aus, doch die zwei blauen Häkchen blieben. „Er hat’s gesehen. Das war’s! Ich bin am Ende. Jetzt hat er mich in der Hand. Er kann mich erpressen, wann er will, und jeder Mensch auf der Welt kann das Video sehen. Jeder! Meine Karriere ist zu Ende.“ Lynn erinnerte sich an die vergangene Nacht. Es war ihr drittes Date mit Mike. Mike hatte sieben Millionen Abonnenten. Aus seinen Let’s Play Videos wusste Lynn ganz genau, dass er sehr unterhaltsam sein konnte. Das erste Date war im Grunde nur ein Geschäftsessen, um ihre Karriere zu pushen, mit vielen Instagrampics und dadurch kaltem Hauptgang inklusive. Aber Mike war in Wirklichkeit noch charmanter als angenommen. Und so kam es, dass sie sich auch ein zweites Mal trafen und bei ihrem dritten Date sogar in eine Bar gingen. Normalerweise trank Lynn keinen Alkohol, nicht mal ein Schlückchen. Das war unprofessionell. Und so kam es, dass sie an diesem Abend bereits nach zwei Cocktails zu lallen anfing. Das letzte, woran Lynn sich erinnern konnte, war, dass Mike sie geküsst hatte. „Er war ein ausgezeichneter Küsser. Das hat er bestimmt schon öfters gemacht. Er ist schließlich schon 17!“, hatte Lynn sich gedacht. An das, was danach passierte, konnte sie sich kaum noch erinnern. Nur, dass sie in seine Penthousewohnung verschwanden, wo sie weiter tranken. Doch das Video zeigte ihr ganz genau, was danach geschah.

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„Wie verlogen bin ich nur?! Andere Girls habe ich immer vor so etwas gewarnt. Und nun habe ich es selber getan. Ich bin so dumm! Ich habe das eigentlich verdient. `Doppelmoralische Bitch`,“ so werden sie mich alle nennen. Alle, und nicht nur meine Hater!“, malte Lynn sich in Gedanken aus. Mit einem lachenden Emoji hatte sie versucht, Mike zu kontaktieren, ihn für sich zu gewinnen und ihn davon zu überzeugen, das Video nicht mit anderen zu teilen. Hinter dem Smiley waren zwei blaue Häkchen erschienen, die signalisierten, dass jemand das Video und das Emoji gesehen hatte. Auf Anrufe hatte Mike seit Stunden nicht reagiert. Lynn weinte in ihr Einhornkopfkissen, das sie für ihre Livevideos aus Imagegründen immer in ihrem Kleiderschrank versteckte. Doch an diesem Tag brauchte sie es. „Warum antwortet er nicht?! Fuck, fuck, fuck!“, brüllte sie aufgeregt, ehe sie ihr Handy anschrie. „Geh ran, du Arsch! Bitte, bitte, bitte geh raaaaaan!“ „Nun hat er mich in der Hand. Er kann so seine Klickzahlen, um mindestens 2,5 Millionen weitere Hits steigern. Jeder würde es so machen! Vielleicht würde ich es auch genauso tun“, dachte sich Lynn. Plötzlich vibrierte ihr Handy. Lynn sprang erschrocken auf und entfernte sich von dem Bett. Sie hob ihren pinken Laptop, dessen Bildschirm nun einige Risse enthielt, vom Boden auf und schaute sich das berühmte letzte Video von Amanda Todd an. „Vielleicht bringe ich mich auch um?! Sie werden mich eh alle dissen, sobald das Video online ist. Selbst wenn er es nicht postet, werden Hacker es irgendwann leaken. Das Internet vergisst nie. Schließlich bin ich ja pseudoberühmt. Wie konnte ich nur so blöd sein?“, dachte sich Lynn. Es klopfte an der Tür. Sie öffnete sich einen Spalt. Lynns Mutter, die im Rollstuhl saß, schaute vorsichtig in das Zimmer. Lynn rannte weinend auf sie zu und setzte sich vorsichtig auf ihren Schoß. Völlig verängstigt zeigte Lynn ihr das Video, während ihre Mutter ihre Stirn küsste und ihren Rücken kraulte. „Mach‘ dir keine Sorgen. Noch ist nichts verloren. Und selbst wenn das Video online gerät…. Man sieht zum Glück nicht viel. Glaub‘ mir, mich und Anette haben auf der Klassenfahrt alle komplett nackt gesehen, als man

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uns beim Nacktbaden die Klamotten geklaut hat. Das war ultrapeinlich, aber das Leben geht weiter!“, sagte ihre Mutter in einem besonnenen Ton. „Ich weiß, dass diese Situation anders ist, aber du brauchst diese Millionen Menschen dort draußen alle nicht. Das wirst du auch noch verstehen.“ Sie drückte Lynn ganz feste an sich. „Ich werde nun mit Babsi sprechen und versuchen eine Lösung zu finden. Ich weiß, dass die Situation ganz schlimm ist, aber eine positive Sache hat das Ganze dann doch!“ „Ach ja? Was denn? Dass ich jetzt doch Abitur mache und etwas Vernünftiges lerne, so wie Papa und du es immer wollten?“ „Vielleicht das auch, aber ich meine etwas völlig anderes. So wirst du bald herausfinden, wer zu dir hält und wer deine wahren Freunde sind. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Und deine Familie wird immer zu dir halten. Und mach‘ dir keine Sorgen. Das Video ist wirklich nicht so schlimm, wie du denkst! Sieh mich an! Es gibt im Leben wichtigere Dinge als Follower. Dein Handy nehme ich so lange. Wir essen nun erst einmal.“ Lynns Kopf lief rot an. Sie nickte verständnisvoll. *** Nach dem Abendessen hatte Lynn gemeinsam mit ihren Eltern eine Entscheidung getroffen. Als sie sich ihr Make-up abgewischt, eine Jogginghose und ihren Lieblingseinhornhoodie angezogen hatte, begab sie sich in an ihren Platz, von dem aus sie immer ihre Videos streamte. Ohne dieses Mal ihre Extensions anzustecken, schaltete sie die Kamera ein und ging live auf Sendung. Sie lächelte verlegen. „Hallo. Mein Name ist Lynn. Eigentlich heiße ich Evelyn. Vielleicht erkennt ihr mich auch so wieder? Ich habe mehrere große Fehler in meinem jungen Leben gemacht und nun möchte ich dafür gerade stehen. Ich kann und will das alles nicht mehr. Es ist für mich an der Zeit, aussteigen, aber dafür brauche ich heute eure Hilfe…“ Lynn stockte. Ihre Stimme zitterte stark. Sie atmete tief ein und nahm ihren ganzen Mut zusammen, ehe sie fortfuhr und ihre Geschichte zu Ende erzählte.

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Der Zug ist abgefahren von Bianca Kรถrner, Sonderpreis beim WIR-Schreibwettbewerb Der Zug ist abgefahren, sagst du. Und, dass es vorbei ist, sagst du. Du und ich, das ist vorbei, sagst du. Ich schau dich an, schau an dir vorbei. Vorbei, sagst du. Ein Zug, der abgefahren ist, sagst du. Ein Zug, wohin, denk ich. Ein Zug, woher. Vorbei, frag ich. Hier ist kein Zug vorbeigefahren, denk ich. Keine Ankunft, keine Abfahrt. Vorbei, sagst du. Eine Abfuhr, denk ich. Der Zug ist abgefahren.

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Der Zug ist abgefahren und wir sitzen beide nicht drin. Unser Zug ist abgefahren, noch sitzen wir beide am Gleis. Unser Zug ist abgefahren, Lass uns doch den n채chsten nehmen. Keinen Schnellzug, nur den Regio. Oder den Schienenersatzverkehr. Lass uns langsam fahren, sehen wo es lang geht. Lass uns den n채chsten Zug nehmen und aussteigen an jedem kleinsten Kaffbahnhof. Lass uns an jedem kleinsten Kaffbahnhof entscheiden, ob wir wieder einsteigen, zusammen oder allein. Ob wir wieder zur체ckfahren, zusammen oder allein. Lass uns an jedem kleinsten Kaffbahnhof entscheiden, ob unsere Reise weitergeht. Lass unsere Reise weitergehen. Wir sind am Zug. Der Zug ist abgefahren, aber es ist nicht unserer. Der Zug ist abgefahren, sagst du. Lass uns den n채chsten nehmen, sag ich.

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Ist der Zug abgefahren? von Sabine Lutz Kommissar Scholz und Sonderermittler Dr. Meyer grübelten nun schon seit geraumer Zeit über den genauen Tathergang nach. Wie konnte das geschehen? Warum nur sprang der eingefahrene, zuverlässige Zug in ein neues Gleisbett und wechselte unwillkürlich die Richtung? Alle Passagiere waren außer sich. Vor allem die Hauptbetroffene aus dem Erste-Klasse-Abteil, für die in der Vergangenheit alles wie geschmiert lief, hatte plötzlich keine Zukunft mehr. Die selbstbewusste Macherin zerfiel urplötzlich zu einem untröstlichen Häufchen Elend ohne Perspektive. Diese Fahrt veränderte ihr Leben. Ein Halt auf freier Strecke! Nichts wie weg hier, dachte sie sich und bloß nicht auf einem Abstellgleis landen. Vor allem das Fernweh schmerzte, der Verlust des roten Fadens. Die Erneuerung wurde zu einem langen Weg. Denn das Schicksal hatte voll zugeschlagen. Und die Gefahr war längst noch nicht gebannt! Von einem Moment auf den anderen, war das unschuldige Opfer mit Blindheit, Gang- und Gefühlsstörungen hochgradig im Mark getroffen und entsprechend niedergeschlagen. Wut und Trauer waren ab jetzt ihre Triebfedern. Dazu kam noch die Prognose: zunehmende Verschlechterung dieser Nervenkrankheit. Ein Werdegang ohne Aufenthalt und mit unbekanntem Ziel. Schließlich ist das ganze Leben aus der Bahn geraten. Der Schnellzug, obwohl entgleist, erreichte Neuland. Es ging wieder vorwärts. Doch gab es irgendwo in den Abteilen einen Schuldigen, den man dingfest machen könnte? Gab es Linderung, gar Heilung oder die Wiedergewinnung des alten, funktionierenden Regelwerkes? Welche Weichen mussten dafür gestellt werden?

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Nichts Genaues ließ sich bisher bei allem kriminalistischem Spürsinn herausfinden. Die Nerven lagen allseits blank. Die Erwartungen waren groß. Unaufhaltsam ratterte der angeschlagene Zug mit seiner zerstörerischen und geheimnisvollen Fracht weiter. Ein Schrecken ohne Ende!? Auch die Notbremse war eingerostet bzw. zertrümmert. "Unheilbar sei das, was geschehen sei" raunte es erschrocken durch die Gänge. Überall taten sich Grenzen des Sagbaren auf. Der bleischwere Nebel lichtete sich nicht! Nicht auf Höhen, nicht in tiefen Tälern. Selbst im teuren Liegewagen nicht und auch im unbeteiligten, attentatsfernen Speisewagen war die Stimmung ziemlich mau. Eine ebenfalls im Zug mitreisende Zeugin sagte später aus, dass sich der zerstörerische, zerschmetternde Schlag auf Kopf, Gehirn und Rückenmark des Opfers über Stunden hingezogen habe. Wie ein Fallschirmsprung im Dunkeln, sei es gewesen. Ein unheimlicher Tanz mit Gespenstern, die die Drangsalierte nur erahnte, aber nicht erkennen konnte. Was folgte, war ein harter Aufprall in der Wirklichkeit. Die Ankunft im weiten, noch unbekannten Land körperlicher Schwerbehinderung. Den Wandel zu erleben brachte nicht nur Freude. Die weitestgehend intakte Welt sprang für immer aus Zeit und Raum auf ein neues Gleis. Das Fazit der beiden ermittelnden Beamten blieb vage. Steuerte der mysteriöse, bislang unauffindbare Attentäter etwa die Gene, das Schicksal oder war das einfach nur individuelles Pech? Ja, der Zug, er war abgefahren. Doch mit neuem Fahrplan und neuen Zielen nahm der Zug des Lebens wieder volle Fahrt auf… ;-))

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Knapp daneben von Wolfgang Rönspieß „Der Zug steht noch da“, rief ich Hans zu, als ich, noch auf der Treppe, schon auf den Bahnsteig blicken konnte. Ich rannte zur erstbesten Tür, wuchtete meine Tasche hinein und stellte mich, die Haltestange umklammernd, auf die unterste Stufe an der Wagentür, so als könne ich damit den Zug festhalten. Von dort sah ich, wie sich Hans mit hochrotem Gesicht unendlich langsam die Treppe hinaufquälte. Noch stand der Zug. Und nach einer gefühlten Viertelstunde war auch Hans endlich an der Tür angekommen und zog sich mit letzter Kraft an der Haltestange in den Zug hinein. Ich riss die Tür des Großraumwagens auf, wir ließen uns auf der ersten Bankreihe fallen und sagten erstmal gar nichts. „Geschafft“, rief ich, als sich mein Atem wieder etwas beruhigt hatte. Hans hob nur die Arme und deutete eine Victory-Geste an. Sein Hemd war nicht nur unter den Achseln nass, wie auf einem Globus zeichneten sich ganze Kontinente dunkel auf seinem massigen Bauch ab. Der Zug fuhr noch immer nicht. Ich zog die Wasserflaschen aus der Tasche, und wir begannen uns froh zurückzulehnen. Das war jetzt wirklich knapp gewesen. Aber nun waren wir im Zug und würden somit ganz planmäßig in etwa zwei Stunden beim Jazz-Festival in der Landeshauptstadt eintreffen. „Da haben wir ja doch noch die Chance, das erste Konzert mitzuerleben, das wir doch schon abgeschrieben hatten, und am Ende vielleicht sogar noch ein Autogramm zu ergattern“, freute er sich und packte das umfangeiche Programmheft der Veranstaltung aus. Was für‘ n Glück, dass wir den Zug noch gekriegt hatten, denn unsere Lieblingssängerin sollte schon im Eröffnungskonzert auftreten. „Danach könnten wir sofort zur zweiten Bühne wechseln und danach frühzeitig zur Session im Festivalclub aufbrechen …“, sinnierte er. Hans war jetzt in seinem Element. Ganz im Gegensatz zu seiner

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schwerfälligen Statur gilt er als flinker Kombinierer. Zum x-ten Mal gingen wir das Programm durch und diskutierten lebhaft, wer von uns beiden wann zu welcher Bühne gehen würde, welchen unserer Stars wir auf keinen Fall verpassen dürften und so weiter und sofort. Darüber waren bestimmt schon zehn Minuten vergangen, als mir plötzlich auffiel: „Der Zug fährt ja noch immer nicht! Was ist denn hier eigentlich los?“ Aus unseren Gedanken auftauchend, sahen wir zuerst, dass außer uns niemand weiter in unserem Waggon saß und auf die Abfahrt des Zuges wartete. Als Hans sich suchend umwandte, fiel ihm auf, dass man am Ende des Wagens hinten rausgucken konnte. „ Das heißt, wir sitzen hier also im letzten Wagen des Zuges“, entfuhr es ihm. „Wie das? Das kann doch nicht sein! Wir waren doch, als wir von der Treppe kamen, direkt in der Mitte des Zuges eingestiegen! Ja, da waren doch auf jeden Fall rechts und links von unserem noch weitere Waggons“, dachte ich laut. Hä? Wir stürzten zur Eingangstür und schauten hinaus, erst nach rechts, in die Fahrtrichtung unseres Zuges in Richtung Großstadt. Rechts war kein Wagen mehr und auch keine Lok, der halbe Zug war weg. Was war denn hier gerade passiert? Warum hatte man denn unseren und weitere Waggons hier einfach stehen lassen, uns einfach abgehängt? Wir sprangen auf den Bahnsteig und schauten nach links. Plötzlich erkannten wir, dass am anderen Ende der vermeintlich abgehängten Waggonreihe ja auch eine Lokomotive angekoppelt war, die in Richtung Neustadt schaute. Im selben Augenblick knarzte es aus den Lautsprechern: „Aus betriebstechnischen Gründen fährt der Zug in Richtung Neustadt heute wieder von Gleis 7 ab. Der Zug steht auf Gleis 7 bereit.“ Hans folgerte messerscharf: „ Da sind wir wohl in den falschen Zug gestiegen!“ Ein Rätsel! Wie war das möglich? Wir waren doch, etwas sehr knapp zwar, aber noch rechtzeitig, auf dem richtigen Bahnsteig 7 in unseren Zug gesprungen. Das war aber, nun ganz klar, nicht der Zug in Richtung Landeshauptstadt, mit dem wir eigentlich fahren wollten.

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„Hier schauen sie auf den Aushang, dann wissen Sie Bescheid“, wies uns der rotbemützte Beamte zurecht , der uns auf dem Bahnsteig entgegenkam. Dann ließ er sich aber doch noch herab, zu erklären: „Das läuft hier seit Wochen jeden Samstag so. Wegen Bauarbeiten müssen wir am Nachmittag auf Gleis 7 immer zwei Züge gleichzeitig bereitstellen, die quasi Rücken an Rücken aufgestellt werden. Der eine fährt nach Norden in die Landeshauptstadt, der andere geht eine halbe Stunde später in entgegengesetzter Richtung nach Neustadt. “ Alles klar! Die Enden der beiden Züge standen dicht beieinander, als wir hektisch in den Zug gesprungen waren. Wir waren dabei einen Wagen zu weit, und damit in den falschen Zug geraten. Und das hatte auch Hans, unser Schnellmerker, nicht gecheckt, sodass unser Zug – hinter unserem Rücken – ganz planmäßig ohne uns abgefahren ist.

