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Lässt sich Vergangenheit bewältigen? Das Unterrichtsbuch widmet sich diesem nicht unumstrittenen Begriff und versucht aufzuzeigen, wie sich die deutschsprachige Literatur seit Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Erbe des Nationalsozialismus auseinandersetzt. Dabei wird auf Texte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 bis heute eingegangen, die den Diskurs der Vergangenheitsbewältigung maßgeblich mitgestaltet haben. Vor dem Hintergrund des historischen, politischen und kulturellen Kontextes Deutschlands werden literarische Repräsentationen der nationalsozialistischen Vergangenheit untersucht, wobei auf charakteristische Aspekte
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des vergangenheitspolitischen Diskurses eingegangen wird: Schuld, Scham, Schweigen, Aufarbeitung und Verantwortung. Darüber hinaus werden auch Texte besprochen, die sich mit dem Grauen des Krieges auseinandersetzen, mit Fragen nach Identität und einem Weiterleben nach der Erfahrung von Krieg und Täterschaft. Das Buch richtet sich an Studierende des Deutschen als Fremdsprache, die sich mit dem Verhältnis Deutschlands zu seiner Vergangenheit beschäftigen wollen. Es kann als unterrichtsbegleitendes Lese-, Lehr- und Lernbuch eingesetzt werden und möchte zu einer generellen Reflexion über das Thema anregen.
ANDREA LESKOVEC studierte Komparatistik und Germanistik an der Universität Ljubljana. Nach dem Studium arbeitete sie einige Zeit als Verlagsredakteurin in München. Seit 2002 unterrichtet sie deutschsprachige Literatur und Kultur sowie Übersetzen an der Philosophischen Fakultät in Ljubljana. In ihren literaturwissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt sie sich mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, Alteritätsforschung und erzähltheoretischen Verfahren.
ANDREA LESKOVEC: VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR UND NATIONALSOZIALISTISCHE VERGANGENHEIT
ISBN 978-961-06-0371-9
ANDREA LESKOVEC
VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR UND NATIONALSOZIALISTISCHE VERGANGENHEIT Oddelek za prevajalstvo Ljubljana 2020
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Andrea Leskovec
VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG Deutschsprachige Literatur und nationalsozialistische Vergangenheit
Ljubljana 2020
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VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG Deutschsprachige Literatur und nationalsozialistische Vergangenheit Tip publikacije: univerzitetni učbenik Avtorica: Andrea Leskovec Recenzenta: Vanesa Matajc, Katja Mihurko Poniž Jezikovni pregled: Christiane Leskovec Tehnično urejanje: Jure Preglau Prelom: Nana Martinčič Slika na naslovnici: Trigubova Irina/Shutterstock.com © Univerza v Ljubljani, Filozofska fakulteta, 2020. Vse pravice pridržane. Založila: Znanstvena založba Filozofske fakultete Univerze v Ljubljani Izdal: Oddelek za prevajalstvo Za založbo: Roman Kuhar, dekan Filozofske fakultete Vodja Uredništva visokošolskih in drugih učbenikov: Janica Kalin
Tisk: Birografika Bori, d. o. o. Ljubljana, 2020 Prva izdaja, prvi natis Naklada: 300 izvodov Cena: 13,90 EUR
CIP - Kataložni zapis o publikaciji Narodna in univerzitetna knjižnica, Ljubljana 821.112.2(091)(075.8) LESKOVEC, Andrea Vergangenheitsbewältigung : Deutschsprachige Literatur und nationalsozialistische Vergangenheit / Andrea Leskovec. - 1. izd., 1. natis. - Ljubljana : Znanstvena založba Filozofske fakultete, 2020 ISBN 978-961-06-0371-9 COBISS.SI-ID 27923715
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Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Verfasserin.......................................................................................................................... 5 1 Kriegsende und Stunde Null............................................................................................................ 9 1.1 Historische, gesellschaftliche und kulturelle Kontexte.................................................... 9 1.2 Die Stunde Null im kulturellen Kontext................................................................................. 9 1.3 Aufarbeitung von Faschismus und Holocaust in Ost- und Westdeutschland �����������11
2 Literarische Entwicklungen in der Nachkriegszeit..........................................................13 2.1 Trümmerliteratur..........................................................................................................................14 2.2 Gruppe 47 und Kahlschlagliteratur.......................................................................................20 2.3 Annäherungen an das Unfassbare.........................................................................................23 2.4 Die postnazistische Literatur der Sowjetischen Besatzungszone................................27
