Dominik Osswald Geb. 1989 in Basel, studierte Erdwissenschaften an der Universität Basel, arbeitet als Autor und freischaffender Journalist zu ganz unterschiedlichen Themen (Alpinismus, Wissen, Gesellschaft), u.a. für ‹Republik›, ‹Tages-Anzeiger›, ‹SRF›. Derzeit in Ausbildung zum Bergführer. ‹Schneisen› ist sein erster Roman.
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Im Dorf herrschte wieder Misstrauen und
Wachsamkeit wie damals 1986. Jeder spähte über seinen Zaun oder hinter der Gardine hervor. Einmal musste die Polizei ausrücken, weil der sensorgesteuerte Storen des Ehepaars Wutz am Zweienweg 4 mitten in der Nacht ausgefahren war, niemand wusste warum. Das Ehepaar Wutz lag wie angewurzelt im Ehebett und rief im Flüsterton die Polizei. Regenbolz war angespannt.
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Dominik Osswald SCHNEISEN
Foto: Severin Karrer
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Eine überfahrene Katze, ein ausgebrochener Rasenmähroboter, ein verschwundener Polizist, ein Boulevardblatt, das ausser Rand und Band gerät, und zwei investigative Nachwuchsjournalisten, die dem Polizeichef, der negative Schlagzeilen vermeiden will, auf den Pelz rücken … Als ein kurzes, aber heftiges Unwetter über das beschauliche Dorf Regenbolz fegt, ist nichts mehr, wie es sein sollte. Die Regenbolzer, die vierzig Jahre lang mit dem «grössten ungelösten Kriminalverbrechen des Landes», das sich in ihrem Dorf zugetragen hat, zu leben gelernt haben, werden nervös. Was damals geschah, weiss man nicht, dennoch gilt der Fall in der öffentlichen Wahrnehmung als abgeschlossen. Doch nun kommen die Dinge ins Rollen, denn in einem Dorf wie Regenbolz hängt alles mit allem zusammen und drängt unweigerlich an die Oberfläche. Und nichts ist plausibler als die Realität, die man sich zusammenreimt. Im Debütroman des Journalisten Dominik Osswald ist nichts so, wie es zu sein scheint. Mit sichtlichem Ver gnügen führt der Autor durch ein Spiegelkabinett aus unterschiedlichen Wahrheiten und Wahrnehmungen und entfaltet eine (Medien-)Groteske, die so abwegig gar nicht scheint.
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Nichts ist, wie es scheint.
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Prolog Die Begegnung In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 1986 kam es in der Nähe des kleinen Dorfs Regenbolz zu einer seltsamen Be gegnung: Zwei Jugendliche liefen einem Finanzschwindler in die Arme, beziehungsweise ins Auto. Rudolf Hering, der Finanzschwindler, konnte nicht mehr bremsen. Seine Synapsen hatten zwar blitzschnell signalisiert, dass jetzt nichts schiefgehen durfte. Nicht auf dieser Reise. Doch er kam nicht mehr rechtzeitig zum Stehen. Eine Person flog in hohem Bogen durch die Nacht. Dabei hatte der Tag wie geplant begonnen. Zufrieden hatte Hering die Zeitung aufgeschlagen und die Schlagzeile ge lesen. Seine Schlagzeile. Da stand: SCHNEEBALL-HERING VERMUTLICH A BGETAUCHT. Sie hatten einen guten Riecher. Er war tatsächlich daran, seine Flucht in die Wege zu leiten. Mit Schnee hatte er aller dings nichts am Hut. Er hasste den Winter. Doch was ihn reich gemacht hatte, war in der Tat ein Schneeballsystem. An diesem 15. Juli 1986 war der Moment gekommen, sich aus dem Staub zu machen. Nach Einbruch der Nacht verriegelte er seine bescheidene Wohnung für immer und quetschte seinen korpulenten Körper in seinen Fiat 500, dem niemand die Millionen an sehen konnte. Der Finanzschwindler bog schwungvoll auf die Landstrasse, die ihn vorbei an schlafenden Dörfern und 7
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dunklen Wäldern quer durchs Land an die Grenze bringen würde. Die Stadt, deren Oberschicht im Wissen erwachen würde, dass seine sagenhaften Renditen nichts anderes als Umverlagerung waren, lag für immer hinter ihm. Eigent lich hatte er keine Eile, doch er fuhr trotzdem schnell, wie es sich für eine Flucht gehört. Es gab keine Formel, die ihn «die Börsenentwicklung riechen liess, wie einen Meteorologen das Wetter». So hatte er sein Geschäftsmodell angepriesen. Seine Kunden hatten wie fleissige Bienchen Reichtum angesam melt und er hätte es vermehren sollen. Stattdessen hatte er die Vermögen nur hin und her geschoben und den Investoren Renditen vorgegaukelt. Reich wurde nur er selber. Eine neue Identität als italienischer Staatsbürger zu beschaffen war ein Leichtes gewesen. Er hiess jetzt Rodolfo. Und als Rodolfo einen alten Landhof in der Toskana mitsamt einem Bienen häuschen erworben hatte und nach seinem Beruf gefragt wurde, hatte er gesagt: «Imker». Er brauchte eine Beschäf tigung, die ihn unauffällig wirken liess und Fragen fernhielt. Der Finanzschwindler wusste, dass er ein Händchen dafür hatte, Honig einzusammeln. Was nicht ist kann ja noch werden!, dachte er sich vergnügt, als er den kleinen Fiat durch die Nacht peitschte. In diesem Moment sah er im Augenwinkel eine Gestalt aus dem Wald kommen und trat voll auf die Bremsen. Doch zu spät. Der Finanzschwindler hatte seine Flucht gut geplant. Nur hatte er nicht vorausgesehen, dass er mitten in der Nacht im Wald jemanden anfahren würde. Er war erledigt. Fahrer flucht war keine Option. Abgesehen von seinem Betrug war Rudolf Hering ein guter Mensch. Die weggeschleuderte Gestalt war gerade dabei sich vom Asphalt zu erheben. Ein Junge. Er sah seltsam aus. Unheim 8
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lich. Sein Schädel war mehrheitlich kahl, mit einigen Haar büscheln. Hastig suchte der Junge ein paar Habseligkeiten zusammen, die er offenbar auf sich getragen hatte. Ein Mädchen, das Hering zuerst gar nicht bemerkt hatte, half ihm. Untätig wohnte der Finanzschwindler der eigenartigen Szenerie bei. Die beiden wirkten wie Tiere. Es schien sie nicht zu interessieren, wer oder was sie angefahren hatte. Was zum Henker machen die mitten in der Nacht auf dieser verfluchten Strasse? «Sie sind doch nicht verletzt, junger Mann!», rief er ohne eine Frage zu formulieren. Es war mehr eine Aufforde rung. «Sie haben Glück gehabt, junger Mann. Wir haben Glück gehabt. Das darf doch nicht wahr sein, um diese Uhr zeit! Wo kommen Sie denn her? Kann ich Sie nach Hause bringen?» «Wir haben kein Zuhause», antwortete das Mädchen. Schon schickten sich die beiden an, wieder in den Wald zu verschwinden. Der Finanzschwindler konnte das nicht zu lassen. «Wo wollt ihr denn hin?», wollte er wissen. Er fürchtete, dass die beiden seine Flucht gefährden könn ten. Doch plötzlich überkam ihn eine Gewissheit: Die waren selbst auf der Flucht. «Wieso habt ihr kein Zuhause?», fragte er, kaum dass er die beiden in den Fiat bugsiert hatte und seine Fahrt fortsetzte, als wäre nichts gewesen. «Wir sind Waisen», antwortete das Mädchen. Hering konnte nicht ahnen, dass er soeben zum grössten Rätsel der Kriminalgeschichte des Landes einen entscheiden den Beitrag geleistet hatte. Doch es wäre ihm auch egal ge 9
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wesen. Die Grenze nach Italien liess sich bestimmt leichter passieren, wenn ein Vater mit seinen Kindern einen Ausflug in die Toskana machte. Und so jagte er seinen Fiat, der nun nebst den Millionen noch zwei Waisen enthielt, weiter durchs Land. Immer weiter weg vom unscheinbaren Dorf namens Regenbolz.
