Gabriela Kaegi Heinz Stalder
Auftritt Linda Geiser Das Leben der New Yorkerin aus Bern
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GABRIELA KAEGI, HEINZ STALDER AUFTRITT LINDA GEISER DAS LEBEN DER NEW YORKERIN AUS BERN
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Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
© 2019 Zytglogge Verlag Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Angela Fessler Coverfoto: Hansueli Trachsel Vorsatz: Selbstbildnis als Apostelin. Öl auf Holz, New York, ca. 1988 Layout/Satz: Zytglogge Verlag Druck: Finidr, Tschechische Republik ISBN: 978-3-7296-5007-7 www.zytglogge.ch
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Inhalt Vorwort
Isabelle Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Prolog I
Gabriela Kaegi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prolog 2 Heinz Stalder
......................................
«Chli alt, chli primitiv, aber es liebs Huus»
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Das Red House in New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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NYPD. 9th Precinct . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gang durchs Red House . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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«I bi de vilech nid die, wo dir dänket, dass igs sigi»
Kindheit und Jugend in Bern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
«Mir Töiffer hei gueti Gen: trinke nüt u schaffe viel»
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Die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anna Joss, Albert Schweitzers Emmentalerin . . .
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AUS LINDA GEISERS FOTOSCHACHTELN . . . . . . . . . . . . .
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«I wirde Schouspielerin, das isch lustig»
Anfänge in Theater und Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fotoshooting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
«Chummer heisse mer u Chummer hei mer»
Theater und Film in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Kummer-Buben heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
«Mama schau, da geht die Prinzessin Rosalinde!»
Theater und Film in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
«Mit 66 000 Tonne a der Liberty verby»
Emigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Coney Island . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
«Mit Manne het me nume Gschär ...»
Jungs, Männer, Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 John . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
«Rösti u Nescafé»
Meine Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 RED HOUSE-SCHNAPPSCHÜSSE DER STIPENDIATINNEN UND STIPENDIATEN . . . . . . . . . . 181 Die Geburtstagsparty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
«Jede Aabe Buh-Konzärt am Broadway!»
Film und Theater in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Quentin Crisp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
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«U ds Schönscht: Jede isch so hei, wie när cho isch»
Die Stipendiatinnen und Stipendiaten im Red House . . . . . . . . . . 237 Heelwalker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Schlichtungsstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Angry Monk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
«Antrag an den Gemeinderat ...»
Wie war es wirklich? Ein Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
«Wer in Belp aufwächst, will nach Bern, und wer in Bern lebt, will nach New York»
New York und das Red House aus der Sicht der städtischen und kantonalen Kulturförderstellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Die Kuhbadewanne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Filmreife Ankunft
Remo Legnazzi, einer der ersten Stipendiaten, erinnert sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Ohne Titel
Von Tamara Janes, der letzten Stipendiatin . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
«I ha bi vielne Orgasme Regie gfüehrt»
Übers Geldverdienen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
«I mache Kitsch»
Überleben mit Kunsthandwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Fritz der Bär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
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AUFTRITT RED HOUSE – FOTOGRAFIERT VON TAMARA JANES . . . . . . . . . . . . . . . 291
«Grosszügig und immer performativ»
Die Künstlerin Elsbeth Böniger beim Betrachten von Linda Geisers Kunstobjekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
«I has eifach gmacht»
Schreiben für die Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Sunny side up . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
«Mit Chatzebisu zum Nobäupriis»
Leben mit Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Die Mäuseextermination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Zikaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
«New York macht mi läbig»
Erinnerungen an ein New Yorker Viertel und an 9/11 . . . . . . . . . . 343 Recycling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Neujahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Die neue Wohnung
Seven blocks up . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Anstelle eines Epilogs
Zwei Monate später . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
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«Fründe sy die, wo me ne d Liebhaber vorfüehrt» . . . . . . 361 Dominik Langenbacher: There's a red house … Ein Song von Jimi Hendrix, das Grab von Robert Redford und Linda Geiser in Afrika . . . . . . . . . . . . . 362
«Linda war immer da!» Ein Gespräch im Hause Hinz über die abwesende Frau von Geiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
Maya Manley: This incredibly interesting person called Linda Geiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Felix Brenner: Für Linda Eine Radiosendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
Julie Prince: SwissMiss, my friend A Lovesong . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Vinz Feller: Der Elan der Linda Geiser . . . . . . . . . . 381 Chantal Bernheim: The Swiss in America . . . . . . . . 384
Liste der Stipendiatinnen und Stipendiaten von 1982–2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Wir danken herzlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
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Vorwort Ich bin eine von vielen. Eine von über zweihundert Stipendiatinnen und Stipendiaten, die seit 1982 in Linda Geisers rotem Haus an der East 5th Street in New York residieren durften. «Geisch zur Linda?» sagten meine Bekannten aus der Kulturszene, als sie hörten, dass Stadt und Kanton Bern mich für die sechsmonatige Residenz in New York auserkoren hatten. «Du bisch doch o scho bir Linda gsi,» antwortete ich der einen oder dem anderen. «Ja, bin i» – und dann folgte ein schwierig zu deutendes Zwinkern. Eine Art liebevolle Warnung? Als ich im Februar 2004 in New York ankam, herrschte tiefster Winter, ich stieg aus dem Yellow Cab und landete in einem Schneehaufen. Was ich noch nicht wusste: Wenn es in Manhattan tüchtig schneit, ist es am schönsten. Der Verkehr bricht zusammen, die Bridges & Tunnel People, wie man die Pendler nennt, bleiben zu Hause, die Rollläden der Geschäfte unten, die Post wird nicht ausgetragen. Eine wundersame Ruhe macht sich breit. Da und dort schaufelt jemand den Gehsteig frei. Linda stand im Treppenhaus, bereit für die «Neue», und kam schnell zur Sache: «Da chame de o unde ine, u da muesch de ufpasse mit dr Tür und hie isch dr Schlüssel». Später lud sie zum Tee, serviert in filigranem Porzellan. Zwischen hastigen Schlückchen sah ich mich in Lindas Wohnung um. Die Möblierung war dicht, die Farbe Grün dominiert in meiner Erinnerung; ein süsslich-schwerer, fast exotischer Duft hing in der Luft. Die geräuschvolle Heizung brachte das Thermometer zum Glühen. Ob dieser Dschungel eine typische New Yorker Wohnung ist?, fragte ich mich. 11
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Linda war die erste New Yorkerin, die ich kennenlernen durfte. Denn trotz ihrem urchigen Könizer Berndeutsch ist Linda eine New Yorkerin durch und durch. Sie ist schnörkellos direkt, besitzt einen subversiven Humor und hat wenig Geduld für die Ansprüche wohlbehüteter Stipendiatinnen aus der Schweiz. Als ich mich einmal über eine Riesenkakerlake entsetzte, die sich in meinen Atelierraum verirrt hatte, kam Linda, hob den Fuss und zerstampfte das Tier kurzum. «So macht man das», sagte sie, wischte die sterblichen Reste zusammen und trat ab. Grow up, sagen die New Yorker gerne zu zimperlichen Zeitgenossen. Mach kes Gschtürm, heisst es in Bern. Während meiner Residenz und den drei Jahren, die ich später als Journalistin in New York verbrachte, lernte ich einige Auslandschweizer kennen, die es in den Achtzigerjahren in der Gastronomie, im Nightlife-Geschäft, in Film und Künsten zu etwas gebracht hatten. Auch für sie ist Linda ein Begriff, denn sie war vor allen da. 1961 zog Linda nach Manhattan, kaufte und behielt das Haus an der 5th Street, zu einer Zeit als Eigentümer ihre Liegenschaften im verwahrlosten East Village in Brand setzten, Versicherungsentschädigungen kassierten und Leine zogen. Nicht Linda: Sie blieb dem Village treu, durch all die Jahrzehnte hindurch, sah wie das Quartier sich wandelte, von der Hippie-Town, dem Künstler-Biotop, zur Drogen-Meile bis zum Sehnsuchtsort für den schwerreichen «Euro-Trash». Dieses Kapitel an der East 5th Street geht nun zu Ende, die Residenz ist verkauft und geschlossen. Sorgen um Linda muss man sich deswegen nicht machen. If you make it here, you make it anywhere! Es ist höchste Zeit, dass wir Linda Geiser, der Schauspielerin, der Künstlerin, der Stipendiatenmutter, der Bernerin, der New Yorke-
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rin, in Buchform Respekt zollen. Mein Respekt, liebe Linda! Unser aller R.E.S.P.E.C.T. Â Isabelle Jacobi USA-Korrespondentin SRF Washington D.C.