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Der verpasste (Um)Zug von Ingo Huse Für Personen im Rollstuhl ist es schwierig eine geeignete Wohnung zu finden. Diese sollte an den Bedürftigen angepasst sein. Rollstuhlwechselplätze oder automatische Schließanlagen werden gerne von den Architekten vergessen. wie jüngst gesehen in einem Neubaukomplex in der Heidelberger Straße. Auch muss das Wohnumfeld mit vielen barrierefreien Geschäften und Verkehrsmitteln stimmen. Einige Stadtteile sind so dicht besiedelt, das Personen im Rollstuhl keinen Platz mehr im Bus finden. Bauarbeiter von Baustellen oder Betreiber von Cafés, die ihre Stühle auf den Gehwegen stellen, vergessen oft, einen barrierefreien Durchgang für mobilitätseingeschränkte Personen zu schaffen, was dazuführt, dass man mit dem Rollstuhl auf die Straße ausweichen muss. Leider werden zu wenige Sozialwohnungen mit erforderlichen Rollstuhlwohnungen gebaut, obwohl der demographische Wandel weiter zunimmt. Aufgrund der vollen und dichten Besiedlung der Innenstadt-Stadtteile haben wir uns entschlossen eine rollstuhlgerechte Wohnung am Stadtrand zu suchen. Auch deshalb, weil ich an einer Hausstaub-Allergie leide und die Luft am Stadtrand sauberer ist. Da ich seit Kindesalter gerne Straßenbahn fahre, sollte das neue Wohnumfeld auch an das Straßenbahnnetz angeschlossen sein. Auch deshalb, weil meine Frau eine Aufzugphobie entwickelt hat und sich deshalb von S-und U-Bahnen ausschließt. Da ich aufgrund meines Asperger-Syndroms erwerbsgemindert bin, erhalte ich Grundsicherung. Die Frührente meiner Frau wird auf die Grundsicherung angerechnet. Daher benötigen wir eine rollstuhlgerechte 3-Zimmer-Wohnung, dessen Miete vom Sozialamt übernommen werden kann. Seit den nunmehr 8 Jahren unserer Beziehung hat sich der Neuköllner Kiez stark gewandelt und das bekommt man stark zu spüren. Vieles vertraute aus der Vergangenheit meiner Frau ist weg. Selbst mir die extreme Überfüllung in Neukölln aufgefallen.

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Dann haben wir die perfekte Wohnung in Hellersdorf gefunden. Sie liegt mitten in einem reinen Wohngebiet, wie ich es aus meiner Kindheit kenne. Auch Größe, Schnitt und Miete sind wie gemacht für uns. Ich war mir für diese Wohnung sofort sehr sicher, während meine Frau noch stark abwägte, da sie in Neukölln aufgewachsen und vieles vertraut ist und sie auch viele Erinnerungen hat. Meine Kindheit liegt am nördlichen Stadtrand von Köln. Aufgrund meines Asperger-Syndroms gaben mich meine Eltern mit 9 Jahren in eine Universitäts-Kinderklinik für entwicklungsgestörte und verhaltensauffällige Kinder ab. Als ich 11 war kam ich in das heilpädagogische Kinderdorf „Die Gute Hand“ in Biesfeld. Mit 14 kam ich in die Außenwohngruppe "HK2" des Neukirchener Erziehungsvereins. Seit dem werde ich von diesem Betreuungsverein betreut. Auch erlebte ich in diesem Zeitraum eine starke Weiterentwicklung mit vielen Freunden. Mit 17 war meine Entwicklung soweit fortgeschritten, dass ich innerhalb des Betreuungsvereins in die WG Kompass wechselte. Dort begann ich eine Ausbildung als Gartenbauwerker. Dadurch, dass ich wegen des Schulabgangs nach und nach meine Freunde verlor, von der Ausbildungsstätte nicht übernommen wurde und meine erste Freundin verlor sank meine Verbselbstständigkeit soweit ab, dass dass diese stagnierte. Als ich 20 war, bemerkte ein Betreuer die Entwicklungsstörung und stelle in vielen Gutachten Autistische Züge fest. Bei einer Untersuchung in Viersen bei einer Psychologin wurde das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Mit dieser Diagnose konnte ich nicht mehr länger in der WG Kompass bleiben. Es wurde dann eine Einrichtung gesucht, die speziell für meine Entwicklungsstörung angepasst ist. Nach langer Suche kam ich mit 21 in AutistenWohnheim in Berlin, das kurz darauf vom Neukirchener Erziehungsverein übernommen wurde. Erst im Alter von 31 lernte ich eine wunderbare Traumfrau kennen. Als sich die Beziehung verfestigte, zogen wir zusammen. Da sie jedoch auf eine rollstuhlgerechte Wohnung angewiesen ist, zog ich erstmals bei ihr ein, bis wir

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eine bessere Wohngegend gefunden haben, die für uns beide geschaffen ist. Wegen der hohen Feinstaub-Belastung in Neukölln entwickelte ich im Laufe der Zeit eine Hausstaub-Allergie. Abhilfe schafft nur ein Wohnumfeld am Stadtrand, wo die Luft sauberer ist. Am 11.11.2011 feierten wir schließlich unsere Verlobung. Die Hochzeit folgte nach einigen Schwierigkeiten, wegen erforderliche Papiere am 27.09.2013. Da die meisten Einrichtungen aus meiner Kind und Jugendzeit eher in ländlichen Gegenden lagen, verbinde ich die dünne Besiedlung in der Hellersdorfer Wohngegend mit einer hoffnungsvollen Weiterentwicklung, da einige meiner Lebensziele noch nicht erreicht wurden. Diese möchte ich zusammen mit meiner Frau vervollständigen. Das größte Ziel ist es, Nachwuchs in die Welt zu bringen. Lange Zeit war auch das Sozialamt der Meinung, das die bisherige Wohnungsgröße ausreichen würde und das kein Umzugsbedarf bestünde. Inzwischen konnten wir einen größeren Wohnbedarf glaubhaft machen, da das Wohnungsamt ein Zimmer mehr rechtfertigt. Allerdings müssten Renovierungen und der Umzug selbst aus eigener Tasche bezahlt werden. Nur die neue Miete, die nicht höher sein darf, übernimmt das Sozialamt. Allerdings ist der Wohnungsmarkt in Berlin so stark angespannt, das es so gut wie keine Wohnungen in der vom Sozialamt geforderten Miethöhe gibt. Dies ist ein weiterer Grund die Wohnung in Hellersdorf zu nehmen. So ein Angebot wird es nie wieder geben. Nach dem das Sozialamt nun „grünes Licht“ für den Umzug gegeben hatte, sollten nun 3 Kostenvoranschläge von diversen Umzugsfirmen eingeholt werden. Wir hatten sogar 4 Firmen mit einem Kostenvoranschlag beauftragt. 3 Davon haben sich die Wohnung mit den notwendigen Umzugsbedarf angeschaut. Doch es wurden nur 2 Kostenvoranschläge zugesandt. Während ich für die Wohnung in Hellersdorf sehr sicher war, wurde meiner Frau die Wohnung von Physiotherapeuten ausgeredet. Auch, das die Be-

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treuer einen weiteren Arbeitsweg hätten, veranlasste meine Frau die Wohnung nicht zu nehmen. Mir sind die Kommentare der Betreuer und Therapeuten völlig egal. Sonst würde auf unser Grabstein stehen: „Das Leben hat allen gefallen. Nur mir nicht.“ Zu allen Übel kam noch dazu, das meine dekubitusgefährdete Frau, wegen eines technischen Defekts des Elektrorollstuhls, einen total unbequemes Austauschmodell bekam, was dazu führte, das wir nicht nach Hellersdorf kamen, um den Mietvertrag zu unterschreiben. Der Sitz war so unbequem, das ihr nach einer Stunde die Pobacken schmerzten und auf Dauer Wunden bekamen. Aufgrund dieser Verkettung unglücklicher Umstände, gelang es uns nicht nach Hellersdorf umzuziehen. Der Umzug wurde verpasst. Ist der Zug in Richtung Um-Zug schon abgefahren?

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So kann´s kommen ... von Heike Oldenburg, Ex-Springerin Meist guckt mensch durch die Fenster in der Bundesbahn nur so hindurch. Dazu sind sie ja da, in die Gegend hinaus zu sehen und etwas Abwechslung auf der Fahrt zu haben. Zum Hinauswerfen, -lehnen oder gar -springen sind sie jedenfalls nicht da. Dies zu unterlassen, wird mensch von aufgeklebten Piktogrammen auf allen Fenstern aufgefordert. Auf einer Bahnfahrt von Dresden nach Hause – im Euro-City, dann in der Regionalbahn – fielen mir doch mehrere Bildchen dieser Art besonders auf. Die Abfolge war sensationell!! Auf dem ersten Piktogramm im Abteil wirkte die Abbildung der Bewegungen irgendwie auffordernd: Es sah aus, als wolle die Flasche aus dem Fenster fliegen, mit dem Hals weg gewandt vom Menschen, ohne Kontakt. Zudem wirkte es, als sei sie mit praller Sonne gefüllt und berstend-übersprudelnd. Der Mensch dahinter hat das eine Bein schon gehoben – er will hinterher springen und die Flasche aufsammeln. Oder will er die Prallheit der drängenden Sonnenstrahlen für sich retten? Oder vielleicht will er auch die Natur vor Müll retten? Am gegenüberliegenden Fenster im Gang ein viel reduzierterer Eindruck: Die Flasche guckt mit dem gehobenen Hals zum Menschen – vorwurfsvoll, dass er nichts tut? Der Mensch steht – statisch, mit senkrechten Beinen – am Fenster und guckt nur – vorbei an der Flasche, vielleicht zur Brücke, bleibt jedenfalls unbewegt-inaktiv. Dann: Kaum zu toppen die ungeplante „Fortsetzung“ im Regionalzug, Interessanterweise klebten beide Piktogramme am selben Fenster im Fahrradabteil, auf dem oberen: Diese Flasche sucht aktiv das Weite, „guckt“ mit gesenktem Kopf in Fahrtrichtung nach unten, ist schon fast „weg vom Fenster“. Der Mensch dahinter steht unbeteiligt und sieht wieder nur zu, oder nur in die Ferne.

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Und dann: So kann´s kommen... Das Licht ist fahl, alles gleitet schmierig ab: die Flasche, der Mensch, dieser zweitere sogar mit dem Gesicht nach unten. Wird der Mensch für den Akt der Ignoranz gegenüber der hinaus fliegenden Flasche gestraft?? Beide Piktogramme hängen, kleben zerschmolzen am unteren Fensterrand. Was wollen uns diese Piktogramme sagen? Was sagt uns der Zufall der Reihenfolge? Keine Flaschen springen aus dem Zug? Oder: Nur Flaschen springen aus dem Zug? Werfen, springen, stoßen? Geworfen werden, gesprungen werden, gestoßen werden? NEIN, weder Flaschen noch Menschen – noch Menschen, die sich wie menschliche Flaschen fühlen – springen jemals aus irgend einem Zug!!! Und Punkt!

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Die frühen Reisenden von Kerstin Fischer Auf dem Bahnsteig schwimmen die Zigarillos der frühen Reisenden im Mittelmeer vergangener Visionen. Das anonyme Gesicht des Bahnhofs zerfließt in ihrem Rauch. Die Augen auf dem Buchcover, in dem einen Laden, graben sich mir ein, vorbei an Happy Donatz. Unsichtbare Kojoten sitzen auf Gleis 13 und verhindern die Einfahrt des Metronoms. Sie heulen in die Choreographie der Getriebenen aller Herren Länder. Pastellfarbene Seide aus Neu Delhi und die Vakanz von englischem Tweed fallen auf. Die New York Times klemmt unter dem Arm. Das Kaleidoskop nach Übersee. Parfümierter Körpergeruch setzt sich über die rollenden Koffer hinweg. An den derberen Schuhen klebt schon die Herbstnote des Indian Summer. Der Bahnsteig erträgt ihre Sohlen und den Kot der Tauben, die aus dem Paradies geflattert kamen, als ein Elender in einem Abfallkorb nach seiner Unschuld wühlt. War sie nicht blau noch vor Jahren? Die Sirenen auf den Geländern beobachten ihn. Sie sind ohne Alibi.

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Ist der Zug schon abgefahren? von Matthias Popp Ist der Zug schon abgefahren? Nein natürlich – bezogen auf mich! Ich wurde am 12.04.1967 in Lucken geboren. Ein Mensch hielt mich an den Beinen in die Höhe und gab mir einen Klapps auf den Po. Ich fing an zu weinen, beziehungsweise das Leben mit einem lauten Schrei zu begrüßen und spüre heute noch, dass meine Mutter vor Glück weinte. Meine Eltern haben mich liebevoll großgezogen und mir ein schönes Leben, beziehungsweise eine schöne Kindheit gegeben. Ein Auto erfasste mich und ich knallte mit dem Schädel gegen die Frontscheibe, bekam ein Schädelhirntrauma, meine linke Schulter war verletzt. Später wurde mir ein Geschwür entfernt. Ich musste neu laufen lernen! Ich bin fünfzig Jahre jung und habe viel gelernt! Negatives und Positives. Zum Beispiel bin ich sehr an Wasser gebunden und es macht mir Spaß Menschen zu helfen. Zum Thema ist der Zug schon abgefahren: die Frage ist für mich falsch gestellt! Ich habe keine Schmerzen und bin noch geistig fit, glaube ich. Ich lebe in einem Sozialstaat. Es ist Frieden – das soll auch so bleiben. Bei der nächsten Friedensdemo mache ich mit. Mir fehlt nur noch eine Wohnung. Aber das sehe ich auch positiv, weil ich nicht alleine dastehe oder bin. Da helfen mir meine Schwester und die Versicherung Allianz vom Unfallverursacher. Ich möchte noch Menschen lachen sehen und hören – jüngere und ältere. Da kommen noch mehrere Züge angefahren. Züge mit den Zielorten Frieden, Freundschaft, Gesundheit und Liebe, gesundes Essen, Sport sowie Spaß. Ich steige in alle Züge ein, denn ich habe noch viel Zeit!

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Leben heißt Veränderung Andrea Kerstinger 8:20 Uhr. Da stand sie nun. Den Doktortitel in der Tasche, das halbe Leben verstaut in zwei großen Koffern. Sie war adrett angezogen, nicht zu übertrieben. „Sportlich elegant“ hatte sie einmal in einem Hochglanzmagazin gelesen. Diese Bezeichnung traf wohl es am ehesten. Eine selbstbewusste, junge Frau, die unter den vielen Reisenden nicht weiter auffiel. „Verzeihung!“. Eine Frau mit einem Kleinkind an der Hand drängelte sich an ihr vorbei. Sie hatte es wohl eilig nach Hause zu kommen. Der Zug in die Heimat hatte laut Infotafel am Bahnsteig ein wenig Verspätung, doch ihr machte das nichts aus. Sie konnte auch den späteren nehmen. Oder aber auf den nächsten Tag warten. Es machte für sie keinen Unterschied, ob sie heute, morgen oder erst in ein paar Tagen nach Hause kehren würde. Es gab niemanden, der sie sehnlichst erwartete. Zumindest nicht sehnlicher, als ihre Oma es früher immer getan hatte, wenn sie an den Wochenenden die Reise in ihr Heimatdorf angetreten und das Internat in der Hauptstadt hinter sich gelassen hatte. Die Omama, die mit ihren selbstgemachten Mehlspeisen bereits auf sie gewartet hatte. 8:25 Uhr. Apropos warten. Der Zug sollte bereits abgefahren sein, doch er ließ auf sich warten. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie vor Jahren hier gestanden hatte. Damals war sie gerade erst aufgebrochen, um das Leben kennenzulernen. Das unschuldige Mäderl vom Lande, das so unschuldig gar nicht aussah. In ihrem Heimatdorf hatte man über ihre zerrissenen Jeans nur den Kopf geschüttelt. „Wie kann man sich nur so herrichten?“ Sie konnte den Satz förmlich von ihren Lippen ablesen, auch wenn diese ihn noch gar nicht geformt hatten. In ihren Köpfen hatte er sich bereits manifestiert, das spürte sie. Vielleicht hatten sie aber auch Angst vor ihr. Mit den schwarz bemalten Lippen und der grünen Strähne in ihren Haaren sah sie aus wie eine Städterin.

