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Seelen-Nahrung

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Perspektiven

Perspektiven

Susanne Altoè

ist Seelsorgerin im Gesundheitszentrum Dielsdorf

Stille Nacht

Von Susanne Altoè

Bunte Kugeln tanzen von der Decke auf dem langen Korridor. Papiersterne an den Fenstern täuschen über den Nebel hinweg, der das letzte Licht verschluckt. In der Nische steht diskret die kleine Krippe. Frau Abt* liegt schwer krank bei uns. Es sei nicht leicht, in Kontakt mit ihr zu kommen, Seelsorge wolle sie nicht. Das Mitgefühl der Pflegenden berührt mich. Die Not ist gross.

Immer wieder führt mein Weg am Zimmer von Frau Abt vorbei und ich hoffe, dass mein stiller Wunsch ihr wenigstens ein Lichtlein bringe. Tür um Türchen öffnet sich am Adventskalender, da sehe ich eines Abends die Tür zum Zimmer einen Spalt weit offenstehen… Vorsichtig strecke ich den Kopf hinein: «Guten Abend, Frau Abt, ich bin von der Seelsorge, mein Büro ist gleich gegenüber. Darf ich kurz gute Nacht sagen?» Frau Abt dreht sich nicht um: «Gute Nacht.» - «Gute Nacht», sage ich, und ziehe leise weiter.

Auch am nächsten Abend steht die Türe offen. Was mich wohl erwartet, wenn ich es noch einmal versuche? «Guten Abend, Frau Abt, darf ich kurz Gute Nacht sagen?» - «Ja» sagt sie. Und mit Bestimmtheit lässt Frau Abt mich wissen, dass sie mit der Kirche längst nichts mehr am Hut hat. Und mit Gott? – Abgeschlossen! Sie sei bei Exit angemeldet, der Termin sei schon gemacht. Sie weiss, dass sie dafür aus dem Spital austreten muss. «Oh», entwischt es mir, als ich den Stich in meiner Brust spüre. «Das muss ein schwerer Entscheid gewesen sein.» Wir schweigen lange. «Gute Nacht.» - «Gute Nacht.»

Am dritten Abend sitze ich wortlos bei ihr. Es ist zum Ritual geworden: «Gute Nacht.» - «Gute Nacht.» Am vierten wage ich die Frage: «Ist da ein Adventslied, das Sie mögen?» «Nein», sagt sie. Ob ich für sie vielleicht mein Lieblingslied singen soll? Ihr Ja kommt unerwartet. «Maria durch ein Dornwald ging…». «Gute Nacht.» - «Gute Nacht.»

«Singen Sie heute wieder?» überrascht sie mich am fünften Abend. «Gern.» «Soll ich aufhören?» frage ich, als sie zu weinen beginnt. «Nein.» Und nach dem letzten Klang presst sie heraus: «Ich gehe auch durch Dornen!» – «Ja.» Mehr weiss ich nicht zu sagen, als mich ihre Not mit Wucht trifft. Irgendwann wird sie ruhiger. «Gute Nacht.» - «Gute Nacht.»

Ein Licht steht vor ihrer Tür, als ich nach Tagen wiederkomme. Frau Abt ist gestorben. Von Exit sei keine Rede mehr gewesen, doch leise Zuversicht hätte man gespürt. Es sei manchmal schon geheimnisvoll, sagt jemand. «Ja» sage ich, und lächle dankbar.

Stille Nacht, Heilige Nacht.

*Name geändert

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