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Prolog I Wie wohl für viele von uns ist Linda Geiser als Sophie Kummer in mein Leben getreten. Ich war vierzehn, dem eigentlichen Zielpublikum schon fast entwachsen, aber mich hat die Frau fasziniert, zart, aber energisch, ein bisschen fremd in dieser urchigen Umgebung mit ihren bestrumpften feinen Beinen und den zarten Schuhen, und ihr nobles Berndeutsch gefiel mir als Zugewanderte sehr. Vielleicht war ich einfach ein bisschen verliebt in diese Elfe mit der hellen Stimme, der eigenwilligen Zahnstellung und dem langen schmalen Hals. Anders kann ich es mir fast nicht erklären, dass ich mein knapp bemessenes Fernsehkontingent ohne Murren dafür hergab. Denn weder mit den sechs Buben, noch mit Bänz und Bäbi, geschweige denn mit dem Emmental konnte ich etwas anfangen. Zwanzig Jahre später stand ich als Stipendiatin der Stadt Bern mit Sack und Pack vor dem Red House – und vor Linda Geiser. Nein, mit Sophie Kummer hatte diese herzliche, unkomplizierte und flippig angezogene Person nichts zu tun. Linda drückte mir die Schlüssel in die Hand und führte mich durch «meine» Wohnung. Vier Zimmer, eins hinter dem andern. Und in der Küche stand die berühmte Badewanne! «U wed öppis bruchsch, seisches eifach». Dann war sie weg. Ein paar Wochen in Indien, in der Schweiz oder an Meetings und Vernissagen im Swiss Institute in New York. Viel hab ich sie nicht gesehen. Aber wenn es gerade beiden passte, assen wir zusammen, bei ihr auf dem Kanapee oder unten im Hof. Ich mochte Lindas Cuisine rapide, Reste wärmen oder Jeder-bringtwas-mit, eine Ernährungsart, die weniger dem Gaumen schmeicheln als vielmehr dem Schwatzen und Zusammensitzen Raum lassen will. Essen, so schien mir, war sowieso nicht so ihres. Sie ass wie ein Vogel, pickte eher ein bisschen herum, richtig zulangen hab ich sie 14
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nie gesehen. Im Restaurant liess sie sich die Reste in einen Doggy Bag einpacken, und manchmal lag das heimgetragene Hühnchen nach drei Wochen immer noch im Kühlschrank. Auf mein «Linda, schmeiss es weg!», kam meistens nur ein «Aber wieso denn? Das bringt mich doch nicht um» zurück. Selber bezeichnet sie sich als einen appetitlosen Menschen. Deshalb war ihr wohl auch jedes Verfallsdatum egal. Dann war Frühsommer und Linda brachte mir eines Tages eine Katze. «Sie wurde verlassen, hat jetzt niemanden mehr», sagte sie, «nennen wir sie Topaze.» Ein bombastischer Name, ansonsten war sie die hässlichste Katze, die ich je gesehen hatte. Nicht braun, nicht grau, weder hell noch dunkel, keine Streifen, keinen Glanz auf dem Fell, von allem nichts. Zudem war sie dürr und ziemlich klapperig auf den Beinen. Aber sie hatte wunderschöne Augen, die graubläulich wie Topase schimmerten. Dass sie stockblind war, habe ich erst viel später bemerkt. Kurz vor meinem Abflug zurück in die Schweiz und nach einer Zeit friedlicher Kohabitation beschloss ich – weil mich ihre Mickrigkeit doch irgendwie gerührt hatte –, dass ich sie mitnehmen werde. «Fein», sagte Linda, «gehen wir zum Tierarzt, der wird dir ein Impfzeugnis fälschen. Damit kannst du sie ohne Probleme mitnehmen.» Und so geschah es. Topaze kam nicht in die Quarantäne, Topaze kam auch nicht in den Frachtraum, Topaze flog auf einem eigenen Sitz nach Zürich, zum Nachtessen bekam sie Hühnchen. Die Zeit, die wir noch in Bern zusammen verbrachten, war schön und innig. Und als meine hässliche Katze schliesslich in die ewigen Jagdgründe einging, war ich untröstlich. Seither will ich nicht mehr mit Tieren leben. Und Linda? Auch nach Topazes Ableben ist unsere Verbindung nie abgerissen. Wobei ihr dabei der wesentlich aktivere Part zukommt. Denn sie ist es, die sich immer wieder meldet und anruft: «Hallo, 15
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ich bin in der Schweiz, können wir uns auf einen Kaffee treffen?» Bern, Basel, Köniz, Zürich, allein oder mit andern, spielt keine Rolle. Lindas Geschichten zuzuhören, den alten und den brandneuen, ist immer wunderbar. Das ist jetzt dreissig Jahre her, Zeit, dass etwas damit passiert. «Linda», sagte ich einmal bei einer dieser Linda-Geschichtsstunden, «Schreib es auf.» «Was?», fragte sie zurück. «Dein Leben natürlich. Schreib ein Buch, eine Biografie.» Diesen Satz wiederholte ich in den darauffolgenden Jahren öfters. Lindas Reaktionen waren vielfältig, aber stets abwehrend: «Dafür hab ich keine Zeit», war die eine. «Ich reise jetzt nach Kenia, nach Indien, nach England, in die Schweiz», eine andere. «Wen interessiert denn das?», eine weitere. «Spinnst du», «hör doch auf mit dem Chabis», «sicher nicht», «das würde schrecklich» ... Lang ist die Liste mit Ausreden, Vorwänden, Ausflüchten. Doch dann, eines Nachts, eine Nachricht auf meinem Telefonbeantworter: «Ich bin’s. Also schreib’s, wenn du es wirklich wichtig findest.» Öhm, damit hatte ich eigentlich nicht gerechnet. Wer Theaterstücke schreibt, wie Linda, kann auch sein Leben aufschreiben, dachte ich. Nun hatte sie mir den Puck geschickt zugespielt. Oktober 2017: Zu Besuch bei Linda in New York. Mittlerweile ist auch klar, dass sie sich vom Red House trennen wird. Fast sechzig Jahre Leben stecken dadrin. Das soll sie jetzt alles zusammenpacken oder gar wegschmeissen? Kann ich mir nicht vorstellen. Aber mit dieser Aussicht aufs Ende bekam das Buchprojekt plötzlich eine andere Dringlichkeit. Mehr noch: Passt das nicht sogar wunderbar zusammen? Sie räumt ihr Leben auf, und gleichzeitig füllen sich diese Seiten. Irgendeinmal im Verlauf dieser herbstlichen Tage spreche ich sie darauf an. Sie reagiert Linda-like, lacht, weicht aus, wechselt das Thema. Doch dann: «Der Schriftsteller Heinz Stal16
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der hat mir geschrieben, war auch Stipendiat hier. Er möchte meine Biografie schreiben.» Da ich mich sowieso schon lange gewundert habe, warum sonst noch niemand auf die Idee gekommen ist, warte ich erst ab, sage nichts. Linda: «Ich habe ihm geantwortet», tippt auf den Bildschirm und streckt mir ihr iPad entgegen. «Lieber Heinz» steht da, «danke für deine Mail. Leider bist zu spät, an meiner Biografie ist schon eine dran.» Es hat etwas gedauert, bis wir unsere Rollen fanden und bis es klar war, wer was schreiben würde. Denn gleich beim ersten Treffen hat Heinz Stalder klargemacht: mit dem gemeinsamen Schreiben eines Buches hat er schlechte Erfahrungen gemacht. Wir haben uns schliesslich auf die Formel geeinigt, dass er das tut, was er gut kann, und dass ich das tue, was ich gut kann. Und so kommt es, dass der Schriftsteller literarische Reportagen aus dem und rund ums Red House schreibt und die Journalistin das Leben von Linda aufzeichnet. Rund sechsmal war ich je eine Woche bei Linda. Anfänglich habe ich mir Fragen aufgeschrieben, um Struktur in die Gespräche zu bringen. Aber mehr und mehr hat sich die Form des Monologes abgezeichnet, jede Intervention meinerseits hätte eine Störung bedeutet. Gegen Mittag klopfte ich jeweils an die Tür, manchmal war sie gerade beim Frühstück, tauchte ihre Löffelbiskuits in den Tee und begann zu erzählen. Manchmal setzten wir uns aufs grosse Kanapee in der Stube, und ich warf ihr ein Stichwort zu, das sie zum Reden brachte, manchmal lag sie auch auf dem Bett in ihrem fensterlosen Schlafstübchen und redete, während ich mich zu ihren Füssen hinquetschte und zuhörte Es war nicht bequem, aber es hatte etwas Vertrautes. Immer war das kleine Aufnahmegerät dabei. Manchmal sagte Linda: «Mach es aus» – und dann erzählte sie etwas Harmloses, wie mir schien. Manchmal erwartete ich den Befehl zum Abstellen – und er kam nicht. Dazwischen machten wir Pausen, ich 17