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1 Das Unwetter 31 Jahre später Die Katze kam zu schnell aus der Hecke, Kurt Karrer konnte nicht mehr bremsen. Er unternahm nicht einmal den Versuch. Ans Bremsen war jetzt nicht zu denken auf der klatschnassen Strasse, nicht bei diesem Einsatz. Er musste da einfach durch, beziehungsweise drüber. Über die weisse Katze mit dem schwarzen Fleck auf dem rechten Auge, die zur falschen Zeit aus der Hecke gekommen war. Und die jetzt mausetot war. Dabei hatte der Tag herrlich begonnen. Kurt war früh aufgestanden und konnte den Dunst beobachten, der sich aus dem niedergemähten Sonnenblumenacker erhob und die schräg einfallenden Sonnenstrahlen sichtbar machte. Es würde noch einmal heiss werden an diesem Augusttag. Grund genug, das Schwimmbecken abzudecken. Kurt hatte keine konkreten Pläne. Gerne wäre er mit seinem Mountainbike über den Kreuzberg gefahren, aber das lag nicht drin. Würde sich der Pager melden, dann müsste er innert 15 Minuten einsatzbereit im Dienstwagen sitzen. Es machte ihn stolz, den orange-weissen Polizeiwagen mit dem Blaulicht vor seiner Garage stehen zu haben. Wenn der Nachbar ihm einen «ruhigen Dienst» wünschte, dann gab Kurt ein Seufzen von sich und fand immer einen Grund, weshalb es dieses Wochenende theoretisch einen Einsatz geben konnte. Sei es das Sommernachtsfest, die Eisglätte oder einfach das Wetter. Aber tatsächlich kam es nie zu einem Einsatz. Jedenfalls nicht zu einem richtigen. 11
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Regenbolz war zwar das Dorf mit dem grössten ungelösten Kriminalverbrechen des Landes, doch der Schrecken war längst verblichen. Das Dorf war so unauffällig und friedlich wie die Nachbarsdörfer, die Birnbaum, Geltenberg und Hummelswil hiessen. Seit dem verhängnisvollen Sommer 1986 war es ruhig. Beinahe seltsam ruhig. Kurt hätte sich niemals eingestanden, dass es ihm lang weilig war. Vermutlich war es auch nur sein Unterbewusstsein, das ihn manchmal eine innere Leere empfinden liess. Aber in Wahrheit wünschte er sich nichts sehnlicher, als einen Fall wie den von 1986: der berüchtigte Vierfachmord von Regenbolz. Ein fürchterliches Verbrechen. Eines Morgens stand der ausserhalb des Dorfs gelegene Huber hof in Flammen. In der Brandruine wurden später die verkohlten Reste der Familie Huber gefunden. Die Eltern und die beiden Kinder mussten schon tot in ihren Betten gelegen haben. Das Feuer wurde gelegt, um die Spuren zu verwischen. Soviel stand fest. Regenbolz war schlagartig mit dem Bösen in seiner düstersten Form konfrontiert. Das Dorf war in Angst und Aufruhr und forderte Antworten. Schliesslich hatte sich das Unheil angekündigt: Kurz bevor der schreckliche Vierfachmord geschah, gab es in Regenbolz eine unheimliche Serie von Tierquälerei. Viele vermuteten, dass der Tierquäler seine Mordlust von Katzen auf Menschen übertragen hatte und die Hubers nur deshalb die ersten waren, weil sie abgelegen in ihrer Senke lebten und somit einfache Opfer darstellten. Viele verstärkten ihre Haustüren mit zusätzlichen Brettern und behielten ihre Katzen zu Hause. Doch es gab auch Regenbolzer, die in den Hubers keine Zufallsopfer sahen. Denn sie waren Aussenseiter und der Alte Huber war ein ver12
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schwiegener Bauer mit düsterer Vergangenheit. Er hatte einmal im Gefängnis gesessen. Das machte es plausibel, dass er in kriminelle Aktivitäten verwickelt war, die seiner ganzen Familie zum Verhängnis wurden. Die Polizei gab sich bedeckt. Der zuständige Ermittler Zeller hatte keine Antworten, sondern tappte im Dunkeln, beging Verfahrensfehler und bald herrschte ein mieses Klima, weil Zeller seine Kollegen nicht in seine Ermittlungen einweihte. Das ganze Land schaute besorgt nach Regenbolz, allen voran der Guck!, der in der Krone gerne gelesen wurde. Am Stammtisch lagen in diesen Tagen mehr Exemplare als gewöhnlich. Neben den Artikeln zum Vierfachmord hatte die Zeitung dezent ein eigenes Inserat platziert: ETWAS GESEHEN? ETWAS GESCHEHEN? Rufen Sie uns an unter der Nummer 333 444, und gewinnen Sie 50 Franken! Das ganze Dorf war wachsam, während die Ermittlungen weiter stagnierten. Und dann wurde Zeller abgesetzt. Der Guck! deckte auf, dass der Polizeichef während der Arbeitszeit bis spät in die Nacht in der Stadt in Spelunken gesessen hatte und dann betrunken mit dem Dienstwagen heimgefahren war. Die Schlagzeile lautete: SÄUFERBULLE BLEIBT IN KONTROLLE HÄNGEN – AUFKLÄRUNG DES VIERFACHMORDS IN GEFAHR. Anstatt den Fall zu lösen, gab sich der Ermittler dem Suff hin – das Dorf war in Rage. Die Polizei war Rechenschaft schuldig. Kurt erinnerte sich genau an jene Nacht, als 13
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eller verhaftet wurde. Als wäre es gestern gewesen. Mit Z über einem Promille im Blut wurde ihm der Führerausweis auf der Stelle entzogen. Tags darauf wurde er vom Dienst suspendiert. Man hatte richtig gehandelt. Wie hätte man anders reagieren sollen, als hart durchgreifen? Kaum, dass Zeller weg war, stagnierten die Ermittlungen nicht mehr. Jacques Teckel nahm die Sache als neuer Polizeichef an die Hand. Er verhaftete die beiden Hüglis, Zwillinge, die eine Jugendbande namens «Saugofä» anführten, doch im Dorf nannte man sie die «Süfibuebe». Die Hügli-Zwillinge waren die Katzenmörder. Sie gestanden, dass sie die Tiere aus Langeweile gequält und eine ganze Reihe anderen Unfugs im Dorf getrieben hatten: Sie hatten Briefkästen gesprengt, Mistkübel angezündet und Schmierereien im Dorf hinterlassen. Es lag auf der Hand, dass auch sie den Mähdrescher der Hubers gestohlen hatten. Die Ermittler fanden nämlich nicht nur den nieder gebrannten Hof und die verkohlten Leichenreste. Jemand hatte auch den Mähdrescher der Hubers entwendet, in die nahe Buntbrache gefahren und eine Schneise der Zer störung hinterlassen. Ein Akt des sinnlosen Vandalismus, wie er zu den Hüglis passte. So kam man ihnen auf die Spur. Wieso sie die ganze Familie Huber töteten, blieb ihr Geheimnis. Die gängigste These war, dass die Hügli- Zwillinge in der Nacht auf den 16. Juli 1986 ihren Unfug mit dem Mähdrescher trieben, von den Hubers erwischt wurden, und es zum Streit kam, der fürchterlich eskalierte. Jedenfalls sahen sie sich gezwungen, die ganze Familie auszulöschen und es wie eine Feuertragödie aussehen zu lassen, um zu entkommen. Wer aus Langeweile Katzen tötete, war zu allem fähig, war sich Kurt Karrer sicher. 14
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Mörder waren unergründlich. Auch deshalb war er Polizist geworden. Seither war Regenbolz bekannt als das «Dorf mit dem grössten ungelösten Kriminalverbrechen des Landes». Denn die Hügli-Zwillinge konnten mangels Beweisen nicht für die Schreckenstat verurteilt werden, sie sassen nur eine kurze Haftstrafe ab und suchten dann das Weite. Der Fall war damit abgeschlossen, das Dorf lebte längst wieder in Frieden und Harmonie. Kriminalität gab es keine. Einen Moment lang blickte Kurt in das glasklare Wasser seines Schwimmbeckens und war sich sicher: Seine Chance würde dennoch kommen. Noch war es ruhig in Regenbolz, und es war ja nicht so, dass er eine Tragödie herbeisehnte. Aber wenn sie über das Dorf hereinbrechen sollte, wäre er zur Stelle. «Guten Morgen», säuselte es in sein Ohr. Carla war aufgestanden und trug die Polster für die Gartenstühle in den Garten. Der Sonntag begann nun mal am besten mit einem ausgedehnten Brunch im Freien. Nach dem Frühstück legte sich Carla in den Liegestuhl und las in ihrem Buch. Kurt hatte im Garten zu tun. Er verlegte die Begrenzungskabel im Rasen, die die Zone definierten, in welcher der Rasenmähroboter zu mähen hatte, neu. Dann kontrollierte er die Höhe der Messer und stellte sie so ein, dass die Grashalme auf 3.5 cm gekürzt würden. Als er fertig war, teilte er Carla mit, dass er fürs abendliche Barbecue Brennflüssigkeit und Kohle in der 15
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Landi besorge. Der Nachbar war gerade dabei, seinen Morgan in der Garage zu parkieren. Kurt grüsste und der Nachbar meinte, dass sich da was zusammenbraue (er zeigte zum Himmel) und dass er den Morgan besser vor Hagelschäden bewahre. Für Kurts Befinden sahen die Wolken eher harmlos aus. Doch der Nachbar fand, die Cumuli seien heute früh dran, das gebe etwas Zünftiges. Der Nachbar wünschte einen ruhigen Dienst. Kurt seufzte. Als Vincenzo und Gaby klingelten, sie brachten Mövenpick-Glacé mit, war die Glut im Kugelgrill richtig heiss. Kurt begrüsste seinen Schwager Vincenzo, den er insgeheim für einen aufgeblasenen Trottel hielt, herzlich. Vincenzo war Gründer und Inhaber der Verbena, einer kleinen aber erfolgreichen Versicherung, die nur eine Niederlassung in Regenbolz hatte. Er nahm sich furchtbar wichtig. «Die Kunden auf dem Land schätzen Lokalität und Nähe eben nicht nur, wenn es um Eier und Milch geht, sondern auch, wenn es um Sicherheit geht», pflegte Vincenzo oft genug zu sagen. In seiner Freizeit liess er alberne Modellflugzeuge durch die Luft segeln. Doch was Kurt am meisten störte, war der Umstand, dass Vincenzo zu seiner Schwester Carla eine innige Beziehung hatte, irgendein italienisches Blutsbündnis, das Kurt nie ver standen hatte und ihm oft das Gefühl gab, Carla stünde ihrem Bruder näher als ihm. Vincenzo war immer präsent, selbst in der Küchenschublade, wo er es schaffte, sich mit seinen verfluchten Verbena-Kugelschreibern, ein Giveaway seiner Firma, einzunisten. Am Kühlschrank klebten Verbena-Magnete und im Kühlschrank standen Gläser mit Honig, den Vincenzo importierte und seinen besten 16