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Dabei hatte sie ihre mehr oder weniger glückliche Kindheit im tiefsten Tal verbracht und war kaum einmal in die Landeshauptstadt gekommen. Immerhin schrieb man schon das 20. Jahrtausend und sie musste nicht so wie ihre Oma ihr ganzes Leben auf dem Hof der Familie verbringen. Wenigstens in der Oberstufe durfte sie Stadtluft schnuppern und kehrte nur an den Wochenenden nach Hause zurück. Aber auch wenn die Touristen die ruhige Lage zwischen den Bergen und die fast unberührte Natur schätzten, konnte sie diesen nostalgischen Gefühlen mit zunehmendem Alter immer weniger abgewinnen. Die Idylle erschien ihr trügerisch, die Freundlichkeit der Dorfbewohner viel zu aufgesetzt. Sie wusste sehr wohl, dass diese sich das Maul über einen zerrissen, kaum war man aus deren unmittelbaren Blickfeld verschwunden. 8:27 Uhr. Der junge Mann im Anzug schien es wohl eilig zu haben. Nervös sah er immer wieder auf seine Armbanduhr. Manchmal verlief die Zeit wirklich viel zu langsam. Und dennoch ließ sie sich nicht aufhalten. Diese Erfahrung hatte sie leider auch mit ihren sogenannten Freundinnen machen müssen. Sie hatte gedacht, dass ihre Freundschaft ewig andauern würde. Damals, kurz nach der Scheidung ihrer Eltern. Doch niemand verstand ihre Trauer, ihre Angst, ihre Wut, ihren Zorn. Vordergründig waren sie Freundinnen geblieben, doch durch einen dummen Zufall musste sie erfahren, wie ihre Freundinnen tatsächlich von ihr sprachen, wenn sie nicht dabei war. Sie war das arme Scheidungskind, das mit der Trennung seiner Eltern nicht zurechtkam und sich dafür schuldig fühlte. Die Zicke, die ihr Leben nicht mehr im Griff hatte. Die Rebellin in der Schule, die immer ihre Meinung lautstark verkünden musste. Dabei hätte sie damals nur ein offenes Ohr und ein wenig Unterstützung gebraucht. Ihre Oma hatte wieder einmal Recht gehabt, als sie ihr Jahre zuvor Folgendes geraten hatte: „Achte genau darauf, wie jemand über andere redet. Genauso wird er es bei anderen über dich tun.“ Dem Bruch mit ihren sogenannten Freunden war fast ein Zusammenbruch gefolgt. Zum Glück hatte sie noch rechtzeitig erkannt, dass die Zeit für einen Aufbruch reif war.

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8:29 Uhr. „Zug fährt ein“. Kurz überlegte sie noch, ob sie nicht doch zurück in ihre alte Wohnung fahren sollte, aber ihr Entschluss stand nun einmal fest und ein Nachmieter war bereits gefunden. Sie sollte mit dieser Episode ihres Lebens endgültig abschließen. Beim Einsteigen in den Zug hatte sie eine ähnliche Aufregung wie damals gefühlt. Während der Zugfahrt in den Norden war sie damals ihren Erinnerungen nachgehangen und hatte kaum auf die vorbeiziehende Landschaft geachtet, die sich immer mehr veränderte. Mit der zunehmenden Weite der Täler hatte sie sich jedoch freier und glücklicher gefühlt. Zuhause hatte sie das Gefühl gehabt, als würden die Berge immer näherkommen, sie einengen. Irgendwann hatte sie einfach fliehen müssen, um nicht von ihnen erdrückt zu werden. Nun sehnte sie sich nach der Geborgenheit der Berge zurück, die sie damals als so beklemmend empfunden hatte. Sie hatte auch die Geschäftigkeit der Großstadt satt, den Trubel, die Hektik. Als das, was ihr in jungen Jahren so gefallen hatte, würde sie nun wieder zurücklassen. Sie war gereift. Sie und auch die Zeit. 8:35 Uhr. „Fahrscheinkontrolle!“ Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Der Schaffner schenkte ihr kaum Beachtung, zumindest wunderte er sich nicht über den vorgelegten Fahrausweis. Der Schaffner damals hatte sie aus den Augenwinkeln begutachtet und schien ehrlich erstaunt darüber gewesen zu sein, als sie ihm ein Ticket vorweisen konnte. Hatte er wirklich gedacht, dass sie eine Schwarzfahrerin wäre? Und das nur aufgrund ihres Aussehens? Das konnte ihr in der Großstadt bestimmt nicht passieren, da schaute doch jede Zweite so aus wie sie, so hatte sie damals gedacht. Inmitten all der Unbekannten, den Wochenpendlern, den Studenten, den Geschäftstüchtigen und den Obdachlosen war sie auch nicht weiter aufgefallen, als sie zum ersten Mal einen Fuß in die Großstadt gesetzt hatte. In der Stadt war man nur irgendwer. Nichts Besonderes. 8:45 Uhr. Sie sah aus dem Fenster. Seit dem Begräbnis der geliebten Oma war sie nicht mehr zuhause gewesen. Damals war es auch nur bei diesem kurzen Gastspiel in der Heimat geblieben. Sie hätte auch nicht bleiben können, da sie sich mit ihrer Vergangenheit noch nicht ausgesöhnt hatte. Zu

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schmerzhaft waren die Wunden gewesen, zu frisch. Und heute? „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Was als abgedroschene Floskel in ihrem Kopf verankert war, hatte sich tatsächlich bewahrheitet. Auch der Schmerz war nur selten noch wahrnehmbar. Dennoch waren Narben geblieben. Aber sie hatte während ihres Medizinstudiums gelernt, dass die Wunden und Narben den Menschen ausmachten. Verletzlichkeit sah sie nicht mehr als Schwäche an. Niemand musste perfekt sein. Also verlangte sie das auch nicht von ihren Mitmenschen. „Hals- und Beinbruch!“, hatte man ihr am letzten Arbeitstag im Krankenhaus gewünscht. Es war schon komisch, welche Redewendungen die deutsche Sprache parat hielt. Wieso wünschte man irgendjemandem so etwas, wenn man eigentlich nur Gutes im Sinn hatte? Aber vielleicht war dieser Ausdruck entstanden, weil man sich Sorgen um arbeitslose Ärzte machte. Dieser blödsinnige Gedanke entlockte ihr ein Lächeln. 8:52 Uhr. Sie sollte vielleicht nicht ständig auf das Display ihres Handys schauen. Eine Angewohnheit, die sie bei anderen auch nicht mochte. Also verstaute sie ihr smartes Mobiltelefon in der neuen Ledertasche und nahm stattdessen den neuesten Krimi des deutschen Bestsellerautors heraus. Doch zum Lesen fehlte ihr momentan noch die innere Ruhe. Vielleicht sollte sie versuchen zu schlafen, so würden die nächsten fünf Stunden viel schneller vergehen. Dennoch, sie wollte doch gar nichts versäumen auf ihrer Reise in die Vergangenheit und gleichzeitig in eine neue Zukunft. Sie wollte wach und aufmerksam sein. Jetzt, wo sie diesen Job in ihrer alten Heimat angenommen hatte, wollte sie sich dieser Herausforderung auch stellen. „Wundheilerin im neuen Ärztezentrum gesucht“. Diese Stelle hatte sie förmlich gefunden und nicht umgekehrt. Mit Wunden konnte sie schließlich gut umgehen. Dieser Wink des Schicksals war zur rechten Zeit gekommen, so wie sie auch überzeugt davon war, dass vieles nur dann passieren konnte, wenn man bereit dazu war. Und war es wirklich nur Zufall, dass ausgerechnet er die Annonce aufgeben hatte? Der Jugendschwarm aller Mädchen ihres Heimatdorfes? Er hatte

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sie am Telefon sofort erkannt, als sie wegen der Stellenanzeige angerufen hatte. Das hätte sie nicht erwartet, schließlich war er doch ein paar Jahre älter als sie und hatte sie damals kaum beachtet. Auch jetzt durchströmte sie ein Glücksgefühl, einem warmen Sommerregen gleich, wenn sie an ihn dachte. Sie musste vor sich selbst zugeben, dass er nicht unwesentlich dazu beigetragen hatte, dass ihr Leben eine Kehrtwende von 360 ° Grad machen würde. Auch wenn sie sich das vor Jahren nicht vorstellen hätte können, würde sie nun doch nach Hause zurückkehren. 9:00 Uhr, ungefähr. Sie war bereit für ihr neues Leben. Nun war sie es.

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Entgleist. von Sandy Brandt Ein Papierflieger. Als sie ihn durch die Luft segeln lassen will, fällt er mit der Nase voran sofort zu Boden. Bruchlandung. Das Papier ist zu schwer. Sie hebt es auf, legt es auf den Tisch und streicht es mit der Faust glatt. Dort wo die Faltkanten bleiben, ist die Farbe weg, sodass überall weiße Striche zu sehen sind. Noch mal mit der Faust rüber. Die Faltkanten bleiben. Sie greift sich die kleine Modell-Eisenbahn, der noch von dem Besuch ihres Neffen auf dem Tisch steht und fährt mit ihm über das Papier. Durch die Kanten ist es holprig und die Räder bleiben hängen. Mit einem Ruck steht sie vom Stuhl auf. Die Modell-Eisenbahn rollt zu Boden. Kurz sieht es so aus, als wolle sie die Bahn aufheben, aber fegt sie mit einer einzigen Handbewegung auch das Papier vom Tisch und verlässt den Raum. Zurück kommt sie mit einem Telefon. Sie legt es dorthin, wo zuvor das Stück Papier lag. Dann zieht sie schnell die Hand weg und geht drei Schritte rückwärts. Umdrehen und auf's Sofa setzen. Aus dem Augenwinkel sieht sie das Telefon.

Sie hätte es nicht herholen sollen. Sie hätte schon vor Jahren anrufen sollen.

Sind es wirklich schon Jahre? Sind nicht erst ein paar Wochen vergangen, seitdem sie das letzte Mal in exakt dieser Position im Wohnzimmer saß? Sie versucht sich zu erinnern. Aber das geht nicht, denn das hier ist so noch nie passiert. Das letzte Mal war es ein anderes Wohnzimmer, in einer anderen Wohnung. Wie lange wohnt sie schon hier?

Es müssen Jahre sein.

Für einen lächerlich kurzen Moment sieht sie sich vom Sofa aufstehen, zum Telefon gehen und die Nummer wählen. Es klingelt. „Hallo?“

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Nein. Da verschwimmt das Bild schon. Das Gesicht in ihrer Erinnerung hat keine Stimme. Erinnerungen verblassen und sie hat die Stimme schon seit Jahren nicht mehr gehört.

Also doch, Jahre.

Vielleicht sollte sie das Telefon einfach wieder weglegen. Das Papier aufheben und zurück in die kleine Box legen, wo es herkommt. Ein letztes Mal an sie denken, an die Vergangenheit und akzeptieren, dass die Vergangenheit so heißt, weil sie vergangen ist. Akzeptieren, dass ihre Freundschaft vielleicht nur darauf basierte, dass sie Tür an Tür gelebt hatten, seit dem 6 Lebensjahr. Einsehen, dass ein Gespräch völlig unmöglich wäre, weil sie sich gar nicht kannten. Was waren sie schon noch? Zwei Bekannte mit gemeinsamen Erinnerungen. Zwei Bekannte, die vielleicht etwas Small-Talk am Telefon führen könn ten. Nichts ist ihr mehr zuwider als Small-Talk. Früher hatten sie stundenlang in einem Raum gesessen und geredet über – – sie weiß es nicht. Was hatten sie gemeinsam gehabt? Vielleicht nur die Adresse. Bis zu dem Tag, als der zusammengefaltete weiße Zettel – runter gerissen von dem Notizblock, der immer neben dem Telefon bei ihren Nachbarn zu Hause lag – in ihrem Briefkasten landete. Sie weiß, dass genau der Zettel in der Box auf ihrem Nachttisch liegt, sooft auseinander- und zusammengefaltet, dass er fast zerfällt. Aber sie braucht ihn nicht rauszuholen, um zu wissen, was darauf steht. ich wollte dir noch tschüß sagen, aber du warst nicht da. deine mama hat unsere neue nummer und adresse. ich komme dich an den wochenenden besuchen. E. Aber an den Wochenenden kam niemand. Sie hatte ihre Mutter zwar nach der Telefonnummer gefragt, aber gewählt hatte sie diese nie. Zuerst gab es einfach nichts allzu wichtiges, was passiert war, um einen Anruf zu rechtfertigen.

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Und dann gab es immer mehr Sachen, die man am Telefon nicht erklären kann, weil es dafür einfach mehr braucht als 100 Kilometer Entfernung und eine schwache Erinnerung an eine Freundschaft, die vielleicht irgendwann mal da war. Es ist nicht so, dass sie die Gespräche nie geführt hätte. In vielen Nächten, in dem kurzen Moment zwischen Bewusstsein und Schlaf – dann, wenn man so müde ist, dass seine Gedanken sich verhalten, wie ein entgleister Zug –, hatte sie dutzende von diesen Gesprächen geführt, in allen möglichen Ausführungen. Und jedes Mal, wenn die Vergangenheit in diesen Momenten ihre Brust eingedrückt, sich wie ein schwarzer Schleier um sie gelegt und sich wie ein Band um ihre Kehle geschnürt hatte, hatte sie den Entschluss gefasst, am nächsten Morgen zum Telefon zu greifen.

Gestern war wieder so eine Nacht gewesen.

Sie sollte es einfach tun. Aber ihr Blick fällt auf die Modell-Eisenbahn, die umgekippt auf dem Boden liegt, gleich neben dem Stück Papier, das mal ein Papierflieger war. Zu spät. Die Haustür geht auf, ihr Freund kommt nach Hause. Wie jeden Tag in der Woche seit 5 Jahren. „Hey“, sagt er, als er ins Wohnzimmer kommt. Sein Blick fällt auf das Stück Papier, was auf dem Boden liegt und gleitet weiter zur Eisenbahn. Doch er hebt nur das Papier auf. Sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. „Bist das du als Kind?“ Er dreht den ehemaligen Papierflieger um, sodass sie auf die Vorderseite starrt, wo zwei Mädchen zu sehen sind, gekleidet im selben Outfit, die Arme umeinander gelegt. Sie nickt. „Wer ist das da neben dir?“ Sie nennt ihm den Namen; seine Stirn legt sich in Falten. „Die kenn' ich ja gar nicht.“ Sie könnte etwas sagen, es erklären, das Telefon nehmen und anrufen. Stattdessen hebt sie die Eisenbahn auf und verstaut sie im Schrank, bis zum nächsten Besuch ihres Neffen. Zu spät.

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Alles ist möglich-Lea will ans Meer von Barbara Gase Lea hastet den Bahnsteig entlang und atmet schwer. Sie blickt auf die Rückfront des Zuges, der sich rasch entfernt, und ist erleichtert, dass er wegfährt. Sie schüttelt ihre braunen Locken, wischt sich mit der Hand über das Gesicht, holt tief Luft und setzt sich auf eine Bank. Eine Stunde Zeit. Sechzig Minuten zum Durchatmen und Nachdenken. Dann der nächste Versuch. Ihr Herzrasen lässt langsam nach. ‚Willkommen in Berlin-Spandau‘ knarzt es aus dem Lautsprecher. Es ist Sommer. Berliner Hochsommer. Stickig und heiß. Trotzdem fröstelt sie in dem neuen ärmellosen Kleid. Lea trägt Leinenturnschuhe. Ihre bleichen Beine sind der Sonne bisher aus dem Weg gegangen. Sie sucht in ihrem Rucksack nach der Sonnenbrille mit den extra dunklen Gläsern. Lea will ans Meer. Seitdem ihre Freundin Miriam ihr den Ostsee-Bildband in üppigen Blautönen zu Weihnachten geschenkt hat, ist es ihr größter Wunsch. Zum ersten Mal ans Meer. Sehr oft hat sie die Seiten umgeblättert und sich alles ausgemalt. Sie strich mit den Fingern über die Wellen, lief in Gedanken barfuß den Strand entlang, hatte die Zehen in den warmen Sand getaucht, Steine und Muscheln gesammelt und hörte förmlich das Kreischen der Möwen. Den Salzgeruch in der Brise konnte sie fast riechen. Doch das ist alles nicht so einfach. Wenn die Fahrt nicht wäre. Sie beobachtet zwei Tauben, die mit nickendem Kopf auf und ab stolzieren. Sie muss lächeln und denkt sofort an Doktor Fuchs, den Psychiater, der auch immer mit dem Kopf wackelt, wenn sie in seine Therapiestunde kommt. Später sitzt er still da und hört ihr aufmerksam zu. Sie mag seine braunen Eichhörnchenaugen, die sich schnell hin und her bewegen, und dass er den Kugelschreiber wie eine Zigarette hält.

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Wiederholt hat sie ihm von dem ‚großen dunklen Schreck‘ erzählt, der sich aus heiterem Himmel, auch mehrmals am Tag, wie eine schwarze Monsterwolke über sie legt, von dem Gefühl, in einer engen Truhe zu sitzen und dem Versuch, den Deckel hochzustemmen, und dass er immer wieder herunterfällt. Oder von den Alpträumen, die sie als Kind hatte, dass eine riesige Teppichrolle auf sie fiel, immer wieder. Finster und ausweglos. Oder sie saß in einem Zimmer mit hunderten Bilderrahmen an der Wand. Alle waren leer, und die Wände des Raumes rückten auf sie zu. Der Raum schrumpfte. Und von der Röhre, in der sie lag und sich nicht bewegen konnte. Das Licht in der Ferne erreichte sie nie. Vor drei Jahren war sie nach einer kurzen Eisenbahnfahrt an der nächsten Haltestelle aus dem Zug gestürmt. Schweißgebadet, zitternd, mit heftigem Herzschlag, schwindelig taumelte sie wie ein Fluchttier aus dem Wagen und brach draußen zusammen. Ein Rettungsfahrzeug brachte sie in die Klinik. Seitdem vermeidet sie Fahrten, auch mit der U-und S-Bahn in Berlin, wenn es möglich ist. Sie macht das meiste zu Fuß in ihrem Kiez. Hastig und nur das Notwendigste. Studieren ist nicht mehr denkbar. Sie bestellt oft Pizza am Telefon. Der Pizzabote heißt Ben und ist ein Freund geworden. Häufig geht sie tagelang nicht aus der Wohnung. Das Poster ‚Der Schrei‘ von Edvard Munch hat sie schon zigmal aufgehängt und wieder zusammengerollt in die Ecke gestellt. Plötzlich kann eine Attacke kommen, im Supermarkt in der Kassenschlange, im Kino, überall, auch auf der Straße. Vor ein paar Tagen an der Ampel. Sie muss stehenbleiben. Es dauert sehr lange. Minuten verrinnen. Sie wird unruhig. Sie stolpert los, wankt die Straße zurück, ihr ist schwarz vor Augen und schlecht. Sie schlottert und keucht. Diese Enge in der Brust. Das Kribbeln in den Beinen. Taube Finger. Als ob sie neben sich stehen würde.