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holte abends Sushi, oder es gab Suppe vom Chinesen, und Linda machte eine Flasche von ihrem australischen Chardonnay auf. Mehr als einmal stieg ich spätabends etwas schwerfüssiger als sonst die Treppe in mein Stübli hoch, aber jedesmal war der Chip des Aufnahmegeräts voll mit Lindas Leben. Und obschon bisweilen um sie herum ziemlich viel Umzugssturm und Einpackunwetter tobte, gab sie mir nie das Gefühl, sie hätte Besseres zu tun. Danke! Zu Hause dann hab ich die langen Gespräche abgehört und während des Transkribierens Lindas Berndeutsch ins Hochdeutsche übersetzt. Dabei war mir wichtig, etwas von der Mündlichkeit beizubehalten, dem erzählerischen Fluss möglichst nichts in den Weg zu stellen und besonders charakteristische, berndeutsche oder englische Wörter stehen zu lassen. Dass die Erinnerung bisweilen auch ein tricky thing ist, bemerkte ich schon in den Gesprächen. Meistens ging das Erzählen ganz flott und ohne Stocken, manchmal aber wollte ein Name einfach nicht kommen, erst später, als wir bereits bei einem ganz anderen Thema waren. Trotzdem freuten wir uns jedesmal: geht doch! Und manchmal, wenn der Name für den Fortgang einer Geschichte wirklich wichtig war, schnippte Linda mit dem Finger gegen mich: «Sag doch!» Aber meistens waren meine Vorschläge wenig hilfreich, im Gegenteil: «Du machst das Gstürm nur grösser», sagte sie dann, wenn ein Versuch wieder einmal kläglich gescheitert war. Aber Google sei Dank haben wir schliesslich alles gefunden, was das Hirn grad nicht preisgeben wollte. Und für den Rest bin ich in Archiven in Bern, Hamburg, Berlin und New York fündig geworden. Und schliesslich, weil sie es ja ist, die in diesem Monolog spricht, bin ich noch ein letztes Mal zu ihr geflogen, mit dem fertigen Manuskript und habe ihr das ganze Buch vorgelesen. Manchmal hat sie gelacht, manchmal genickt, und ab und zu habe ich ihr auch die Bälle 18
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so zugespielt, dass sie selber ihre Pointen setzen konnte. Wenn etwas nicht stimmte, ging sie blitzschnell dazwischen, hob ihren bereits etwas krumm gewordenen Zeigfinger in die Luft und monierte den Fehler. In diesen letzten Tagen steckte sie mir auch ab und zu noch einen Zettel mit Notizen zu: «Auszeichnung» stand darauf oder «TV New York». «Kommt das eigentlich vor?», war ihre Frage dazu. Jüngst – und jetzt ist die Endräumung definitiv am Siedepunkt – kam eine E-Mail: «Also wir haben meine Artworks aus dem Keller geholt, und ganz hinten im icehouse ist mein Selbstporträt von 1996 zum Vorschein gekommen. Ich habe mich als Apostelin gemalt, die linke Hand mit dem Segensgestus, die rechte hält ein paar Bücher. Davon ist eines über Economy, ein anderes über Ernährung und ein drittes über Sex. Es ist vielleicht ein bisschen bunt, aber wäre das nicht etwas zum Abdrucken im Buch?» Es wäre. Definitiv. Gabriela Kaegi, Basel und New York, August 2018
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Prolog 2
In den Siebzigerjahren lud Bernhard Stirnemann, der Berner Troubadour und Leiter des Kellertheaters ‹Die Rampe› jeweils am Pfingstmontag zu einem bernischen Déjeuner sur l’herbe ins Häftli bei Büren an der Alten Aare ein. Im Wankdorf wurde um den Schweizer Fussball Cup gespielt. Bern gehörte den mehr oder weniger friedlichen Anhängern der beiden Finalisten. «On va fâcher les ours!», sangen welsche Walliser. Ein regelmässiger Gast an der Alten Aare war Peps Schaad, die äusserst umtriebige Berner Stadtschreiberin. Nicht selten wurden bei solchen Anlässen auch kulturpolitische Pflöcke eingeschlagen. Das geschah auch an jenem Pfingstmontag, als Linda Geiser ins Häftli kam und den verruchten Glamour New Yorks, einen Hauch Broadway, eine Prise Hollywood und ihre neueste Errungenschaft mitbrachte. Es waren keine Bären oder Engel, keine auf Spiegelrahmen applizierten Szenen aus dem Kamasutra oder auf den Strassen Manhattans aufgestöberte Versatzstücke avantgardistischer Kunst. Sie brachte John Durgin mit, einen blassen, attraktiveren dreiundzwanzig Jahre jüngeren Mann. Ein bisschen Gitarre spielte er. Barkeeper sei er, im Souterrain von Lindas New Yorker Red House. Polizisten aus dem neunten Polizeirevier, die weltweit bekannt waren, da man sie aus mehreren Fernsehserien kannte, seine regelmässigen Gäste. Abgesehen von seiner Jugend und davon, dass er am Billardtisch gern gesehen war, ein Mann ohne nennenswerte Eigenschaften. Linda war anderer Meinung. Linda Geiser, sogleich erinnerten sich alle, dass sie als Teenager am Berner Atelier Theater Furore gemacht, in den Gotthelf-Filmen mitgespielt, und nach Engagements in Hamburg und Berlin den Sprung
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an den Broadway gewagt hatte, von Franz Schnyder als Mutter der sechs Kummer-Buben in die Schweiz zurückgeholt und bereits in jungen Jahren zur Legende geworden war. Im Häftli bei Büren an der Alten Aare eine Sensation. Alle hingen an ihren Lippen. Sie wusste, ohne damit auch nur im Geringsten aufzuschneiden, Bescheid was Off- und On-Broadway geschah. Eine Bernerin in New York. Fast wie ein Amerikaner in Paris. Jung geblieben war sie, sehr jung, voller Energie und Optimismus. Kein Wunder, dass sie sich sowohl im behaglichen Bern als auch in der Schweizer Filmszene, in New York, am Broadway behauptet. Chapeau! Linda liess sich die dargereichten Blumen gerne gefallen, lachte und schloss alle in ihr grosses Herz. Dass wir uns in New York, in ihrem East Village, in der alternativsten Szene überhaupt, bald wiedersehen würden, war eine ausgemachte Sache. See you soon. Zwanzig Jahre später stand ich mit zwei schweren Koffern vor Lindas Red House und wurde von ihr aufs Herzlichste willkommen geheissen. Vom ersten Moment an hatte ich den wohlig kribbelnden Eindruck, als Freund und erst dann als Stipendiat des Kantons Bern begrüsst worden zu sein. Nachdem ich mein Gepäck in der Wohnung abgestellt hatte, folgte ich ihrer Einladung und ging, um bei einem Glas Wein etwas ab- und auszukühlen, nach unten in den Hinterhof. Linda hatte mir bereits das Gefühl vermittelt, ich sei hier schon länger zu Hause. Es war fast unerträglich heiss in New York. Linda schien die Hitze nichts anhaben zu können. Ich würde mich schneller, als ich denken könne, nicht nur an das Klima, an die meteorologischen, sondern auch an die gesellschaftlichen Kapriolen New Yorks gewöhnen, sagte mir
