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EIN SELBSTERNANNTER GLÜCKSPILZ
ANDI HUG «Ich bin ein Glückspilz»
Ändu Hug ist ein origineller Erzähler, ein Querdenker, eine sprudelnde Quelle. Darum ohne Umwege zum O-Ton …
Erzähler und Querdenker: Andi Hug.
Bild: Rene Mosele
Das Mikroklima der Lorraine ist gut, um zu üben, nicht dem Alten nachzuhängen. Zwar lässt sich ein «hm, es war früher doch besser» kaum vermeiden. Aber die Dinge verändern sich, auch zum Unguten, das muss so sein. In der Gegenwart leben, sich sogar nach vorn richten, ist ja umso spannender, je mehr Vergangenheit man hat. 1982 geriet ich in den Q-Hof. Eine Nische, ein Nest. Für 120 Schtutz warst du dabei. Du kamst hierher als Studi, Auszubildender. Vielleicht sogar als verlorene Seele, die noch gar keinen Platz hatte – und fandest eine Lücke. Und nachher fängst du an, Geld zu verdienen, gründest vielleicht eine Familie. Einige konnten Häuser im Baurecht übernehmen oder als Wohnbaugenossenschaft kaufen – ein Teil der Gentrifizierung, aber auch Teil dessen, was das Quartier lebenswert macht.
Nach zirka sechzehn Jahren zog ich aus dem Q-Hof in ein typisches Kleingewerblerhaus: In den Mansarden Leute aus Spanien, Sri Lanka, Portugal. Unten alte Einheimische, dazwischen, quasi als Vanillecrème, Freaks, Künstler, Künstlerinnen – eine Oldschool-Lorrainemischung. Wir konnten das Haus dann als Wohnbaugenossenschaft kaufen, konnten und wollten die bestehende Struktur aber nicht übernehmen. Wir waren vor allem junge Familien mit Kindern. Für neue Formen müssen halt die alten zum Teil leider Gottes aufgegeben werden. La fahre, opfere. In den 80er Jahren war man experimentierfreudig, wir liessen unsere Kinder dann wieder in eher konventionellem Sinn aufwachsen. Wir Männer übernehmen allerdings mehr Aufgaben zu Hause. Mit meinem Beruf kann ich sehr gut Hausmann sein. Weil ich an den Wochenenden und am Abend arbeiten gehe. Kita, Schule, Elternkontakte – es kann eng, kaffig und dörflich werden. Einschneidend, aber eine neue Qualität. Die Klage, dass heute kein günstiger Raum mehr zu finden sei, ist berechtigt. Dass die Häuser teuer verkauft und usepützerlet werden, läuft von selber und wird sich noch zuspitzen. Die Jungen suchen kollektiven, günstigen Wohnraum. Entfaltungsmöglichkeiten mit Ateliers, Werkstätten. Eine Schiene ist sicher, solche Räume zu erhalten und zu schaffen. Die Stadt versucht es nun auf der ehemaligen Brache tatsächlich. Und dann ist es eine Frage der Zeit, bis wir Ältern uns zurückziehen und die grösseren Wohnungen grösseren Verbindungen übergeben. Eine andere Möglichkeit ist die Expansion in die Brennpunktvororte der Stadt. ich will auch wieder nach Hause. Und wieder einfeuern und an Sitzungen gehen und wieder das Geleier – ein Stück Identität.»
Ich habe Jahrgang 61. Wir waren fünf Kinder, eine Grossmutter dazu und ein offenes Haus in Herzogenbuchsee, einem typischen Mittellanddorf. Nicht das grosse Kino. Prägend, überschaubar, einer gewissen sozialen Kontrolle konntest du dich schwerlich entziehen. Es sei denn verdünnisiert im Wald. Ich bin nicht neidisch auf die extrem ü b e r w a c h t e n Kinder von heute. Wir waren so viel freier. Trotzdem dann der Wunsch: «Jetzt geh ich in die Stadt!» Ausbildung, Musik. Und dann merkst du, dass dort, wo du ankommst, auch wieder ein Dorf ist und dass dir das gefällt. Früher, als wir viel mit Projekten unterwegs waren, war es für mich wichtig, eine Homebase zu haben. Den QHof und die Lorraine. 1985 ging ich mit einer Band nach Amerika und heuete dort acht Monate herum. Ich musste mich durchschlagen, lernte viel und konnte ein Selbstbewusstsein entwickeln, weil ich gefragt war. Aber ich wollte wieder heim. Bewegung, Kultur, Reithalle – California war schon auch schön, aber beinahe ein wenig langweilig ... Wobei es mir als Musiker einen huere Boost gab: Musik nicht als Hobby, ich will das attackieren! Dann in Europa unterwegs, wochenlang. Wobei ich merkte, dass viele Musikerkollegen entwurzelt und heimatlos waren. So wollte ich nicht leben. «Ich will unterwegs sein. Aber
