Sophie Mercer: Blue.

Page 1

Einleitung

Wahrscheinlich haben Sie auch ein solches Mädchen gekannt. Oder waren selbst eins. Ich jedenfalls war mit achtzehn so. Wenn ein Typ einigermaßen vielversprechend wirkte, gab es eine gute Methode, um ganz sicher zu gehen. Einen echten Charaktertest. Einen absoluten Gradmesser für seinen Wert. »Es gibt da etwas, das du dir anhören solltest«, sagte ich dann. Schon das CD -Cover suggerierte dramatische Introspektion. Es zeigte ihren gesenkten Kopf mit halb geschlossenen Augen und den Wangenknochen einer Feenkönigin, alles wie hinter einem Schleier aus Blau. Nicht irgendein Blau. Kein Himmelblau oder Kornblumenblau oder Türkis, die künstlichen Farben von Buntstiften, Make-up oder Tulpen. Dieses Blau war Ausdruck von Erfahrung und Leben. Wie der Schatten hinter dem Scheinwerferlicht, die anregende, beißende Note von Rauch. Wie der Ozean bei Sonnenuntergang, wenn man eben vom Schwimmen kommt. Joni Mitchell spielte man nicht den Freundinnen vor. Zumindest ich nicht. Ich wusste ja schon, dass sie es kapiert hatten. Mitchell läuterte unergründliche Gefühle, so dass man in sie eintauchen konnte. Das widersprüchliche Bedürfnis nach Liebe und Unabhängigkeit war weniger beunruhigend, wenn es mit solcher Deutlichkeit und Präzision ausgedrückt wurde; und sich mit diesen ambivalenten Gefühlen so wohl zu fühlen war, als könne man unter Wasser atmen. Ich wollte mich neben jemanden legen, der beim Zuhören das gleiche Entzücken an 13


der Selbstreflexion empfand wie ich, und bis es so weit war, würde ich träumen. Also hörte ich mir die Platte allein an und hing meinen Gedanken nach oder spielte sie erwartungsvoll einem potenziellen Liebhaber vor. Für gewöhnlich war dem Typ klar, dass die Würdigung von Joni eine Art Vorspiel war. »Das ist gut«, sagte er dann. Es war schwierig, auf diesen Sound adäquat zu reagieren, besonders in jener Ära der Popmusik, die aus ironischem Grunge und kaltem Zynismus im Stil von Nirvanas Slogan »Here we are now, entertain us« bestand. »Aber hast du auch auf den Text geachtet?«, fragte ich. »Ich meine, hörst du wirklich zu?« Vielleicht gelang es dem Jungen, Verständnis für einen Songtext auszudrücken, und er sagte dann etwas wie: »Mir gefällt die Vorstellung, eine ganze Kiste von jemandem auszutrinken«.* Aber sogar eine so clevere Antwort genügte mir nicht. Was Sex betraf, hatte sich meine streng religiöse Erziehung in eine Art Ritterkodex verwandelt, dem zufolge die Tugend zwar nicht länger unantastbar, aber dennoch ein wertvoller Schatz war, dessen sich jemand erst würdig erweisen musste. Deshalb gab es noch einen weiteren Test. Also fragte ich: »Wie findest du die Musik?« Sollte heißen: Können wir gemeinsam in eine andere Zeit und an einen anderen Ort verschwinden? Ein Seelenverwandter würde die Genialität von Jonis Akkorden, die neuartige Struktur ihrer Songs bemerken. Konnte er blaue Klänge sehen und die Akkorde als Farben fühlen, die man in der Fantasie anschlagen oder in wechselnde Schattierungen verwandeln kann? Gelang es den vereinten Kräften von Worten und Musik, ihm höhere Sphären zu eröffnen? *  Bezieht sich auf den Song »A Case of You«. (Anm. d. Ü.) 14