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Linda. Es war ihr zu Ohren gekommen, dass ich – ebenfalls als Stipendiat – ein Jahr im Londoner East End verbracht hatte. Jemand soll Linda erzählt haben, ich hätte in Whitechapel, in der Gegend, in der Jack the Ripper vor etwas mehr als hundert Jahren sein Unwesen getrieben hatte, nie einen Regenmantel getragen und hätte London durchs T-Shirt unter meine Haut dringen lassen. Wenn ich also Lust hätte, mich auch hier mit Mördern herumzuschlagen, bitte sehr. Eine Polizeisirene heulte auf. Im Nachbarhaus war das neunte Revier des New York Police Department untergebracht. Linda verhalf mir dank ihrer freundschaftlichen Beziehungen zu ihren uniformierten Nachbarn zum schier undenkbaren Privileg, für eine Reportage über die Fernsehserie NYPD Blue, über die Fiktionalität und die Realität des Polizeireviers der Lower East Side, zehn Tage lang rund um die Uhr die Cops in ihren blauen Autos und die Detektive mit den unauffälligen Limousinen zu begleiten. In kugelsicherer Weste. Wann immer ich nach den viel zu kurzen sechs Monaten bei Linda nach New York zurückkehrte, meldete ich mich bei ihr. Nie mehr trafen wir uns in ihrem Red House, wohl aber an Orten, die wir seinerzeit zusammen aufgesucht hatten. Im Sommer 2017, nachdem ich die Arbeit an einer Biografie über eine (ebenfalls aussergewöhnliche) Schweizerin in London abgeschlossen hatte, fragte mich eine Nichte, woran ich denn nun zu arbeiten gedenke. Ich muss mit meinen Achseln gezuckt haben, denn daraufhin begann sie mir Vorschläge für Buchprojekte zu machen und machte mich auf Linda Geiser aufmerksam. Ich schrieb Linda, was sie von einem Buch über sie halte. Postwendend mailte sie zurück, sie hätte an sich nichts dagegen, wisse aber
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nicht, ob so etwas überhaupt nötig sei, zudem sei da bereits eine andere dran, Gabriela Kaegi, auch eine ehemalige Stipendiatin. Nun denn, dachte ich und gab, wenn auch ein bisschen enttäuscht, die Idee auf – bis Gabriela Kaegi sich bei mir meldete und mit dem vagen Vorschlag daherkam, wir könnten vielleicht Linda zu zweit angehen. Es war eine gute erste Begegnung im Luzerner KKL, und wir nahmen das Projekt ‹Linda› in Angriff. Mittlerweile war bekannt geworden, dass Linda ihr Red House verkaufen würde. Ein guter Zeitpunkt für einen Rückblick. In einem überfüllten Basler Café trafen wir uns zum zweiten Mal, und Gabriela – wir waren von Frau Kaegi und Herr Stalder abgekommen – brachte das Red House als Gerüst einer Art Biografie über Linda ins Gespräch. Jedes Fenster ein Kapitel. Auf der Heimreise nach Luzern entwarf ich das Konzept dazu. Gabriela war begeistert, und zusammen legten wir los. Sie, die bereits unzählige Künstler interviewt hatte, sollte Linda zum Erzählen bringen, ich würde mich Linda mit Geschichten oder Reportagen von der Erinnerungsseite her nähern. Beim gemeinsamen Treffen mit Linda in New York gab sie für unser Projekt grünes Licht und wünschte, wenn, dann sollte das Buch in einem Berner Verlag erscheinen, am ehesten bei Zytglogge, wo Gabriela und ich kurz danach erfolgreich vorstellig wurden. Die Red House-Fenster rückten etwas in den Hintergrund, die Kapitel blieben. Gabriela machte sich für den Monolog über ein langes Leben mit dem Aufnahmegerät an die Arbeit. Ich liess Linda für die Geschichten dazwischen etwas weniger chronologisch ebenfalls aus ihrem Leben erzählen. Heinz Stalder, Kriens und New York, April 2018
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«Chli alt, chli primitiv, aber es liebs Huus» Das Red House in New York
Januar 2018, erster Besuch, erste Gespräche, erste Aufnahmen. Wir sitzen in der Stube, an der Wand über dem Kanapee das grosse, farbige Bild. Holy Mary mit Mozart im Arm blickt mild auf uns hernieder. Dass hier in sechs Monaten Schluss und Aus sein wird, sieht man nicht wirklich. Es stehen keine Zügelkisten herum, und leere Tablare gibt es schon gar nicht. Nur gelegentliche Störungen wie Telefonate erinnern daran, dass hier eigentlich die Endzeit angefangen hat. Als die Probleme um Tia Maria begannen, dachte ich ernsthaft daran, das Red House zu verkaufen. Davor nur hin und wieder einmal. Ich hatte ja auch noch laufende Verträge mit Bern und Zürich für die Stipendiaten-Wohnungen, und so schob ich den Gedanken jeweils wieder zur Seite. Aber dann kamen mir die New Yorker Behörden zuvor und verlangten die Gesamterneuerung der alten Heizung. Bereits im Sommer machten wir die entsprechenden Eingaben, anders geht ja hier gar nichts, aber es dauerte und dauerte, es wurde kalt und kälter – und das Permis kam und kam einfach nicht. Es kam in jenem Augenblick, als die New Yorker Temperaturen auf dem Kältetiefpunkt waren. Es war der kälteste Winter seit 1963, und die Arbeiter mussten bei Minustemperaturen unsere Tia Maria zerschlagen, bevor sie dann ihre Nachfolgerin einbauen konnten. Die Heizung war jetzt zwar neu, aber ich hatte genug, und beschloss den Schritt zu tun: Ich rief beim Makler an. Marcus & Millichap hatten schon lange signalisiert, dass sie gerne den Verkauf für mich tätigen würden. 24
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In der Schweiz hatte auch mein Freund Matthias Mast von meinen Verkaufsplänen Wind bekommen. Er rief mich an: «Und», fragte er, «wieviel willst du dafür haben?» Ich kenne Mättu gut und schon lange, zudem ist er Journalist, drum sagte ich so leicht vor mich hin: «Aaach, acht bis hundert Millionen sollten es schon sein.» Und was lese ich tags darauf im Blick? «Linda Geiser verkauft das Red House für acht Millionen!» So ein Schwachkopf! Hat nicht gemerkt, dass ich bloss ein Witzchen gemacht habe. Sagen wir so, jetzt wo es verkauft ist: Wenn ich acht Millionen bekommen hätte, hätte ich nicht Nein gesagt. Gekauft habe ich das Red House 1977. Damals hat es mich sechsunddreissigtausend Dollar gekostet. Weil die Backsteine rot angemalt sind, und wir einen Namen für die Corporation brauchten, nannten wir es Red House. Mir gefällt er. Das Haus gehörte einst Hyman Trachtman und Andrew Bondy, zwei nette, alte, jüdische Männer, die hier im Viertel mehrere Liegenschaften besassen, auch das Haus drüben in der vierten Strasse, wo seit Jahren das Theater La MaMa einquartiert ist. Als ich 1964 im Film ‹The Pawnbroker› spielte – und mit meinem nackten Busen Filmgeschichte schrieb –, da hatte Regisseur Sidney Lumet einen Assistenten, der wusste, dass ich eine billige Wohnung suchte. Bis anhin wohnte ich mit meiner Freundin Denine und einer weiteren Kollegin an der 5th Avenue, und wir bezahlten die Unsumme von monatlich hundertfünfzig Dollar. Für uns war das viel Geld, für die Wohnung war es das eigentlich nicht, denn sie war chic. Immerhin hatte einst Stanford White das Building erbaut und richtig grosse Wohnungen gemacht. Die Wohnungen wurden später in zwei Hälften geteilt. So eine Hälfte