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Dabei möchte sie die Schatten so gern mit Himbeereis besiegen, eine Zugfahrt genießen, aus vollen Zügen, auf der Straße schlendern und die Auslagen der Geschäfte betrachten. In der letzten Therapiestunde vor ihrer Reise hat sie Doktor Fuchs noch einmal das U-Bahnfahren geschildert: „Ich sitze in der U 1 und starre in mein Buch oder Smartphone. Die Buchstaben fangen zu tanzen an. Krampfhaft versuche ich an etwas zu denken, was ich erledigen muss. Ich balle die Fäuste bis die Fingerknöchel weiß herausragen. Übelkeit steigt vom Magen nach oben und sackt in den Darm ab. Ich habe immer einen Plastikbeutel dabei, weil ich befürchte, ich muss mich übergeben. Ein Eisenring legt sich um meine Brust, schnürt sie zu wie eine Schlauchklemme den Waschmaschinenschlauch, und wird immer enger und enger. Ich bekomme keine Luft. Ich japse und atme schnappend ein. Der Cocker Spaniel im Gang, dem ich eben noch über den Kopf gestreichelt habe, wird zur zähnefletschenden Bestie. Ein Dröhnen im Kopf, als ob jemand neben meinem Ohr auf einen Metalleimer eindrischt. Ich stehe auf und gehe zur Tür, lehne mich gegen sie. Ich habe das Gefühl, die Menschen hinter mir bedrängen mich und gucken, ja, glotzen mich an. Eingezwängt bin ich zwischen ihnen und der Tür. Ich tippel hin und her. Ich darf nicht umfallen. Meine Tasche presse ich an mich und fixiere einen Punkt in der Ferne. Ich schwanke. Noch zwei Minuten, noch eine Minute, zehn Sekunden. RAUS. Ich wühle mich durch die Menschenmassen auf dem Bahnsteig. Wie eine aufgeschreckte Maus renne ich und würde mich am liebsten in ein Loch verkriechen. Nichts wie RAUS hier. Erst ‚Hallesches Tor‘, macht nichts, den restlichen Weg laufe ich zu Fuß nach Hause. Den Nieselregen spüre ich nicht. Zu Hause werfe ich das nass geschwitzte T-Shirt zu den anderen auf den Wäscheberg.“

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Stimmengewirr lässt Lea aus ihren Gedanken hochfahren. Im Moment weiß sie nicht, wo sie ist. Sie sieht und hört eine Gruppe von Menschen, die auf dem Bahnsteig zusammenstehen und alle nach oben starren. „Wie kommt der da hin?“ „Das gibt’s doch nicht!“ „Der hat gar nichts an!“ „Doch, eine Badehose!“ „Zum Glück!“ Immer mehr Leute finden sich ein und blicken nach oben auf das Glasdach. Lea nimmt ihren Rucksack und nähert sich vorsichtig der Menschenansammlung. Ein Mann liegt mit dem Rücken auf dem Glasdach und sonnt sich. „Lebt der noch?“ „Der bewegt sich gar nicht!“ „Doch, eben hat er die Sonnenbrille nach oben geschoben.“ „Der traut sich was.“ „Gleich kommt bestimmt die Polizei.“ „Aber der tut doch nichts!“ „Der darf da oben nicht liegen.“ Mittlerweile stehen mindestens vierzig Personen herum und diskutieren eifrig und gestikulieren wild. Lea stellt sich neben eine ältere Frau in einem langen bunten Baumwollrock. Freundliche Fältchen lachen sie an. „Was alles möglich ist, nicht wahr?“, spricht sie Lea an. Sie nickt und betrachtet den Mann, wie er die Sonne genießt. Lea schmunzelt und spürt die Wärme angenehm in ihrem Körper. Keine Hitze, die in ihr brennt und aufsteigt. Wohlige Sommerwärme. „Warten Sie auf Ihren Zug?“, fragt die Frau. „Ja, bald geht’s los“, flüstert Lea. „Wo wollen Sie hin?“ „Ans Meer, nach Bansin.“

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„Sehr schön bei diesem Wetter, da haben wir denselben Weg. Kommen Sie, damit wir ihn nicht verpassen.“ Lea folgt der Frau, die ihren Rollkoffer geschickt durch die Menschentraube jongliert. Der Regionalexpress fährt ein. Ihr Mund wird trocken. In der Brust spürt sie den vertrauten Schmerz. „Ist Ihnen nicht wohl?“, fragt die Frau. „Kommen Sie rein, hier ist ein guter Platz, nehmen Sie etwas zu trinken.“ Sie reicht Lea eine Flasche und strahlt über das ganze Gesicht. Die Tür schließt sich, der Zug rollt los. Lea wird ruhiger, das Zittern und Flattern lässt nach. Sie schaut aus dem Fenster und stützt den Kopf mit der Hand. Ihre blauen Augen glänzen wie die See an einem heiteren Tag. Die Großstadt liegt hinter ihnen, grüne Weiden und gelbe Felder fliegen vorbei. Mohnblüten und Kornblumen wetteifern um den ersten Platz bei der Farbolympiade. Lea fährt ans Meer.

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ohne Titel von Beate Geist ich erinnere mich an die letzten sommer, bevor meine kindheit zu ende war berauschend die wärme dieser sommer der asphalt so heiß, dass es kaum möglich war, barfuß darüber zu laufen und wie gerne liefen wir barfuß meine erinnerung ist angefüllt mit farben blau des himmels grün der wiesen am main der fluss in grau-blautönen wie der bach der durch das dorf führte und noch an der straße entlangplätscherte strahlende sonne lange tage ich lernte das fahrradfahren im sommer bevor die beweglichkeit vorbei war ein riesiges, altes damenfahrrad von den nachbarn, das ich benutzen durfte ich konnte nicht sitzen darauf, die beine reichten nicht an die pedale unermüdliches üben – um-die-kurve-fahren und immer wieder umkippen, hinfallen, wieder aufstehen der ehrgeiz riesengroß üben, üben, bis ich es irgendwann konnte stolz, riesengroßer stolz mein weihnachtsgeschenk ein silberfarbenes klappfahrrad im frühjahr entdeckte ich eine ganz neue freiheit schnelligkeit und größere entfernungen abenteuerlust ausprobieren glückseligkeit

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dann der mai ein einziger tag, ein einziger unaufmerksamer moment nach tagen erwacht auf der intensivstation unbeweglich gips um den ganzen körper alles zerbrochen nicht mein lebenswunsch lange, schwere monate mit schmerzen, wunden, tränen die noch kindertränen waren ich lernte das lesen neu was sonst blieb? kinderseele im flug gestoppt und die flügel gestutzt wer oder was wollte das so? das kind stellte nicht diese frage das kind hatte heimweh das kind war krank das kind konnte nicht mehr laufen jahre später fragt sich manchmal die erwachsene die gelernt hat, wie es sich anders geht als mit den beinen wer oder was wollte das so? aber trotzdem ein zweites leben das mir auch geschenkt wurde eine kostbarkeit die gelebt werden will

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Ist der Zug schon abgefahren? von Elke Acker immerzu und überall setzt ein Zug sich in Bewegung immerzu und überall hab ich die Chance und die Gelegenheit meine Reise zu beginnen Abenteuerlust in meinem Innern ist bereit das Ziel ist unbekannt wie gut den Weg, das Ziel, ich will als Abenteuer sie erleben ich hab die Augen eines Abenteurers sie seh’n die Welt in ihrer ganzen Vielfalt sie seh’n die Welt in dir in mir die Welt der Kinder die der alten Menschen ich entdecke Möglichkeiten, Kräfte ich seh’ die Welt, das Leben als Eldorado voller Möglichkeiten ich seh’ mich unterwegs auf dem Weg das Leben zu leben

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Der letzte Zug von Kathrin Völker Als sie aufwacht, wundert sie sich als erstes darüber, dass es im Himmel nach Desinfektionsmitteln und Bohnerwachs riecht. Außerdem schmerzt ihr rechter Fuß und ihr ist kalt. Das schmale Bett, auf dem sie liegt, ist hart. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Das Versprechen hatte anders gelautet, von Erlösung und tiefem Frieden war die Rede gewesen. Davon, dass sie nicht mehr leiden müsse und es keine Schmerzen mehr geben würde. Und nun das. Bei dem Versuch, sich aufzusetzen, bemerkt sie mit Entsetzen, dass sie an Hand- und Fußgelenken ans Bett gefesselt ist. Außer ihrem Kopf kann sie nichts bewegen. Vielleicht ist sie versehentlich in der Hölle gelandet? Eine unsympathische Ärztin mit platinblonden Haaren und Minirock tritt an ihr Bett und unterbricht ihre Gedanken: „Sie befinden sich auf der geschlossenen Station des psychiatrischen Krankenhauses – können Sie sich daran erinnern, was mit Ihnen passiert ist?“. Ja, erinnern kann sie sich. Sobald sie ihre Augen schließt, erscheinen grelle Bilder vor ihrem Inneren und die letzten Stunden werden wieder lebendig. Es ist, als würde sie sich bei allem, was passiert, von oben zuschauen. Schauplatz ihrer Geschichte ist der Hauptbahnhof ihrer Heimatstadt. Sie steht an der Bahnsteigkante und starrt auf ihre Schuhe. Sie wartet auf einen Zug, obwohl sie nicht verreisen will. Sie hat weder einen Koffer noch eine Fahrkarte bei sich. Ihr Ziel steht in keinem Fahrplan. Nervös kaut sie auf einer Haarsträhne. Der Wind in der Bahnhofshalle weht kräftig und zerrt an ihr. Sie hat ihm nichts entgegen zu setzen, denn sie trägt nur ein dünnes Sommerkleid, obwohl es mitten im Winter ist. Aber sie hatte das Kleid unbedingt noch einmal anziehen müssen. Heute morgen als der Entschluss endlich gefallen war und sie entschieden hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen, sah sie ganz klar vor sich, was sie auf ihrem letzten Gang tragen würde. Überhaupt war es ihr nicht schwer gefallen, sich gegen das Leben zu entscheiden. Seit Jahren trug sie sich mit dem Gedanken an ihr eigenes, freiwilliges Ende. Irgendwie war diese Entscheidung längst über-

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fällig gewesen. Ungezählte Tage hatte sie nur deshalb überlebt, weil es immer die Möglichkeit und den Trost gegeben hatte, alles jederzeit beenden zu können. Nun ist dieser letzte Tag gekommen und sie steht am Bahnsteig. In zwei Minuten wird der Zug einfahren. Ihr Zug. Der Zug, auf den sie so lange gewartet hat. Sie wird ihn nehmen ohne einzusteigen. Mitreisende wird es nicht geben, obwohl der Bahnsteig voller Menschen ist. Als sie den nahenden Zug kommen hört, schaut sie sich kurz um, schließt die Augen und springt. Ihr letzter Wunsch ist es, auf der anderen Seite aufgefangen zu werden. Dann wird alles schwarz. Aber eine sanfte Landung bleibt aus. Sie fällt immer tiefer. Das Dunkel ist undurchdringlich. Später wird man ihr erzählen, dass zwei Gleisarbeiter sie im letzten Moment von den Schienen ziehen konnten, nur Sekunden bevor der Zug sie erfasst hätte. Eine Rettung in letzter Minute, wie ihr der Pfleger versichert: „Seien Sie froh, dass Sie noch am Leben sind“. Aber sie kann sich nicht freuen. Wieder ist sie gescheitert. Nicht einmal das hat sie geschafft. Der Zug ist ohne sie abgefahren. Dabei hatte sie doch alles richtig gemacht. Sie hatte Abschiedsbriefe an ihre Familie und Freunde geschrieben und diese – in alphabetischer Reihenfolge, schließlich war sie ein ordnungsliebender Mensch– auf das Fenstersims in der Küche gelegt. Sie hatte ihr Bett frisch bezogen und im Schlafzimmer noch einmal Staub gewischt. Sie hatte sogar das schmutzige Geschirr abgespült und den Abfall hinunter getragen. Sie wollte der Welt nichts schuldig bleiben. Trotzdem muss sie nun die Rechnung bezahlen. Als sie wieder zu sich kommt, ist sie nicht wie erhofft im Himmel, sondern auf dem Abstellgleis gelandet. Eine Gefangene unter all den anderen geschundenen Seelen. Am Krankenbett finden täglich Kampfhandlungen statt. Die Methoden und Allianzen wechseln, die Unmenschlichkeit bleibt. Ein Gezerre um ihre Seele und die Macht über sie. Es beginnt mit der morgendlichen Medikamentenausgabe, bei der man ihr die Tabletten gewaltsam in den Mund zwingt und ungeduldig wartet, bis sie die Pillen geschluckt hat. Oft spuckt sie die Überreste heimlich in ihre Bettdecke oder streift die Zunge in einem unbe-

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obachteten Moment am Bettlaken ab. Was zu einer erneuten Maßregelung führt, weil ihr Bettzeug danach so fleckig aussieht. Im Bad, das sie mit fünf Mitpatientinnen teilt, steht sie vor dem Spiegel und weiß plötzlich nicht mehr, welche der vielen Zahnbürsten ihre ist. Sie greift wahllos nach irgendeiner, ohne dass es ihr etwas ausmachen würde, eine fremde Zahnbürste zu benutzen. Viele in Freiheit unvorstellbare Dinge werden hier zum schrecklichen Alltag. Sie vermeidet es, in den Spiegel zu schauen. Zu groß ist die Angst davor, ein halb verhungertes Wesen mit ausdruckslosen Augen und eingefallenen Wangen darin zu sehen und sich nicht mehr zu erkennen. Viel ist von ihr ohnehin nicht mehr übrig geblieben, soviel weiß sie auch ohne einen Blick in den Spiegel. Als das Mittagessen gebracht wird, haben nicht einmal alle im Zimmer an dem kleinen Tisch Platz und sie muss auf dem Bett sitzend essen. Eine Mitpatientin schlingt ihr Essen in wenigen Minuten herunter, um sich dann in einem Schwall auf den Fußboden zu erbrechen. Bei diesem Anblick und Geruch ist es ihr unmöglich, weiter zu essen und sie wirft den Rest ihrer Mahlzeit in den Abfall. Sofort werden ihr wieder Sanktionen angedroht, weil sie nicht aufgegessen hat. Nichts geht ohne Kämpfe und die Schwelle zur Anwendung von Gewalt ist sehr niedrig. Sie wird in den nächsten Wochen lernen, sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Überhaupt die Zeit. Sie ist wie ein unerträglicher Schmerz, der nicht enden will. Sie starrt auf die Uhr an der Wand, in der Hoffnung, dass die Zeit schneller vergehen möge. Aber der Zeiger bewegt sich nicht, so sehr sie ihn auch beschwört. Bei einer Visite lernt sie, dass hier drinnen eine andere Zeitrechnung gilt, als der Chefarzt verkündet, dass zwei Wochen in der Psychiatrie „ein Wimpernschlag“ seien. Sie hatte sich endlich getraut, zu fragen, wie lange sie denn noch bleiben müsse und diese ernüchternde Antwort erhalten. Dass sie für mindestens sechs Wochen richterlich untergebracht sei und dass man danach schauen müsse, inwieweit sie wieder hergestellt sei. Dass es dauern würde. Sie konnte nicht anders als zu denken, dass sie solche Diskussionen nicht mehr führen müsste, wenn sie am Bahnhof nicht gerettet worden wäre – gegen ihren Willen. Vielleicht hätte sie eine andere Methode wählen sollen. Vielleicht hätte sie die Tabletten schlucken sollen, die sie seit Wochen gesammelt hatte. Vielleicht wäre dann alles einfacher

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gewesen. Auch an einen Sprung von einem hohen Gebäude hatte sie gedacht, den Gedanken aber verworfen, weil sie unter starker Höhenangst litt. Sich die Pulsadern aufzuschneiden, fiel ebenfalls aus, weil sie kein Blut sehen konnte. So war letztendlich nur die Strategie mit dem Zug übrig geblieben. Erfolgreich war sie nicht gewesen. In den Therapien soll sie sich mit ihrer Tat auseinandersetzen. In der Kunsttherapie bemalt sie jedes Bild mit schwarzer Farbe. Als die Therapeutin sie dazu ermutigt, andere Farben zu benutzen, bedient sie sich widerwillig verschiedener Grautöne, nur, um in der nächsten Stunde wieder zur schwarzen Farbe zu greifen. Ihre Seele lässt nichts anderes zu. In der Gruppentherapie stellt sich ihr die Frage, ob auch andere ihren Zug verpasst haben. Sie bekommt keine Antwort, denn von den meisten Mitpatienten weiß sie nichts. Die Gründe dafür, dass sie auf der geschlossenen Station in einer sonderbaren Schicksalsgemeinschaft zusammen leben, behält jeder für sich. Einigen sieht man ihr Schicksal an, aber nicht allen. Es ist am besten, keinen Kontakt zu suchen, denn jeder kämpft für sich allein. Wird sie den Kampf gegen ihre inneren Dämonen gewinnen? Die Zeit, die hier drinnen so qualvoll langsam vergeht, wird es zeigen. Ein und ein halbes Jahr später. Sie ist an den Bahnhof zurück gekehrt und trägt dasselbe Kleid wie damals. Doch heute muss sie nicht frieren, denn es ist Sommer und der sanfte Wind streichelt ihre Haut. Sie tritt an die Bahnsteigkante und blickt auf die Schienen hinab. Genau an dieser Stelle hatte sie im vorletzten Winter gestanden. Mit unsichtbarem, aber sehr schwerem Gepäck. Sie schließt die Augen, um nach innen zu horchen. Das Gefühl der Verzweiflung ist verschwunden. Sie selbst hingegen ist noch da.