Manchmal war der Junge vernünftig genug einzusehen, dass sich bei mir die Mühe nicht lohnte. Im Jahr 1990 gab es noch genügend eingefleischte Tori-Amos-Fans, die weniger Ärger machten, weil sie nicht unbedingt auf eine gemeinsame religiöse Erfahrung aus waren. Dennoch gab es einige wenige, die bei der Stange blieben und meine Aufregung absichtlich als sexuelles Begehren missinterpretierten. Sie sagten dann, Jonis Songs hätten »ganz eigene Stimmungen«, oder machten andere passende Bemerkungen. Ein Bezug zu Chopin hätte mir besser gefallen. Und nur ein einziger Vergleich von Blue mit dem Werk von Debussy wäre die Krönung gewesen. »Diejenigen, denen meine Musik am meisten gibt, finden sich selbst in ihr wieder«, sagte Joni Mitchell zu mir. Ich war grob geschätzt das 89000000ste Mädchen, dem Blue zu einer existenziellen Wandlung verhalf, wenn ich auch nicht sagen kann, wie viele von uns das Album als Lackmustest für empfindsame Jungs benutzt haben. Blue definierte das autobiografische Songwriting neu, also bietet es sich an, bei der Erörterung des Albums mit einem Tagebucheintrag anzufangen. Aber Sie sollten meine Erinnerungen nicht Joni oder ihrer Platte anlasten. Sie hat schon genug einstecken müssen, weil sie als Muse für jede blonde Maid herhalten musste, die eine Gitarre ergriffen und emotionale Unausgeglichenheit irrtümlich für Kunst gehalten hat. Und wenn ich schon dabei bin, sollte ich auch gleich zugeben, dass ich Blue später zugunsten Jonis dunkleren und schwierigeren Alben verwarf, die sie zusammen mit Jazzmusikern einspielte; ich testete Männer jetzt mit Jonis Mingus und Don Juan’s Reckless Daughter oder mit John Coltranes A Love Supreme. Nach und nach wurde Joni für mich zum Musterbeispiel einer der wenigen Frauen, die sich in der Männerwelt des Jazz behaupten konnten. Allerdings haben Studien bewie15


sen, dass die Musik, die wir als Teenager hören, zu einer Zeit, in der wir extrem selbstbezogen sind, uns am stärksten prägt. Für mich und Zehntausende von anderen Jugendlichen war das die Musik aus Jonis autobiografischer Phase, die ich ihre Blaue Periode nennen möchte und die 1971 mit Blue begann und bis 1976 anhielt, als sie Hejira aufnahm. In dieser Phase erschienen außerdem noch For the Roses, Court and Spark sowie The Hissing of Summer Lawns – Alben, die ebenfalls mehr oder weniger persönlich waren. Wer sie gehört hat, kennt meist jede Zeile und jede Note. Das erste Mal sprach ich mit Joni im Jahr 2004, als ich an meiner Biografie über Wayne Shorter arbeitete. Joni bewundert Wayne. Seit 1977 hat er auf den meisten ihrer Platten Sopransaxofon gespielt. Sie nennt ihn »das einzige Genie, mit dem ich je gearbeitet habe«. Weil er wusste, wie ungern sie mit Autoren spricht, rief er sie an, um ihr folgende Referenz zu geben: »Michelle stammt ursprünglich aus Kansas, aber sie hat ihre Hacken dreimal zusammengeschlagen, und so kam sie mit mir in das Land Oz.« Das machte Joni neugierig genug, um mich anzurufen – buchstäblich in letzter Minute, als das Buch schon fast fertig war – und mir aufschlussreiche Beschreibungen von Waynes »bildhaftem« Spiel sowie Anekdoten von seinen Taten als musikalischer Superheld in Japan und auf der ganzen Welt zu liefern. Damals sagte sie zu mir: »Es macht Spaß, sich mit jemandem über Wayne, Jazz und meine viel kritisierten Arbeiten zu unterhalten, statt über die früheren Sachen, die mich bekannt gemacht und auf dieses Image als leidende Singer/ Songwriterin festgelegt haben.« Mitchell hat ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Erbe als Singer/Songwriterin, und sie verwahrt sich gegen ihren Status als autobiografische Künstlerin. Im vergangenen Sommer zeigte Joni ihren Ballettfilm The Fiddle and the Drum von 2007 einer kleinen Gruppe von Freunden in einem Amphitheater an der Sunshine Coast von 16