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bewohnten wir zu dritt, jede von uns zahlte fünfzig Dollar. Als aber eines Tages unsere dritte roommate auszog, mussten wir etwas Billigeres suchen. Burt Harris, Lumets Assistent, sagte mir, dass er und seine schwangere Frau ihre Wohnung in der Lower East Side verlassen würden, aber dorthin wollte ich auf keinen Fall. Doch Burt insistierte: «Geh doch mal zu meinem Hausbesitzer, zu Mr. Trachtman.» Mr. Trachtman hatte uptown an der Dyckman Street eine Parkgarage, dort sass er in seinem kleinen Büro, hörte den ganzen Tag Musik aus einem scheppernden Transistorradio und kassierte Parkgebühren. Ich schaute mir die Wohnung also doch an. Sie war nicht gross, kostete aber nur fünfunddreissig Dollar, und Mr. Trachtman gab sie uns. Das war nicht selbstverständlich. Denn wenn die Häuser in ukrainischem Besitz waren, hatte man als Nicht-Ukrainerin keine Chance. Die Ukrainer wollten, dass das Viertel ukrainisch bleibt. Mr. Trachtman aber war Jude, er war nicht so narrow-minded und gab uns die Wohnung. Wir hatten ein Zimmer mit einem grossen Bett. Zum Glück hatte Denine einen Freund, bei dem sie oft über Nacht blieb, und ich hatte meinen Freund, gleich um die Ecke. Es war also immer ein Hin und Her, aber wir waren eigentlich ganz glücklich über unsere eigene Wohnung, auch wenn sie klein war. Hier habe ich mit meiner Schmuckproduktion angefangen. Sogar dafür war noch Platz. Im Haus war alles ein bisschen verlottert, und wenn die Wasserhähne nicht funktionierten, habe ich bei Mr. Trachtman angerufen, er nannte mir dann den Namen des Spenglers, den ich herbestellte. Dasselbe bei der Heizung oder wenn sonst etwas kaputtging. Ich war immer die, die zuerst Mr. Trachtman und dann die Hand26
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werker anrief, und so wuchs ich nach und nach in die Rolle der Hauswartin hinein. Das ging so etwa fünfzehn Jahre. Eines Tages kam Mr. Trachtman zu mir, setzte sich hier in meine Stube und fragte mich: «Why don’t you buy it from me, I give it to you cheap.» Er meinte das Haus, das er mir zum Kauf anbot! «Ich gebe es dir billig» bedeutete: für sechsunddreissigtausend Dollar. Ich rief meinen Vater an – telefonieren kostete damals noch richtig viel, zwölf Dollar für drei Minuten – und bat ihn, mir das Geld zu geben, als Erbvorbezug auf unser Haus in Bern. Vater fragte meine Geschwister, und als die nichts dagegen hatten, schickte er mir das Geld. Der Betrag entsprach damals ungefähr hundertsechzigtausend Schweizer Franken. So bin ich zu diesem Haus gekommen. Von einem Anwalt erhielt ich einen deed, eine Urkunde, die bestätigte, dass ich künftig der landlord dieses Hauses sei. Na ja, das fühlte sich schon gut an. Immer wenn eine Wohnung frei wurde, habe ich es meinen Freunden gesagt. Aber die Gegend war damals nicht wirklich beliebt, und viele wollten nicht hierherziehen. Damals gehörte die fünfte Strasse noch zur Lower East Side und war ein totales Armen- und Einwandererviertel. Die schicke Bezeichnung ‹East Village› kam erst später. Walter Matthau, der berühmte Schauspieler, der gleich nebenan aufgewachsen ist, sagte einmal im Fernsehen, dass die fünfte Strasse die widerlichste Strasse der Welt sei. Auch sein Kumpel, der als Kind Bernie Schwarz hiess und sich als Schauspieler Tony Curtis nannte, auch er in Alphabet City aufgewachsen, sprach im gleichen abschätzigen Ton. Anfänglich lebten vor allem jüdische Einwanderer hier. Es gab da drüben noch eine Metzgersfrau, die ihre KZ-Nummer auf dem Unterarm eintätowiert hatte. Mit den Ukrainern kamen dann auch unkoschere Restaurants, 27
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Läden und Geschäfte ins Viertel. Nach den Ukrainern kamen die Puerto Ricaner, und es wurde wieder massiv anders: viele Menschen, viel Abfall, viel Lärm und Geschrei. Das Red House hat schon viel gesehen. Linda Geiser an ihre Schwester Annemarie: Aug 24th / 65 Liebes Memei! […] Letzte Woche wurde in meine neue Wohnung eingebrochen und vieles, vieles wurde mir gestohlen. Mein Plattenspieler, mein Fotoapparat, all mein Schmuck, meine Uhren, einige Kleider und viele andere Kleinigkeiten. Alles nicht so schlimm, obwohl ich nicht versichert bin. Das einzig Tragische sind meine sechs Tagebücher der letzten sechs Jahre. Unersetzlich und unerklärlich, warum sie genommen wurden. Jä nu, ich war halt unvorsichtig, ich habe das Oberlicht über meiner Türe offengelassen und bin zum Theater gegangen. Glücklicherweise waren meine Nähmaschine und das Velo zu kompliziert und zu schwer zum Klauen. Es ist Sommerzeit, und das passiert in New York jede Nacht zweihundert Mal. Es langweilt die Polizei schon zu kommen und ein Inventar der gestohlenen Sachen zu machen. Man sieht sie ja doch nie wieder. Im Soussol war eine grosse Bar, Pete’s Place genannt, in der die Polizisten vom 9. Police Department of New York, das gleich nebenan lag, Tag und Nacht sassen. Einer der Cops, Frank Serpico hiess er, hat mal gesagt, wenn man als Polizist noch kein Alkoholiker sei, dann werde man auf dem 9. Revier sicher einer, weil man die meiste Zeit in Pete’s Place sitze. Stimmt. Denn Verbrechen gab es nicht viele, Drogen kaum, ich kannte Polizisten, die zwanzig Jahre lang nie einen Revolver ziehen mussten. So sassen sie also viel und oft da unten in der Bar und hörten laut Musik aus der Jukebox, meistens von Frank Sinatra oder von Dean Martin (singt): «Everybody 28
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loves somebody sometime». Manchmal war es so laut, dass ich um drei in der Früh runterging und ihnen sagte, wenn sie jetzt nicht aufhören, würde ich die Polizei holen ...! Grosses Gelächter, aber dann war gut. Das Red House. Red, die Hülle zumindest. Innen not only red, but bunt, kunterbunt. Eine Collage voller Linda, überall. Linda mit all ihren Facetten: neugierig, begabt, herzlich, direkt. Parallelen zum Red House, unübersehbar: aussergewöhnlich, unkonventionell, chaotisch, alterslos, sexy. Ewige Pendlerin zwischen Bern und New York. Kummer- resp. Schlummermutter, Bohemienne, Künstlerin? Ein Kunstwerk auf jeden Fall. Den Abdruck habe ich nicht mehr, das Foto davon aber alleweil, von diesem einzigartigen Original. Vania Kohli, Fürsprecherin und Grossrätin, Bern
Zu den cop jobs gehörte auch der sogenannte chickenhawk, der Hühnerhabicht. So nannten sie den Kontrollgang durch die Rivington Street, wo die Huren standen. Der junge Rocky kam eines Abends nach einem solchen Dienst spät in die Bar, fragte, ob er nicht bei mir übernachten könne, der Schlafraum der Polizei sei so unappetitlich und die alten cops würden dort alle laut schnarchen. Ich stellte mich ein bisschen dumm und sagte, das ginge nun wirklich nicht, ich könnte sonst der grossen Versuchung durch einen jun29
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gen und hübschen Polizisten nicht widerstehen. Rocky fand den Gedanken daran nicht so unangenehm. Also änderte ich die Taktik und meinte, im Bett sei ich aber nicht wirklich gut. Sagt doch der junge Bursche zu mir: «No problem, Linda, I’ ll teach you.» Drei Wochen später kam er bei einem Schusswechsel ums Leben.