3 Wirtschaftswunder und Aufbau des Sozialismus: die 1950er Jahre.....................29 3.1 Literarische Entwicklungen in der Bundesrepublik.........................................................30 3.2 Literarische Entwicklungen in der DDR................................................................................38
4 Thematisierung des Tabus: die 1960er Jahre......................................................................41 4.1 Literarische Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der BRD der 1960er Jahre.........44 4.2 Schreiben über den Holocaust in der DDR: der Roman Jakob der Lügner................. 56
5 Auseinandersetzung mit Faschismus und Holocaust: die 1970er und 1980er Jahre.........................................................................................................59 5.1 Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Literatur der 1970er und 1980er Jahre..........................................................................................................................63 5.2 Das Sprechen über den Holocaust........................................................................................65 5.3 Das Sprechen über die Vergangenheit in der DDR-Literatur der 1970er und 1980er Jahre..........................................................................................................................71
6 Politische und gesellschaftliche Wende: die Zeit nach 1989......................................77 6.1 Der vergangenheitspolitische Diskurs der Nachwendezeit.........................................78 6.2 Schuld und Erinnerung: Literatur und Vergangenheitsbewältigung in den 1990er Jahren.......................................................................................................................................................81
7 Vergangenheitspolitische Diskurse nach der Jahrtausendwende........................93 7.1 Tendenzen der Literatur der Jahrtausendwende: Erinnerungsliteratur...................94 7.2 Erinnerungsliteratur der späten Kriegsgeneration..........................................................95 7.3 Erinnerungsliteratur der Kriegskinder und der Nachkriegsgeneration....................99
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Andrea Leskovec: Vergangenheitsbewältigung
7.4 Erinnerungsliteratur der Enkelgeneration........................................................................103 7.5 Flucht und Zerstörung: Auswirkungen des Krieges – Schuld und Verantwortung: Erbe des Krieges........................................................................................113
8 Glossar der verwendeten literaturwissenschaftlichen Begriffe............................137 8.1 Verzeichnis der zitierten Literatur........................................................................................138
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Vorwort der Verfasserin
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Vorwort der Verfasserin
Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wurde von keinem anderen historischen Ereignis so nachhaltig geprägt wie von der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Der Bruch, den die Epoche des Nationalsozialismus im kollektiven Bewusstsein der Deutschen hinterließ, bleibt einmalig. Das Erleben der faschistischen Diktatur, des Zweiten Weltkrieges selbst, der unmittelbaren Nachkriegszeit, der sogenannten „Trümmerzeit“, aber vor allem der Vorwurf an Krieg und Holocaust eine Kollektivschuld zu tragen, belastet die deutsche Gesellschaft bis in die Gegenwart. Da sich die Generation der am Krieg Beteiligten der Aufarbeitung der eigenen Verstrickungen in die Zeit des Nationalsozialismus nicht oder nur in Ausnahmefällen stellte, lässt sich von einem vererbten Trauma sprechen, dessen Aufarbeitung den Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration obliegt. Diese Aufarbeitung und die Auseinandersetzung mit dem Faschismus werden in Deutschland gemeinhin mit dem Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichnet. Der Begriff bezeichnet die Art und Weise, wie sich Deutschland in Politik, Gesellschaft, Kunst und Kultur fortan mit dem Erbe des Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat bzw. immer noch auseinandersetzt. Der Begriff ist allerdings teilweise umstritten: Der Vorwurf lautet, dass sich die Verstrickungen der Deutschen in die Hitlerdiktatur und den Holocaust nicht „bewältigen“ lassen, sondern dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein fortwährender und generationsübergreifender Prozess zu sein hat. Trotz dieser Kritik wird jedoch genau dieser