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Yoga und Zwischenmenschliches
YOGA
Zwischenmenschliches
und Zwischenmenschliches
von Neeta Hingorani
Mache dir ein Konzept, bevor du einen Aufsatz schreibst. Sonst verzettelst du dich. Und am Ende kommt ein riesiges Wirr Warr dabei heraus.
So wie ein Fluss, der nicht sauber in den Ozean mündet, sondern ein weites Delta erzeugt und einen verwirrten Leser hinterlässt. Ich habe mir ein paar Notizen gemacht, einen vagen rosa-roten Faden zurechtgelegt. Aber mehr nicht. Mal sehen, ob ein Artikel entsteht. Ob es aus der Quelle fließt und wohin das Wasser strömen mag.
Die Quelle im Allgäu unter der Kirche hundert Meter vom Yoga Vidya Ashram ist versiegt. Es hat hier kaum geregnet. Das Grundwasser ist abgesunken. Das wissen wir von den Einheimischen, denen wir bei unseren täglichen Exkursionen vom Ashram zur Kirche begegnen- in unserer Freizeit, wenn wir nicht aus der Bhagavad Gita rezitieren oder Hatha Yoga (körperorientierter Teil des Yoga) praktizieren und so gut es uns möglich ist, zusammen mit den anderen schweigen.
Driften wir schon ab? Nein, dies ist lediglich zu Unterhaltungszwecken, ein Aufhänger, der Rahmen, in den der Artikel eingebettet werden soll. Denn während dieser Woche im semi-SchweigeRetreat dreht es sich mal wieder wie so oft im Kopf wie in einer Waschmaschine während des Hauptspülgangs. Der Antahkarana (Geist) läuft auf Hochtouren. Alles zur Kenntnis nehmen, weiter praktizieren und sich selbst weder verurteilen noch zu ernst nehmen für das, was sich im Inneren abspielt. Es erfordert ein Maß an Disziplin, Selbstkontrolle, Selbstfürsorge sowie Geduld, Rücksichtnahme und Hingabe, um im Lot zu bleiben. Dafür sind wir hier, im Ashram und auf Erden. Und natürlich wegen des Spaßfaktors, der Freude und Glückseligkeit. Mal dominiert dieses mal jenes.
YOGA UND DER UMGANG MIT SICH UND ANDEREN. EIN WIDERSPRUCH IN SICH? Yoga bedeutet Einheit. Eins. Nicht zwei. Nicht dual. Für einen wahren Yogi gibt es keine Trennung, kein Ich und Du, Du und Ich. Innen und Außen, Außen und Innen. Alles eine Suppe. Elios (Vedanta Academy) bringt es auf den Punkt. Liebe deinen Nächsten als dich selbst. Nicht wie dich selbst. Als dich selbst. Eine kleine Präposition und doch ein himmelweiter Unterschied. Was siehst du, wenn du das Gegenüber anschaust? Einen Mann, eine Frau, einen Fremden, einen Freund, ein Kind, ein Tier, ein Auto, eine Blume, einen Stein oder in erster Linie dein Spiegelbild? Ist es das, was wir letztendlich suchen? In allem nur das Eine sehen, um dann völlig in dem Einen aufzugehen? Das Objektiv scharf stellen? Die Doppelbilder loswerden? Den psychologischen Apparat transzendieren? Bis nur das Eine übrig bleibt? Sat Chit Ananda (Sein-Wissen-Glückseligkeit). Ist das Yoga? Die Frage bezüglich des Umgangs mit sich selbst und (den scheinbar) anderen stellt sich hier nicht mehr. Er ist spontan, mühelos und natürlich. So, wie es der Moment erfordert. Im Kopf nur praktische Gedanken oder Ruhe. Keine Quälgeister, keine Dämonen, keine Angst. Wovor auch?
RAJA YOGA Angst, Unruhe, Grübeleien - Zeichen dafür, dass wir in einem Bewusstseinszustand der Trennung leben? Doppelbilder sehen? Ich und Du, Du und Ich. Verloren, immer auf der Suche, immer auf der Hut mit den entsprechenden Gedanken.