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Ist der Zug schon abgefahren? von Sabine Luz Für mich war es immer selbstverständlich, dass ich mal Knochenmark spenden würde, wenn es bei jemand passt. Krebs ist furchtbar. Ich bin froh, dass ich gesund bin. Warum sollte ich dann nicht anderen helfen? Wenn ich Leukämie hätte, oder meine Kinder, wäre ich auch dankbar, wenn das jemand für uns täte. Ich bin seit ich 18 Jahre alt bin, und Blutspenden darf, regelmäßige Blutspenderin bei der Uniklinik Tübingen, dort wurde nach einer Blutspende mal gefragt, ob man bereit wäre sich für eine Knochenmarkspende registrieren zu lassen. Das hatte ich getan, sie nahmen eben ein paar Röhrchen mehr Blut ab. Das ist nun schon über 20 Jahre her, und geriet bei mir längst in Vergessenheit. Letztes Jahr im März erhielt ich von der Uniklinik Tübingen einen Brief, ich käme eventuell für einen Patienten in Betracht, und solle mich nochmals bei ihnen melden, ob ich zur Knochenmarkspende noch bereit bin. Irgendwie hatte ich doch Angst, ein paar Tage war ich unfähig zu reagieren. Nach ein paar Tagen rief ich doch an, und kam nochmals um das Blut weiter untersuchen zu lassen. Sie sagten, das käme öfters vor, solche Briefe verschicken sie täglich viele. Aber es komme dann in vielen Fällen gar nicht zur Spende. Das Blut müsse erst noch genauer untersucht werden. Also noch genauer typisiert werden. Tatsächlich hatte es sich dann wohl doch erledigt, wahrscheinlich passte es doch nicht. Jetzt ein ganzes Jahr später kam wieder so ein Brief. Ich lies abermals mein Blut untersuchen, es passte offensichtlich. Es wurde mit Express nach Großbritannien geschickt, von dort sei eine Anfrage gekommen. Ich hörte nichts mehr, und dachte es sei wieder erledigt. Also ging ich am 16. April wieder wie gewohnt zur Blutspende, und spendete Blut. Das tue ich sowieso immer alle 3 Monate, wenn es gerade geht. Cirka eine Woche später erhielt ich doch Nachricht, das Blut würde nun sicher passen. Aber um vollends auch wirklich 100 % Sicherheit zu haben, müsse man nochmals untersuchen. Es passte wieder. Dr. Schäfer rief mich erneut an, und vereinbarte mit mir einen Termin für die Stammzellenspende, und für die vorhergehende gründliche medizinische Untersuchung aus.

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Am 11. Mai war nun diese Untersuchung. Morgens um 8.00 Uhr hätte ich kommen sollen, aber ich steckte im Stau und kam eine viertel Stunde später. Dann fragte ich an der Pforte der medizinischen Klinik, wo ich den hin solle, dieser schickte mich runter, dort gab es auch eine Abteilung für Stammzellenspende. Dort spenden aber Patienten für sich selber, z.B. vor einer Chemotherapie, oder auch für Angehörige. Hier war ich jedenfalls an der falschen Stelle und wartete vergebens. Nach einer ¾ Stunde sagte man mir, das ich falsch sei. Also ging ich doch hoch zur Patientenaufnahme. Hier musste ich aber erst eine Nummer ziehen und auch eine halbe Stunde warten. Endlich kam ich dann zu einem Arzt. Er hörte mich ab, maß den Blutdruck und schickte mich zu Ultraschall, Röntgen, EKG, zum Atmungsfunktionstest. Blut wurde nochmals gemessen, eine ganze Menge Röhrchen. Und auch die Urinprobe blieb nicht aus. Es war alles okay. Ich war zwar sehr lange bis über den Mittag hinaus, in dieser Klinik, aber nun war ich rundum durchgecheckt. Seit den 10 Euro Praxisgebühr hatte mich natürlich noch keine Arztpraxis von innen gesehen. Und jetzt wurde ich mal richtig gründlich und dann noch gratis durchgecheckt. Das ist auch für mich gut zu wissen, das alles okay ist, dass ich kerngesund bin. Allein in Deutschland erkranken jährlich 8900 Menschen an Leukämie. Eine Chance auf Heilung besteht meist nur bei einer Stammzellentransplation. Früher kam nur die Entnahme des Knochenmarks aus dem Beckenkamm in Frage. Heute verwendet man aber fast nur noch das Verfahren der peripheren Stammzellenentnahme. Auch bei mir. Nun bekam ich Spritzen mit. Man solle sich 5 Tage lang ein hormonähnlichen Stoff als Wachstumsfaktor unter die Haut spritzen. Dieser bewirkt, dass die Stammzellen, die überwiegend im Knochenmark vorkommen, ins Blut ausgeschwemmt werden, um dann über ein spezielles Verfahren aus dem Blut gesammelt zu werden. Da ich mich das selbst nicht traute, üblicherweise machen das die Spender selbst, bat ich meine Nachbarin, mich zu spritzen, sie ist Heilerzieherin, und hält Kurse für Heilerzieher, und zeigt ihnen unter anderem auch das Spritzen. So war ich doch recht froh, dass ich es doch nicht selbst machen musste. Die Spritzen mussten im Kühlschrank aufbewahrt werden.

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Für mich wurde sogar eine extra Lebensversicherung abgeschlossen. Das finde ich super, wenn während der Spende etwas passiert, sind wenigstens die Angehörigen gut abgesichert. Dann hätten meine Lieben wenigstens keine finanziellen Sorgen gehabt. Aber das wir die nicht in Anspruch nehmen mussten, und mir nichts passierte, ist mir natürlich 1000 Mal lieber. Die Gefahren die genannt wurden erschreckten mich, so könne z.B. durch die Hormongabe in seltenen Fällen die Milz reißen. Gut normalerweise passiert nichts, aber mir reicht es, wenn ich die berühmte Nadel im Heuhaufen bin, also war ich recht ängstlich und fürchtete mich vor dieser Spende. Aber jetzt wollte ich auch nicht mehr nein sagen, und das Todesurteil für den Patienten in England aussprechen. Der hat doch auch nur diese Hoffnung. Am 26. und 27. Mai war es dann soweit, es kam zur Spende. Zweimal bis zu 5 Stunden hängt man an dieser Maschine. An einem Arm wird einem das Blut herausgenommen, die Stammzellen werden isoliert, und das Blut dann an der anderen Seite am anderen Arm wieder zurückgegeben. Die ersten 4 Stunden waren angenehm, man fühlt sich nur leichter. Nervend war nur der Drang zur Toilette. Man sollte zuvor nämlich extra viel Trinken, dass das Blut gut läuft. Und dann wird das Blut noch verdünnt, dass es leichter durch die Maschine läuft. Da wird Zitronensäure dem Blut zugefügt, diese verstärkt noch den Drang zur Toilette. Am einfachsten ist es natürlich man hält 5 Stunden aus, ohne mal zu müssen. Ich musste aber so dringend, dann wurde ich von der Maschine losgemacht, ich wurde schnell in Rollstuhl gepackt, das es schneller geht, und zur Toilette gebracht. Das fühlte ich mich plötzlich schlecht. Wie nach meinen Kaiserschnittgeburten, einfach fix und fertig ausgelaugt. Nur dass ich jetzt kein Kind im Arm halten durfte. Die letzte Stunde war schrecklich, mir war alles zu viel, ich fühlte mich so ausgesaugt. Die letzte ¼ Stunde bat ich mich doch schon von der Maschine abzunehmen. Ich muss keine 5 Stunden aushalten, aber es ist natürlich gut, wenn sie möglichst viele Stammzellen sammeln können. Es können ja beim Patienten auch Komplikationen auftreten, wodurch eine erneute Gabe von Stammzellen notwendig wäre. Ich war fix und fertig nach der Spende, irgendwie fühlte ich mich wie ausgefressen. Ich war froh, dass mein Nachbar mich abholte. Eben der Mann dieser Heilpraktikerin. Sie hatten mir ge-

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sagt, sie kennen auch jemand der bereits gespendet hatte, der sei danach so geschwächt gewesen, dass es nicht ratsam sei, wenn ich danach gleich selber Auto fahre. Zuhause war ich kraftlos, ich konnte nicht mal selbst nur eine leere Flasche Sprudel hoch heben. Die Kinder deckten den Tisch, mein Mann war noch unterwegs, er hatte gerade seiner Schwester geholfen. Aber es ging dennoch weiter. Die Kinder strichen zum ersten Mal ihre Brote selbst, und halfen mir. So rührend besorgt waren sie noch nie. Am nächsten Tag ging es weiter. Mein Nachbar fuhr mich in die Klinik, sie gaben mir eine selbstgemischte Arznei aus Bachblüten mit, das soll ich nehmen, wenn ich keine kraft habe, tatsächlich es half. An diesem Tag lief alles besser, es war längst nicht mehr so anstrengend. Aber ich musste wieder zwischendurch auf die Toilette. Diesmal ging es nicht mehr so problemlos. Danach verstopfte die Leitung, und sie mussten mich frisch verkabeln, von da an, war es mir zu viel, auch für den Kreislauf. Ich ging nach der Spende kurz in Vesperraum um mich zu stärken. Dieses Mal holte mich meine Mutter ab, Zuhause lief alles besser, diesmal hatte ich wieder Kraft. Ich konnte fast wie gewohnt wieder zuhause mit anpacken, und jetzt spüre ich gar nichts mehr. Außer dem beglückenden Gefühl vielleicht ein Menschenleben gerettet zu haben. Ich die dumme Bine, die überall versagt, habe einmal in meinem Leben nicht gekniffen.

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Stillstand von Oliver Bruskolini Bitte treten Sie einen Schritt zurück, ertönt eine Lautsprecherdurchsage. Keiner der Wartenden rührt sich. Anscheinend wiegen sie sich in Sicherheit. Oder sie sind taub geworden gegenüber den täglichen Sicherheitsbelehrungen, die von allen Seiten auf sie einrieseln. In der Ferne zeichnet sich der Zug ab, der mit hoher Geschwindigkeit auf den Bahnhof zusteuert. Natürlich kurz nachdem ich mir eine Zigarette angezündet habe. Trotz des Rauchverbots im Bahnhof. Es ist immer dasselbe. Sowohl, dass der Zug ankommt, wenn man gerade zu rauchen beginnt, als auch das immerwährende Rauchverbot an öffentlichen Plätzen. Letzteres wird von den meisten Rauchern ignoriert. Mein Blick fällt auf einen Landstreicher, der scheinbar dasselbe Problem hat wie ich. Schnell aufrauchen, ehe der Zug einfährt, sonst ist die Zigarette verschwendet. Ich glaube, dass er ein Landstreicher ist. Vielleicht liegt er aber auch modisch voll im Trend. Das kann ich nicht beurteilen, ich habe mich nie für Mode interessiert. Aber der Gesamteindruck deutet für mich auf Obdachlosigkeit hin. Endlich kommt der Zug zum Stillstand. Ich beobachte, wie eine Menschenmasse versucht, einzusteigen. Alle drängen sich durch die schmalen Türen. Einige werden wieder hinausgedrängt. Zwei Massen die gegeneinander ankämpfen. Wie Wellen, die aneinanderschlagen. „Erst aussteigen lassen. Mein Gott“, braust ein Rentner auf und stößt einen Jugendlichen mit seinem Gehstock zurück. Gott ist tot, denke ich. Du bist im näher als ich. Ich schäme mich für meine Gedanken. Aber was soll ich machen?

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Nachdem die Schlacht geschlagen ist, in der Bilanz steht ein Rentner mit Bluthochdruck auf der einen und ein Jugendlicher mit einem blauen Fleck auf der anderen Seite, betrete auch ich den Wagon. Von Weitem sehe ich, dass eine Frau mit Kinderwagen auf den Zug zu rennt. Ich überlege kurz, so zu tun, als hätte ich sie nicht gesehen, kratze dann aber die Reste meiner Empathie und meines Anstandes zusammen. Sie sucht Blickkontakt zu den Menschen, die auf den klappbaren Sitzen campieren, da sie ihren Kinderwagen sicher abstellen möchte. Niemand erwidert den Blick. Es scheint eher, als ob jeder Einzelne der dort sitzenden Personen sichtlich bemüht ist, dem freundlich auffordernden Blick der Frau auszuweichen. Die Türen schließen sich mit diesem nervigen Piepsen. Ohrenschmerzen im Namen der Sicherheit. Die Frau sieht verzweifelt aus. Ich sehe mich um. Der Landstreicher hat einen Sitzplatz gefunden. In der ersten Klasse. Der Mann weiß wie es geht. Soziale Positionierungen lassen sich eben doch umgehen, wenn man aus dem System einfach aussteigt, denke ich. Ich räuspere mich. Niemand sieht mich an. Hey, Sie, rufe ich. Jetzt starren mich alle an. Dezent erlangt man keine Aufmerksamkeit. Der Lauteste zählt meistens zu den Gewinnern. Jetzt, da ich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe, möchte ich Sie fragen, ob sie nicht aufstehen möchten? Keiner bewegt sich. Alle sehen mich an, als hätte ich zu einem kollektiven Verbrechen aufgerufen. Verachtung mischt sich in ihren Blicken mit Unverständnis und dem Unwillen meiner Bitte Folge zu leisten. Keiner bewegt sich. Der Zug fährt an und ein Ruck geht durch den Wagon. Der Kinderwagen kippt fast um. Anstatt ihn reflexhaft festzuhalten, trete ich einen ausweichenden Schritt zur Seite. Die Mutter fängt den Wagen ab. Die Menschen auf den Klappsitzen gaffen. Keiner steht auf. Der Zug ist abgefahren, denke ich und suche mir einen Sitzplatz in einem anderen Abteil.

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Ist der Zug schon abgefahren? von Wolfgang Bachelier Ja, er ist abgefahren! Was für ein Glück, er steht nicht mehr, und ich bin dabei. Stünde er noch, es wäre beklemmend. Bewegung ist Leben. Aber ich seh' schon, es ist nicht klar, was gemeint ist. Daher von Anfang an. Ich bin ein kleiner Junge an der Hand der Großmutter. Heute geht es von unserem winzigen Dorf in die Stadt, ein Erlebnis. Wir steigen in den Waggon, beste Holzklasse. Die Lock qualmt, dampft und stinkt vor sich hin. „Wann geht‘s los Oma?!“ „Gleich.“ „Warum geht‘s noch nicht los?“ „Der Lockführer muss noch sein Butterbrot holen.“ „Hat der seinen Ranzen vergessen?“ „Ja, und er muss noch seine Frau nach dem Einkaufszettel fragen, den hat er auch vergessen.“ „Aber wir nicht, wir haben alles, oder Oma“ „Ja, aber hast du nicht gemerkt, der Zug ist abgefahren.“ Ehrfürchtiges Staunen, der Zug fährt, hin zu den Abenteuern. Er ist abgefahren. Ich liebe ihn. Ich bin kaum älter, liege in der „Eisernen Lunge“ und höre dem Arzt und der Schwester zu. „Ich fürchte, wir werden ihn nicht mehr aus dem Gerät herausholen können.“ „Sollen wir abschalten?“ „Er beginnt sein Leben erst. Vorgestern wäre es noch möglich gewesen. Heute ist der Zug abgefahren“ Zu spät, der Zug läuft. Soll ich mich freuen, soll ich Angst haben. Ich bin zu jung um es zu verstehen. Aber ich habe gute Erfahrungen mit abgefahrenen Zügen. Vielleicht sollte ich mich freuen.