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NYPD. 9th Precinct
Das Gebiet, das das neunte New York Polizeirevier in Manhattan abdeckt, ist eines der lebhaftesten New Yorks und Lindas Lebensraum. Südlich bilden die Houston Street, westlich der Broadway, nördlich die vierzehnte Strasse und im Osten der East River die Grenzen. Das Village beherbergt alle nur denkbaren Bevölkerungsschichten und ethnischen Minoritäten. Einst bekannt als die schrägste Gegend, wo sich Künstler wohlfühlen, die Anarchie noch ein paar wenige Blüten treiben darf und im Tomkins Park die Obdachlosen beinahe eine bizarre Stadtrepublik verwirklicht hätten, übten Ukrainer, Inder, Polen, Italiener, Japaner, Chinesen und die Juden der Lower East Side friedlichste Koexistenz. Jetzt bestimmt eine geschäftige Restaurant-, Barund Klubszene das Viertel rund um St. Marks. An jedem Wochenende strömen die Vergnügungshungrigen zu Zehntausenden ins Village. Liegenschaftsmakler treiben Haus- und Mietpreise in die Höhe, Universitäten haben sich angesiedelt, schicke Läden schiessen wie Pilze aus dem Boden, es werden Gebäude abgerissen und in beängstigendem Tempo wieder hochgezogen. James Serra und Gil Rivera, zwei Detektive, die der Fernsehserie NYPD Blue entsprungen sein könnten, sind unterwegs in die Alphabet City, in jene Gegend, in der die Avenuen mit den Buchstaben A, B, C und D benannt sind. Sozialer Wohnungsbau und unzählige Bodegas, in denen der Stoff zu haben ist, mit dem sich die Menschen über die Miseren und den Zerfall aller Werte hinwegtrösten. Kaputte Fenster, kaputte Häuser, kaputte Wohnungen, kaputte Menschen. Wenn die Polizei bereits zwischen Broadway und Avenue A nicht immer mit offenen Armen empfangen wird, hier, im berüchtigten Ghetto der broken windows und anklagenden Graffiti, stossen die Cops oft auf puren Hass.
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Serra und Rivera sind unterwegs. Ein dreizehnjähriges Mädchen wurde von einem jungen Mann mehrmals unter brutaler Gewaltanwendung sexuell missbraucht. Der Täter ist nicht in der vom Opfer angegebenen Wohnung. «Er ist arbeiten gegangen», sagt der Knabe, der die Tür einen Spalt breit öffnet und sogleich wieder schliessen will. Der Schuh des Detektivs ist schneller. In der Wohnung schauen vier etwa zehn- bis zwölfjährige Buben fern und rauchen, was das Zeug hält. Die Videos, die auf dem Tisch liegen, sind alles andere als jugendfrei. «Was ist mit der Schule»?, fragt Detektiv Serra. Das Auftreten der Polizeibeamten wird um einiges bestimmter, als sich die Befragten verstockt und aggressiv zeigen. Nach mehreren Telefongesprächen mit Schulleitern, Eltern und Tutoren machen sich die zufällig ertappten Schulschwänzer auf den Weg in ihre Klassen. Der Vergewaltiger wird nicht gefunden, aber vielleicht konnte den vier Schlingeln eine Lektion erteilt werden, die vielleicht dem einen oder anderen unter die Haut geht. Fernsehreif ist dieser Auftritt nicht. «Polizeiarbeit ist keine Show», sagt Gil Rivera. «Wir erledigen unsere Fälle nicht in einer von mehreren Werbeblöcken unterbrochenen Stunde, und um Mord geht es in den seltensten Fällen.» Das neunte Precinct im Haus Nr. 321 an der fünften Strasse diente den Machern von NYPD Blue als Fassade. Auch der legendäre Kojak war hier zu Hause. Auf dem Schulhausplatz gegenüber konnten die Wagenkolonnen der Filmer unbehelligter parkieren als vor anderen Revieren. Vor Weihnachten verteilen hier Warenhäuser, kleinere Geschäfte und Private Geschenke. Es gehört zur schönen Tradition des
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9th Precinct, dass sich unmittelbar vor dem Fest unzählige Kinder, Mütter und Väter in eine lange Schlange stellen, um von ihren Polizisten beschert zu werden. Bevor die rund um das Revier geparkten blauweissen Polizeiautos jeweils starten, werden kurz die Sirenen kontrolliert. Fahren sie zu einem Notfall, wird das Blaulicht eingeschaltet und geheult. «Einen sicheren Ort als mein Haus gibt es in ganz New York nicht», stellt Linda fest. Einige Cops kennt Linda persönlich, jeder Polizist kennt die Frau von nebenan. Eine neue Wohnung, wahrscheinlich weit ab von einem Polizeiposten, kommt für Linda nur infrage, wenn ein Dorman darüber wacht, wer ein und aus geht. Und dann will Linda mit einem Lift in die höheren Stockwerke fahren können. Zum Glück sind die Polizei- und Feuerwehrsirenen so laut, dass sie, einmal eingeschaltet, in halb Manhattan zu hören sind.