Ich träumte schon als Jugendlicher davon, dass aus der Musik etwas werden könnte. Das sei schon recht, aber ich müsse etwas Rechtes lernen, sagten alle. Ich machte schliesslich eine Ausbildung als «Lehrer für geistig Behinderte», wie man damals sagte. Es war streng, unglaublich vielseitig und lehrreich und oft eine gute Mischung von Theorie und Praxis. Ich arbeitete dann als Stellvertreter oder Ferienablös, wollte aber keine Festanstellung. Ich wollte ja Musiker werden. Schon während der Ausbildung spielte ich so viel wie möglich, es gab die Demoband, Jamms, Keller, x-Bands und Projekte. Ich war so in dem Kreativlingensumpf drin, im Gefühl: «Wir wollen das Gleiche!» Nach meiner Rückkehr aus Amerika spielte ich mit verschiedenen Leuten und sagte nach ihrem Auftritt in einer Strafbar zu der Strassenband Stop the Shoppers: «Wenn ihr mal einen Drummer braucht ...». Nach drei Wochen zogen auch sie im Q-Hof ein. Eine neue, sehr prägende Dekade. Die perfekte Schule, vor allem musikalisch, aber auch für das Business, Reisen, Soziales. «Ich musste mich durch- Wir waren eine schlagen, lernte viel und Ku du ltband rchsch ohne lagenkonnte ein Selbstbewusst- den Erfolg, uns sein entwickeln.» vielleicht sogar trotzig dagegen wehrend, obwohl ein Hit uns zu leben ermöglicht hätte. So waren wir immer auf der Suche nach gäbigen Nebenjobs. Eine Mehrfachbelastung, die oft unterschätzt wird. Ich fand dann einen beim Schweizer Radio als Nachttechniker. Es war genial. Aber ich war auch zehn Jahre auf Jetlag, total verschoben. Leben in der Nacht. Rock ’n’ Roll vom Strübschte. Dann kam Lenz, unser Sohn. 1999. Es wurde prekär, energetisch. Wegen Restrukturierung erhielt ich die Kündigung. Den Ersatzjob im Büro machte ich nicht lang und seither bin ich sogenannt Vollprofi. Zuerst hatte ich mit Büne eine Sologeschichte, synchron mit den Shoppers. Dann wurde ich Teil des Ochsnerkosmos. Mit dem, was ich und meine Frau verdienen, haben wir eigentlich seit Jahren einen sehr geilen Standard. Ja, in dem ganzen Wirrwarr spielt Karin natürlich eine wichtige Rolle. Künstlerisch tätige
ARTIER-CHÖPF Q U
FOLGE 111
Leute brauchen immer starke Gegenüber, die Unstetigkeiten ausgleichen, verdienen helfen –eine toughe Aufgabe. Es ist nicht immer easy und ausbalanciert, denn es zerrt an einem Gefüge, wenn jemand freischaffend ist, kaum planen kann. Noch ein paar Gedanken zum Quartier: – Das Kairo ist für mich so eine Art Base. Patent Ochsner ist dort kaum Thema. Dort bin ich einfach Ändu, ein Lorraineler. Der Vater von Pina und Lenz und der Mann von Karin. – Kürzlich war ich im Lorrainepärkli zum Boulespielen. Sehen, wer da alles durch den Park slidet und all die Velos und die ganze Zeit musst du winken und Gewerbeschüler, Kleinkinder, Obdachlose, Sunshinekiffer –eigentlich ein guter Platz. War ein super Quartiererlebnis. Ich merkte: Ich bin wirklich schon eine alte Ratte, man kennt sich, es gefällt mir, das letztendlich Dörfliche, das SichGrüssen. – Bin auch sehr Freund mit der Garage Bärtschi. Über ihn komme ich manchmal in eine gute Zwickmühle. Zwischen seinen Anliegen und denjenigen der Leute, die gern autoarme Strassen hätten. – Der Randweg, viele Mehrbessere bekommen den glaub gar nicht mit. Bei uns ist er sehr spürbar. Über Jahrzehnte hinweg und jenseits einer Planung entstanden gehört er mit seiner eigenartigen Stimmung auch zum Quartier.
Ein Traum, hehehe. Nei, i findes eigentlich troumhaft. Ich sehe mich als Glückspilz, der machen kann, was er am liebsten macht: mit Freunden arbeiten (!), und erst noch davon leben können. Ich bin von guten Leuten umgeben, gehöre einer Familie an, bekoche Kinder am Mittagstisch und habe Zeit, meine greise Mutter regelmässig zu besuchen.
Das ist die Essenz.
Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi
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SURPRISE- REGIONALSTELLE BERN Weihnachten bei Surprise sind andere Weihnachten
Es gibt Menschen, die werden regelrecht vom Weihnachtstrubel eingenommen. Guetzli backen, dekorieren, grosse Pläne schmieden für das perfekte Familienfest. Andere wiederum merken erst kurz vor den Feiertagen, dass eine besondere Zeit ansteht. Und das auch nur, weil sich die Arbeitskolleg*innen mit frohen Wünschen in die Weihnachtsferien verabschieden. Bei Surprise ist die Weihnachtszeit stets aussergewöhnlich. Sara Steiner, Co-Leitung Surprise-Regionalstelle
Bern
Sieht die Weihnachtszeit auch bei Surprise als eine spezielle Zeit: Sara Steiner.
Bild: Klaus Petrus
Kaum jemand kann sich der Weihnachtsdynamik entziehen. Dabei beeinflusst der Advent bei Surprise alle und in unterschiedlichster Weise. Fast das Gegenteil vom dem, was für die Verkäufer*innen des Surprise-Strassenmagazins gilt, gilt für d e n S u r prise-Strassenchor.
In den drei Surprise-Regionalstellen in Bern, Basel und Zürich, wo die rund 450 Verkäufer*innen ihre Hefte beziehen und von den Sozialarbeiter*innen begleitet werden, bedeutet die aktuelle Zeit in erster Linie eins: regen Betrieb. Wie es von Spielzeugläden oder Buchhandlungen bekannt ist, steht auch für die Surprise-Verkäufer*innen das Weihnachtsgeschäft an. Die Anspannung darüber, ob das Weihnachtsgeschäft so ausfallen wird, wie erhofft, ist jedes Jahr deutlich spürbar. Bei langjährigen Verkaufenden ebenso wie bei jenen, die noch nicht so viel Erfahrung im Magazin-Verkauf haben. Im Vergleich zu den vorherigen Monaten herrscht in den Regionalstellen umtriebige, teils gar gehetzte Stimmung. Wie die Adventszeit voranschreitet, löst meist ein G ef üh l der Erleichterung die Unruhe ab. Erleichterung darüber, dass die Kundschaft – die Surprise-Leserinnen und -Leser – interessiert und wohlwollend ist.
Ganz anders verhält es sich etwa im Sur pr ise-St rassenchor. H ier herrscht kein geschäftiger Tatendrang. Im Zentrum steht das Zusammensein, weit weg von der Hektik. Viele Mitglieder des Chors kämpfen gegen ihre Einsamkeit. Deshalb hat sich das Weihnachtsessen des Chors für viele Sänger*innen zu einem regelrechten Lichtblick des Jahres entwickelt. Es gibt warme Suppe, alle bringen ein Wichtelgeschenk mit, man versammelt sich um das offene Feuer und singt zusammen Weihnachtslieder. Gegen Ende des Abends äussern alle ihren persönlichen Wunsch für die Zukunft. Meist geht es um die eigene Gesundheit, um den sozialen Anschluss und natürlich ums gemeinsame Singen.
Surprise ist nah dran In diesem Spannungsfeld stehen Sozialarbeiter*innen, Angebotsleiter*innen und Mitarbeiter*innen von Surprise, die bemüht sind, den unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Gleichzeitig gilt für Surprise, die Stabilität zu wahren und auch für das kommende Jahr parat zu sein. Die aktuelle Zeit mag aussergewöhnlich sein. Die Normalität, dazu gehört die prekäre Lebenssituation armutsbetroffener und sozial benachteiligter Menschen, ist nicht weit entfernt: Unbezahlte Rechnungen, der behördliche Streit um den Familiennachzug, die drohende Obdachlosigkeit oder die fehlende finanzielle Absicherung. Deshalb bleibt Surprise nah dran – über die Festtage und auch danach. Wir würden uns freuen, wenn Sie es auch bleiben.
Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Mit Erwerbsmöglichkeiten, Angeboten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und niederschwelliger Begleitung eröffnet Surprise ihnen Perspektiven und konkrete Handlungsfelder. Diese Hilfe zur Selbsthilfe aktiviert die Fähigkeiten der Menschen und ist dadurch nachhaltig. Surprise arbeitet nicht gewinnorientiert und finanziert sich ohne staatliche Gelder. Deshalb ist der gemeinnützige Verein auf Spenden angewiesen. Mit Ihrer Unterstützung kann Surprise weiterhin für Armutsthemen sensibilisieren, konkrete Jobprogramme anbieten und den Verkäufer*innen, Chorsänger*innen, Strassenfussballer*innen und Stadtführer*innen einen Platz in der Gesellschaft ermöglichen. Herzlichen Dank für Ihre Solidarität!
www.surprise.ngo
Spendenkonto: Verein Surprise, 4051 Basel Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
All Business is Local Erreichen Sie Ihre Zielgruppe dort, wo sie zu Hause ist.

Berichterstattungen in Tageszeitungen gehören zu den wichtigsten Informationsquellen in Krisensituationen. Das Bedürfnis nach Orientierung und Einordnung der Situation am eigenen Wohnort erfüllen Lokal- und Regionalzeitungen überdurchschnittlich gut.