British Columbia. Es war eine magische Nacht. Wir sahen uns den Film unter dem Sternenhimmel an, umgeben von Erdbeerbäumen mit orangefarbenen Stämmen und riesigen Drehkiefern. Joni nannte die Veranstaltung »Ballett im Busch« und fand es ganz offensichtlich aufregend, so ausgefallene Kunst in einer Gemeinde zu zeigen, die noch immer hauptsächlich vom Fischfang lebt. Sie trank Weißwein aus der Flasche wie ein überdrehter Teenager, verfolgte gespannt den Film und bewegte sich zur Musik, indem sie die Bewegungen der Tänzer im Film nachahmte. »Und, darf ich mir nicht mehr als eine Gangart in meiner Karriere erlauben?«, fragte sie mich hinterher. Wie das Ballett beweist, läuft ihre Karriere, die viele Gangarten durchlaufen hat, mittlerweile auf Hochtouren. In den Jahren nach ihrer Blauen Periode erfand Joni sich nicht nur als Jazzmusikerin neu, sondern auch als sozialkritische Lyrikerin und Dichterin, die viel von sich selbst preisgibt. Jonis Begeisterung für ihr Ballett liegt teilweise auch darin begründet, dass es eine zugänglichere Plattform für ihre weniger bekannten Songs aus den 1980ern und späteren Jahren bietet. »Es ist wirklich aufregend zu sehen, wie gut sich durch das Ballett all die komplizierten und düsteren Songs vermitteln lassen. Dass sie nie die gebührende Anerkennung gefunden haben, kann ich nicht akzeptieren. Ich dachte, ich muss sie irgendwie noch populär machen, bevor ich sterbe. In meinen Songs gibt es lange Monologe, wie bei Shakespeare. Das Interesse mancher Menschen kann man nur mit Action aufrechterhalten. Und im Ballett ist das möglich.« Was das autobiografische Songwriting angeht, für das sie früher berühmt war, verhält sich Mitchell etwa so wie eine Schönheitskönigin, die ihr Krönchen in der Badeanzug-Runde gewonnen hat, aber selbst der Ansicht ist, dass sie eigentlich 17


aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihres Talents und ihrer klugen Antwort auf die Frage, wie der Weltfrieden zu erzielen sei, hätte gewinnen sollen. Es ist schon etwas frustrierend, dass alle meine anderen Sachen im Vergleich zu Blue negativ bewertet wurden. Alle wollten, dass ich in diesem qualvollen Zustand verharrte. Ich hatte mich schon bis auf die Knochen entblößt, es gab keinen Ort mehr, an den ich mich zurückziehen konnte. Ich musste Kräfte sammeln, mich selbst heilen und nach vorne schauen. Wissen Sie, was ich meine? Man fängt bei sich selbst an, dann bezieht man sich auf die Familie, auf die Gemeinde und schließlich auf die ganze Welt – es hängt ganz davon ab, wie viel Energie man hat. Mitchell will nicht auf das Autobiografische reduziert werden, weil sie das Gefühl hat, damit würden ihre frühen Songs in der ersten Person zu sehr hervorgehoben, während ihre späteren sozialkritischen Werke und Projekte wie das Ballett in den Hintergrund rücken. Außerdem ist sie sogar in ihrer stark autobiografischen Phase immer wieder in andere Rollen geschlüpft, in der Hoffnung, das Publikum könne sich mit diesen Figuren gut identifizieren. Das Schöne am Zuhören ist, dass man die Wahl hat. Entweder man erkennt sich selbst und seine eigene menschliche Natur in den Songs wieder – das möchte ich den Zuhörern ermöglichen. Oder man sagt sich: »So ist sie eben« und setzt meine Songs in Beziehung zu mir. Am lohnendsten ist es, sich selbst darin wiederzufinden. Die Hörer, denen das gelingt, egal ob sie es autobiografisch nennen oder nicht, haben am meisten davon.