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Manchmal haben wir in Pete’s Place auch pool gespielt. In der Bar stand ein Billardtisch, und der junge Barman gab mir deutlich zu verstehen, dass dieser viel zu klein sei, um professionell spielen zu können. Das war John. Ursprünglich war das Haus in achtzehn kleine Wohnungen unterteilt. Achtzehn!, da sieht man, wie arm die Leute mal waren und wie eng zusammengepfercht man einst hier gelebt hat. So haben wir dann begonnen, in den oberen Etagen die Wohnungen zu vergrössern, indem wir Wände herausrissen. Der junge schlaksige Barman half mir dabei. Dann blieb er immer öfter über Nacht, schlief anfänglich noch auf dem Sofa und schliesslich in meinem Bett. Das war 1979. Das Haus und John, beides wurde gleichzeitig Teil meines Lebens. (Telefon schellt) «Hello, yes, my house is sold, no, I own nothing else, sorry Sir.» Nun war ich also Besitzerin des Red House, aber viel veränderte sich nicht. Ich war weiterhin die Hauswartin, liess den Spengler, den Heizer, den Elektriker kommen, wenn etwas kaputt war, und auch für die Mieter blieb alles beim Alten. Die Leute wohnten so billig wie eh und je, ich hatte auch kein Interesse daran, mich durch den ganzen New Yorker Mietrechts-Dschungel zu kämpfen und für fünf Dollar Mietzinserhöhung mindestens drei Prozesse zu führen. Mit Gloria zum Beispiel, einer Puerto Ricanerin, die schon seit 1953 hier im Parterre wohnt und die früher als Pflegerin in einem Altersheim gearbeitet hat, habe ich eine einfache Abmachung: Sie zahlt mir so viel sie kann. Das waren erst hundertfünfundzwanzig Dollar, dann sagte sie mir eines Tages, dass sie mir nun zweihundert Dollar gebe, und heute sind es zweihundertfünfzig. Das hat sie selber so bestimmt, und wir sind beide damit zufrieden. Sie war 34
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es übrigens, die mich auf die Idee brachte, meine Heizung Tia Maria zu taufen. Das Red House wurde 1898 gebaut, es ist ein bisschen ähnlich wie das Tenement Museum in der Orchard Street in der Lower East Side: wenig Raum, viele kleine, schmale Zimmer, eins reiht sich hinter das andere. Railroad flat nennt man das auch. Toiletten gab es im Haus anfänglich nicht. Draussen im Garten stand ein Häuschen, Linda ist meine Freundin seit dem Progr. Im Unterricht zeichnete sie jeweils für mich Altstadtfassaden ab, und ich las dafür die Repliken aus Schillers «Don Carlos», den sie auswendig vortrug. Sie war schon damals entschlossen, Schauspielerin zu werden. Wir ehemaligen Klassenkameradinnen verpassten dann keinen ihrer Auftritte im Atelier Theater. Und unser Kontakt hielt Jahrzehnte lang, weil die Heimkehrerin bei jedem Besuch ein Treffen der Girls organisierte. Von Lindas vielen Begabungen ist ihr Talent für Freundschaft für mich am wertvollsten. Marie-Louise Zimmermann, Journalistin, Bern
mehr ein Holzverschlag, das war das Klo, dort ging man am Morgen hin und leerte seinen Nachttopf. Aber bereits in den Dreissigerjahren baute man in den vorderen Wohnungen Klos ein. Die standen dort vorne beim Fenster und sahen aus wie Wandschränke. So 35
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einen hab ich heute noch in meiner Wohnung. Die hinteren Wohnungen waren ohne Toilette. Die standen im Korridor, pro Etage eine. Geheizt wurde erst mit Kohle. Dann, 1953, wurde die Zentralheizung eingebaut: Tia Maria. Sie hat über sechzig Jahre gehalten, und erst diesen Winter mussten wir sie metzgen. Heute glaube ich, dass es ein Fehler war. Sie war lediglich am Hintern ein bisschen angerostet, und für einen Winter hätten wir sie sicher noch einmal herrichten können. Aber dem städtischen Inspektor, der mir die Neuanschaffung aufgebrummt hatte, missfiel ihr Asbestpanzer, der in Ordnung war, solange man ihn nicht bewegte. Den mussten wir also erst entfernen lassen. Das war eine Sache! Draussen stand ein spezielles Auto, das die Luft aus dem Keller absaugte, während die Männer drin in Schutzanzügen das Asbest abschlugen. Das hat mich mehrere Zehntausend Dollar gekostet. Dann, als die Hülle weg war, konnten wir Tia Maria auseinandernehmen und wegtragen. Bye bye old auntie! Die Elektrifizierung des Hauses war in meiner ersten Zeit noch eine ziemlich abenteuerliche Angelegenheit. Sobald jemand zusätzlich ein Bügeleisen oder einen Toaster einsteckte, gab es einen Kurzschluss, und alles wurde dunkel. Meine Mutter gab mir dann das Geld, damit ich das ganze Haus neu elektrifizieren lassen konnte, und mit dem Wechsel von Gleichstrom zu Wechselstrom war das Problem behoben. Das ist jetzt auch schon ein paar Jahre her, funktioniert aber immer noch bestens. Das Haus war ja nicht teuer, aber es war in einem eher schlechten Zustand, sodass ich nach und nach alles erneuern musste. Bis 1992 standen alle Badewannen noch in der Küche neben dem Herd, das Red House war geradezu berühmt dafür, dass man quasi aus der Wanne Spiegeleier braten konnte. Dennoch wurde es Zeit, dass wir etwas modernisieren. Also habe ich angefangen, hübsche 36
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Duschen und richtige Badezimmer einzubauen. Das machte mir eine kleine Firma aus der sechsten Strasse, Skyway Plumbing, die beschäftigte auch viele ukrainische Spengler. Skyway Willy, wie der Chef hiess, war sehr beliebt hier im East Village und hatte jede Menge Aufträge. Ja, aber dann, eines Tages war Willy plötzlich weg. Einfach verschwunden, niemand wusste wohin und warum. «He’s gone, he’s gone, no more work!» jammerte Wassili, einer seiner Arbeiter. Bei mir hat Willy zwar alles zu Ende gebracht, und er hat tipptoppe Arbeit geleistet, bloss konnte dann die Stadt seine Arbeit nicht mehr abnehmen. Weil er ja weg war! So hab ich zwar einen permit, den wir zu Beginn der Arbeiten eingeholt haben, aber keinen approval, dass alles rechtens ausgeführt worden ist. Blöd gelaufen! Im Lauf der Jahre ist die steile Eingangstreppe regelrecht gewachsen, kann man sagen, auf jeden Fall ist sie noch steiler geworden. Jetzt sind die Stufen richtig fies und hoch und, egal ob Jung oder Alt, man muss sich am Geländer festhalten, um besser hochzukommen. Ich gestehe: Daran bin ich schuld. Die Stufen sind aus Zement oder aus einem anderen zu weichen Material. Jedenfalls brechen vorne an der Kante immer wieder ganze Stücke ab, wenn man die Rollkoffer einfach über die Stufen zieht. Und wenn es dann wieder gar zu arg ausschaut, geh ich nachts raus mit der Kelle, muss mich ja nicht gleich jeder sehen, schmiere Zement auf die abgeschlagenen Stellen, und wenn er trocken ist, spraye ich das Grau mit schwarzer Farbe weg. Es sieht fast wie richtig aus, vorausgesetzt man geht nicht zu nahe ran. So kam im Lauf der Jahre Schicht um Schicht zusammen, und darum sind die Stufen heute unüblich hoch. (John schaut herein, er holt Nachtessen im Sushi-Restaurant an der sechsten Strasse. Linda, zu ihm:) «Wonderful darling! For me two cherin-rolls and a Miso-Soup, please.» 37
