"Beyond the Wild" by Lu Mazen - Editing Challenge 12/2022

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Beyond the Wild

Beyond the Wild

Lu Mazen

Die Wildheit garantiert die Erhaltung der Welt

Henri David Thoreau, Vom Spazieren, dt von Dirk Gunsteren, Zürich 2001, Seite 43

Der Garten ist eine Kunstnatur.

Jeder Mensch ist ein Zitat aller seiner Vorfahren

Ein gänzlich neuer Ausblick ist ein großes Glück, das für mich an jedem beliebigen Nachmittag möglich ist. In zwei oder drei Stunden kann ich in einer Gegend sein, die mir so fremd ist, wie ich sie mir nur wünschen kann.

Henri David Thoreau, Vom Spazieren, dt von Dirk Gunsteren, Zürich 2001, Seite 18

VOLKER DEMUTH Gedichte

AUSSICHT

So hört man noch vom letzten oder vorletzten August: Fliegenschwärme auf dem Dachboden knisternd unter den Sohlen. Hinter mir liegen die alten Teppiche eingerollt. In den Staub gedreht die erfrorenen Bilder. Also bleib ein wenig an dem Fenster so hoch vor Ort. Ein Stück Lagerplatz. Die verkrustete Baumlinie. Jahre bewegt im Dehnspalt der Brücke. Ein Beispiel für ein Beispiel das sofort ohne Zucken ist Schnee der durch die Dachziegel stiebt. Unten vom Garagenbalken herabhängt die Kälte Knochensäge.

PROSPECT

So one hears, from last August or the one before Swarms of flies on the attic floor Rustling under my soles

Behind me old carpets, rolled up Frozen images twirled into the dust. So Stay a little at the window so high up, On site. A piece of lair. The crusted horizontal line of trees. Year in motion in the expansion gap of the bridge. An example for an example Immediate without twitch Snow gushing through roof tiles From the garage, the frost drops down, A Bone saw.

SPÄTE BEBILDERUNG EINES TAGS

Gegen Mittag gerinnt in der bitteren Molke die Gegend. Pünktlich wie auf Befehl feuert die Kirchenuhr leichte Salven in die Luft.

Regloser liegt der Parkplatz, die Steine zucken nicht.

Früh legt sich das Dorf die Bleiweste der Dunkelheit an.

LATE IMAGERY OF A DAY

Around noon, the place curdles in the bitter whey

By command, just on time, The bell tower fires volleys lightly into the air Motionless, the parking lot rests, the stones don’t quiver Early, the village puts on the leaden vest heavy of darkness

Übersetzung: Lu Mazen

HIBERNALE ANSICHT

Der braune Kalkrand an der Kanne. Holz nachlegen. Es schneit, also auch in diesem Jahr.

Auf dem Tisch der Hochglanzprospekt von Villeroy und Boch ( der MärchenKönig aß von solchem Porzellan).

Gedanken, Gelesenes – die Idee des Guten und ob durch Ewigkeit das Weiße weißer werde – dann

Holen die Schlote ihre grauen Fahnen ein, stürzt die Buchengotik zusammen, geht die Schleppnetzfahndung des Schnees ins Leere. Nichts mehr zu hören und zu sehn. Nur den Hundepfeifenton der Stille im Ohr.

HIBERNAL ASPECT

Brown lime-crust on the jug-rim. The fire needs wood. It´s snowing this year as in others.

On the table Villeroy and Boch´s glossy prospectus (the fable king ate prom porcelain like this).

Thoughts, and things read – the idea of the good and whether eternity makes whites whiter – then the chimneys draw in their grey flags, the beeche´s gothic collapses, the snow´s drag-net chase gets nowhere. Nothing more to hear or see. Only the dog-whistle note of silence in the ear.

Ich halte es für falsch, jeden Menschen oder jeden Teil des Menschen zu kultivieren, ebenfalls wie ich es für falsch halte, jeden Hektar Boden zu kultivieren. Ein Teil davon sollte bestellt werden, der größere Teil soll Wald oder Wiese bleiben und keinem unmittelbaren Zweck dienen, sondern durch den jährlichen Zerfall der Pflanzen, die er trägt, einen Humus für die ferne Zukunft bilden.