Terminus verwendet, um den Prozess der „Trauerarbeit“, der Aufarbeitung oder der Auseinandersetzung mit der eigenen wie der kollektiven Schuld zu benennen. Der Begriff Vergangenheitsbewältigung ist eng verbunden mit einem Buch, das 1967 erschien und in der deutschen Öffentlichkeit für Aufsehen sorgte. Es handelt sich um den Essayband Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens von Alexander und Margarete Mitscherlich, der als Schlüsseltext für die „Bewältigung“ der NS-Vergangenheit galt und gilt. Bereits unmittelbar nach dem Krieg setzte auch die literarische Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges ein, wobei es jedoch in erster Linie um die Schilderung von Kriegserlebnissen und persönlichen Schicksalen ging, später dann um die „Reinigung“ der deutschen Sprache vom Pathos und der Gewalt der Nazisprache, um den Entwurf einer neuen Utopie und, wenn auch eher langsam, um ein zögerliches Fragen nach Schuld und Verantwortung an allen mit dem Krieg verbundenen Ereignissen. Allerdings war das gesellschaftliche und politische Klima der 1950er Jahre wenig geeignet, um solche Fragen öffentlich diskutieren zu können, denn bevor sich Deutschland die Frage nach Schuld und Verantwortung stellte,
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Andrea Leskovec: Vergangenheitsbewältigung
widmete es sich zunächst dem Aufbau, der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuorientierung, was, so Mitscherlich, der Grund für eine kollektive Verdrängung war. Die Mechanismen der Verdrängung wurden spätestens in den 1960er Jahren von der sog. Studentenrevolte aufgedeckt und kritisiert, wodurch ein Stein ins Rollen kam, der die deutsche Gesellschaft langsam dazu zwang, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Massiv ging die jüngere Generation gegen das Schweigen der Eltern an, das es endlich zu brechen galt. Besonders die Literatur der späten 1960er und der 1970er Jahre, die sogenannte „Väterliteratur“, thematisierte die Verstrickungen der Elterngeneration in den Zweiten Weltkrieg und die NS-Diktatur. Doch Themen wie Individual- und Kollektivschuld, Verantwortung, Scham, Verdrängung usw. tauchen auch in literarischen Texten der sog. Enkelgeneration auf, die sich dieser Themen aus einer erheblichen historischen aber auch emotionalen Distanz annehmen. So ist gerade nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 und der deutschen Wiedervereinigung 1990, einer weiteren bedeutenden historischen Zäsur in der Geschichte Deutschlands, eine Vielzahl von Werken entstanden, die sich erneut dem Zweiten Weltkrieg und seinen Auswirkungen widmen. Das vorliegende Buch setzt sich mit einigen der wichtigsten literarischen Texte auseinander, die die Zeit des Nationalsozialismus und deren Folgen reflektieren. Der Fokus liegt dabei mit wenigen Ausnahmen auf Texten der deutschen Literatur, in denen sich die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auf eine andere und sehr spezifische Weise zeigt, als in Texten der österreichischen oder der Schweizer Literatur. Auch wenn der Faschismus kein deutsches, sondern ein europaweites Phänomen war, scheinen die andauernde Auseinandersetzung damit, die Problematisierung der eigenen Rolle und Verantwortung, die Thematisierung der daraus resultierenden Schuld und der gleichzeitigen Verdrängung und Verheimlichung von Vergangenheit doch spezifisch deutsche Themen zu sein. Die Verknüpfung der deutschen Sprache und Kultur mit der Vernichtungspolitik der Nazis und das lange Nachleben dieser unbewältigten und nicht zu bewältigenden Vergangenheit sind ein Spezifikum der deutschen Kultur und haben das literarische Schaffen in Deutschland entscheidender beeinflusst als andere europäische Literaturen der Nachkriegsjahre. Das Buch richtet sich an Studierende der Auslandsgermanistik oder des Deutschen als Fremdsprache, die sich mit dem Verhältnis Deutschlands zu seiner eigenen Vergangenheit beschäftigen wollen. Es kann als unterrichtsbegleitendes Lese-, Lehr- und Lernbuch eingesetzt werden, wobei die Textfragen so konzipiert sind, dass sie die Lesenden zu einem tiefergehenden Textverständnis bzw. zu textanalytischem Arbeiten auffordern oder aber zu einer generellen Reflexion über das Thema. Der Fokus liegt hierbei auf Prosatexten, es werden jedoch auch einige lyrische Texte angeführt, die zum festen Bestandteil jener Texte gehören,
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Vorwort der Verfasserin