Der achtgliedrige Pfad von Patanjali ist eine Anleitung, dieses Dasein zu transzendieren und einzutauchen in neue Bewusstseinsebenen, in denen psychologische, trennende Gedanken immer weniger werden bis hin zur totalen Verschmelzung.
Dieser vor rund 2000 Jahren beschriebene Weg beginnt mit den Yamas und Niyamas. Der Umgang mit sich und den anderen. Nachzulesen in den Yogasutras von Patanjali. Heutzutage für jedermann erhältlich. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen nur eine geistliche Minderheit und auserwählte Schüler Zugang zu den heiligen Schriften hatten. An Literatur mangelt es wahrlich nicht. An unserer Qualifikation schon eher.
SICH QUALIFIZIEREN Auch hier brauchen wir das Rad nicht neu zu erfinden. Es ist alles ausgearbeitet. Die Yogawege sind bekannt. Karma Yoga, Bhakti Yoga, Ynana Yoga, Raja Yoga und Hatha Yoga. Alles nachzulesen, in den Schriften, im Internet. Lassen wir uns ein und schauen, was passiert. Im Umgang mit uns selbst und den anderen.
GRENZEN WAHRNEHMEN Wirst du dir deiner eigenen Grenzen bewusst, kannst du dem anderen schwerlich seine verübeln. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Jeder mit seinen Ecken und Kanten. Heute quälen mich Gedanken, morgen dich. In jedem menschlichen Körper steckt Weisheit und Dummheit. Den Karren kriegen wir nur gemeinsam aus dem Schlamm. Mal zieht der eine, mal der andere, lernen kann jeder von jedem. Und meistens müssen wir alleine durch.
DAS, WAS MEINE UMWELT MICH LEHRT, TAGEIN, TAGAUS: Urteile nicht. Überlege dir gut, was du sagst. Lese Wünsche von den Lippen ab und nimm dir Zeit für dich. Mische dich nicht ein und halte dich nicht raus. Biete Hilfe an, aber dränge dich nicht auf. Ziehe klare Grenzen und wachse über sie hinaus. Gebe und nehme, lebe und lasse leben. Nimm Anteil und bleibe unberührt. Opfere dich auf und lasse dich nicht benutzen. Diene, aber unterwerfe dich nicht. Schlafe eine Nacht über Konflikte. Nimm alles ernst, bewerte nichts über. Schaue nach rechts und links und verliere dich auch mal. Sammle dich wieder ein und richte dich auf. Nimm dich nicht so wichtig, aber vernachlässige dich nicht. Nimm dankend entgegen und erwarte nichts. Habe ein offenes Ohr und schließe es. Halte eine Hand und lasse sie gehen. Genieße aber besitze nicht. Widme dem Göttlichen alles und respektiere den Masterplan. Vertraue und bitte um Führung, wenn nichts mehr geht.
Unsere Mitmenschen sind wahre Vorbilder. Ohne sie wären wir nicht die, die wir sind und diejenigen, die wir werden können. Und eines Tages wissen wir vielleicht nicht mehr, was ist Außen und was Innen. Vielleicht fließt nicht jeder Fluss schnurstracks in den Ozean. Manche Flüsse bilden Deltas und nähern sich etwas langsamer dem großen Meer.
Nachtrag
„Ein Szenario aus dem letzten Winter. Es ist kalt. Ein Mitarbeiter in einem Schnellrestaurant bietet einem ungeimpften Gast trotz des 2G-Lockdowns eine heiße Tasse Tee während der Wartezeit an.“ Neeta Hingorani geboren und aufgewachsen in Norddeutschland, bei Bremen. Studium der Anglistik und Geographie in Heidelberg. Langjährige Erfahrung als Gymnasiallehrerin (Englisch, Erdkunde bilingual). Zertifizierte Yoga- und Pilateslehrerin. Vertraut mit der indischen Kultur. Derzeitiger beruflicher Schwerpunkt: Präventive Gesundheitsförderung durch Yoga und Pilates.