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Michael Braun ( Hrsg. ) Die zweite Schöpfung Poesie und Bildende Kunst
Michael Braun im Gespräch mit Klaus Merz Nico Bleutge Gerhard Falkner Marcus Roloff Silke Scheuermann
Wunderhorn
Inhalt
7 Michael Braun : Ut pictura poiesis. Was die Bilder erzählen 13 Klaus Merz : Der entzündeten Pinselspur entlang 25 Nico Bleutge : Honigwarme Pupillen 39 Gerhard Falkner : Poesie am Rande des Nervenzusammenbruchs 51 Marcus Roloff : Mein nicht geschnittener Blick 63 Silke Scheuermann : Keinem fällt auf, dass die Seele fehlt 78 Quellen 79 Autoren 80 Nachweise 81 Abbildungen
Michael Braun Ut pictura poiesis. Was die Bilder erzählen
1 Es gehört zu den strengsten Übungen der Kunst, sich selbst in die Augen zu schauen. Der genialische Maler Rembrandt van Rijn hat sich dieser Übung in einer Reihe von Selbstporträts unterzogen. Rund 70 Selbstbildnisse hat er in seinem wechsel vollen Leben angefertigt, darunter ein rätselhaftes Dresdner Doppelporträt mit seiner Ehefrau, der legendären Saskia van Uylenburgh (Abb. 1). Saskia, die Tochter eines einflussreichen Kunsthändlers, wurde von Rembrandt als Muse und Madonna vergöttert ; ihr früher Tod im Alter von gerade mal dreißig Jah ren stürzte den Maler in eine Krise, von der er sich nie mehr er holte. Es ist ein theatralisches Bild, eine dionysische Szene, die einen Augenblick des Lebensgenusses festhält. Das Selbstpor trät zeigt Rembrandt mit schwarzem Barett und weißer Strau ßenfeder, er hat einen Säbel umgeschnallt. Seine große Liebe Saskia Uylenburgh sitzt auf seinem Schoß und blickt wie er zu dem unsichtbaren Betrachter oder Maler des Bildes hin. Mit prunkvoller Kleidung ausstaffiert, umfängt der Maler hier mit der Linken seine nicht minder kostbar gekleidete Saskia und schwenkt dabei in seiner rechten Hand ein langstieliges, halb geleertes Trinkglas. Auf manchen Reproduktionen sieht es so aus, als würde aus dem Glas eine feinstrahlige, leuchtend gelb gemalte Fontäne mit Flüssigkeit entweichen. Dieses Selbstporträt, so sagen die Kunsthistoriker, ist doppelt kodiert : In das Selbstbildnis ist zugleich das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn eingezeichnet, der sein Erbteil verschleu dert. Rembrandt selbst warf in den Jahren der Entstehung des 7
Bildes, etwa 1635 bis 1639, mit seinem Vermögen nur so um sich, er kaufte wahllos Kunst und Kuriositäten, in der Hoffnung, spä ter Geschäfte damit zu machen. Das rauschhafte Leben kippte dann bald ins Unglück. Saskia verlor ihr erstes Kind zwei Wo chen nach der Geburt, später dann noch zwei Kinder auf ähn liche Weise. Und bei der vierten Geburt, zehn Jahre nach der Heirat mit Rembrandt, starb sie schließlich selbst. Das Kind, der Sohn Titus, überlebte. Aber auch er starb früh, er wurde nur 27 Jahre alt. Auf einem späten Selbstbildnis Rembrandts ist denn auch der dionysische Zauber des Doppelporträts von 1635 verflogen. Er schaut uns dort mit Augen an, die alles in Zweifel ziehen, was ihm sein Leben an Verheißungen vorspie gelte. Die oft dunklen Bildhintergründe Rembrandts hat der Schriftsteller Dieter Wellershoff als ästhetische Manifestation der Lebenserfahrung des Malers gedeutet : »Wir kommen aus dem Dunkel, leuchten auf, erlöschen und kehren wieder in das Dunkel zurück.« Über diesen Weg aus dem Dunkel, den die Bildende Kunst über viele Jahrhunderte in Gemälden, Zeichnungen, Skulpturen und Installationen festgehalten und reflektiert hat, berichten die Gespräche mit zeitgenössischen Dichtern, die in diesem Buch versammelt sind. Klaus Merz, Nico Bleutge, Gerhard Falkner, Marcus Roloff und Silke Scheuermann erzählen von ihrer Beschäftigung mit Werken der Bildenden Kunst, von der intimen Begegnung der Poesie mit der Malerei. Die zwischen September 2014 und Januar 2015 geführten Gespräche mit den Autoren wurden ursprünglich für ein Radiofeature geführt, sind dann aber über ihren Anlass hinausgewachsen. Die fünf Dichter porträtieren sich hier gleichsam selbst, indem sie über Bilder schreiben, die für sie und ihr Werk von großer Bedeu tung sind. Seit einigen Jahren gibt es eine Tradition von Aus stellungs- und Museumsprojekten, in denen Schriftsteller neue Zugänge zu Werken der Bildenden Kunst eröffnet haben. Im Jahr 2007 wurde vom Literaturbüro NRW die Reihe Museumsschreiber initiiert, die auch Silke Scheuermann, die im letzten 8