Henri David Thoreau, Vom Spazieren, dt von Dirk Gunsteren, Zürich 2001, S.70,

Nehmen Sie das Tempo der Natur an: Ihr Geheimnis

ist Geduld

Ralph Waldo Emerson

Für mich wohnen Hoffnung und Zukunft nicht in Rasenflächen und kultivierten Feldern, nicht in Dörfern und Städten....

Henri David Thoreau, Vom Spazieren, dt von Dirk Gunsteren, Zürich 2001, Seite.47

Beyond the Wild Lu Mazen

Welche Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung haben Sie beim Anschauen dieses Buches gehabt?

In diesem Buch teile ich meine eigenen Erfahrungen. Ich versetze mich in meine Kindheit zurück, finde das innere Kind in mir und nehme es mit auf die Reise. Mit offenen Augen entdecke ich das Landleben neu, nehme die Landschaft und den vom Menschen geschaffenen Lebensraum sowie dessen Wandel wahr. Diese Erfahrung möchte ich mit diesem Buch teilen.

Das Projekt begann mit einer Frage: Wie sieht heute die Wirklichkeit des Landlebens aus –jenseits von Hochglanzmagazinen mit hübschen Gärten, deftigen Kochrezepten oder farming sim games im Metaversum*? Und wie verändert sich das Land im Lauf der Zeit?

In den letzten Jahren bin ich nach einem Leben in der Stadt und im Ausland zu meinen Wurzeln zurückgekehrt. Zu den Orten auf dem Land, zu denen ich eine persönliche Beziehung habe, wo ich aufgewachsen bin und meine erste Prägung erhalten habe. Ich besuche auch mir fremde Dörfer und mit diesen trete ich in Kontakt, indem ich fotografiere. Mal fahre ich mit dem Rad aufs Land, mal laufe ich von irgendwo los. Mal führt mein Weg in die Weite der Landschaft. Mal bewege ich mich innerhalb der Grenzen eines Dorfes. Ich dokumentiere Erfahrungen auf dem Weg. Immer wieder findet mein Blick etwas Besonderes, was mich zum Rätseln oder Lächeln bringt. Erinnerungen tauchen auf. Ich entdecke das Dorf von gestern und das Dorf von heute. Ich folge den vom Menschen geschaffenen Spuren. Die Spur der Menschen ist mal individuell-eigenwillig, mal eigenartig-skurril.

Ich erzähle meine ganz persönliche Entdeckungsreise – Architektur, Menschen, Landschaften und die Besonderheiten des täglichen Lebens. Im Zeitalter des Anthropozäns sind einige Dörfer verlassen, andere verwandeln sich in Vorstädte. Manche Dörfer leeren sich, die Jugend zieht weg, die bestehende Infrastruktur wird stillgelegt. Manchmal stirbt ein ganzes Dorf mit den letzten Bewohnern und damit das bäuerliche Lebenskonzept. Dieses war geprägt von harter Arbeit auf dem Feld und von einer ab Geburt gegebenen, lebenslänglichen Gemeinschaft. Andernorts kommen die Jungen wieder, bauen und renovieren im Stil der neuen Zeit. Moderne Ökofarmen und -dörfer entstehen, mit Passivhäusern, Solarstrom, Biogärten. Sie probieren neue, naturnahe Lebenskonzepte. Das Alte wird bewahrt und gleichzeitig transformiert. Frühere Zeitalter und Zeitschichten sind teils sichtbar, teils überlagert.

Wenn das Dorf zur Vorstadt wird, wird der Lebensstil schrittweise urban. Aus Äckern werden Bauplätze, Scheunen und Ställe verschwinden, genauso wie Obst-und Gemüsegärten. Ich fange einen Lebensstil ein, der mit einer Unschärfe hin- und herpendelt zwischen Alt und Neu. Das Dorf wird zum hybriden Ort, bedient die Sehnsucht der Städter nach

Ruhe und Einfachheit, nach Home-Office im Grünen und Familienidyll. Jeder Neuzugezogene lotet sich selbst in dieser fremden Umgebung - sichtbar - neu aus, genau wie die Ortsansässigen. Die Gestaltung der Vorgärten sind individuell, jeder domestiziert Natur auf seine Art.

Traditionelle Dörfer und Vororte unterscheiden sich vom touristischen Dorf – dort darf man Natur fast museal wie Kunst erfahren, wild oder pastoral, als das Schöne und Gute, das Gesunde und Ursprüngliche. Gleichzeitig ist die Natur auch hier ein Wirtschaftsgut, das seine Besitzer nährt, sei es durchs /inklusive Wandern, Waldbaden oder Barfußgehen im Luftkurort.