18


Sie ist überzeugt, dass eine solche Identifikation unmöglich ist, wenn ein Song sich zu sehr auf ihre eigenen Erfahrungen bezieht. Aber ich glaube, einer der Gründe, warum sich die Menschen in Mitchells Arbeiten wiedererkennen, besteht darin, dass sie es wagt, so viel von sich selbst zu offenbaren. Und sich mit ihrer Musik zu identifizieren heißt nicht, dass man sich nicht fragt, woher sie das alles nimmt und was sie dabei riskiert hat. Joni mag es auch nicht, wenn man sie auf eine Art musikalische Tagebuchschreiberin reduziert, weil das hieße, das Emotionale über die Kunst zu stellen, wo doch die Emotionen in ihren Arbeiten ein künstlerisches Konstrukt sind. Sie sieht sich selbst als Dramatikerin oder Geschichtenerzählerin, die Charaktere und Szenen vorführt, um Emotionen und Erfahrungen zu dramatisieren – es können ihre eigenen sein oder auch nicht. Dass Mitchell sich selbst als autodidaktische Musikerin und ungeschulte Dichterin dargestellt hat, förderte ihr Image als Künstlerin, die auf ihren Alben ganz instinktiv Gefühle aufzeichnet. Aber ein Blick auf ihre dichte Lyrik und ungewöhnlich gestimmte Gitarre offenbart, dass die Intimität von Blue mit einer strengen Ästhetik gepaart ist: Mitchell schüttet ihr Herz aus und zeichnet dies mit größtmöglicher Kunstfertigkeit auf Band auf. In seinem Buch The Wounded Surgeon bespricht Adam Kirsch die wichtigsten Vertreter der »confessional poetry« (Bekenntnislyrik) in einer Form, die auch für Jonis Arbeit erhellend sein kann. Das Bekenntnis, so Kirsch, ist eine »schlechte Metapher für das, was die begabtesten unter diesen Dichtern taten«, denn ihr »Hauptmotiv war ästhetisch«. Mit seinem Buch will er Robert Lowell, Elisabeth Bishop, John Berryman, Randall Jarrell, Delmore Schwartz und Sylvia Plath rehabilitieren, indem er ihre wichtigsten Techniken und Themen untersucht und zeigt, wie sie das Chaos des Lebens in Kunst verwandeln. 19


Wie die sogenannten »confessional poets« musste auch Joni außerordentliche Stärken und Fähigkeiten entwickeln, um die »Kunstlieder«, wie sie sie nennt, aus ihrer Blauen Periode zu erschaffen. Bei der Beurteilung dieser Kunstform darf man eine weitere entscheidende Tatsache nicht vergessen: Nachdem Blue eingespielt war, führte die Selbstentblößung bei Mitchell zu einer Krise, und sie zog sich für etwa ein Jahr nach British Columbia zurück. Dort begann sie, ihr Sommerhaus zu bauen. Diese Einsiedelei hat mich schon immer interessiert und wurde noch faszinierender, als Joni und einige ihrer engen Freunde mir ganz genau erzählten, wie sehr sie selbst sich während dieser Zeit verändert hat. Zurück in Los Angeles, wandte sie sich genau in dem Moment dem Jazz zu, als das persönliche Songwriting immer populärer und gleichzeitig immer schlechter wurde. Und das letzte Ereignis in ihrer Blauen Periode, auf das ich im sechsten Kapitel zu sprechen komme, war eine fast übersinnliche Begegnung mit einem tibetischen Lama, der Joni eine sanftere Form der Selbsterforschung vermittelte. Das zeigte sich auf Hejira, Mitchells autobiografischem Meisterwerk aus dem Jahr 1976, das ich an dieser Stelle als Gegenstück zu Blue behandle. *** Joni ist für künstlerische Inspiration sehr offen, sie spielt ständig mit der Sprache, improvisiert über Ideen und Bilder, sucht nach dem richtigen Wort und der prägnanten Formulierung eines Satzes. In einer Unterhaltung mit ihr merkt man, welche Rolle das l’art pour l’art für sie spielt. Manchmal kommt es einem so vor, als sei jeder zweite Satz eine Metapher. Als wir darüber sprachen, dass sie Jazz ablehnt, der die Melodie aus den Augen verliert, sagte Joni: »Bei den alten Jazzstandards brachten sie die Melodie in der ersten Strophe und fingen dann erst 20