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Ich liege im Kinderheim für „Zivilgeschädigte“. Arzt und Nonne unterhalten sich. „Wir sollten noch Unterwassermassage, Reizstrom und Gymnastik anwenden. Es ist ein Wunder, dass er wieder frei atmen kann. Hoffen wir auf ein zweites Wunder.“ „Nach meiner Erfahrung ist bei der Schwere der Lähmung nicht von Besserungsmöglichkeiten auszugehen.“ „Aber lassen Sie es uns versuchen. Es kostet nur Zeit. Davon haben wir noch genug.“ „Gut, versuchen wir es. Aber wenn der Zug abgefahren ist...“ Nach einigen Jahren, zu Hause, Meine Eltern wollen vom Lehrer der Kleinschule, die ich seit 6 Monaten besuche, Informationen über meine Bildungsmöglichkeiten. „Er hat keine Chance hier die Volksschule abzuschließen. Er kann kaum laufen. Er hat 2 Jahre Schule versäumt und wird es nie wieder aufholen können. Er sollte in die Diakonie gehen. Dort gibt es eine Sonderschule und später kann er Bürstenmacher oder Korbmacher werden. Es gibt ein Wohnheim für Behinderte mit wohnlichen 4- bis 10-Bett-Zimmern. Dort wird für ihn gesorgt.“ Meine Eltern zu mir: „Wir holen dich aus der Schule und du gehst zur Diakonie.“ Was für ein Glück. Diese verhasste Schule, dieser verhasste Lehrer, Vergangenheit. Der Zug ist abgefahren, ich liebe den Zug. HIER SOLL ICH LEBEN ? Nein, der Zug kann noch nicht abgefahren sein! Ich muss etwas tun um hier wieder raus zu kommen. Die Volksschule abschließen, eine Büroausbildung machen und raus, raus raus. Seit sieben Jahren arbeite ich in dem Unternehmen, das ich jetzt verlasse. Der Zug fährt ab. Heidelberg, ich komme zur dir. Ich werde in deinen Mauern studieren. Der Zug läuft. Es ist großartig zu studieren. Ich bin fleißig und

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erfolgreich. Der Zug rennt und ich schließe ab. Diplom du Schnellzug, wie schön dass du abgefahren bist. Gute Arbeitsstellen. Eine wundervolle Frau. Ein großartiger Sohn. Glück. Nicht nur. Der Zug braucht Wasser und Kohlen. Spätfolgen verhindern die Übernahme. Trotzdem, der Zug fährt wieder ab. Passiv, im Gefälle. Man muss sich in der Beschränkung einrichten. Es geht. Eigentlich geht es sogar recht gut. Warum soll ich heizen, der Zug fährt auch so. Bald wird mein Enkel fragen: „Opa, hast du die Butterbrote auch nicht vergessen. Wir können doch im Zoo den Tieren nicht alles wegessen.“ „Ich habe die Butterbrote und den Einkaufszettel, nichts vergessen.“ „Welchen Einkaufszettel?“ „Hm, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir jetzt, wenn wir nach Frankfurt fahren.“ „Opa, du fährst ja schon.“ „Ist das nicht schön!“ „Ja, das ist schön. Wir sind abgefahren. Opa, - - - ich lieb dich.“ „Ich dich auch mein Schatz.“

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Anderssein ist nicht gestattet von Sabine Horn Anderssein ist nicht gestattet Das Leben ist nicht immer einfach. Elias „Anderssein“ beginnt bereits im Kindergarten. Der kleine Junge mag nur wenig bis gar nicht sprechen, Hänseleien und Ausgrenzungen sind die Folge. Elias hat nur wenige schöne Erinnerungen an diese Zeit. In der Schule geht sein „Anderssein“ weiter, eine Lese-Rechtschreib- und eine Rechenschwäche machen ihm den Schulalltag zur Qual. Durch sein „Anderssein“ eckt er ständig in seinem Umfeld an. Das Resultat: Elias reagiert zunehmend mit Aufsässigkeit, Jähzorn und Gewaltbereitschaft. Elias fällt es auf Grund seiner Lernschwächen schwer, dem Schulunterricht zu folgen. Doch, anstatt auf seine Probleme einzugehen, wird er als dumm, faul, und frech bezeichnet. Niemand kommt auf die Idee, dass Elias mit dem starren Schulsystem nicht zurechtkommt. Das Lerntempo ist für ihn zu hoch und die Lernmethoden passen einfach nicht zu seinen Fähigkeiten. Teure Nachhilfestunden bringen außer einem leeren Geldbeutel nichts. Alle versuchen nur, den vorgegebenen Lernstoff einzuhämmern. Niemand scheint es zu interessieren, warum Elias so massive Probleme hat. Nur das geduldige Lernen mit seiner Mutter bringt ein wenig Erfolg. Wenn wundert es: Elias hasst die Schule, er hasst das Lesen, das Schreiben, das Rechnen und das Unverständnis seiner Mitmenschen. Ist er wirklich so dumm, wie alle sagen? Die ständigen Misserfolge und Ermahnungen verstärken seine Abneigungen und sein negatives Verhalten. Elias befindet sich in einem Teufelskreis. Ein Schulabschluss und eine Ausbildung scheinen für ihn unerreichbar. Nur dem unermüdlichen Einsatz der Eltern ist es zu verdanken, dass Elias zumindest seinen Hauptschulabschluss schafft und eine Handwerkslehre beginnt. Doch sein „Anderssein“ begleitet ihn auch während seiner Ausbildung. Bei der praktischen Arbeit hat Elias Spaß und erledigt seine Aufgaben gewis-

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senhaft und fehlerfrei. Er ist schließlich nicht dumm! Die Misserfolge in der Berufsschule sorgen jedoch bei Elias für zunehmende Frustration, Selbstzweifel. Werden seine Leistungen wirklich ausreichen, um die Abschlussprüfung zu bestehen? Auf Grund seiner bisherigen Lebenserfahrungen hat er mit zwanzig noch immer keinen PKW-Führerschein. Die Angst zu Versagen sind einfach zu groß. Elias Geschichte steht für unzählige andere Schicksale. Ein zu hoher IQ, Lernschwächen, Autismus und viele andere Problematiken passen nicht in unser gut sortiertes Schubladensystem. Ein Umdenken ist dringend erforderlich. Denn so sollte sich die Geschichte, von einem Menschen mit Schwächen lesen: Elias „Anderssein“ beginnt bereits im Kindergarten. Der kleine Junge mag nicht sprechen. Eltern und Erziehern suchen gemeinsam nach der Ursache und ermutigen Elias zum Sprechen ohne ihn unter Druck zu setzen. Hänseleien von Kindern werden unterbunden, stattdessen erklärt man ihnen altersgerecht, dass Menschen nicht alle gleich sind. Elias Sprache entwickelt sich nur zögerlich, aber er ist ein glückliches und zufriedenes Kind. In der Schule ist Elias noch immer noch anders. Eine Lese-Rechtschreibund eine Rechenschwäche werden diagnostiziert. LehrerInnen mit Fachwissen auf dem Gebiet und die Eltern suchen gemeinsam nach den bestmöglichen Fördermöglichkeiten für Elias. Durch entsprechende Atteste und den richtigen Lernmethoden geht es in langsamen Lernschritten voran. Elias akzeptiert seine Schwächen und lernt damit umzugehen, ohne das sein Selbstbewusstsein darunter leidet. Seine MitschülerInnen akzeptieren ihn, so wie er ist. Es wurde immer offen mit dem „Andersein“ jedes Einzelnen umgegangen. Meist ist ein harmonisches Miteinander möglich, da alle schon früh gelernt haben sich gegenseitig zu unterstützen. Somit profitiert jeder von ihnen, schließlich hat jeder seine Schwächen und Stärken. Niemand macht sich über ihn lustig. Er hat seine Schwächen, aber auch viele Stärken. In praktischen Dingen ist er immer bei den besten, sein Gerechtigkeitssinn ist ausgeprägt. Er schlichtet Streitigkeiten, setzt sich für andere ein. Auf ihn kann man sich verlassen!

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Mit seiner positiven Einstellung, mit der Unterstützung seiner Eltern und einem Schulsystem, das sich dem Können seiner Schüler anpasst, schafft er seinen Realschulabschluss. Er braucht eben nur ein wenig länger beziehungsweise muss das ein oder andere etwas genauer erklärt werden. Und natürlich müssen seine Texte nicht fehlerfrei sein, die Lese-Rechtschreibfehler werden nicht bewertet. Und so ist eins sicher, Elias wird seinen Weg gehen!

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„Keiner kommt von einer Reise so zurück, wie er weggefahren ist“ Graham Greene

Die Zugfahrt des Lebens von Kirsten Kröger Mein Schnellzug fuhr viele Jahre lang ohne Umwege, Tag ein Tag aus dieselbe Strecke. Immer mit der gleichen kontinuierlichen Geschwindigkeit. Ich saß gemütlich in meinem Sitz und der Blick aus dem Fenster auf das was ich sah, war mir vertraut. Legte sich der Schleier der Dunkelheit auf den Tag, oder versank die Welt im Nebel, ich wusste immer genau wo ich mich befand. Das war beruhigend und gab mir Stabilität. Ich fühlte mich sicher. So sicher, dass ich meine tägliche Zugfahrt als selbstverständlich hielt. Eines schönen Sommertages, fuhr der Zug, ohne vorherige Ankündigung, eine mir völlig fremde Strecke und hielt an einem unbekannten Bahnhof an. Diese Haltestelle hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen. Im Nachhinein weiß ich, das ich die Notbremse hätte ziehen sollen, als sich der Zug in Bewegung setzte. Besser wäre es gewesen, wenn ich gar nicht erst eingestiegen wäre. Ich hätte gleich in eine andere Bahn steigen sollen. In eine die zwar dasselbe Ziel hatte, aber eine völlig andere Route nahm. Hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Doch all das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Voller Vertrauen stieg ich aus und begab mich in die Hände eines Arztes. Er operierte mich. Ein fataler Fehler, wie sich später herausstellte. Hätte ich das alles vorher gewusst….hätte, hätte Fahrradkette. Ich habe es nicht gewusst und muss nun mit den Konsequenzen leben. Ich habe vorschnell eine falsche Entscheidung getroffen, da ich mich nicht gründlich genug über Alternativen informierte und kann es nun nicht mehr rückgängig machen.

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Ich wurde gesundheitlich auf ein Abstellgleis geschoben. Da stand ich nun und konnte nichts anderes tun, als zu abzuwarten. Ein Tag kann unheimlich lang werden, wenn man nichts tut, außer abzuwarten. Warten auf ein Wunder. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Ein Klischee, welches sich bewahrheitet. Freunde, oder besser die Menschen, die man als Freunde bezeichnet, werden plötzlich Bekannte. Nur der feste Kern, die, die wirklich an deinem Schicksal interessiert sind, bleiben bei dir. Auf einmal trennt sich die Spreu vom Weizen und du bist erstaunt, wer am Ende übrig bleibt. Im ersten Moment tut es weh, im zweiten wird dir bewusst, wie wichtig solche eine „Freundesondierung“ für einen selbst ist. Mir hat es die Augen geöffnet. Heute weiß ich, mit welchen Menschen ich meine kostbare Lebenszeit verbringen möchte und mit welchen nicht. Wer es wert ist, meine Gesellschaft genießen zu dürfen. Hört sich das arrogant an? Vielleicht, aber es entspricht meiner Wahrheit. Mein Wagon wurde wieder an den Zug angekoppelt und durchfuhr den Winter. Meine Stimmung wurde von Tag zu Tag getrübter. Nichts als Kälte und Kargheit da draußen. Meine gesundheitliche Zukunft lag in den Händen von Ärzten. Aber ganz egal, welche Koryphäe ich auch aufsuchte, sie sagten alle dasselbe: Die Erst-OP hat alles „verschlimmbessert“. Diese Worte trugen nicht gerade zur Genesung bei. Im Gegenteil, sie trieben mich an den Rand der Verzweiflung. Der Zug fuhr unaufhaltsam weiter und ich saß mitten in ihm. Ein Umsteigen war nicht möglich, das Aussteigen schier unmöglich. Er tuckelte vor sich hin wie ein Schweizer Uhrwerk. Von Zeit zu Zeit kamen die Tunnel. Anfangs hatte ich riesige Angst vor ihnen. Doch je öfter ich einen durchfuhr, desto stärker wurde ich. Mutlos hinein – kraftvoll heraus. Einzig die Gewissheit, dass an jedem Ende eines Tunnels irgendein Blödel mit einer brennenden Taschenlampe den Ausgang beleuchtete, ließ mich nicht verzweifeln. Dann kam der Tag, an dem der Zug eine Panne hatte und in einem langen, dunklen Tunnel stecken blieb. Notbeleuchtung, mehr gab es nicht. Panik stieg in mir auf. Was konnte ich tun? Nichts! Außer das, was ich eh schon

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täglich tat: Abwarten! Ich wollte aufgeben. Irgendetwas in meinem Inneren jedoch schien nicht aufgeben zu wollen und aktivierte die zwei Elemente „Hoffnung“ und „Ziel“. Plötzlich war „Warten“ nicht mehr alleine. Mit so viel Unterstützung hatte ich kaum noch gerechnet. Mein Mut stieg immens und tatsächlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Langsam, aber er fuhr. Der Zug des Lebens gab mir mein Selbstvertrauen zurück und stärkte mich von Tag zu Tag. Er gab mir die Chance, mein Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Es war nicht mehr der gewohnte Schnellzug, eher ein Regio-Express. Ab diesem Zeitpunkt ging es nicht mehr holperfrei über die Schienen, es ratterte und rumpelte bei jedem Meter, dennoch fuhr mein Zug in kontinuierlicher Geschwindigkeit. Langsamer als jemals zuvor. Doch das war egal, er fuhr nur das zählte. Manches Mal hatte ich das Gefühl, er würde absichtlich bei jedem nur erdenklichen Schlagloch in den Schienen extra langsam fahren, nur damit ich nicht zur Ruhe kam. Es war anstrengend und ermüdend. Das ehemals menschengefüllte Abteil war von jetzt an leer. Ab und an stieg jemand zu, blieb aber nicht lange. Die meiste Zeit blieb ich dort alleine. Wut, Angst, Trauer, Zweifel und Selbstmitleid waren von nun an meine ständigen Begleiter. Mir war schrecklich langweilig. Vor lauter Nichtstun reflektierte ich, welche Träume ich früher hatte. Das Leben ist zu kurz für irgendwann. JETZT war das Zauberwort und ich fragte mich - was kann mich aufhalten meinen größten Traum in die Tat umzusetzen - ? Nichts! Also fing ich an zu schreiben. Und hörte nicht wieder auf. Es war, als sei ein Staudamm geöffnet worden und das Wasser floss ungehindert überall hin, selbst in die kleinsten Ritzen. Meine Gedanken und Worte ließen sich nicht mehr aufhalten. Ich schrieb ohne Rücksicht auf Verluste. Ich schrieb und lachte. Ich schrieb und weinte. Ich war voller Zweifel und doch voller Mut. All meine Emotionen nahmen schriftliche Form an und ehe ich mich versah, war es fertig. Das Buch! Meine Lebensgeschichte! Meine Zugfahrt! Und nun? Ich war fertig mit Schreiben. Ich hatte alles gesagt. Wie ging es jetzt weiter? Ich legte das Buch in eine Schublade und ließ es liegen. Eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen, zwei Monate. Dann holte ich es hervor

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und überarbeitete es. Legte es wieder weg und überarbeitete nochmals. Zwischenzeitlich recherchierte ich. Tage später schrieb ich Exposés und schickte die Manuskripte per Post und E-Mail an Agenturen und Verlage. Die Wochen vergingen und es hagelte eine Absage nach der anderen. Dann, kurz vor Weihnachten, die positive Zusage eines Verlages in Deutschland. Yippie Yey, ich hatte es geschafft. Ein Verlag hatte Interesse an meiner Autobiographie. Ich konnte es kaum glauben. Mein Traum wurde Wirklichkeit. Meine gesundheitliche Perspektive wurde mit einer nochmaligen Operation aufs Neue in Frage gestellt. Wie immer das endet, ich habe darauf keinen Einfluss. Aber ich habe Einfluss auf mein Denken, Handeln und die Chance, meine Fähigkeiten in andere Bahnen zu lenken. Die Weichen für den Zug des Lebens umzulegen. Ich werde weiterhin Zug fahren. Allerdings nicht mehr mit solch einer Selbstverständlichkeit wie früher. Ich steige auch in keinen Schnellzug mehr ein. Ich bin dankbarer, achtsamer und bewusster geworden. Schaue öfter nach rechts und links und ganz oft in den Himmel, sehe die Freiheit und genieße, dass ich meine Zugfahrt weitestgehend intakt überstanden habe.

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Systemwechsel von Milan Leander Der Raum war voller heißer Worte aus Wut, Leidenschaft und Verzweiflung. Wer etwas genauer hinsah konnte, ganz versteckt, sogar einige kleine Stückchen Traurigkeit erkennen. So ernst war es noch nie. Seit Ewigkeiten waren sie ein Paar, gekracht hat es immer mal, manchmal sogar ziemlich heftig. So schnell wie das Gewitter kam zog es dann auch bald vorüber. Diesmal nicht. Die Wolken wurden dunkler und drohender - und blieben einfach stehen wie ein an die Wand geworfener, klebriger Käsekuchen, der es sich gerade gemütlich machen wollte. Dabei hätte es so ein schöner Urlaub werden können. Mit dem Ferienhaus hatten sie Glück. Kein's von der Kategorie "die alte Couch von Oma passt noch super für die Feriengäste", sondern mal was ordentliches. Keiner hatte nachgegeben. Abgehackte Satzfetzen wurden wie Dauergiftpfeile abgeschossen, erreichten den Empfänger nicht, wurden aber zum Anlaß genommen weiter zu schießen. Irgendwann war die Kraft alle. Sie schwiegen. Zuerst verließ er das Ferienhaus, drehte irgendwelche Runden im Wald zwischen Mecklenburg und Brandenburg. Sie folgte nach einer Stunde, ging jedoch einen anderen Weg. Keinesfalls wollte sie ihm begegnen. Nach einer endlosen Weile - so ist das oft beim Wandern - gewannen seine Gedanken an Klarheit und Schärfe. Die Fragen wurden bewußter, kamen zum Punkt. Natürlich. Das Leben allein hätte einige Vorteile. Er könnte seinen Sport ausleben. Er könnte sich richtig der Musik widmen. Faszinierende Gedanken. Er könnte.....