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die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen. Das Buch kann aber auch im Sinne eines landeskundlich konzipierten Literaturunterrichts eingesetzt werden, der sich dezidiert mit diesem sehr deutschen Thema beschäftigen möchte. In mehreren Kapiteln wird die Literatur der sog. „Vergangenheitsbewältigung“ historisch kontextualisiert, beginnend mit der unmittelbaren Nachkriegszeit – der Stunde Null – und endend mit Texten des 21. Jahrhunderts. Natürlich stellt das Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ausgewählt wurden Texte, die den Diskurs über das Verhältnis der Deutschen zum Nationalsozialismus entscheidend mitbestimmt haben und immer noch mitbestimmen und zum festen Bestandteil jener literarischen Texte zählen, die dieses Thema reflektieren. Auffallend ist dabei auch eine Generationsspezifik im Umgang mit diesem Thema, die gleichzeitig auch deutlich macht, wie sehr dieses Thema und die Fragen nach Schuld und Verantwortung, nach Opfern und Tätern, nach Vergessen, Bewältigung und Verarbeitung im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert sind. Am Ende des Buches werden in einem Glossar die wichtigsten erzähltheoretischen Begriffe angeführt, mit deren Hilfe ein textanalytisches Arbeiten erfolgen kann. Ein weiterer Beweggrund für das Entstehen dieses Buches: Es möchte zum Lesen und Weiterlesen auffordern. Nicht nur deshalb, weil literarische Texte auf ganz spezifische Weise kulturspezifische Diskurse abbilden und dadurch einen differenzierten Blick auf eine Kultur ermöglichen, sondern auch, weil literarische Texte unsere Wahrnehmung schärfen, unser kritisches Urteilsvermögen ausbilden helfen und uns zum Nachdenken anregen – über uns selbst und unser Leben in einem Miteinander. Und schließlich: Der Nationalsozialismus und seine verheerenden Auswirkungen auf die Menschheit darf niemals in Vergessenheit geraten. Andrea Leskovec
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Kriegsende und Stunde Null
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1 Kriegsende und Stunde Null
1.1 Historische, gesellschaftliche und kulturelle Kontexte Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Dem Krieg, den Deutschland im September 1939 begonnen hatte, sind europaweit 30 Millionen Menschen zum Opfer gefallen, darunter 6 Millionen Juden, die durch den von Deutschen durchgeführten Holocaust getötet worden waren. Auf der Potsdamer Konferenz im August 1945 beschlossen die Siegermächte die Aufteilung Deutschlands und der Hauptstadt Berlin in vier Besatzungszonen (die Sowjetische, britische, amerikanische und französische Besatzungszone), die Entwaffnung, Entnazifizierung und die Demokratisierung Deutschlands. Die unmittelbare Nachkriegszeit, also die Zeit zwischen 1945 und 1949, wird als Stunde Null bezeichnet, ein Begriff, der zugleich Ende und Neuanfang impliziert. Zu diesem Neuanfang gehörte auch die allmähliche Entwicklung einer politischen Kultur in Deutschland. Die deutschen Politiker rekrutierten sich zum größten Teil aus Politikern der Weimarer Republik, die sich jetzt in Parteien zusammenfanden. Die wichtigsten Parteien in den westlichen Besatzungszonen (der britischen, amerikanischen und französischen) waren die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands), die FDP (Freie Demokratische Partei) und die CDU (Christlich Demokratische Union), eine Partei, die nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründet wurde. Ihre dominanteste Figur war Konrad Adenauer (18761967), der 1949, als Deutschland endgültig geteilt wurde, der erste Bundeskanzler der BRD wurde. In der sowjetisch besetzten Ostzone formierte sich aus der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) und der SPD unter Druck der Sowjetischen Besatzungsmacht die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands). Um die Not in den Nachkriegsjahren zu lindern, bot der amerikanische Außenminister George C. Marshall 1947 allen europäischen Nationen ein Hilfsprogramm aus Krediten, Lebensmittel- und Rohstofflieferungen an, das von der Sowjetunion allerdings zurückgewiesen wurde, was sich negativ auf die wirtschaftliche Lage der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der späteren DDR, auswirkte. Dagegen spielte der „Marshall-Plan“ eine maßgebliche Rolle beim Wiederaufbau Westdeutschlands. Die Spaltung Berlins und Deutschlands gipfelte schließlich in den Gründungen der BRD am 21. September 1949 und der DDR am 7. Oktober 1949. 1.2 Die Stunde Null im kulturellen Kontext Die Stunde Null brachte - wenigstens teilweise - auch eine Neuorientierung im kulturellen Bereich mit sich. In den westlichen Besatzungszonen setzte