an zu variieren; die Musiker taten einem den Gefallen, einen Ausgangspunkt anzugeben. Heute wird alles dekonstruiert, sie reißen einfach den Song völlig auseinander und bringen ihn nie wieder zusammen. Wie eine Uhr, deren Federn auf dem Tisch liegen und von der man die Zeit nicht mehr ablesen kann.« Es liegt nahe, Joni mit dem ernsten, selbstkritischen lyrischen Ich aus ihren Songs gleichzusetzen. Aber in Wirklichkeit ist sie sehr viel lustiger, wie Tony Simon, einer ihrer ältesten Freunde, bestätigt hat: »In ihrem Inneren ist sie ein so lebensfroher, glücklicher Mensch und hat Sinn für Humor. Manchmal kann sie sehr ernsthaft sein, vor allem wenn es um Dinge geht, an die sie glaubt, aber im Grunde hat sie eine ausgesprochen lebenslustige Ader, was einfach wunderbar ist. Und wenn Sie zu ihr sagen würden: ›Lass uns zu einer Party gehen. Ich weiß nicht genau, wer da ist, aber wir werden unseren Spaß haben‹, dann würde sie sofort mitkommen.« Als ich Joni zum ersten Mal für meine Wayne-Shorter-Biografie interviewte, redete sie ohne Punkt und Komma über alles Mögliche und zitierte aus dem Stegreif kluge Gedichtzeilen und Philosophie in ganzen Absätzen. Von der verbitterten und humorlosen Grantlerin, über die ich oft in den Zeitungen gelesen hatte, bemerkte ich nur sehr wenig. Sie war eine aufgeschlossene, scharfsinnige Beobachterin moderner Kultur und eine großartige Geschichtenerzählerin. Dass man Joni nachsagt, ernst zu sein, mag etwas damit zu tun haben, dass ihre Visionen sehr umfassend und ihre Erwartungen sehr hoch sind. Joni erzählte mir beispielsweise einmal, sie würde zwar Col­tranes musikalische Neuerungen anerkennen, doch seine Musik sei eigentlich »überschätzt« und »neurotisch«. Ich wandte ein, er hätte vielleicht nicht lange genug gelebt, um völlig auszureifen und darüber hinauszuwachsen, in der Musik seine eigenen Neurosen zu feiern. »Genau«, erwärmte sie sich für das Thema, »weil die Kirche versagt hat, ist es mehr denn 21