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Es gab in seinem Hinterhirn noch einiges mehr, was sich jetzt mühelos nach vorne schob. Ich hätte mich zurückhalten können. Ich hätte nicht so losschießen müssen. Ich hätte.... Vielleicht bin ich der Arsch. Vielleicht konnte mein liebes Mädelchen gar nicht anders. Vielleicht...... Sie war eine echte Löwin, klein und zart aber Energie wie zehn Ochsen. Manchmal benahm sie sich auch so. Das war Gott sei Dank selten und dann tat es weh. Allen. Leider, das mußte er sich an diesem ruhigen Punkt eingestehen, hatte sie oft Recht. Vieles blieb an ihr hängen: die Kinder, das Haus, dann war sie noch selbständig. Er hatte nur seinen Job und die Hobbys. Oft war er abends nicht mehr da, seine Gedanken wanderten irgendwo herum, nur nicht im Haus, nur nicht bei ihr. Der Abend war still. Kein Funkkontakt. Kein Sender - kein Empfänger. Sie schliefen getrennt. Die Nacht war ungewöhnlich, so still und tot. Gruselig. Beide fanden keine Ruhe. Er hätte das ahnen können, weil er wußte, daß sie dünne Haut hat. Allerdings war er mit sich selbst beschäftigt. Irgendwann nahm ihn die Nacht gefangen, wogegen er sich bis zum Schluß immer wieder wehrte. In etlichen gemeinsamen Jahren hat sich vieles synchronisiert. Man weiß oft was der andere denkt. Man ahnt meist vorher, was der andere sagen will und äußert häufig denselben Gedanken. Ebenfalls einander angepaßt haben sich die Abläufe, die biologische Uhr. So war es überhaupt nicht überraschend, daß beide zur gleichen Zeit aufstanden und sich im Wohnzimmer einfanden. Beide zerknittert und gefaltet. Die Nacht war ein schlechter Maskenbildner. Sie saßen eine ganze Weile schweigend da. Keiner wollte provozieren oder

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Anlaß für den nächsten Streit geben. Nach gefühlten zwei Stunden - in Wirklichkeit waren es nur 5 Minuten - ergriff er behutsam und mit stockender Stimme das Wort. "Es tut mir wahnsinnig leid, daß ich gestern die Beherrschung verloren habe. Klar habe ich mich geärgert, weil ich lesen wollte und ich es laut fand." Pause. Sie schwieg, schaute ihn jetzt vorsichtig an. "Niemals hätte ich aber in diesem Ton rumfatzen dürfen. Das tut mir sehr leid." Wieder Pause. "Ich habe auch über unsere Beziehung nachgedacht und gerade über die letzten Tage. Du bist eine empfindsame aber gleichzeitig sehr mutige Frau. Du hast immer für unsere Familie wie eine echte Löwin gekämpft, während ich mich der Karriere gewidmet habe. Mir ist auch aufgefallen, daß wir uns oft gerangelt haben, wer was zu sagen hat und haben den anderen dann nicht akzeptiert. Und wir haben uns oft um sinnlose Kleinigkeiten gestritten. Im Grunde genommen ist es egal, ob wir im Wald links oder rechts gehen. Das ist mein Fehler, daß ich mich immer behaupten wollte, obwohl es möglicherweise überhaupt nicht nötig war. Weißt Du, es ist immer ganz gut, wenn einer in der Familie die Führung innehat, der im Zweifelsfall, in schwierigen und unklaren Fällen die Entscheidung trifft ohne den anderen zu dominieren oder zu verletzen...." ".... und das liebe Kaja solltest in Zukunft Du sein."

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Eine eigenartige Zugfahrt von Peter R. Blank Zürich HB nach Basel SBB am 25. Oktober 2017 Geschafft. Die Kinder sind untergebracht und ich habe gleich einen Parkplatz gefunden. Sogar noch etwas Zeit bis der Zug nach Basel abfährt. Wo fährt er eigentlich dieses Mal ab? Bahnsteig 16, 13 oder 31? TGV fahre ich nicht. Der würde auf Gleis 15 abfahren und von Basel weiter nach Paris fahren. Paris wäre jetzt auch nicht schlecht. Aber Basel SBB ist meine Destination. Studium. Noch fünf Minuten bis der Zug kommt. Hoffentlich ist er nicht zu voll, damit ich meine Füße hochlegen kann und entspannt nach Basel komme. „Bitte zurücktreten am Bahnsteig bei der Einfahrt des Zuges“, tönt es schon in schönstem Schwyzerdütsch aus den Lautsprechern des Bahnsteigs. Quietschend bremst kurz darauf der IC und entlässt die Passagiere, die in Zürich aussteigen. Als ich den Waggon betrete habe ich schon einen Platz erspäht und freue mich, dass niemand neben mir oder gegenüber von mir sitzt. Das wird eine entspannende Fahrt werden. So wie ich es mir vorgestellt habe. Ich streife meine Schuhe von den Füßen, lege eine alte Zeitung mir gegenüber auf die Sitzbank und lege meine Beine ab. Ach tut das gut. Mit meinen Studienunterlagen auf dem Schoß warte ich auf die Abfahrt des Zuges. 53 Minuten bis Basel. Das ist die schnellste Verbindung. „Zurücktreten bitte, der Zug fährt sofort ab“. Dann setzt sich der IC in Bewegung und fährt langsam aus dem Zürcher Bahnhof. Mein Abteil ist fast leer. Kaum ist der Zug abgefahren stößt ein etwas älterer Herr die Abteiltür auf und lässt sich mir gegenüber auf der anderen Seite des Durchgangs in das feinkarierte Polster sinken. Schweiß rinnt ihm von der Stirn und er schnauft atemlos vor sich hin. Hat wohl gerade noch den Zug geschafft, denke ich und widme mich wieder meinen Studienunterlagen. Statistik. Auch nicht gerade spannend. Verstohlen blicke ich zu dem Alten hinüber. Als er so

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gestresst ins Abteil hereingestürzt kam war mir gar nicht so bewusst gewesen, dass er so klein ist. Mit seinen Fußspitzen erreicht er kaum den Boden. Oder sitzt er so weit hinten? Wohl typischer Fall von Sitzriese. Ich muss heimlich in mich hinein lachen. Eine komische Gestalt sitzt da mir schräg gegenüber. Ich wende mich wieder meinen Studienunterlagen zu. Die Herbstsonne scheint auf mein Gesicht und macht mich etwas schläfrig. Ich fange zu dösen an. Das klack-klack beim Überfahren der Schienenstöße macht mich schläfrig. Ein angenehmes Geräusch, wenn man so im Wegsacken ist. Klack, Klack, klack. Ich beginne es abzuzählen. Von einem Klack zum anderen sind es 5 Sekunden. Klack, klack, Klack. Schön denke ich. Das ist auch Statistik, sich diese Klacks in ein Ablaufsystem zu denken. Klack, Klack. Klack. Der Alte schräg gegenüber ist unruhig und stört meine Gedanken. Er raschelt mit irgendetwas. Ich öffne mein verschlafenes Auge und beobachte, wie er umständlich eine große Flasche Milch aus seiner Aktentasche hervor kramt, die er auf seinen kurzen Beinen abgestellt hatte. Eine ein-Liter-Flasche weißer Schweizer Milch vom Bergbauern. Bestimmt. Er schraubt den Verschluss mit einem Klick ab und setzt die Flasche an seinen unrasierten Mund. Er sieht ungepflegt aus. In seiner hellbeigen abgetragenen Jacke und der verbeulten Hose macht er keinen seriösen Eindruck. Das Jackett hatte bestimmt schon bessere Zeiten gesehen. Eine Reinigung wohl noch nie, wie den Flecken und fremden Schattierungen darauf zu urteilen nicht schwer fällt. Er sieht gemustert aus. Da passt nichts zusammen. Alles irgendwie schmuddelig. Bis auf die Schuhe. Die sehen in dem ganzen Ensemble aus starrendem Dreck unwirklich aus. Braune Halbschuhe, hochpoliert glänzend, fast wie gelackt, geben sie dem vor sich hin wippendem Mann einen noch groteskeren Zug. Gott-sei-Dank sitzt er mir nicht gegenüber. Die Distanz über den Flur ist gerade noch auszuhalten. Er schlürft die Milch und es zeichnen sich danach weiße Milchränder um seinen Mund herum. Sie bleiben in seinem unrasierten Gesicht ringförmig

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hängen, ziehen sich unter der Nase beginnend halbkreisförmig bis zu seinen Mundwinkeln, sammeln sich dort dicker und schwerer werdend bis sie aufgrund der Schweizer Gravitation sich in Höhe seiner Mundwinkel aus den Bartstoppeln lösen und auf sein hellbeiges Jackett tropfen. Nicht gleichzeitig. Erst die eine Seite, dann die andere. Er lässt sie so. Gierig saugt der Stoff den Milchtropfen auf und nach kurzer Zeit bleibt nur ein weiterer schmutziger feuchter Fleck übrig. Ekelig wie er so wippt. Sogar die Milch wippt mit und kommt nicht zur Ruhe. Auch seine Haare, die etwas wirr auf seinem Schädel sprießen, scheinen sich diesem Wippen angeschlossen zu haben. Ich schließe die Augen und versuche an was anderes zu denken. Klack, klack, klack finde ich den Rhythmus der Räder auf den Schienenstößen wieder. Angenehm, denke ich als ich feststelle, dass der 5-Sekunden Rhythmus unterbrochen ist. Ein Blick aus dem Fenster beweist mir, dass wir nicht schneller fahren. Das Klack-klack der Räder hat sich nicht verändert. Es ist eine neues Klack-Klack hinzugekommen. Eine etwas andere Tonlage, stelle ich eindeutig fest. Ein anderer Ton und ich merke, dass dieses Klack-Geräusch dreimal in das Geklackere der Räder passt. Das neue Klack-Klack ist nicht so dumpf, wie das der Schienen mit den Rädern. Ein klick, klick ist es jedoch nicht. Es klingt eher wie kleck, kleck, kleck. Kleck, kleck. Sehr eigenartig, kommt es mir hinter meinen geschlossenen Augen vor. Hinzu stelle ich noch ein gurgelndes Geräusch fest und gleich darauf dieses kleck-kleck. Das ist doch hier im Abteil. Leise öffne ich die Augen und beobachte den Alten gegenüber. Er hat die angetrunkene Milchflasche zwischen seine Beine auf dem Sitz abgestellt und schaut zufrieden in die andere Richtung aus dem Fenster, der vorbeihuschenden Landschaft nach. Wieder nimmt er die Flasche und nimmt einen schnellen Schluck. Er trinkt hektisch und mir scheint, dass sein ganzer Körper dabei wippt. Diese Wipp-Bewegungen pressen das feine Karomuster zusammen, so dass sich die Karostruktur kurzzeitig verliert, bis sie wieder in der sich anschließenden Aufwärtsbewegung in die alte Karo Form findet. Dieses fast unmerkliche Auf und Ab des Wipp-Vorgangs scheint den Alten zu beruhigen. Seine feuchten Lippen umspielt dabei ein süffisantes Lächeln, das fast unbewusst

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und geistesabwesend seine Gesichtszüge umspielt. An was er wohl denkt. Kleck, kleck, kleck kommt es aus seinem offenen Mund. In schnellen hastigen Bewegungen führt er die Milchflasche an seine Lippen, nimmt einen kurzen Schluck, nippt fast nur an der runden Flaschenöffnung und setzt sie zugleich wieder zwischen seine gespreizten Oberschenkel auf dem Sitzpolster ab. Eine weiße Blase, die seine Lippen verschließt hat sich gebildet. Im Schein der mittäglichen Sonne kann man die Schlieren erkennen, die sich jetzt in Richtung seiner Unterlippe ziehen, um dort die Blase zerplatzen zu lassen. Im gleichen Augenblick kann man einen feinen Schleier alpenländischer Milch erkennen, der sich in winzigen Fett-Kügelchen auf dem hellbeigen Gewand des alten Mannes verteilt. Und dann kommt wieder dieses Kleck, kleck, kleck. Er bewegt aber gar nicht seine Lippen, denke ich noch, als mir schlagartig bewusst wird, dass er ein loses Gebiss im Mund hat, welches durch das rhythmische Wippen diese Kleck Geräusche macht. Das fasziniert mich jetzt. Wie kann es sein, dass es alle zwei Sekunden diese Geräusche macht? Die Milchflasche mit der Bergbauern-Bio-Milch hat er schon zur Hälfte geleert. Der Milchgeruch wabert zu mir herüber. Nicht das auch noch, jagt es mir durch die Stirn. Es fehlt noch, dass er zu rülpsen anfängt. Es riecht aber so. Meine Absicht, mich etwas zu entspannen ist jetzt vorbei. Ich zähle die Sekunden zwischen dem Gebissgeklapper und dem der Schienen. Er schafft es fast immer in die Intervalle mit den Schienen zu kommen. Kleck, kleck, kleck und schon kommt das Klack. Beim Kleck fällt das Gebiss einfach nach unten. Grundlos. Wie kommt es wieder nach Oben. Es fällt ziemlich tief, denn man kann den rosafarbenen Ansatz der Zahnprothese erkennen. Aber nur kurz und sofort kann man das Kleck hören, wenn die Prothese an den Gaumen anschlägt. Die Klecks erfüllen das Abteil. Er grinst wirr aber zufrieden vor sich hin. Ist es sein Spiel, sein Zeitvertreib während der Fahrt. Lässt seine Zähne im Mund tanzen. Cha-Cha-Cha-seitwärtsSchließ. Wie komme ich jetzt auf den Tanzrhythmus. Sein hastiges Trinken hat scheinbar nur den Zweck den Kiefer geschmeidig zu halten, ihn quasi mit der fetten Milch zu ölen, damit das Kleck, Kleck, Kleck sauber ertönt. Jedes Mal, wenn er die Milchflasche zum Hals führt und sich erneut ein

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frischer weißer Abdruck über den alten, vielleicht schon ranzigen legt, ist der Rhythmus mit dem Klack gestört. Es dauert aber nicht sehr lange, bis es wieder passt. Kleck, kleck, kleck, klack. Irgendwie ist es doch beruhigend, dass es mit der Statistik so gut klappt und ich es fast berechnen kann. Hat der Alte eine musikalische Vorstellung über Resonanzen? Sein fast schon verzücktes Gesicht lässt diesen Schluss zu. Als ich in Basel an ihm vorbei zur Abteiltür laufe, bleibt er sitzen und macht keinerlei Anstalten aufzustehen. Basel ist Endstation. Soll ich ihm das sagen? Doch dann legt er sein rechtes Bein auf das linke und wischt mit seinem linken Arm über den doch so schön glänzenden Schuh. Es mutet mir seltsam an, aber der Alte erweckt den Eindruck in glänzender Stimmung zu sein. Zufrieden hebt er die Aktentasche auf seinen Schoß und ich erkenne darin eine weitere Flasche Milch. Fährt er etwa sogleich zurück nach Zürich und setzt sein sonderbares Musikstück mit den kleck-Kleck Resonanzen fort? Auf dem Bahnsteig stehe ich noch eine Weile vor dem Abteilfenster und warte bis der Zug zurück nach Zürich fährt. Was für ein sonderbarer Mensch. Wo er wohl lebt und ob er vermisst wird, wenn er tagsüber unterwegs ist? Ein Lächeln umspielt sein Gesicht. Er hat den Kopf an die Scheibe gelegt und freut sich offensichtlich auf die Rückfahrt. Der alte Mann scheint mit sich und der Welt zufrieden. Beschwingt verlasse ich den Bahnhof.