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Kunden zu Weihnachten schenkte. Als Kurt Carla einmal vorhielt, dass ihre Bruderliebe abnormal sei, hatten sie einen grossen Streit. Carla zog danach vorübergehend aus – zu Vincenzo. In den drei einsamen Tagen nutzte Kurt die Gelegenheit und ersetzte alle Verbena-Kugelschreiber durch seine eigenen Polizei-Kugelschreiber, die Magnete warf er ersatzlos weg (die Polizei führte keine Magnete in ihrem Papeterie-Sortiment). Danach wagte er sich mit Blumen zu Vincenzos Haus. Seither gab er sich Mühe, das Beisammensein mit dem Schwager harmonisch zu gestalten. Als die beiden Paare sich zum Abendessen an den Gartentisch setzten, prüften sie den Himmel. Den zuvor noch weissen Wolken waren nun leichte Grautöne beigemischt. Kurts Blick ging vom Himmel zum Nachbar, der im Garten stand, und es war ihm, als ob dieser ihm für einen kurzen Moment einen vielsagenden Blick über den Maschendrahtzaun zuwarf. Die zwei Paare waren sich einig, dass das Wetter halte und man widmete sich den T-Bones und dem Amarone, dazu gab es angeregte Gespräche. Niemandem fiel auf, dass die Grautöne langsam überhandnahmen. Vincenzo erklärte das neue Verbena-Plus-Paket, in dem Hausrats- und Lebensversicherung, sowie eine Gratis-Deckung bei Bruch von Smartphone-Gläsern zusammengeschnürt waren. Derweil bekamen die Wolken eine dunkle Basis und schienen von unten zusammen zuwachsen. Das Gespräch drehte sich um Sicherheit und als Vincenzo zu Kurt meinte, dass sie im Grunde ja beide von Berufs wegen Sicherheit schufen, verbot sich Kurt zu bemerken, dass ein Polizist den Schadensfall zu verhindern versucht, während der Versicherer damit geschäftet. Es 17
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hätte der Harmonie geschadet. Dann kam das erste Donnergrollen. Während alle an den Himmel schauten, fiel der Blick von Kurt über den Maschendrahtzaun. Der Nachbar hatte die Läden runtergelassen. Um 17.58 Uhr wurde Regenbolz von einer kräftigen Böenwalze erfasst. Der Luftstoss war so stark, dass sich Baum kronen seitlich neigten und grünes Laub in den Himmel gewirbelt wurde, das nie mehr landen sollte. Dort, wo die Regenbolzer in ihren Gärten sassen, flogen die Servietten davon. Sonnenschirme und Sitzpolster wurden hastig verstaut, in den Stuben drehte man Licht und Radio an. Vincenzo und Gaby hatten es nun eilig. Zwar hatten in ihren Storen einen Sensor, der sie in solchen Fällen ein fahren lassen sollte, doch das Paar wollte angesichts des nahenden Unwetters Zuhause aktiv nach dem Rechten sehen. Und so waren sie weg, noch ehe man die Mövenpick-Glacé aus der Kühltruhe geholt hatte. Kurt beobachtete den Himmel. Langsam schob sich eine bedrohliche Wolkenfestung über Regenbolz. Mehrere kleine Wolken mit scharfen Rändern formten sich. Sie wirkten schwer und geladen – bereit, auf Regenbolz hinabzustürzen. Dann krachten die ersten Geschosse vom Himmel. Zuerst schwere Tropfen, sie hämmerten auf die Giebeldächer im Dorfkern. Und auf die Flachdächer am Dorfrand. Bald wurde das Hämmern intensiver, aus den Regentropfen wurden Hagelkörner. So gross wie Murmeln. Manche Regenbolzer berichteten von Golfbällen. Der Guck! schrieb später HAGELKÖRNER SO GROSS WIE TENNISBÄLLE. Ungefähr eine Viertelstunde dauerte das unheimliche Unwetter, wie es die Regenbolzer noch nie erlebt hatten. 18
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So schnell es auftauchte, so schnell war es wieder weg. Die Wolken verzogen sich und die Sonne warf einen schüchternen Lichtstreifen auf den Grashügel am Ostende des Dorfes, wo der alte Skilift stand. Langsam trauten sich die Dorfbewohner wieder aus ihren Stuben. Alarmanlagen von Autos, die nicht mehr rechtzeitig untergestellt werden konnten, h eulten ein kollektives Klagelied. An der Grendelgasse hatte es das Dach eines Wintergartens ein geschlagen. Und am Kirchturm wehte ein weiss-rot gestreifter Fetzen, der sich als das Sonnensegel des Ehepaares Wutz vom Zweienweg 4 herausstellen sollte. Im Hosensack von Kurt surrte es. Der Pager war zum Leben erwacht. Alarmstufe Alpha. Kurt wusste, was das bedeutete – die Bank. Sie war die einzige Infrastruktur, deren Sicherheitsanlage direkt mit dem automatischen Alarm-Auslösesystem (AAA) der Kantonspolizei verknüpft war. Das Signal ging von der Bank an die kantonale Zentrale und wurde von dort nach einer computerbasierten Analyse auf Echtheit auf den Pager von Kurt Karrer gesandt. Sofort legte Kurt die schusssichere Weste an, die griffbereit an der Garderobe hing, schwang sich in den Polizeiwagen vor seiner Garage, drehte die Sirene an und brauste los. Am Ende des Bödeliwegs hatte er bereits auf 70 Stundenkilometer beschleunigt, schwungvoll bog er auf die Landstrasse ein. Unweit des Nusshofs war er mit 120 Stundenkilometern unterwegs, als die unglückliche Katze auf die Strasse spazierte. Sie war sofort tot. Kurt nahm den Kollateralschaden ohne grosse Regung hin, seine Gedanken waren beim bevorstehenden Einsatz. Er jagte seinen Dienstwagen weiter durch das Dorf, das 19
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seine Wunden des Unwetters leckte. Mit quietschenden Reifen kam der Polizeiwagen in sicherer Entfernung zur Bank zum Stehen. Kurt wusste genau, was zu tun war, oft hatte er diesen Fall in seinem Kopf durchgespielt: So nahe rangehen, dass man sich einen Überblick verschaffen konnte, jedoch flüchtenden Bankräubern nicht sofort in die Hände lief. Den Wagen quer stellen. Dann geduckt aussteigen, mit gezückter Waffe auf Höhe des Vorderrads in Deckung gehen und über die Kühlerhaube spähen. Der weisse Vorhang hinter der grossen Fensterfront schien sich zu regen. Kurt forderte Verstärkung an, dann spähte er weiter auf die Bank. Er konnte keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens ausmachen, doch das hatte nichts zu bedeuten. Die Sirenen der herbeieilenden Kollegen kamen näher. Ohne seine Deckung zu verlassen, wies Kurt die Neuankömmlinge über Funk ein: Alarmstufe Alpha, vermutlich Bankraub, keine Einbruchspuren erkennbar, jedoch verdächtige Aktivität des weissen Vorhangs. Um 18.34 Uhr bildeten vier orange-weisse Polizeiwagen einen Halbkreis vor der Bank. Neun Polizisten waren in Stellung. 18 Augen starrten auf den Vorhang. Doch nichts geschah. Der Vorhang schien sich zu beruhigen. Kurt war sich sicher: Die Ruhe war trügerisch. Er musste jetzt aktiv werden. Er war der erste am Schauplatz, er hatte den Lead. Er stellte sein Funkgerät auf die Aussensprechanlage seines Wagens und begann mit sicherer Stimme zu sprechen: «Die Polizei hat die Bank umstellt. Fliehen ist zwecklos. Ergeben Sie sich mit erhobenen Händen, ver lassen Sie das Gebäude durch den Vordereingang, oder wir dringen ein.» Nichts geschah. Kurt wiederholte seine Auf20
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forderung. Wieder nichts. Mit Handzeichen wies er zwei Kollegen an, ihm zu folgen, während die restlichen sechs Polizisten die Stellung halten sollen. Zu dritt bewegten sie sich aus ihrer Deckung, die Waffe mit zwei Händen vor sich gestreckt. Als sie den Vordereingang erreichten, spähte Kurt seitlich in die Bank. Er konnte nichts Verdächtiges erkennen. Um 19.01 Uhr gab Kurt vorläufige Entwarnung. Der Filialleiter, der schon die längste Zeit aufgebracht hinter den Polizeiwagen hin und hergelaufen war, wurde vorge lassen. In enger Begleitung von Kurt und zwei weiteren Polizisten öffnete er die Eingangstür. Drinnen war alles normal. Das Foyer mit dem Multimat, der Schalter und das Tischchen mit der Zamioculcas und den Vorsorge broschüren – alles ordentlich, so wie der Filialleiter seine Bank verlassen hatte. Während Kurt den weissen Vorhang inspizierte, traf der Servicetechniker der Alarmanlage ein, der sich den Hergang im Detail erklären liess. Schliesslich meinte er leicht zerknirscht, dass es sich nur um einen Fehlalarm handeln könne (was wiederum bemerkenswert sei, denn die Anlage funktioniere in der Regel sehr zuverlässig). Die Polizisten nickten verständnisvoll. Vermutlich war das Unwetter Schuld. Kurt nahm den Befund mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis. Erleichterung spielte dabei nur eine Nebenrolle. Im Vordergrund stand Misstrauen. Konnte es sich um einen Eindringling gehandelt haben, der die Gunst der Stunde während des Unwetters genutzt hatte ? Aber es gab keine Anzeichen. Und so mischte sich Frust zum Misstrauen. Er wäre bereit gewesen für seinen grossen Einsatz. 21
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* Gertrud Conzelmann begann den Tag wie immer: Sie goss Tee auf, setzte sich an das runde Tischchen in der Küche und überflog die Zeitung. Die Musiktherapeutin fühlte sich lebendig und kreativ in diesen Morgenstunden. Sie summte eine Melodie und atmete den Duft des Zeitungspapiers ein, der sich mit jenem des frischen Lavendeltees vermischte. Etwas fehlte. Myria kratzte nicht am Küchenfenster. Dabei tat sie das immer, wenn sie eine Sommernacht im Freien verbracht hatte. Wenn Gertrud sie dann durch das Küchenfenster reinliess, streifte Myria miauend an ihren Beinen, bis Gertrud Trockenfutter und Milch in die kleinen Porzellanschalen am Boden füllte. Selten musste sie nach der Katze mit dem weissen Fell und dem schwarzen Fleck auf dem rechten Auge rufen. Gertrud gehörte zu den Menschen, die Katzen ein soziales Gemüt attestierten und entschieden widersprachen, wenn man behauptete, dass sich deren Sozialität Menschen gegenüber bloss auf die Futtergemeinschaft beschränkte. Nein, M yria und sie waren mehr. Die Katze hatte längst den Mann in ihrem Leben ersetzt, den sie nie gefunden hatte. Seit sie Werni aufgegeben und die kleine Wohnung im Nusshof bezogen hatte, spielte kein Mann mehr eine Rolle in ihrem Leben. Auf dem Nusshof war sie frei. Sie konnte ungestört an ihren Musikexperimenten arbeiten, musizierte mit Klangschalen, Trommeln, Harfe und Flöte, ohne dass Nachbarn sich beschwerten. Auch ihren Kunden (sie redete nie von Patienten) schien die Abgeschiedenheit des Nusshofs gut zu tun. Es waren Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, Depressionen und Burnouts, die sich von Gertruds Klängen zurück ins Leben holen liessen. Sie 22