je die Aufgabe des Künstlers, Dickens, Kipling, Beethoven und wie sie alle heißen, Respekt zu zollen und … sich nicht zufriedenzugeben oder einen Meter hoch zu springen und sich einzubilden, man wäre über zwei Meter hoch gekommen.« Ich würde zwar kaum Dickens in derselben Kategorie wie Beethoven unterbringen, aber ich bewundere ihren Hang zu Qualität und ihren eigenwilligen Kanon großer Männer, auch wenn ihre Ansprüche einem arrogant erscheinen können. Dieser übertrieben ernsthafte Ruf liegt auch darin begründet, dass ihre Musik so oft zu therapeutischen Zwecken benutzt worden ist. In ihren Songs erkennen viele Zuhörer zum ersten Mal ihre eigenen verborgenen Gefühle. Epiphanien dieses Ausmaßes lassen nicht viel Platz für Humor. Um solche Momente der Erleuchtung möglich zu machen, braucht es Vision und Weitblick. »Ich bin kein trübsinniger Mensch«, sagte sie einmal. »Die Melodien, die mir gefallen, haben ein breites emotionales Spektrum; und man muss schon auch heiter sein, um sich mit solchen Themen zu beschäftigen.« Sogar die Songs aus Mitchells Blauer Periode haben viel Humor und Witz. Sie kann auch sehr albern sein. Wenn man Jonis Humor, ihr Erzähltalent und ihre völlige Transparenz im Leben und in der Kunst bedenkt, gerät ihre Greta-Garbo-Mystik ins Wanken. Es gibt allerdings ein Thema, bei dem sich Joni immer sehr geheimnisvoll und zurückhaltend gegeben hat: ihr Liebesleben. Ihre konstante Verteidigungshaltung stammt aus der Zeit, als sie Blue einspielte. 1971 veröffentlichte der Rolling Stone eine Liste ihrer Eroberungen, auf der Graham Nash, James Taylor und Jackson Browne zu finden waren, und betitelte sie mit »Exfrau des Jahres« und, schlimmer noch, »Aufreißerkönigin«. Joni hatte sich 1970 von ­Graham Nash getrennt und war aus Liebeskummer nach Europa geflüchtet, wo sie einige traurige Songs schrieb, wahrscheinlich für Nash, und einige Liebeslieder, wahrscheinlich 22


für James Taylor, dem sie in jenem Jahr begegnet war. All das kann man auf Blue hören. Aber Joni gibt keine genauen Quellen für die Songs an, wiederum aus dem Grund, dass festgelegte Details den Hörern die Freiheit nehmen, ihre eigenen Erfahrungen in die Texte hineinzulesen. Solche Klatschgeschichten lenken nur von der eindringlichsten Hörerfahrung ab, die es gibt: der persönlichen. Das hindert weder Fans noch Journalisten daran, ihre Songs als Schlüsselromane zu betrachten und deren Hauptmetaphern zu analysieren, um den einen oder anderen Liebhaber als Subjekt eines Songtextes zu enttarnen. Erst kürzlich wurde Taylor gefragt, wie der Song »River« entstanden sei, den er mittlerweile selbst häufig spielt. Er antwortete, der Song sei ziemlich autobiografisch, da er »mit einem Mädchen aus Kanada anfängt, das Betrachtungen darüber anstellt, wie in La Brea, Los Angeles, Weihnachten gefeiert wird«. Er lehnte es jedoch ab, den Text weiter zu interpretieren: »Will ich denn wissen, wen sie zum Heulen gebracht hat und mit wem sie Schluss gemacht hat? Ich habe sie jedenfalls nicht danach gefragt. Das ist das einzige Geheimnis daran: Wessen Herz hat sie gebrochen?« Mit einem Lachen fügt er hinzu: »Es gab viele von uns.« Promiklatsch reizt mich wenig. Er basiert augenscheinlich auf der Annahme, dass die Details aus dem Leben berühmter Leute grundsätzlich interessanter sind als die aus unserem eigenen Leben. Paradoxerweise ist er auch von dem Bedürfnis motiviert, die Prominenten auf unser Niveau herunterzuziehen. Glücklicherweise ist die Kunst des Songwriting viel interessanter als das Liebesleben der Künstler. Sie haben die Inspiration und das Talent, die dem Rest von uns fehlen. Und auch wenn Joni mit ihrer Muse spielerisch umgeht, ist sie obsessiv und pedantisch, wenn es um die künstlerische Umsetzung geht. Dieses Buch ist Ausdruck meiner altmodischen Bewunderung für diesen Prozess und zugleich der Versuch, etwas über die 23