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s -bahn fahrt von Suncica Todorovic eine haarsträhne wird aus einer unbekannten stirn gewischt permutfarbene lippen Üffnen sich. worte. rieseln heraus.manchmal fremd. manchmal vertraut augen. sammeln eindrßcke und die bilder von den werbeplakaten

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Ist der Zug schon abgefahren? von Britta Maßmann Der Himmel weinte an diesem Morgen. Wie schon die letzten Tage. Emma erging es nicht anders. Immer wieder verwandelten sich ihre Augen in tosende Gewässer, die in regelmäßigen Abständen über die Ufer liefen und Emmas Haut unter den Augen in wuchernd rote Hügellandschaften verwandelten. „Iss‘ doch etwas Schokolade, das tröstet“ oder „guck‘ dir ‚nen witzigen Film an“, das waren nur zwei der Wortwellen, mit denen sie sich heute Morgen konfrontiert sah. Ein Morgen, der einmal mehr damit begann, einen Kampf namens Emma versus Emma zu führen. Ein Kampf darum, ob es Sinn macht, sich in die zermalmenden Mühlen eines neuen Tages zu begeben. Ein weiterer Tag, an dem selbst der Weg vom Bett zum Kühlschrank wie ein Marathon-Lauf durchs amerikanische Death Valley anmutete. Ein weiterer Tag, an dem das rabenschwarze Wolkengebilde im Kopf der unnachgiebige Begleiter sein wollte und würde. Schokolade half da nicht viel, auch wenn sie zum oft bemühten Menü zählte und das einzige halbwegs verlockende Lebensmittel schien, welches Emma an Talfahrttagen essen mochte und konnte. Sie schaffte es irgendwie, nach etwas Schokolade und viel, viel Kaffee, aus dem Bett und ging, so fühlte es sich stets an, Hand in Hand mit ihrer Depression und eingepackt, als ginge es in die Arktis, Richtung U-BahnStation. Ein neues Album ihrer Lieblingsband stand ab heute im Plattenladen, und dorthin sollte es gehen. Musik ... stetiger Fels in der Brandung. Mit mühsamen, Unmengen an Energie kostenden Schritten ging Emma die Treppe zum Bahnsteig hinauf, Stimmfetzen wirbelten um sie herum, laut, harsch und forsch. Der Bahnsteig glich einem Ameisenhaufen, es wimmelte von Menschen und mehr als einmal wich Emma zurück und hielt inne. Hektik überall. Panik in Emmas Kopf. Gedankenrasen. Der Wunsch wuchs, nicht in die Bahn zu müssen. Der Wunsch wuchs, irgendwo allein zu sein. Weg von Menschen. Es gab Tage, da fuhr Emma gern mit der Bahn. Nicht so heute. Das mentale Monster in ihrem Kopf ließ dies nicht zu, es hielt ihren Psyche

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an der Leine. Fest. Während die Bahn einfuhr, mit lautem Quietschen, Krachen und Zischen, erwischte es Emma wieder. Kälte kroch durch ihren Körper, sie erstarrte, und wollte einfach nur weg. Ruhe, wie schön wäre es. Die Bahn hielt. Der Teenager, der auf sein Smartphone starrte und sie auf dem Weg zum Waggon anrempelte, die ältere Frau, die an Emma vorbei wollte und sie mit ihrem Gehstock am Bein traf ... es war surreal. Emma ging zwei Schritte zurück und sank auf ihre Knie. „Zurückbleiben bitte“ ertönte es aus der scheinbaren Ferne. Der Zug fuhr ab. Emma schaute sich um. Kraftlos. Sie konnte es nicht einordnen, was geschah. Ein verschwommenes Bild von Rücklichtern tauchte vor ihrem Antlitz auf, denn der Sturzbach hatte einmal mehr ganze Arbeit in ihren Augen geleistet. Dann schloss sie die Augen, sie verstand den Film nicht. Ihr Feind im Kopf lachte mit boshaftem Vibe. Plötzlich hallte eine unbekannte Stimme irgendwo da draußen. „Alles ok bei Ihnen?“ Emma öffnete die Augen, sah das der Zug abgefahren war und Sekunden später in ein faltiges Gesicht. Außergewöhnlich faltig. Der Ausdruck: Nichtsraffend. Ja, so konnte man es nennen. Es war so so wunderschön. Die Besitzerin des Mopses trug einen Jogginganzug und wirkte symphatisch. „Ja, geht schon“, erwiderte Emma während sie langsam wieder zu sich kam und versuchte, ihre schwachen Glieder zu bewegen. Aufstehen. Es musste klappen. Und es ging, irgendwie. Die Hundebesitzerin hatte rote Pausbäckchen und wirkte trotz besorgter Miene beruhigt. Emma bedankte sich für die Fürsorge und ließ ihrer Faszination für dieses tierische Geschöpf mit dem faltigen Gesicht freien Lauf. Ein Gefühl von Wärme durchlief ihren Körper. Dann ein erneutes Quietschen, Krachen und Zischen. Die nächste Bahn war da. Erneut ein rasantes Aus- und Einsteigwechselspiel, ebenfalls in Begleitung von Rempeleien und Menschen, die wenig Rücksicht walten ließen. Emma taumelte, schaffte es dieses Mal jedoch in den Waggon. Sie ließ sich auf einen Sitz nieder, erschöpft aber irgendwie ein Licht am Horizont sehend. Dieses Gesicht ... es ließ sie nicht los. In den Plattenladen hatte sie es nicht geschafft, aber in den Supermarkt. Immerhin. Die Nacht war lang, die alkoholische Betäubung ihres Kopf-Feindes lief ins Leere. Der gefühlt weite Weg zum Badezimmer, erschwert durch die bleiernde Schwere der dunklen Hirnwolken - es war einmal mehr ein

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Tanz auf dem Soll-ich-oder-soll-ich-nicht-weitermachen-Drahtseil. Dann, inmitten psychologisch vertrackter, innerer Zwistigkeiten, tauchte es wieder in ihren Gedanken auf, dieses faltige, wundervolle Gesicht. Emma stand auf, denn heute wollte sich ihr Tagesziel erreichen und das Album ihrer Lieblingsband aus dem Laden ins heimische Regal befördern. Einmal mehr war es voll am U-Bahn-Steig, doch heute ging es ein wenig besser. Das Quietschen und Krachen und Zischen der einfahrenden Bahn, die um sie fliegenden Ellenbogen der hastig nach in den Waggon springenden Mitfahrern - Emma atmete tief durch und kämpfte gegen das Gefühl, nicht von der Stelle kommen zu können. Es klappte. Die Bahn brachte sie wohlbehalten hin und zurück, und am Ende des Tages saß sie Musik hörend vor ihrem Laptop. Dieses Gesicht, sie konnte es nicht vergessen. Die Suchmaschine des Internets lief heiß und sie wurde fündig. Drei Wochen später war es soweit: Emma musste ihre Depressionen nicht mehr alleine durchstehen. Ziggy war bei ihr. Ein Geschöpf des Himmels, mit den wunderschönsten Falten die der Planet je sah. Was für ein Glück, dass ihre mentale Behinderung sie an jenem schicksalhaften Tag nicht in die Bahn ließ. Wäre Emma sonst auf den Mops gekommen, ihren neuen Begleiter durch dick und dünn? Sie war dankbar, das erste Mal seit Jahren. Dankbar, Ziggy zu haben. Dankbar, am Leben zu sein. Sie fühlte sich, als könnte sie es schaffen. Sie lächelte. Ein wunderbares Gefühl.

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Ist der Zug schon abgefahren? von Evelyn Hagedorn Mein Herz pochte und ich rang nach Luft, als ich endlich am Bahnsteig ankam. Doch kein Zug war zu sehen. „Ist der Zug schon abgefahren?“, fragte ich den Herren in Bahnuniform, der in meiner Nähe stand. „Ja, den haben Sie knapp verpasst!“ Nun hatte ich also über zwei Stunden Zeit bis zur nächsten Fahrt. Was also tun? Mein Weg führte mich in die naheliegende Bahnhofstraße, dort sah ich mich um. Die Herbstsonne begleitete mich. Ein kleines Café machte mit bunten Sonnenschirmen vor der Tür auf sich aufmerksam. Ja, das gefiel mir. Ich trat ein. Gerne wollte ich am Fenster sitzen. Schade, alles besetzt. Doch am letzten Tisch war noch etwas frei. Eine ältere Dame hatte es sich gemütlich gemacht, der Stuhl ihr gegenüber war leer. Bereits von weitem betrachtete ich sie. Ich fragte mich, ob ich es wohl wagen könne, sie anzusprechen. Das graue Haar hatte sie in sorgfältige Locken gelegt, und um den Hals trug sie einen Schal, der perfekt mit ihrem hellblauen Pulli harmonierte. Ihr Blick war aus dem Fenster gerichtet. Sie schien tief in ihren Gedanken versunken zu sein. Als ich schon fast vor ihr stand, suchte sie etwas in ihrer Handtasche. Ich sah, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Jetzt kam mein Einsatz: „Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen? Alle anderen Stühle sind besetzt.“ Überrascht sah sie auf: „Ja, bitte!“ Schnell wischte sie mit ihrem Taschentuch über das Gesicht. Ich bedankte mich und nahm Platz. Mein Lächeln schien sie zu ermuntern. Als ob sie nur darauf gewartet hätte, begann sie sogleich zu erzählen. Sie fühle sich so alleine. Ach ja, das ganze Leben würde für sie überhaupt keinen Sinn mehr machen. Als ihr Mann noch lebte, da war alles anders.

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Lange hatte sie ihn gepflegt, bevor er nach schwerer Krankheit für immer eingeschlafen war. Die einzige Tochter lebte in Australien. Die sei aber mit ihrem Beruf verheiratet. Die Hoffnung, eines Tages Oma zu werden, habe sie schon längst aufgegeben. „Nicht mal Enkelkinder sind mir vergönnt, dabei habe ich doch früher so gern aus Märchenbüchern vorgelesen.“ Nachdenklich blickte sie mich an: „Aber was erzähle ich Ihnen da? Sie sehen nicht so aus, als ob sie alleine sind. Sie können das bestimmt nicht nachvollziehen.“ „Nein, nein“, wehrte ich ab. „Sie irren sich. Ich weiß nur zu gut, wovon Sie sprechen. Aber gibt es denn gar niemand, mit dem sie reden könnten? Sie haben doch sicher eine Freundin?“ „Ja, da war früher mal Hilde. Wir gingen gemeinsam zur Schule. Wir waren immer ein Herz und eine Seele. Aber dann war da ein dummer Streit. Hilde war schuld und sie wollte das partout nicht einsehen!“, sie seufzte. „Also war dann erstmal Funkstille. Schließlich ist sie irgendwann fortgezogen, gemeinsam mit ihrem Mann. In ein Häuschen auf dem Lande. Eigentlich hatten wir ja ein gleiches Schicksal. Auch Hildes Mann war krank. Was wohl aus ihr geworden ist?“ Sie rührte in ihrem Kaffee. Es entstand eine Pause. Nun erzählte ich ihr davon, dass auch ich mich vor Jahren einsam fühlte. Oft musste ich an meine Freundin aus der Schulzeit denken. Da waren so viele schöne Erinnerungen. Sehr viele Jahre hatten wir nichts mehr voneinander gehört. Es lag an mir, denn ich hatte mich total zurückgezogen. Doch dann hab ich ihre Telefonnummer rausgekramt und sie ganz einfach angerufen. Schon nach den ersten Worten war alles so wie früher. Unsere Verbundenheit bestand noch immer. Und seit dieser Zeit telefonieren wir jede Woche, verreisen gemeinsam und sind glücklich, dass wir uns wiedergefunden haben. „Vielleicht wartet ja Hilde auch darauf, dass Sie sich bei ihr melden. Einer muss ja den ersten Schritt machen. Wie wäre es, wenn Sie ihr einen Brief schreiben? Was halten Sie davon? Und was die Kinder anbetrifft, ich habe auch keine Enkelkinder. Aber man kann sich ja welche ausleihen. Zum

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Beispiel trage ich mich schon längere Zeit mit dem Gedanken, dass ich als Lesepatin irgendwo einsteige und Kindern etwas vorlese.“ Es entstand eine angenehme Verbindung zwischen uns. Erstaunt stellte sie fest, wie einfach es doch eigentlich ist, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Ihre Augen begannen zu leuchten, als sie sich ausmalte, dass Hilde vielleicht auch Sehnsucht nach ihr haben könnte. Wenn mein Zug nicht gewesen wäre, dann hätten wir bestimmt noch bis spät in den Abend erzählt. Aber so sollten sich unsere Wege wieder trennen. Bevor ich ging, ergriff sie plötzlich meine Hand und meinte: „Ich bin Ihnen so dankbar für das Gespräch. Das würde ich gerne wiederholen. Und vielleicht möchten Sie ja erfahren, wie es bei mir weitergeht. Würden Sie mir Ihre Telefonnummer geben?“ „Ja, natürlich. Diesen Gedanken hatte ich auch schon. Aber ich wollte mich Ihnen nicht aufdrängen.“ Rasch tauschten wir unsere Nummern, bevor ich wieder zurück zum Bahnhof eilte. Der Zug war behaglich warm. Ich sah hinaus in die Dunkelheit der beginnenden Nacht. Meine Gedanken waren immer noch bei Ursula. Ihren Namen hatte sie mir im letzten Moment noch anvertraut. Zurück in Berlin. Zwei Wochen später klingelte mein Telefon. Ursula rief an. Ihre Stimme war hell und man konnte ihre Freude spüren. Sie erzählte mir, dass sie tatsächlich den Brief an Hilde geschrieben hatte. Und Hilde antwortete prompt. Bald würden sie sich nun wiedersehen. Und das hätte sie alles nur mir zu verdanken. Ich wehrte ab: „Wissen Sie, ich habe Ihnen nur den Anstoß gegeben. Sie haben den Rest gemacht. Es ist Ihr Erfolg und ich freue mich mit Ihnen.“ Nun weiß ich auch, warum ich meinen Zug verpassen sollte. Denn nur so konnte ich Ursula treffen und ihr helfen, ihrer Einsamkeit zu entfliehen.

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Ist der Zug schon abgefahren? von Martina Lindenau Immer fährt mir der Zug weg, ich weiß nicht, wie oft ich das schon träumte… Auf jeden Fall schon sehr oft, vor meiner Erkrankung, manchmal sogar als Albtraum. Jetzt glaube ich zu wissen, warum. Und nun ist es tatsächlich zu meiner Realität geworden. Das gibt mir zu denken, was ist, wenn das irgendwas bedeutet? Was, wenn ich das für einen Zufall halte und es ist keiner? Was Gutes bedeutet es bestimmt nicht, weil es nichts Gutes ist, wenn der Zug wegfährt. Ich glaube, es bedeutet, dass ich gerade eine Chance vertan habe. Eine Chance, die für mich gut gewesen wäre, z.B. hätte ich unbedingt etwas dafür tun müssen, um abnehmen zu können. Heute weiß ich, dass ich meine Schlaganfälle nicht wegen meinem Übergewicht bekam, das hat mir ein Anästhesist bestätigt. Trotzdem hätte ich abnehmen müssen. Ich habe mir das Rauchen abgewöhnt, weil es ein Risiko ist. Ich habe auf meine Gesundheit geachtet, keinen Alkohol getrunken und lebe vegetarisch. Aber nun ist es fast zu spät, ich habe schon 4 Lebensjahre verloren. Ich kann nur versuchen, weitere OP´s zu vermeiden. Käse, nun muss ich das Beste daraus machen. Obwohl ich gerne mein rechtes Knie operieren lassen möchte, kann es nicht operiert werden, da das Risiko zu groß ist, einen erneuten Schlaganfall zu erleiden. Also möchte ich es nicht mehr machen lassen. Auch wenn ich dann nicht mit meinem Enkelsohn Cliff rutschen kann. Bald kommt der Sommer und ich kann kaum was machen. Aber ich will nicht jammern, solange es viele Menschen gibt, denen es noch schlechter geht. Wenigstens habe ich die Schlaganfälle nicht bekommen, als meine Kinder noch klein waren. Und jetzt lebe ich sogar in der eigenen Wohnung! Dafür bin ich Gott besonders dankbar! Also hat die Krankheit auch was Gutes und einen Sinn! 2001 wollte ich beruflich geistig Behinderte Menschen betreuen, heute bereue ich es, mich dagegen entschieden zu haben. Denn dann hätte ich gelernt, besser nach-

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zufühlen, wie es ist, hilflos zu sein. Auch hatte ich früher die Möglichkeit, in der Pflege zu arbeiten und es sehr bereut, es nicht getan zu haben. Mir waren die Arbeitszeiten zu krass, aber als die Kinder groß waren, hätte ich das vor meinem Schlaganfall machen können. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich jemals so eine Erkrankung kriege, gut, dass man das nicht im Voraus weiß. Das wurde mir zwar durch die Träume gesagt, aber ich habe diese Träume erst einmal nicht verstanden, erst im Nachhinein begriff ich. Aber verhindern hätte ich es sowieso nicht. Was hätte ich tun können? Abnehmen, ASS einnehmen und zwar täglich ? Vielleicht sollte es aus einem wichtigen Grund dazu kommen und ich hatte noch Glück. Ich habe es überlebt und kam ins P.A.N. Zentrum. Dort hat man mir gezeigt, wie man mit dem neuen Leben umgeht und wie ich zurecht kommen kann. Das Beste waren die neuen Erfahrungen mit den neuen Kontakten. Dort habe ich viele nette Leute kennengelernt, aber leider auch unmögliche. Aber das hat mir letztlich auch geholfen. Nun passieren mir in der eigenen Wohnung viele unschöne Geschehnisse, die helfen auch, mehr mitzumachen und mitzudenken. Ich glaube an Gott und er macht keine unnützen Dinge, da bin ich sicher. Durch den abgefahrenen Zug hatte ich die Gelegenheit, mein Leben und verpasste Chancen zu überdenken. Und habe jetzt vieles verstanden, was ich vorher nicht verstanden habe, hoffe ich. Vorwärts leben, rückwärts verstehen ist die Devise. Das ist mein Beitrag zum Schreibwettbewerb. Außerdem möchte ich den Mitarbeiter*innen des P.A.N. Zentrums meinen Dank zum Ausdruck bringen. Ich würde es sehr schön finden, wenn mehr Betroffene von der Einrichtung profitieren könnten und sie noch bekannter werden würde. Das PAN-Zentrum hat natürlich keine Werbung nötig. Bitte sagt den „richtigen“ Leuten Bescheid, wie Betroffene, Rettungssanitäter, Arztpraxen, etc. Ebenso bin ich sehr dankbar, eine eigene Wohnung bewohnen zu können, mit der Hilfe und Unterstützung des Betreuten Einzelwohnens.

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FĂźrst Donnersmarck-Stiftung zu Berlin 2018


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