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liessen sich ermutigen, selber zu trommeln oder an der Harfe zu zupfen, etwas zu riskieren, ohne zu wissen, was dabei rauskam. Das brauchten sie, und Gertrud wusste es ihnen zu geben. Als sie Ihren Tee ausgetrunken und die Zeitung quergelesen hatte, beschloss sie nach Myria zu sehen. Trotz des warmen Wetters wickelte sie sich ein Seidentuch um den Hals und trat auf die Landstrasse hinaus. Sie hatte keine Ahnung, wo sie zu suchen beginnen sollte, also spazierte sie einfach Richtung Dorf und rief immer wieder «Myria!» in die Äcker links und rechts der Landstrasse. Je näher sie dem Dorf kam, desto beunruhigter war sie. Und dann machte sie den grausamen Fund. Auf Höhe der Neubausiedlung lag ein totes Tier mitten auf dem dunklen Asphalt. Gertrud erkannte schon von Weitem, dass es Myria war. Wie in Trance hob sie den starren Körper auf. An den O hren klebte getrocknetes Blut, die Zunge lugte zwischen den eingeschlagenen Zähnen hervor. Nur das Fell war fein wie immer. Sie konnte den Kloss in ihrem Hals nicht schlucken, die Trauer flutete tief aus ihrem Innern heraus. Gertrud weinte bitter und bald lief ihr Schleim aus Nase und Mund, der auf die tote Katze tropfte. Sie nahm ihr Seidentuch und wickelte es um den leblosen Körper. Erst in ihrer kleinen Küche bei einer Tasse Tee konnte sie einen klaren Gedanken fassen. Sie würde für den Rest des Tages alle Therapiesitzungen absagen und sich darauf vorbereiten, Myria zeremoniell mit Klang schalenmusik im Garten zu begraben. Sie wusste, wie wichtig es war, abzuschliessen. Sie hatte einmal eine Kundin, deren Ehemann im Amazonasgebiet verschwunden 23
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und nie mehr gesehen worden war. Die Frau hatte ohne den Leichnam nie zur Ruhe kommen können. Gertruds Klänge hatten geholfen. Jetzt war sie selber die Therapiebedürftige. Als sie sich ins Musikzimmer begab und andächtig an der Harfe zupfte, während sie ein trauriges Lied summte, verspürte sie nur schwachen Trost. In der Neubausiedlung, wo die Häuser Flachdächer hatten, stand Kurt Karrer in seinem Garten und sah sich die Verwüstung des Unwetters an. Dort, wo die Hagel geschosse wie kleine Meteoriten eingeschlagen hatten, gab es kleine Krater im Rasen. Das Wasser im Schwimm becken war getrübt, Laub und sogar ein Ast trieb darin. Carlas Gladiolen waren nicht mehr zu retten und der kleine Bambushain im anthrazitfarbenen Topf war zerfleddert. Nur etwas konnte sich Kurt nicht erklären: Der Rasenmähroboter war verschwunden. Er war aus seiner Garage weggefahren, doch nicht innerhalb des Rasen quadrats zu finden, das er frisch verlegt hatte. Es war ein Rätsel. Nachdenklich begab sich Kurt in sein Arbeitszimmer, er musste den Rapportbericht zum Fehlalarm verfassen. Detailgetreu schrieb er nieder, wie der Alarm auf seinem Pager eingegangen war und er sofort gehandelt hatte. Auch die tote Katze musste erwähnt werden. Als er fertig war, fuhr er auf die Landstrasse und suchte nach dem toten Tier. Er konnte es nicht finden. In der Neubausiedlung war ihm die Katze mit dem weissen Fell und dem schwarzen Fleck auf dem rechten Auge nie be gegnet, vermutlich gehörte sie zum Nusshof. Also begab er sich zum Wohnhaus, wo er sich den Kopf an einem Klangmobile anschlug. Eine Klingel fand er keine. Ihm 24
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war unbehaglich zumute und sein Befinden wurde nicht besser, als die seltsame Künstlerin mit gerötetem Gesicht im Türrahmen erschien. Kurt vermutete, dass ihre kränkliche Erscheinung mit der toten Katze zusammenhängen könnte und so drückte er sich mit Feingefühl und gleichzeitig klar aus. So wie er es in der Polizeischule gelernt hatte, als ein Psychologe einmal erklärte hatte, wie Schicksalsbotschaften an Angehörige übermittelt werden sollten. Es galt, formell zu bleiben und Empathie nur in geringem Masse zuzulassen. Angehörige mussten möglichst schnell über die Situation ins Bild gesetzt werden, auch wenn diese schrecklich war. Als er daher relativ stramm sagte, dass er am Vorabend «an einem Schauplatz in der Nähe in einen vermutlich tödlichen Zwischenfall mit einer Katze ver wickelt gewesen war» und nun «nach dem Kadaver» sehen wolle, prallten seine Worte etwas gar heftig auf das geschwächte Gemüt seines Gegenübers. Gertrud Conzelmann jagte ihn zum Teufel. Über die tote Katze konnte er also nichts mehr in Erfahrung bringen. Doch weil anzunehmen war, dass die Künstlerin sie gefunden und folglich auch entsorgt haben musste, entschied er, das Kapitel in seinem Rapport mit den Worten: «Der Kadaver wurde entsorgt» zu schliessen. Und wieder begab er sich auf die Suche. Diesmal nach seinem verschwundenen Rasenmähroboter. Das Rasenquadrat brauchte er nicht weiter abzusuchen, der Rasenmäher konnte sich darin schlecht verirren. Doch nun fiel Kurt eine Unregelmässigkeit auf. Dort wo der Maschendraht des Nachbars endete und ein schmales Farnbeet die Grenze zwischen den Grundstücken zog, war eine Lücke. 25
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Eine, die vorher nicht dagewesen war, war sich Kurt sicher. Der Nachbar schaute schliesslich peinlich genau darauf, dass sein Reich durchgehend begrenzt war. Kurt schaute sich die Lücke mit detektivischem Instinkt an. Der Farn sah niedergemäht aus. Gleich dahinter zog sich ein Streifen von gleicher Breite quer durch den Rasen des Nachbarn, und dort, wo sein Zwergenland stand, ehe der Sonnenblumenacker begann – ein Gartenzwerg in Stücke zerschlagen! Normalerweise traute sich Kurt nicht, ungefragt das Grundstück des Nachbars zu betreten. Doch jetzt war es ihm egal und er ging entschlossenen Schrittes zum kaputten Gartenzwerg. Konnte es sein? War sein Rasenmäh roboter ausgebüxt und quer durch den Garten des Nachbars gefahren? Auch wenn es Kurt unerklärlich war, es musste so sein. Die Indizien waren eindeutig. Doch wie konnte der Rasenmähroboter die frisch verlegte Aussen begrenzung überwinden? Und wo war er jetzt? Kurt fand keine Antworten und so blieb ihm nur e ines: Er musste die Fährte aufnehmen. Jenseits des Zwergenlands musste der Rasenmäher den Feldweg überquert haben. Seine Fährte verlor sich für einen kurzen Moment, doch Kurt fand sie im angren zenden Acker wieder, da, wo die kümmerlichen Reste des abgeernteten Sonnenblumenfelds standen. Im Meer der ebenmässig abgeschnittenen Pflanzenschäfte gab es e inen Streifen, in dem die braunen Stummel tiefer standen: 3.5 cm hoch. Kurt spähte ans Ende des Ackers. Zu s einem Erstaunen zog sich der Streifen durch das ganze Feld, dabei mussten die kräftigen, beinahe hölzernen Schäfte der Sonnenblumen einigen Widerstand geleistet haben. 26
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Doch die Spur liess keine Zweifel übrig: Sein Rasenmähroboter schien sich mühelos hindurchgefressen zu haben. Dann hörte er Carla von Weitem rufen. Das Abend essen war bereit.
* Inzwischen hatte sich Regenbolz vom Schrecken erholt, auch wenn das Unwetter nach wie vor überall Gesprächsthema war: im Dorfladen, am Stammtisch der Krone und vor allem auf der Bank, wo besorgte Kunden nach der Sicherheit fragten. Gertrud Conzelmann war weiterhin untröstlich. Dass der Polizist mit seiner Beamtenmanier aufgetaucht war, hatte ihr auch nicht geholfen. Immerhin wusste sie jetzt, wer Myria auf dem Gewissen hatte. Gertrud Conzelmann beschloss etwas zu tun, was sie schon länger nicht mehr getan hatte. Sie würde sich ins Dorf begeben und unters Volk mischen. Sie ging los, ohne genau zu wissen, was sie sich erhoffte. Sie wusste um ihren Ruf: Die seltsame Künstlerin, die am Dorfleben nicht teilhatte. Doch sie liess sich nicht beirren und setzte sich mitten an den beinahe voll besetzten Stammtisch der Krone, bestellte einen Fencheltee und bekam einen Pfefferminztee. Allmählich kam ein Gespräch in Gang. Guido der Gärtner beklagte Schäden in der Baumschule wegen des Unwetters und Karl vom S ägewerk erzählte vom Strom, der just dann ausgefallen war, als er ein Rundholz in die Bandsäge eingespannt hatte. Boller, der Eigentümer einer Garage und eines Logistikunternehmens mit 13 stolzen Sattelschleppern, berichtete von Hagelschäden an den Occasionen, die er entlang der Landstrasse zum Verkauf 27
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anbot. Er liess aus zu erwähnen, dass er nur die wertarmen Wagen, die über 200.000 Kilometer auf dem Zähler hatten, draussen stehen gelassen hatte, als er das Unwetter nahen sah. Verkaufen liessen sie sich ohnehin schlecht, da kam der Hagel gerade recht. Die Schäden waren bereits bei der Verbena gemeldet. Und dann klagte Gertrud ihr Leid. Zu ihrem Erstaunen wurde ihr zugehört. Das Mitleid hielt sich in Grenzen, eine tote Katze vermochte die Gemüter nicht allzu sehr zu rühren. Doch Gertrud war nun nicht mehr zu stoppen, mit tränenerstickter Stimme schimpfte sie über den Polizisten. Dann kehrte wieder Stille ein, die nicht mit Betroffenheit zu verwechseln war. Eher nüchtern meinte Guido, dass wohl am Ende auch das Unwetter schuld am Tod der Katze sei, Kurt Karrer müsse bestimmt in Eile gewesen sein, als er zur Bank gerufen wurde. Gertrud liess sich über den sonderbaren Einsatz bei der Bank aufklären und versuchte sich zu erinnern, ob sie eine Sirene gehört hatte. Doch vermutlich war sie an den Instrumenten gewesen und hatte von der Aussenwelt nichts mitbekommen. Auf dem Heimweg kreisten ihre Gedanken. Sie hatte nun ein Bild der Geschehnisse: Offenbar hatte ein Unwetter gewütet, in der Bank war sogar ein Alarm losgegangen. Nur schien sie die einzige zu sein, die durch das Unwetter etwas zu beklagen hatte. Sie fühlte sich vom Schicksal ungerecht behandelt und als sie wieder in ihrer kleinen Küche sass, wandelte sich ihre Trauer in Wut um. Plötzlich wusste Gertrud, was zu tun war. Sie hatte zwar nichts gesehen, doch es war e twas geschehen. Sie nahm den Hörer zur Hand und wählte: 333 444. 28
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Auf der Redaktion des Guck! herrschte Feierabend stimmung. Die meisten Redaktoren waren schon verschwunden und so war es ein Praktikant, der den Anruf entgegennahm. Was er hörte, klang zunächst wie wirres Geschwätz einer Spinnerin. Doch der Praktikant wusste: Hinhören kann sich trotzdem lohnen. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Titelgeschichte mit einem seltsamen Anruf anfängt und nur deswegen ans Licht findet, weil ein Journalist geduldig zuhört und es versteht, die wesent lichen Fakten aus den redseligen Anrufern herauszu bekommen. Dazu natürlich ein paar rührende Details. Je länger er der Anruferin zuhörte, desto mehr spürte er: Das war die Gelegenheit, seinen misslungenen Einstand beim Guck! zu korrigieren. Der Praktikant suchte im nationalen Strassengesetz nach dem Paragraphen, den er brauchte und baute dann seine Notizen zu einem stimmigen Stück zusammen. Der Chefredaktor würde Freude haben, das wusste er.