literarischen Aspekte des Songwriting auszusagen. Ich bin für diese Songs so dankbar, dass ich mehr darüber wissen will, wie, wo und warum sie entstanden sind; und möglicherweise kann ich ihre Bedeutung für unsere Kultur herausstellen, indem ich meine Erkenntnisse teile. Wenn ich also Mitchells Beziehung zu James Taylor oder Leonard Cohen erörtere, dann geschieht das hauptsächlich, um Einflüssen und Übereinstimmungen im Stil und in der Herangehensweise nachzuspüren. Grundsätzlich geht es mir dabei mehr darum, wie es Songwritern gelingt, ihr Werk persönlich klingen zu lassen, als um die privaten Geschichten dahinter. Joni Mitchell ist eine Künstlerin, über die die Fans immer sagen werden: »Ihr kennt sie nicht so, wie ich sie kenne.« Ihr Werk kann einen so tief berühren, dass man sich kaum vorstellen kann, die eigene Erfahrung sei nicht ganz einzigartig. Deshalb lädt ihr Werk zu fanatischer und esoterischer Interpretation ein, wie es bei einem mystischen Orden üblich ist. Ein Jugendfreund von mir behauptete, Joni und Rickie Lee Jones seien eigentlich »so ziemlich dasselbe«, und bekam ziemlichen Ärger, genauso wie dieser Typ auf einer Party, der sagte, sie sei »die, die mit all den Typen geschlafen hat, die ›Woodstock‹ gesungen haben, oder?«. Um genau zu sein, Herr »Mein IQ ist auf Zimmertemperatur«, war sie es, die »Woodstock« geschrieben hat. Mein heiliger Krieg hatte begonnen. Mit den Jahren beruhigte ich mich hinlänglich, um als objektive Musikkritikerin tätig sein zu können, und akzeptierte nach und nach, dass es für Geschmack einfach keine Regeln gibt. Aber als Mitchell Mitte der 1990er Jahre anfing, Preise einzusammeln, schien es mir, als ob diese Ehren ihr Ziel ganz und gar verfehlten. Zu solchen Anlässen erschien Mitchell in einer Aureole von altmodischem Glamour, juwelengeschmückt und in edle Gewänder gehüllt, und verströmte den heiligen Rauch ihrer American-Spirit-Zigaretten. Die Preisverleiher setzten 24


meistens selbstgefällige Mienen auf und waren damit zufrieden, eine weitere Krönungsfeier organisiert zu haben, die die Königin des Pop mit ihrer Anwesenheit beehrte. Aber die hochtrabenden Allgemeinplätze der Moderatoren, die Mitchell als »eine der größten lebenden Songwriterinnen« bezeichneten, sagten meist nicht viel über ihre wahren Talente aus. Wenn sie die Trophäen entgegennahm, sah Mitchell eher amüsiert als dankbar aus. »Sie haben mir Preise verliehen, aber sie wussten nicht, warum«, erzählte sie mir. »Ein großer Teil meiner künstlerischen Arbeit mit all ihren Nuancen wurde gar nicht berücksichtigt.« Joni gibt zu, dass sie darüber verstimmt ist, und ich kann auch verstehen, warum. Keiner noch so wohlmeinenden Publikation über Mitchells Arbeit ist es je gelungen, die Tiefe und Beschaffenheit der Gefühle zu erfassen, die ihre Musik in mir auslöst. Ich hoffe, dass ihre Fans auch wissen wollen, warum die wirkungsvolle Mischung ihrer Musik und ihrer Texte so bewegend ist. Große Kunstfertigkeit und wahre Gefühle waren im Spiel, als sie in dem Song »California« fragte: »Will you take me as I am?« [Wirst du mich nehmen, wie ich bin?]


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.