Klima, Zeitalter, Krisen verändern uns Menschen und unsere Art in und mit der Natur zu leben. Ich schaue mir die Veränderungen im ländlichen Raum an, den Wandel der Jahreszeiten, der Natur und der von Menschenhand gestaltete Wandel. Ich entdecke das Unsichtbare, Alltägliche und Vergängliche. Ich hinterfrage die Vergangenheit und die Zukunft des ländlichen Raums. Dessen Transformation ist grundlegend und wirft Fragen der Umwelt und der Nachhaltigkeit auf. Heute ist dies für uns alle von zentraler Bedeutung, persönlich und global. Das Ländliche ist ein zentraler Gestaltungsraum im Spannungsfeld von Mensch und Natur. Ich wünsche mir heute, lokal wie global, dass wir Organisationsund Lebensformen finden, die uns erlauben, die Natur und uns gesund und am Leben zu erhalten und nachhaltig zu wirtschaften.

Mein Ansatz ist denkbar einfach: ich gehe in den Schuhen eines Kindes übers Land und nehme einfach unverstellt wahr. Ich gebe eine Prise Reflexion dazu und werde forschende Künstlerin, eine Ethnografin, die dokumentiert, was sich ändert, was im Verschwinden begriffen ist. So kann ich das Unsichtbare, das Alltägliche und das Humorvolle des Landlebens entdecken. Und finde verstärkt Zugang zu meinem inneren Kind, was sich immer wieder neu im Spiel mit den Bildern erproben kann.

Meine Fotografie findet sich in einer Zwischenzone vom Dokumentarischen zum PoetischPhilosophischen. Wenn ich übers Land gehe, nehme ich den Raum nicht nur physisch ein, sondern auch geistig und emotional wahr. Ich werde mir meiner Position als Beobachter bewusst, kann meine eigene Subjektivität offenlegen. Ich halte fest, wo, wann und wie ich in Resonanz gehe, was mich zum Fühlen oder Nachdenken anregt.

Ich betrachte das Ländliche, als hätte ich es nie zuvor gesehen. Indem ich das, was ich sehe, verfremde und einen wenig beachteten Blickwinkel einnehme, erschaffe ich meine eigene fotografische Sprache. Das scheinbar Banale wird so seltsam und eigenwillig. Meine Fotos tragen Patina. Ich bediene mich einer Ästhetik, die ein Lebensgefühl ausdrückt: Der Farbeindruck leicht desaturierter Bilder loten Nostalgie oder Erinnern an das analoge Zeitalter aus. Vergangene Jahrzehnte und Jahrhunderte werden lebendig in digital erzeugten Bildern. In anderen Fotografien drängt sich die heutige digitale Welt materiell und symbolhaft in den Fokus. So werden heutige Parallelwelten transportiert.

Das Leben im Dorf hat schon immer an der Grenze zwischen dem Natürlichen und dem vom Menschen Geschaffenen stattgefunden. Mit meinen Bildern bin ich nah dran, bewege ich mich auf einer (Grenz-)Linie, oder im Zwischenraum, oszilliere zwischen Konflikt und Koexistenz von Mensch und Umwelt. Die Auslotung des Dazwischen und der Linienziehung findet sich in den Bildern wieder, mal konkret-mathematisch gerade und mal organisch gewunden. Die Motive sind mal dinglich, mal abstrakt.

Dieses Buch ist ein persönliches Herzens-Projekt, das ich über mehrere Jahre entwickelt und verdichtet habe. Spielerisch gehe ich heran, entdecke das Dorfleben, das Ländliche und die Landschaften meiner Kindheit neu. Mit diesem Buch möchte ich nicht nur einen neuen Zugang zum Leben auf dem Land eröffnen, sondern auch zum Thema Nachhaltigkeit.

IMPRESSUM

Alle Fotografien © by Lu Mazen

Text: Beyond the Wild © by Lu Mazen Gedichte: Späte Bebilderung eines Tags, Aussicht und Hibernale Ansicht © by Volker Demuth Zitate: © by Henri David Thoreau, Ralph Waldo Emerson und Robert Musil

Buchlayout: Wolfgang Zurborn

Editing Challenge der Deutschen Fotografischen Akademie, Dezember 2022

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