* Am zweiten Tag nach dem Unwetter konnte der Filial leiter der Bank die Kunden wieder bedienen, ohne Sicherheitsbedenken ausräumen zu müssen. Der Dorfladen pries das Gemüse wieder im Freien an und das Sonnensegel des Ehepaars Wutz wehte nicht mehr am Kirchturm. Die Regenbolzer schenkten nun dem Wetterbericht besondere Aufmerksamkeit. Viele hörten stündlich Radio und gaben das Gehörte weiter, für den Fall, dass es jemand verpasst haben könnte. «Er will Gewitter am Abend», tuschelte es einmal durchs Dorf (es war immer ein Maskulinum, der das Wetter «wollte»). Garteninventar und Autos wurden 29
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sofort untergestellt und auch nicht hervorgeholt, als sich herausstellte, dass «er» sich getäuscht hatte. In den Tagen nach dem Unwetter wollte trotz Gewitterrisiko nicht ein einziger Tropfen auf Regenbolz landen. Noch selten hatte Vincenzo Blaui so viel zu tun. Das Unwetter kam seine Verbena teuer zu stehen, viele Regenbolzer waren seine Kunden. Und alle hatten sie etwas zu beklagen. Doch als er sich eine Kaffeepause gönnte und dabei wie gewöhnlich den Guck! überflog, begriff er, dass es für seinen Schwager noch wesentlich ungemütlicher werden würde. Der hatte es nämlich auf die Frontseite der Zeitung geschafft: In einem kleinen Viereck prangte sein Gesicht. Darüber zeigte ein grösseres Bild die seltsame Künstlerin vom Nusshof. Mit verschränkten Armen stand sie auf der Landstrasse vor ihrem Haus und blickte traurig aber gefasst in die Kamera. Der Titel war in roten Lettern geschrieben: HIER MUSSTE DIE UNSCHULDIGE KATZE STERBEN. Und darunter, diesmal in gelben Lettern, schwarz umrandet: WEGEN DEM RASERBULLEN. Von RASERBULLE zum Kästchen mit Kurt Karrers Antlitz war ein dicker schwarzer Pfeil gezeichnet. Vincenzo begann zu lesen. Gertrud Conzelmann ist untröstlich. Am Sonntagmorgen hatte sie ihre geliebte Katze Myria noch auf dem Schoss – am Abend war sie tot. Zuvor hatte ein Unwetter das Dorf Regenbolz heimgesucht (Der Guck! berichtete), doch das 30
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hatte nur bedingt mit Myrias Tod zu tun. Laut Conzel mann starb ihre Katze, weil ein Polizist während eines un nötigen Einsatzes jegliche Vorsicht vermissen liess. Doch alles der Reihe nach. Gegen 18 Uhr ging bei der ört lichen Polizeistelle ein Notruf ein, weil die Alarmanlage der Bankfiliale losgegangen war. In der Folge rast der dienst habende Polizist K.K. zum Ort des Geschehens. Unweit des Nusshofs hat er seinen Dienstwagen nicht mehr unter Kon trolle – er kann nicht mehr rechtzeitig bremsen, als die Katze mit dem weissen Fell und dem schwarzen Fleck auf dem rechten Auge über die Landstrasse spazieren will. Myria ist sofort tot. Doch der Polizist rast rücksichtslos weiter. Nur um an der Bank festzustellen: Fehlalarm. Das Unwetter mit Hagelkörnern in der Grösse von Tennisbällen musste den Alarm ausgelöst haben. Erst am Folgetag erkundigt sich der Polizist nach der toten Katze. «Er zeigte kein Mitgefühl», so Gertrud Conzelmann, die ihre Myria noch am Tag ihres Todes im Garten bestattete. Die Musikerin kann sich nicht erklären, wie es zum fatalen Zusammenstoss kommen konnte. «Normalerweise fahren die Autos langsam am Nusshof vorbei, denn früher gab es hier viele Tiere.» Tatsächlich herrscht Tempo 50 an besagter Stelle. Eine Limite, die ein Dienstwagen im Einsatz natürlich über treten darf. Dennoch stellt sich die Frage: War der Einsatz gerechtfertigt? Die Polizei war zu keiner Stellungnahme bereit. Man werde dem Fall aber nachgehen und den Rapportbericht aus werten. 31
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«Grundsätzlich können solche Kollateralschäden, so tragisch sie auch sein mögen, immer vorkommen. Bei unseren Einsätzen müssen wir davon ausgehen, dass es um Leben und Tod geht. Wir müssen schnell vor Ort sein», lässt sich die Medienstelle der Polizei zitieren. Doch was, wenn ein spielendes Kind an der Stelle der Katze gestanden hätte? Und was die Polizei auch nicht kommentiert: Es gibt auch für Polizisten im Einsatz Regeln. So liest man im nationalen Strassengesetz, dass Einsatzleute «ihr Gefährt immer den Umständen entsprechend beherr schen müssen». Einen zynischen Beigeschmack erhält die Angelegenheit, wenn man bedenkt, dass es letztlich nicht um Leben und Tod ging – sondern um einen Fehlalarm. Und war der nicht gewissermassen absehbar? Schliesslich gingen auch diverse Autoalarmanlagen in Regenbolz wegen des Unwetters los. Für Gertrud Conzelmann ändert das alles nichts. Sie ist ein fach nur traurig. Doch die Polizei wird Antworten liefern müssen. Hatte Polizist K.K. seinen Dienstwagen unter Kontrolle? Hätte der Vorfall auch schlimmer enden können? «Myria war das treuste Wesen, das mich in meinem Leben je begleitet hat», sagt Gertrud Conzelmann gefasst. Sie weiss nicht, wie es weitergehen soll.
* Bei ihren seltenen Begegnungen war der Nachbar manchmal interessiert, manchmal musternd. Kurt konnte jeweils schlecht erraten, was ihn umtrieb und es war ihm auch egal. An jenem Mittwochmorgen, Kurt machte sich gerade auf den Weg zur Arbeit, stand der Nachbar auf seinem 32
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Vorplatz auf einen Rechen gestützt und sah dem davonfahrenden Kurt nach. Er hatte nicht gegrüsst. Im Rückspiegel konnte Kurt ihn noch eine Weile sehen, immer noch auf seinen Rechen gestützt, musternd. Ob er dahintergekommen war, wer sein Zwergenland zerstört hatte? Kaum. Auf dem Polizeiposten begann Kurt zu dämmern, dass etwas nicht stimmte. Jacques Teckel, der Polizeikommandant, erwartete ihn bereits und kommandierte Kurt nach kurzer Begrüssung in sein Büro. Dort bekam Kurt sein Antlitz zu sehen, zum zweiten Mal an jenem Morgen (er hatte es frühmorgens im Badezimmerspiegel schon zu frieden beim Rasieren betrachtet). Doch nun entdeckte er sein Gesicht auf der Zeitung, die ihm Teckel unter die Nase hielt. Er begann zu lesen. Langsam fügte sich das Bild zusammen. Das Unwetter, der Alarm, die Katze, die seltsame Künstlerin … Als Kurt begriff, schaute er hilfesuchend auf. Doch Teckel machte nur ein ernstes Gesicht und presste die Lippen zusammen. Sein Schnauz wirkte kompromisslos. Die Hoffnung wich aus Kurt. Als er aus dem Polizeiposten trat, fühlte er sich wie aus Gummi und von musternden Blicken verfolgt. Jacques Teckel hatte dann doch noch etwas gesagt: Er hatte Kurt eröffnet, dass man «eine Institution im Auftrag der Öffentlichkeit sei und ihr Rechenschaft schulde.» Kurt war suspendiert worden. Wenngleich nur vorläufig. Carla war nicht zu Hause. Kurt wusste nicht, was er tun sollte. Es war 12 Uhr mittags, die Sonne stand hoch und 33
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legte eine bleischwere Hitze über das Dorf. Normalerweise wäre er jetzt auf Streife, seine Pflichten würden ihm den Tagesablauf regeln: Um 18 Uhr würde er nach Hause kommen, würde mit Carla Abendessen, zu Bett gehen und am nächsten Tag würde er das Gleiche tun. Mittwoch, Donnerstag, Freitag und dann Erholung, ausser bei Dienst am Wochenende. Doch nun war alles durcheinander kommen. Kurt fühlte sich, als würde er auf offenem Ozean treiben, kein Land in Sicht. Sein Blick ging über den Garten, hinüber zum Grundstück des Nachbarn. Ein neuer Zwerg stand im Zwergenland, die Lücke im Farn war unverändert. Er liess eine Notiz für Carla auf dem Küchentisch und betrat den Garten. Die Regenbolzer hielten sich an jenem heissen Nachmittag in ihren kühlen Häusern auf und so war es Kurt gerade recht, dass ihn niemand auf den abgeernteten Sonnenblumenacker hinaustreten sah. Er nahm die Fährte wieder auf. Die Spur des Rasenmähers war immer noch deutlich zu sehen. Kurt machte sich gar keine Gedanken, was er zu tun oder zu erwarten hatte. Er folgte einfach der Spur. Wenn sie enden sollte, würde er weiterschauen, was zu tun ist. Doch würde sie je enden? Natürlich würde sie das, dem Rasenmähroboter musste irgendwann der Strom ausgegangen sein. Gleichwohl war es erstaunlich, dass er überhaupt verschwinden konnte, es war unerklärlich. Kurt stand mitten im Sonnenblumenacker und sah sich um. Die Sonne brannte und in der bodennahen Luftschicht staute sich die Wärme. Das Dorf lag hinter ihm. Vor ihm die Schneise seines Rasenmähroboters, deren Ende er noch immer nicht abschätzen konnte. Einen Moment zweifelte er, doch dann war die Richtung klar. Der ungelöste Fall lag vor ihm, während hinter ihm nur die Probleme lauerten. 34