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zumindest bei den jungen Intellektuellen eine philosophische Umbesinnung zum atheistischen Existentialismus ein, der von einer Welt ohne Transzendenz und ohne verlässliche Strukturen, in denen man sich geborgen fühlen konnte, ausging. Beeinflusst war dieses Denken vom französischen Existentialismus, besonders von Jean-Paul Sartre (1905-1980) und Albert Camus (1913-1960), deren Schriften in den späten 1940er Jahren auch Deutschland erreichten, vom östlichen Teil Deutschlands jedoch als bürgerlich-dekadent abgelehnt wurden. Sartre war der Überzeugung, dass der Mensch in die Welt „geworfen“ sei und dass man sich nur darin zurechtfinde, wenn man durch bewusste Entscheidung Verantwortung übernehme. Er war davon überzeugt, dass das Wesen des Menschen von seinen Handlungen bestimmt wird. Besonders bei der akademischen Jugend fand Albert Camus´ Text Der Mythos von Sisyphos (1943) großen Anklang, da sie sich mit der darin geschilderten Absurdität identifizieren konnten. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom sogenannten „Trümmerjahrbewusstsein“. Camus ruft in seinem Buch zu einem aktiven Handeln/Tun als einzige Sinngebung auf. Auch der deutsche Existenzphilosoph Karl Jaspers (1883-1969) bekräftigt das Trümmerjahrbewusstsein mit seinem Gedanken, dass man erst im Scheitern das eigentliche Sein begreife, also erfahre. Jaspers zeigte, dass der Mensch zwar der Überzeugung war, gemäß gewisser angeblich absoluter Forderungen zu handeln, sein wirkliches Tun aber in einem krassen Gegensatz dazu stehe. Einen Ausweg daraus sah er im Verzicht auf jegliche Normativität des Tuns, was die eigentliche Norm der Existenz sei. Wiederentdeckt wurde auch der deutsche Philosoph Martin Heidegger (1889-1976), der jedoch in der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund seiner nationalsozialistischen Gesinnung eine überaus ambivalente Rolle gespielt hatte. Heidegger begriff das Dasein des Menschen als Sorge. Einer seiner Grundbegriffe war der Begriff der Angst als Grundbefindlichkeit des Menschen, da sie seine Verlorenheit in einer unheimlichen Welt offenbare. 1949 erschien sein Werk Holzwege, in dem er die Stimmung des Untergangs beschreibt, die, so Heidegger, seit Friedrich Nietzsche (1844-1900) den deutschen Geist bestimme. Allerdings blieb diese philosophische Verortung mehr oder weniger einem Kreis Intellektueller vorbehalten; der Alltag der meisten Menschen in Deutschland war dagegen geprägt vom täglichen Überlebenskampf und von den Trümmern, die der Krieg zurückgelassen hatte. Erstaunlicherweise kehrten die Menschen relativ schnell zu einer gewissen Normalität zurück, in der man sich versuchte einzurichten. Der Überlebenskampf erforderte Pragmatismus und nicht Grübelei darüber, was hinter Deutschland lag und welche Rolle der Einzelne dabei gespielt hatte. Mit dem Nationalsozialismus und seinen weitreichenden Folgen für Deutschland wollte man sich zu diesem Zeitpunkt nicht auseinandersetzen.
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Kriegsende und Stunde Null
1.3 Aufarbeitung von Faschismus und Holocaust in Ost- und Westdeutschland Mit dem gesamten Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen wurde die deutsche Öffentlichkeit besonders durch die Nürnberger Prozesse, die am 20. November 1945 begannen, konfrontiert. Im Laufe des Prozesses bekamen die Deutschen das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und deren Folgen ungefiltert vor Augen geführt. Viele Deutsche sagten später, sie hätten erst durch die Nürnberger Prozesse vom Genozid an den Juden und anderen Minderheiten erfahren. Ähnliche Aussagen hörte man auch von einigen der Hauptangeklagten, so zum Beispiel von Hermann Göring, dem Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe und einem der führenden Offiziere im Dritten Reich. Die Nürnberger Prozesse trugen zwar zur Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die Verbrechen der Nazis bei, doch eine tiefgreifende Auseinandersetzung damit setzte in Westdeutschland erst sehr viel später ein. In Ostdeutschland stand der Gründungsmythos, nämlich als antifaschistischer Staat zu den „Siegern der Geschichte“ und damit zur besseren Alternative zu gehören, einer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Allgemeinen und dem Holocaust im Besonderen im Wege. Als Kommunist war man per definitionem bereits Antifaschist und der Widerstand der deutschen Kommunisten gegen Hitler, der dem Vergleich mit anderen Widerstandsbewegungen wie der Französischen Résistance oder den Jugoslawischen Partisanen jedoch nicht standhalten kann, wurde in unangemessener Weise heroisiert. Hinzu kam, dass sich die Sowjetische Besatzungszone auf dem Weg in eine neue Diktatur befand, in der das Verschweigen und Vertuschen historischer Tatsachen an der Tagesordnung war. So wurden weder die Verbrechen der Nazis noch die Verbrechen, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Namen Stalins begangen wurden, öffentlich thematisiert. Zumindest was die Haltung gegenüber diktatorischer Strategien betrifft, kann hier wohl kaum von einem historischen Bruch die Rede sein.