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Als ich einzog, wohnte unter mir Frau Schaefer mit ihren Kindern. Die Zwillinge spielten gerne Fussball im Treppenhaus, die Tochter war schon etwas grösser, vögelte viel herum und kam immer wieder schwanger heim. Zwei dieser Kinder hat die Mutter bei sich aufgenommen, weil sie weiss seien, hat sie mir gesagt, und fügte hinzu: Die schwarzen wolle sie nicht. Frau Schaefer hatte also ihre zwei Buben und die zwei Kinder ihrer Tochter. Sie trank, war oft besoffen und schrie im Haus herum. Gelebt hat sie von der Fürsorge, und Miete hat sie mir hundertfünfzig Dollar bezahlt. 1995 starb sie, und eines ihrer Grosskinder, Dawn, übernahm die Wohnung. Und Ach Linda, du bist so ekelhaft positiv! Adolph Spalinger, Schauspieler und Leiter Atelier Theater, 2006
das, obschon sie mit einer Freundin zusammen in Brooklyn lebte. Das ist eben das städtische Mietrecht: Weil sie in dieser Wohnung zur Welt gekommen ist, hat sie ein Wohnrecht auf Lebenszeit. Dawn hat die Wohnung gebraucht, weil sie hier unzählige Katzen unterbringen konnte. Ich kam darauf, weil das ganze Haus nach Katzenpisse zu stinken begann. Damit ich aber beweisen konnte, dass sie aus der Wohnung ein Tierheim gemacht hat, musste ich erst eine Kamera einbauen lassen. Was brachte die ans Licht? Fünfzehn Katzen und drei Hunde waren da unten eingesperrt. Damit bin ich vor Gericht gegangen, der Richterin ist regelrecht der Unterkiefer runtergefallen, als sie diese Bilder sah. Das wäre mal eine tolle Rolle auf einer Bühne, hab ich mir dabei gedacht! Dawn hat alles abgestritten, aber nach fünf Verhandlungen wurde das Urteil gefällt: Sie musste ausziehen mit ihrem Tierheim, und musste mir sechsundsechzigtausend Dollar bezahlen. Das stottert sie jetzt mit monatlich kleinen Beträgen ab. Neben dem Ärger, den ich hatte, 38
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haben mir die Schaeferjungs aber auch etwas Erfreuliches hinterlassen. Sie steckten nämlich damals draussen beim Spielen kleine Äste in die Erde. Der riesige Ahorn, der hier heute mitten im Höfli steht und uns im Sommer wunderbar Schatten gibt, der ist aus einem dieser Stäckli gewachsen. Landlady zu sein ist nicht nur lustig. Die starren Mietgesetze, die drakonischen Auflagen der Stadt – für alles muss man heute eine permission haben –, dann geht auch ständig etwas kaputt, es tropft durchs Dach, irgendwo ist etwas verstopft, die Heizung spinnt, und alles muss repariert werden. Zudem die Mieter, die meckern. Das alles macht mich schon auch zunehmend müde. Als ich noch Theater spielte, war ich ja immer mal wieder weg. Manchmal hab ich meine Wohnung in der Zeit untervermietet, und als ich zurückkam, fand ich ein Chaos vor und musste erst entrümpeln, aufräumen oder zumindest mit den Leuten schimpfen. Das war der mühsame Teil der Rolle, aber alles in allem war ich doch gerne Landlady, und lange Jahre war es schön hier, und wir lebten friedlich zusammen unter dem Dach des Red House. Also mittlerweile ist die neue Heizung eingebaut, sie hat gut funktioniert über den Winter, erst im Frühling hat sie ein bisschen zu stottern angefangen, aber John konnte sie wieder beruhigen. Einen Namen hat sie noch nicht, ich weiss nicht einmal, ob sie noch einen bekommen wird. Ich glaube, das wird nicht mehr meine Sorge sein. (John ist mit dem Essen gekommen) Schluss für heute!
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Gang durchs Red House
Hätte doch Linda bloss Christo gebeten, das Red House vor ihrem Auszug einzupacken, er würde es für die Ewigkeit, oder zumindest bis sich niemand mehr an das Charisma der Künstlerherberge auf Zeit erinnerte, einpacken, das Besondere, des stets am Absturz zum totalen Chaos heroisch sich behauptenden letzten Refugiums an der fünften Strasse zwischen der ersten und der zweiten Avenue in New Yorks Lower East Manhattan, es würde dem Status gerecht werden, um den sich das Haus und seine Besitzerin verdient gemacht haben. Eingepackt und verschnürt samt John, dem schönen Mann, der jeweils ohne jegliche Emotionen auf der steilen, schwarz gestrichenen Aufgangstreppe sass und nicht das geringste Interesse für die schweren Koffer der neuen Ankömmlinge zeigte. Die Zigarette wird auf jeden Fall bis zum Filter fertig geraucht, dann erst einmal kräftig gehustet. Der grösste Koffer einer Stipendiatin hat unter gewissen und möglicherweise ästhetischen Umständen bei John eine Chance. Die Briefkästen wären einen Blick wert, der Schnauf nach der steilen Treppe wird aber auch nach den kommenden sechs Monaten fehlen. Der Schweiss rinnt aus allen Poren und versickert in textilen und dermalen Falten, vermischt sich mit dem seit Dekaden aus der Bausubstanz des Red House dringenden Geruch. Für die Ankommenden ist und bleibt es the sent of New York. Das Parfüm der Lower East Side, des Villages. Kein Luxusduft. Oder doch? Hat sich denn über die Jahre hinweg nicht vieles vermischt, was die Leute aus Übersee für die einmalige Zeit als Lodger der Landlady an Gerüchen und Düften mitbrachten? Volle Kehrichtsäcke stehen in den Gängen, aus einer Toilette gurgelt das Siphon. Die Wohnungen sollen einem Eisenbahnwagon ähnlich sein. So zumindest will es der Begriff Railway Flat für die schmale Flucht von
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AUS LINDA GEISERS FOTOSCHACHTELN
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Fotoshooting für einen Oldie Kalender, New York, April 2018 . Foto: Privatsammlung
Linda, mit sich und der Welt zufrieden, undatiert . Foto: Privatsammlung
Abschiedsfeier mit dem Filmteam von ‹Lilo & Fredi›, 2003 . Foto: Privatsammlung
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RED HOUSE-SCHNAPPSCHÃœSSE DER STIPENDIATINNEN UND STIPENDIATEN
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Six mois de vie bouillonnante et de baignoire lumineuse, merci Ă Linda pour sa maison ocre rouge. Alain Favre
Zuerst war es heiss. Dann verlor John Kerry die Wahl. Und Linda machte ein Fondue. Danach feierten wir noch Neujahr zusammen auf dem Dach. Zuletzt war es sehr kalt. Und wir reisten wieder ab. Armin Senser
Mit derselben Leichtigkeit wie Linda die vier Stockwerke ihres Hauses hoch- und runterhastet, kommuniziert sie nonchalant mit Jung und Alt, hat immer ein offenes Ohr und steht am zweitletzten Tag des Aufenthaltes als meine Trauzeugin in der New Yorker City Hall. Anna Anderegg
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AUFTRITT RED HOUSE – FOTOGRAFIERT VON TAMARA JANES
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© 2018 Zytglogge Verlag – Presse-PDF – nur für Pressezwecke zu verwenden
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«Das Red House. Red, die Hülle zumindest. Innen not only red, but bunt, kunterbunt. Eine Collage voller Linda, überall.» Vania Kohli, Fürsprecherin und Grossrätin, Bern
«Ihre Energie und ihre Leidenschaft, Geschichten zu erzählen, hat mich seit den Tagen unseres Drehs angesteckt und inspiriert.» Vinz Feller
«But the most amazing thing was her interaction with the art: Sie sieht das Werk und sie lädt sich regelrecht auf mit dem, was sie sieht oder was zu ihr spricht. She is like a charger, lädt sich voll mit Energie, man kann ihr dabei regelrecht zuschauen. And whenever she is loaded, she gives it right back.» Chrissy Angliker