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Er hatte keine Lust darauf, seine Suspendierung Carla zu erklären und den Blicken des Nachbarn auszuweichen. Als er nochmals nach dem Dorf sah, dessen Häuser eng beisammenstanden, musste er an das Zwergenland denken. Am anderen Ende des Sonnenblumenackers angekommen, waren seine Gedanken nur noch beim Rasenmäher. Die Spur verlief hier durch einen Streifen mit hohem Gras, ehe ein Mergelweg folgte, dann kam wieder hohes Gras und schliesslich der lichte Wald. Kurt war sich bewusst, dass die Ermittlungen jetzt in die schwierige Phase über gehen würden – die Spur würde sich im lichten Wald bestimmt verlieren. Er war gefasst. Bevor er den Wald betrat, prüfte er anhand der tief stehenden Sonne seinen Kurs: Er ging direkt nach Osten. Schon sah er die sauber abgeschlagenen Brombeersträuche am Waldrand. Also hatte der Rasenmäher seinen Ostkurs beibehalten. Kurt ging weiter. Die Spur verlor sich keineswegs, es gab niedergemähte Moospolster, Pilze ohne Hüte und stets die abgemähten Gräser zwischen den lichtstehenden Bäumen. Einmal schien die Spur an einer Wurzel zu enden, die zu einem stolzen Baum gehörte. Doch da war kein Rasenmähroboter weit und breit. Nach genauerer Inspektion folgerte Kurt, dass der Rasenmäher weitergefahren sein musste, nachdem er offenbar die Wurzel gerammt hatte (das verrieten tiefe Kerben im Holz). Die Sonne war längst untergegangen. Kurts Augen hatten sich an die Dunkelheit angepasst, doch allmählich fiel es ihm schwerer, die Spuren des Rasenmähers zu entdecken. Sein Handy surrte. Carla. Kurt überlegte, ob er rangehen sollte. Was sollte er ihr sagen? Dass er im Wald stand und 35
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nach dem Rasenmäher suchte? Sie würde ihn für verrückt halten, sie würde meinen, die Suspendierung habe ihn in den Wahnsinn getrieben. Er entschied sich, nicht ranzu gehen. Stattdessen legte er sich in den weichen Waldboden. Während seine Lider schwer wurden, fühlte er sich eins mit dem Wald. Er fiel in einen tiefen Schlaf. Als Kurt im feuchten Waldboden erwachte, glitzerte Tau, dort, wo Sonnenstrahlen durch das Laubdach den Weg ins Unterholz fanden. Die Welt war in Ordnung. Kurt fühlte sich eins mit dem Wald. Er liess sich auch nicht davon beunruhigen, dass sein Handy keinen Strom mehr hatte. Er empfand es geradezu befreiend. Der Rasenmäher konnte nicht mehr weit sein, Kurt nahm die Fährte wieder auf. Als er nach einer Weile die Sonne im Nacken spürte, schaute er auf und erkannte, dass gar kein Laubdach mehr über ihm war. Er hatte den Blick so sehr auf den Boden gerichtet gehabt, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass der Wald endete. Die Lichtung, auf der er sich nun wiederfand, lag auf einem sanften Hügel. Wenige Gräser und Farne wuchsen aus dem mehrheitlich felsigen Boden. Einige Meter entfernt stand eine einsame Föhre. Danach folgte nichts mehr. Ein Abgrund musste sich dort auftun, vermutete Kurt, während er sich vorsichtig zur Föhre wagte. Tatsächlich. Vor ihm ging es rund 50 Meter senkrecht in die Tiefe, darunter folgte eine steile Geröllhalde und dann wieder Wald. Ein Blick zurück verriet, dass der Rasenmäher sich noch durch die ausdünnenden Gräser gefressen hatte, dann musste er an der Föhre vorbeige fahren – und abgestürzt sein. Kurt hielt nach Trümmerteilen am Wandfuss Ausschau. Er konnte nichts erkennen. Doch der Fall schien gelöst. Eine seltsame Gefühlsmischung 36
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überkam ihn. Als ob hier eine Reise endete. Er empfand Leere und einen Anflug von Angst, wenn er an die Rückkehr nach Regenbolz dachte. Gleichwohl war da Zufriedenheit, er hatte die Zeit im Wald gemocht und dabei seine Sorgen im Dorf schon fast vergessen. Just als er sich umkehren wollte, spürte er, wie sich der Boden zu lösen begann, dort wo er den rechten Fuss nahe an den Abgrund gestellt hatte. Im nächsten Moment brach die Grasnarbe weg, auf der er gestanden hatte, und verschwand in der Tiefe. Kurt reagierte blitzschnell, ver lagerte sein Gewicht auf das linke Bein und griff nach der Föhre. Doch er bekam nur ein loses Stück Rinde zu fassen. Den Bruchteil einer Sekunde kämpfte Kurt Karrer noch um sein Gleichgewicht. Dann stürzte er der Grasnarbe hinterher. In die Tiefe.
* Carla war in heller Aufregung. Nachdem sie Kurt nicht hatte erreichen können, hatte sie die Nummer ihres Bruders gewählt. Der hatte gemeint: abwarten. Gewiss sei die Zeitungsgeschichte ein Schock für Kurt, wahrscheinlich traue er sich nicht, sich zu zeigen. Das sei ja auch verständlich, wenn man bedenke, wie sehr er sich mit seinem Beruf als Polizist identifizierte und jetzt in dieser Funktion eine, «nun ja, nicht die beste Figur», abgegeben habe. So hatte er es gesagt. Carla hatte wütend aufgelegt. Ihr Bruder schien den Ernst der Lage nicht zu begreifen. Seit 18 Stunden hatte sie Kurt nicht gesehen. Natürlich hatte sie den Zeitungsartikel gelesen und sich ausgemalt, dass er Kurt in seinem Stolz getroffen hatte. Jetzt war es Morgen, von Kurt noch immer keine Spur. 37
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Sie rief auf dem Polizeiposten an und wurde mit dem Kommandanten Teckel verbunden. Dieser hörte aufmerksam zu und erläuterte dann, dass Kurt suspendiert worden war, wenngleich nur vorläufig. Er liess sich nicht anmerken, dass in ihm eine leise Begeisterung aufkeimte, wie er sie immer empfand, wenn sich Dramen andeuteten. Er sagte nicht, dass das schlecht aussah, als er Carlas Erzählung von Kurts Verschwinden lauschte. Ein schicksalhaftes Erlebnis, zum Beispiel Jobverlust, und daraufhin plötzliches Verschwinden der Zielperson – das klang nach Suizid. Meistens hinterliessen die Menschen dann Nachrichten, welche nichts Böses vermuten liessen, das gab ihnen Zeit. Sie schrieben «Bin noch am Joggen», dabei legten sie sich auf Gleise. «Und Sie sagen, er habe eine Nachricht hinterlassen, dass er nach dem Rasenmäher sehe?», vergewisserte sich Teckel, ehe er auflegte. Dann setzte er sich in seinen Dienstwagen und fuhr zur Neubausiedlung. Jacques Teckel spürte, dass er gebraucht wurde. Er wollte alles genau wissen: Wann war Carla nach Hause gekommen? Wann hatte sie die Notiz entdeckt? Was war mit dem Rasenmäher vorgefallen? Wo konnte der sein? Deutete irgendetwas auf eine seelische Krise hin? Gab es bereits früher Krisen in Kurts Leben? Als Carla längst dämmerte, in welche Richtung die Vermutungen gingen, sagte Teckel mit ernster Miene, in aller Klarheit und ohne Empathie zuzulassen: «Der Verdacht besteht, dass die Zielperson wegen eines schwer zu verkraftenden Ereignisses sich etwas antun könnte oder dies bereits getan hat. Daher nehmen wir offiziell eine Fahndung auf.» 38
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Jenseits des Maschendrahtzauns wurde die Szene beobachtet. Der Nachbar machte sich seine Gedanken: Zuerst die Geschichte im Guck! und nun war Kurt Karrer offenbar verschwunden. Nicht dass er die fünfzig Franken nötig gehabt hätte, doch ihm schien, die Öffentlichkeit habe einen Anspruch darauf, über die Entwicklung etwas zu erfahren, die sich bislang nur ihm erschloss. Sehr wahrscheinlich war etwas geschehen. Der Nachbar wählte: 333 444.
* Der erneute Anruf aus Regenbolz, der beim Guck! einging, wurde zur Chefsache erklärt, denn die Geschichte um K.K. gestaltete sich überraschend, tragisch sogar. Und so lernte der Praktikant, dass der Guck! auch die Klaviatur der scheinbaren Zurückhaltung beherrschte, gleichzeitig aber alle Bedürfnisse der Sensationslüsternen befriedigen und gekonnt öffentliches Interesse vortäuschen konnte, wo keines war. Wo zuvor noch RASERBULLE gestanden hatte, redete man jetzt nur noch von POLIZIST. Das Layout war schlicht und schwarz-weiss gehalten, die Augenpartie von K.K. übermalte man mit einem schwarzen Balken. Auf der Titelseite stand: TRAGISCHE ENTWICKLUNG IM FALL REGENBOLZ: POLIZIST K.K. VERSCHWINDET, NACHDEM ER EINE KATZE TOTGEFAHREN HATTE – HAT ER SICH ETWAS ANGETAN? Damit wusste ganze Regenbolz über Karrers Suspendierung Bescheid. Alle rechneten damit, dass in den nächsten Tagen die Leiche gefunden würde. Doch in keiner Scheune 39
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hing ein Erhängter. Und die Zugführer vermeldeten auch keinen Toten auf den Gleisen unweit von Regenbolz. Der Guck! fragte dennoch: WAS HAT SICH POLIZIST K.K. ANGETAN? und lieferte einen Hintergrundbericht zu berufsbedingten Suiziden. Der Fall eines berühmten Managers wurde als Vergleich herbeigezogen, den angeblich die schlechten Quartalszahlen in den Freitod getrieben hatten. Oder jener des berühmten Langstreckenläufers, der vermutlich wegen Verdachts auf Doping Selbstmord begangen hatte. Zur Quintessenz, dass Kurzschlusshandlungen oft im Berufsleben ausgelöst werden, wurde ein Arbeitspsychologe befragt. Der sagte: «Die meisten Menschen sind leider gut darin, eine Fassade zu wahren, wo man nicht dahinter sieht. Für Aussenstehende ist es schwierig, im richtigen Moment zu handeln. Doch wer aufmerksam ist, sollte die Anzeichen erkennen.» Carla begann sich zu sorgen.