Als Nürnberger Prozesse werden Strafprozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher der NS-Diktatur bezeichnet. Sie fanden zwischen November 1945 und April 1949 in Nürnberg vor einem Internationalen Gerichtshof statt.
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Andrea Leskovec: Vergangenheitsbew채ltigung
Anregung zur Reflexion 체ber einen Kulturvergleich: Informieren Sie sich 체ber die Zeit zwischen 1945 und 1950 in Ihrem Land und vergleichen Sie die Entwicklungen und Erfahrungen der Nachkriegszeit in den jeweiligen L채ndern. Gehen Sie dabei besonders auf folgende Punkte ein: Thematisierung der Judenverfolgung, Beteiligung am Hitlerfaschismus, Rolle des Widerstandes gegen den Faschismus.
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Literarische Entwicklungen in der Nachkriegszeit
2 Literarische Entwicklungen in der Nachkriegszeit
Die Literatur hatte in der deutschen Nachkriegszeit eine wichtige Funktion. Viele erwarteten von den Schriftstellern, dass sie die Rolle des „Gewissens der Nation“ übernahmen und das innere Befinden der Menschen, das sogenannte „Trümmerzeitbewusstsein“ auszudrücken vermochten, das durch die innere und äußere Zerstörung Deutschlands begründet war. Viele Schriftsteller waren vor den Nazis ins Exil geflüchtet, zahlreiche waren allerdings auch in Deutschland geblieben, hatten sich in die sogenannte „innere Emigration“ zurückgezogen, ein Begriff, der bis heute stark umstritten bleibt. Exemplarisch für das Zerwürfnis zwischen den Autoren beider Lager, aber auch für das Selbstbild der meisten Deutschen, ist ein offener Brief in der Münchner Zeitung vom 13. August 1945. In diesem Brief reagieren deutsche Schriftsteller der inneren Emigration auf eine Radioansprache des im Exil lebenden Thomas Mann (18751955), einem der einflussreichsten und bekanntesten deutschen Schriftsteller, am 8. Mai 1945 im Britischen Rundfunk. Thomas Mann sprach in dieser Ansprache von der Schmach der Deutschen, die alles betraf, „was deutsch spricht, deutsch schreibt, auf deutsch gelebt hat“ (Lattmann 1980, 27). Die Reaktion darauf liest sich wie folgt:
Mit aller, aber wahrhaft aller Zurückhaltung, die uns nach den furchtbaren zwölf Jahren auferlegt ist, möchte ich dennoch heute bereits und in aller Öffentlichkeit ein paar Worte zu Ihnen sprechen: Bitte, kommen Sie bald, sehen Sie die vom Gram durchfurchten Gesichter, sehen Sie das unsagbare Leid in den Augen der vielen, die nicht die Glorifizierung unserer Schattenseiten mitgemacht haben, die nicht die Heimat verlassen konnten, weil es sich hier um viele Millionen Menschen handelte, für die kein Platz auf der Erde gewesen wäre als daheim, in dem allmählich gewordenen großen Konzentrationslager, in dem es bald nur mehr Bewachende und Bewachte verschiedener Grade gab. Ihr Volk, das nunmehr seit einem Dritteljahrhundert hungert und leidet, hat im innersten Kern nichts gemein mit den Missetaten und Verbrechen, den schmachvollen Greueln und Lügen, den furchtbaren Verirrungen Kranker, die daher wohl soviel von ihrer Gesundheit und Vollkommenheit posaunten. (Lattmann 1980, 27/28)
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ANDREA LESKOVEC: VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR UND NATIONALSOZIALISTISCHE VERGANGENHEIT
ISBN 978-961-06-0371-9
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