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Kapitel dieses Buches von ihrer Affinität zur Bildenden Kunst berichtet, zu einer Reihe außergewöhnlicher Gemäldegedichte angestiftet hat. 2013 animierte dann die Staatliche Kunsthal le Karlsruhe in dem Projekt »Unter vier Augen« insgesamt 50 Schriftsteller, Philosophen und Kulturwissenschaftler zu einer Auseinandersetzung mit historischen Porträts. Das vorliegen de Buch unterscheidet sich von diesen Versuchen, in dem es nicht nur die Korrespondenzverhältnisse zwischen Poesie und Bildender Kunst dekodiert, sondern auch die biografisch-ästhe tischen Urszenen der Autoren ausleuchtet und damit direkt in das Zentrum der dichterischen Werke führt. 2 »Eine Dichtung ist wie ein Gemälde : es gibt solche, die dich, wenn du näher stehst, mehr fesseln, und solche, wenn du weiter entfernt stehst ; dieses liebt das Dunkel, dies will bei Lichte be schaut sein ; … dies hat einmal gefallen, doch dieses wird, noch zehnmal betrachtet, gefallen.« Diese Sätze sind zweitausend Jahre alt. Aufgeschrieben hat sie der römische Dichter Horaz in einem Brief an die Söhne eines römischen Stadtpräfekten ; Sätze aus einer poetischen Epistel, die für viele Jahrhunderte das Zentrum der Reflexion über Dichtung bildeten. »Ut pictura poiesis — Eine Dichtung ist wie ein Gemälde, Dichtung ist wie Malerei« : Diese fast magische Formel für das poetische Nachdenken über Kunst beschäftigt auch noch die hier versammelten Autoren, die sich in Gemäl degedichten, Essays oder Bildmeditationen den Werken der Bildenden Kunst nähern. Entscheidend ist für sie alle die Su che der »poiesis« nach einer angemessenen Blickachse, einem Orientierungspunkt, um die Tiefe der »pictura« auszuloten. So entstehen Texte, die in ihren Bild-Erkundungen mal näher an die Kunstwerke herantreten, dann wieder aus der Ferne einen Zugang suchen. Von der direkten Begegnung mit dem Kunst werk erhoffen sich die Dichter eine metaphysische Offenba 9
rung oder eine Epiphanie, wohl wissend, dass sich das begehrte Bild dem Betrachter auch zu entziehen vermag. 3 Die Begegnung mit Kunst ermöglicht uns die Ahnung vom großen Ganzen, heißt es einmal bei Klaus Merz. Dagegen setzt Marcus Roloff seine Skepsis : Das große Ganze geht in der Poe sie nicht mehr. In Nico Bleutges Beschreibung der Entstehung seines Gedichts wird deutlich, dass es bei der Begegnung eines Dichters mit einem Kunstwerk nie darum gehen kann, das Bild, die Zeichnung oder die Skulptur poetisch zu illustrieren, also die sprachliche Reproduktion eines visuellen Werks anzustre ben, sondern zwei künstlerische Energien miteinander in Be ziehung zu setzen. Gerhard Falkner radikalisiert die Frage nach der Möglichkeit von Kunst und Poesie, indem er die Bilder und Zeichen unserer digitalen Gegenwart mit einer Gedichtsprache konfrontiert, die selbst von den kalten Terminologien des Internet-Zeitalters zehrt. Silke Scheuermann resümiert schließlich : Die Bild-Kunst zeigt unsere Angst vor dem Verschwinden. In ihrem Gedichtband Skizze vom Gras taucht eine sehr einsame Figur auf — das hoch mütige »Mädchen im Spiegel«. Als Inspirationsquelle für ihr Gemäldegedicht »Das Mädchen, das in den Spiegel sieht« dien te ein Bild des ukrainischen Malers Wladimir Lukianowitsch von Zabotin aus dem Jahr 1922. Auf einem kleinen Tischchen sind auf diesem Bild die elementaren Accessoires der eleganten Dame drapiert : ein Handschuh, eine Schmuckfeder, dazu eine Schachtel Streichhölzer. Im Zentrum des Bildes der an zwei schweren Metallständern befestigte Spiegel — und darin das Gesicht eines unglaublich eitlen, weltentrückten Mädchens, das hier fast körperlos scheint, denn wir bekommen nur dessen Kopfpartie zu sehen. Silke Scheuermann hat diesen eitlen, von unbeirrbarem Stolz geprägten Blick des Mädchens in einem 10
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Gedicht festgehalten. Am Anfang und am Ende wird das zen trale Thema angeschlagen : Die Angst vor dem Verschwinden, vor der Auslöschung des Subjekts. Verschwinden bedeutete keineswegs : fort sein von etwas, son dern : bei etwas Neuem, Besserem. Und ich wurde bestraft, obwohl ich vergessen hatte, dass es die Strafe gab. Ich verdiene sie, verdiene, dass man mir meinen Körper wegnahm, dass ich ewig gezwungen bin, meine eigenen eitlen Augen im Spiegel zu sehn, auch wenn ich längst nicht mehr vor ihm stehe. Ein Mädchen ohne Körper, das sich in die Augen sieht.
Dichtung und Malerei aber hören nicht auf, uns und sich selbst in die Augen zu sehen. Als sein Lieblingsgedicht hat Nico Bleutge einmal eines des Barockpoeten Daniel Casper von Lo henstein benannt. Es trägt den Titel »Die Augen«, ist Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden und handelt davon, was Dichtung und Bildende Kunst verbindet : Die Augen der Poesie wie auch der Kunst sind »Brenne-Spiegel«, die übers Meer entfernte See len anzünden :
Sie zünden übers Meer entfernte Seelen an / Und Hertzen / denen sich kein Eyß vergleichen kan. Sol man die Augen nun nicht Brenne-Spiegel nennen ?
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