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2 Das Schwert 16. Juli 1986 Frühmorgens ging ein Notruf auf der Zentrale der über regionalen Feuerwehr in Niederbolz ein. Ein jugendlicher Anrufer berichtete um 5.30 Uhr, dass der Huberhof ausser halb von Regenbolz in Flammen stehe. Die Zentrale bot sofort die Regenbolzer Freiwilligenfeuerwehr auf. Es dauerte lange 35 Minuten, bis diese vor Ort war, denn die ehrenamt lichen Brandlöscher waren alle schon unterwegs zur Arbeit. Sie waren Sanitäre, Maler, Gipser und Metzger und muss ten sich zuerst auf die aufregende Programmänderung ihres Tages einstellen. Als das erste Löschfahrzeug an der Brandstelle war, machte sich Kommandant Ernst Läubli ein Bild der Lage: Hof in Flammen, Brand weit fortgeschritten, keine Menschen an Fenstern ersichtlich. Dann suchte er nach einem Hydranten. Er fand keinen in unmittelbarer Nähe. Also studierte er die Karte, die ihm gezeigt hätte, wo die Hydranten lagen, wenn er in der Hitze des Gefechts nicht vergessen hätte, dass Norden oben ist. Derweil wüteten die Flammen weiter. Die freiwilligen Feuerwehrmänner waren zwar mit der grossen Leiter angerückt, doch ohne Wasser konnten sie nicht viel ausrichten. Als der Kommandant seinen Fehler bemerkte und den nächstgelegenen Hydranten, der rund einen halben Kilometer entfernt lag, ausmachen konnte, sandte er ein Fahrzeug mit Schläuchen hin. Schnell stellte sich heraus, dass die Schlauchmeter nicht reichen würden, um vom Hydranten bis zum brennenden Hof vorzudringen. Kom 41
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mandant Läubli bat bei der Zentrale um Unterstützung. Dort dämmerte es dem Einsatzleiter, dass er besser die Berufsfeuerwehr geschickt hätte, die zwar vom Stützpunkt Niederbolz eine längere Anfahrt gehabt, die Sache aber vermutlich schneller in den Griff bekommen hätte. Um 6.27 Uhr, eine Stunde nach Eingang des Notrufs, waren die Berufsfeuerwehrmänner auf Platz und griffen den Ehrenamtlichen unter die Arme. Schlauchmeter gab es jetzt genug, dennoch ereignete sich eine weitere Panne, während die Flammen ungebremst den Huberhof verschlangen. Als es nämlich darum ging, den Schlauch am Hydranten an zuschliessen, bekundete der freiwillige Feuerwehrmann Moser, der in seinem regulären Beruf Metzger war und die besten Cordon-Bleus weit und breit zubereitete, einige Mühe. Er hatte das noch nie gemacht. «Das Wasser ist unterwegs?», erkundigte sich Komman dant Läubli durchs Funkgerät. Moser funkte gelassen zurück: «Kommt gleich.» Er war ein kräftiger Mann, der von Frauen regelmässig gebeten wurde, Konfitüregläser für sie zu öffnen. Er konnte unmöglich eingestehen, dass ihm die Schlauchkopplung nicht gelingen wollte. Nach einigem Tüfteln sass der Schlauch seinem Befinden nach ordentlich am Hydranten. Er drehte zufrieden auf und das Wasser schoss mit 15 Bar in den Schlauch. Moser wollte den Erfolg gerade durchs Funkgerät vermelden, als er ein leises Zischen vernahm. Im nächsten Moment wurde der Schlauch weggeschleudert und traf Moser in den Unterleib. Der gelernte Metzger war sofort k.o. Wieder erkundigte sich Kommandant Läubli über Funk, wo das Wasser bleibe und als Moser nicht antwortete, wurde 42
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ein weiterer Mann zum Hydranten gesandt. Dieser fand den bewusstlosen Moser und wusste nicht, was nun zu tun war. Sollte er sich zuerst um Moser kümmern oder um den Schlauch? Er funkte Kommandant Läubli an, der darauf hin einen persönlichen Machtkampf mit dem Kommandan ten Suter von der Berufsfeuerwehr führte. Beide Komman danten hatten die Frage empfangen, beide antworteten zeitgleich. Es war nicht ganz klar, wer nun das Sagen hatte. «Wasser, sofort Wasser anschliessen. Ihr Kollege und sein Nickerchen interessieren mich einen Dreck!», brüllte der Berufsfeuerwehrkommandant. «Moser in Ohnmacht? Sofort erste Hilfe leisten!» brüllte Freiwilligenfeuerwehrkomandant Läubli. Weil beide gleichzeitig sprachen, knisterte es beim Hyd ranten nur noch aus dem Funkgerät, wo Moser langsam wieder zu sich kam. Er hatte heftige Unterleibschmerzen. Um 6.58 Uhr, rund eineinhalb Stunden nach Eingang des Notrufs, floss das Wasser und wurde kräftig auf den bren nenden Hof geschossen. Gegen 8 Uhr konnten die Feuer wehrmänner vorsichtig die Brandruine betreten und nach Opfern Ausschau halten. Als stark verkohlte Leichenteile gefunden wurden, kam der schreckliche Verdacht auf: Fami lie Huber – Vater Meinrad, Mutter Ines, Tochter Maria und Sohn, ebenfalls Meinrad – war Opfer der Flammen geworden. «Vermutlich vier Todesopfer», sagte Suter mit ernster Miene zum Regenbolzer Polizeikommandanten Werner Zeller, der inzwischen mit einem Hilfspolizisten angerückt war. «Vermutlich verbrannt», schob Läubli nach, damit er auch etwas gesagt hatte. 43
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Der Hilfspolizist machte eifrig Notizen. Zeller war wie versteinert. Er wirkte, als hätte ihn die schreckliche Botschaft ausser Gefecht gesetzt. «Sollen wir die Spurensicherung beiziehen?», fragte sein Hilfspolizist. «Nein …, äh ja, doch. Tun Sie das!» Zeller klang planlos. Während alle den Blick sorgenvoll zur Brandruine gerichtet hatten, spazierte Zeller plötzlich auf den Acker hinter dem Hof, auf dem allerlei Unkraut wucherte. Mittendrin stand ein Mähdrescher, der hinter sich eine Schneise niedergemäht hatte, so als ob jemand versucht hatte, die Wiese niederzumähen und mittendrin wieder aufgehört hatte. Zum Unverständnis aller Anwesenden schritt Zeller gemächlich der Schneise entlang zum Mäh drescher, als ginge ihn der Brand nichts an. Nach einer Stunde bestätigte die Spurensicherung, dass sich die Reste verbrannter Leichen dort befanden, wo laut dem Bauplan des Hauses die Schlafzimmer gestanden hatten. «Dann sind sie vermutlich nachts vom Feuer überrascht worden und in den Betten verbrannt», folgerte Freiwilligen feuerwehrkommandant Läubli. «Das würde mich überraschen», entgegnete der Spuren sicherer. «Normalerweise entdecken die Leute das Feuer wegen Rauch oder Lärm und versuchen zu fliehen. Ich habe es noch nie erlebt, dass jemand tatsächlich im Schlaf verbrannt ist.» «Dann heisst das, sie lagen schon tot in ihren Betten?», fragte der Hilfspolizist. «Wohl eher.» «Was können Sie über die Brandursache sagen?» 44
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«Sieht so aus, als wäre das Feuer in den drei Schlaf zimmern gleichzeitig ausgebrochen.» «Was bringt Sie zu der Annahme?» «Das konzentrische Brandmuster. Wäre das Feuer an nur einem Ort ausgebrochen, würde die Brandruine rund um den Brandherd einen zunehmenden Zerstörungsgrad aufweisen. Das ist hier eher nicht der Fall, so auf den ersten Blick.» Läubli konnte nicht mehr folgen, Suter nickte mit ernster Miene. Der Hilfspolizist fragte: «Also Brandstiftung?» «Davon gehe ich aus. Hätten die Löscharbeiten noch länger gedauert, wäre jetzt alles Rauch und Asche und es gäbe gar nichts mehr zu ermitteln», entgegnete der Spuren sicherer leicht vorwurfsvoll. Läubli und Suter warfen sich verächtliche Blicke zu. «Denken Sie, wir haben es mit mehr als nur einem ge wöhnlichen Brand zu tun?», wollte der Hilfspolizist wissen. In seiner Stimme war leichte Begeisterung zu hören. In diesem Moment kam Zeller aus dem Acker zurück. «Sehr wahrscheinlich Brandstiftung, vier Opfer in den Schlafgemächern, die Leichen sind fast vollständig ver brannt, mit hoher Wahrscheinlichkeit die vierköpfige Familie Huber, die hier wohnte. Sie waren vermutlich nicht durch das Feuer getötet worden, sondern vorher schon tot», fasste der Hilfspolizist aufgeregt zusammen. Zeller schwieg. Nach einer Weile fuhr der Hilfspolizist vorsichtig fort: «Möglicherweise haben wir es mit einem Vierfachmord zu tun, dessen Spuren durch das Feuer verwischt werden sollten.» 45
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«Vierfachmord? Blödsinn!», schnauzte Zeller nun plötz lich hellwach. «Wer sollte so etwas tun, hier in Regenbolz?» Auf diese Frage hatte der Hilfspolizist zwar keine Ant wort. Doch er fand, dass sich Zeller seltsam verhielt. Versagte sein sonst so sicherer Vorgesetzter ausgerechnet jetzt, im Ernstfall, der ernster nicht sein konnte? Konnte er das Böse nicht wahrhaben, weil es zugegebenermassen unfassbar war? «Ich will, dass niemand irgendetwas nach Aussen kom muniziert, solange wir nicht eine Idee haben, was hier genau geschehen ist», befahl Zeller, als hätte er die Sicherheit wiedergefunden. «Es tut jetzt jeder, was er zu tun hat, damit wir eine ungefähre Ahnung haben, wenn in ein paar Stunden die Presse Wind bekommen wird.» Damit scheuchte er den Spurensicherer und die beiden Feuerwehrkommandanten weg. Das verschaffte ihm Zeit. «Was haben Sie dort draussen gesucht?», wollte sein Hilfspolizist wissen und nickte zum Mähdrescher. «Nichts», log Zeller. Er behielt die Blutspuren für sich. Er war der Einzige, der das Rätsel entschlüsseln konnte. Doch zuerst musste er herausfinden, welche Rolle er selber darin spielte.
* Eigentlich wollte der Praktikant, der Max Aeschlimann hiess, die grossen Übeltäter jagen: illegale Steuerdeals von hochrangigen Politikern aufdecken oder Banken ent larven, wenn sie in Minen investierten, die Menschenrechte und Umwelt mit Füssen traten. Das zählte etwas in den Kreisen, in denen er sich bewegte. Was ihm auch gefiel: Die Demokratie retten und dem rechten Populismus die Stirn bieten. Die Welt lag ihm zu Füssen, war er sich 46
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s icher. Mit einem durchschnittlichen Bauerndorf wollte er nichts zu tun haben. Doch nicht Zürich, Berlin oder New York sollten auf ihn warten. Sondern Regenbolz. Das Redaktionsgebäude des Guck! war ein moderner Glasbau mit einer Grundkonstruktion aus Holz, mitten in Zürich. Ein findiger Architekt hatte dabei «die weltweit ersten und einmaligen Verbundelemente aus Buchenholz, weder geschraubt noch geleimt, verwendet.» Das hörte Aeschlimann immer wieder, wenn kleine Grüppchen interessierter Rentner, die so gar nicht nach der Leserschaft des Guck! aussahen, eine Architekturführung im Haus ge nossen. Die Mienen der architekturinteressierten Rentner schwankten dann zwischen Begeisterung und Missbilligung und schienen zu bedeuteten: Eine Schande, dass in einem architektonisch derart wertvollen Gebäude eine derart schäbige Zeitung gemacht wird. Das Gebäude wurde 2016 gebaut und hatte stattliche 65 Millionen Franken gekostet, eigentlich eine Summe, die sich kein Verlagshaus in Zeiten, in denen Auflagen schwanden, Abonnenten fehlten, der Werbemarkt eingebrochen und die Vermarktung von Information im Internet gescheitert war, leisten konnte. Doch der Guck! war immerhin die grösste Tageszeitung des Landes und der Verlag, der ihn herausbrachte, betrieb noch eine Partnerbörse, ein Internetportal für Luxuswohnungen und ein Autoportal, die alle im Glasbau mit den Verbundelementen aus Buchenholz angesiedelt waren. Sie sicherten längst das Einkommen des Verlags, während der Guck! zu einem traditionsreichen Relikt wurde, das man aus wirtschaft licher Sicht nur noch am Leben erhielt, um zu erpröbeln, 47
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inwiefern man Werbung als Nachrichten tarnen und damit Geld verdienen konnte. «Commercial Publishing» war das Stichwort, womit Zeitungen zwar kurzfristig Geld verdienten, langfristig aber ihren letzten Funken Glaubwürdigkeit verspielten. Da der Guck! so weit wie möglich selber zu seinem Überleben beitragen musste, war der Zeitung ein gnadenloser Sparkurs verhängt worden. Das bedeutete unter anderem, dass es im Newsroom keine Abfalleimer, dafür verstaubte Ablagen und von Schmutz getrübte Fenster gab. Die Putzequipe war abbestellt worden und der Müll musste an einer zentralen Stelle entsorgt werden. Tische wurden enger zusammengerückt, Kleiderständer und Ablageflächen wurden abgeschafft. Der Newsroom glich einer Abflughalle, in der Touristen gestrandet waren. Aber von aussen sah der Holz-Glasbau nett aus. Am ersten Tag seines Praktikums wurde Aeschlimann ins Büro des Chefredaktors gerufen. Gianni Degen war ein Mann Mitte fünfzig, der zwar ergraut war, jedoch nicht die Besonnenheit ausstrahlte, die man von einem Chef redaktor erwarten durfte. Aeschlimann konnte es nicht eindeutig benennen, doch irgendetwas war schmierig an Gianni Degen. «Sex ohne Gummi», sagte der Chefredaktor geheimnisvoll, während er mit zweihundert Franken in bar herumwedelte. «Tripper ist auf dem Vormarsch, wir haben Statistiken des Bundesamts für Gesundheit, die das be legen. Nun wollen wir die Familienväter aufsuchen, die sich am Wochenende eine kleine Nummer ohne Hut auf dem Johannes gönnen und den Käfer dann zu Hause der Frau übertragen.» 48
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Er fand sichtlich Gefallen an seiner Formulierung. Degen war ein blumiger Redner, wie Aeschlimann im Laufe seines Praktikums erfahren sollte. Er sprach gerne von der Aufgabe des Journalismus als vierte Gewalt. «Wir sind es, die das Schwert der Wahrheit führen», sagte er dann immer. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hing ein Schwert. Bei genauerer Betrachtung fiel Aeschlimann auf, dass es kein Schwert war – sondern ein Degen. Der Degen der Wahrheit. Es gab noch mehr Symbolträchtiges in Degens Büro. Ein eingerahmtes Zitat aus der US-Serie House of Cards, stach Aeschlimann ins Auge: «Was ich an den Menschen mag? Sie sind so leicht zu manipulieren.» – Frank Underwood «Und was soll ich tun?», fragte Aeschlimann. «Unsere Recherchen finden immer mittendrin statt. Du wirst wenig herausfinden, wenn du bei den Prostituierten anrufst und nett fragst, ob sie Sex ohne Gummi an bieten. Es ist nämlich verboten. Die Recherche erfordert also etwas Eigenengagement, verstehst du?» Er drückte ihm die zweihundert Franken in die Hand. «Ich soll ins Puff gehen und Sex ohne Kondom ver langen?» «So ungefähr. Versuch einfach etwas herauszufinden. Bleib beharrlich. Wenn sie ablehnen, stellst du einen höheren Preis in Aussicht. Natürlich musst du nichts machen, was dir nicht beliebt. Nur fragen. Klar?» Aeschlimann prüfte die Tripper-Statistiken vom Bundesamt für Gesundheit, sie stammten aus dem Jahr 2014. Jetzt war 2017, die waren also nicht gerade aktuell und es war 49
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auch nicht so, dass die Tripperfälle eine steil nach oben steigende Kurve zeigten. Samstagabend ging er in die Kiki-Bar im Zürcher Rotlichtviertel. Er bestellte ein Bier an der Bar und sah sich beiläufig um. Er konnte keine Familienväter ausmachen. Auf einer schwach beleuchteten Bühne tanzte eine Frau. Als er sein Bier ausgetrunken hatte, fragte er den Bar keeper, ob es hier so etwas wie ein Hinterzimmer gebe (er hatte keine Ahnung, wie das in einem Bordell läuft). Doch offenbar war die Kiki-Bar gar kein Bordell, sondern eben nur eine Bar (mit einer Nackttänzerin) und so sagte der Barkeeper laut und deutlich: «Du willst bumsen, Junge?! Da musst du schon ein Haus weiter gehen!» Peinlich berührt schlich sich Aeschlimann aus der K iki-Bar, betrat die Safari-Bar nebenan und hoffte, dass das nicht auch «nur eine Bar» war. Aber in der Safari-Bar gab es einen Eingangsbereich mit Bildern von Frauen in unmissverständlichen Posen. Schon wurde er von einer ä lteren Frau mit schwarz gefärbten Haaren und markant geschminkten Augenbrauen in Empfang genommen. «125 Franken für 30 Minuten, dazu gibt es ein Glas Champagner.» «Wozu?», fragte er etwas perplex, obschon er die Antwort kannte. «Na zu deinem Rendezvous mit einem meiner hübschen Mädels. Ich habe asiatisch, italienisch, spanisch und portugiesisch gerade frei …» Aeschlimann sah drein, als könnte er ihr nicht folgen, jedenfalls fügte sie an: «… der Champagner stammt aus Frankreich.» 50
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So landete er auf einem Zimmer mit einem Glas Champagner und einer Asiatin, darauf bedacht, seine Frage zu stellen und wieder zu verschwinden. Die Asiatin verneinte. Als er den Preis steigerte, verliess sie wortlos das Zimmer und kam mit der Puffmutter zurück, welche ihm derart eine klebte, dass ihm der französische Champagner aus den Fingern flog. Er wollte nicht aufgeben, er musste mit einem Resultat nach Hause. Also versuchte er es beim Roten Ochsen, dort wurde er mit einer Russin in ein Zimmer gesteckt (ohne Champagner) und auch dort hatte er keinen Erfolg, wenngleich er keine gefangen bekam. Doch die Russin verneinte auf Deutsch und sagte dann etwas auf Russisch, das ziemlich ungehobelt klang, noch ungehobelter als Russisch ohnehin schon klingt. Vermutlich war es ein Fluch. Aeschlimann unternahm einen letzten Versuch in einem Schuppen, der sich Supernova nannte, wobei er gar nicht erst auf ein Zimmer gebracht werden wollte, stattdessen seine Frage schon beim Empfang deponierte und unter wütenden Beschimpfungen wieder kehrt machte. Dann ging er entnervt nach Hause. Mit der wachsenden Gewissheit: «Sex ohne Gummi» war eine Erfindung des Guck!. Tripper hin oder her. Am Montagmorgen frohlockte Degen vor versammeltem Ressort: «Unser neuer Praktikant hat sich dieses Wochenende unter Einsatz von Leib und Seele in eine prickelnde Recherche aus dem Rotlichtmilieu geworfen». Wobei er «Leib» betonte, «prickelnd» und «geworfen». Dann erklärte er die Ausgangslage und wollte das Resultat hören. 51
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«Nun ja …», sagte Aeschlimann, «… der Verdacht lässt sich leider nicht bestätigen. Ich habe mir ernsthaft Mühe gegeben, aber die Prostituierten lehnten alle entschieden ab.» «Soso …», entgegnete Degen. «Ernsthaft Mühe ge geben und dennoch kein Resultat, was hast du denn ge trieben?» Die anderen am Tisch lachten. Aeschlimann versuchte etwas zu entgegnen, doch Degen wollte sich nicht länger mit seinen Erklärungen aufhalten. «Tja, dann muss wohl ein anderer ausrücken. Die Tripper-Statistiken sind eindeutig. Ich will, dass wir diese Story hartmachen.» Mit diesen Worten setzte er einen der fest angestellten Reporter auf die Sache an. Eine Woche später titelte der Guck!: TRIPPER AUF DEM VORMARSCH AUSLÄN DISCHE PROSTITUIERTE BIETEN SEX OHNE GUMMI AN – GESCHLECHTSKRANKHEITEN EXPLODIEREN. BUNDESAMT FÜR GESUNDHEIT IST ALARMIERT! Aeschlimann befand sich danach auf dem Abstellgleis – er hatte den Eintrittstest zum erlesenen Kreis von Gianni Degens Wahrheitsrittern gründlich vermasselt. Tagein tagaus lungerte er auf der Redaktion herum, drehte in seinem Bürostuhl Runden und lauschte den Architekturführungen mit den Rentnern. Einerseits hatte er sich nichts vorzuwerfen. Er würde seine journalistische Kar riere nicht ankurbeln, indem er die Wahrheit verdrehte. 52
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Er wollte Journalist werden, um Fakten sprechen zu lassen – nicht, um sie zu erfinden. Andererseits hatte er das seltsame Bedürfnis, Degen zu zeigen, zu was er fähig war. Und so kam es, dass er sich von seinen schönen Idealen weit entfernte, als Gertrud Conzelmann aus Regenbolz anrief. Die Geschichte, die er daraus machte, war eine Mischung aus heimlicher Belustigung und spekuliertem Skandal: Eine schräge Schraube beklagt ihre tote Katze (Wen interessierte das schon?), doch plötzlich kam der R aserbulle ins Spiel (Das interessierte jeden!). An Konsequenzen dachte er nicht. Wer hätte auch erahnen können, welchen Lauf die Sache nehmen würde? Hatte der Polizist sich am Ende tatsächlich etwas angetan, weil er, Aeschlimann, ihn blossgestellt hatte? Das war eine schwer ertragbare Vorstellung. Und was es auch nicht besser machte: Gianni Degen hatte Freude. Seine Lobesworte erzeugten in Aeschlimann ein Gefühl des Verrats. An der Wahrheit. Und an sich selber. Dass er Journalist werden wollte, hatte er erst spät be griffen. Als Aeschlimann nach dem Gymnasium aus der Schule purzelte, mitten ins echte Leben, war er orientierungslos gewesen. Er ging zur Studienberatung, wo man ihm Jura, Psychologie oder Geologie empfahl und mit den besten Wünschen für seine Zukunft verabschiedete. Er entschied sich für Erdwissenschaften. In sechs anstatt fünf Jahren schloss er das Studium ab. Er mochte die Vulkane, die versteinerten Muscheln, die Kiesgruben und seine Mitstudenten. Nach dem Studium begann er bei einer Baufirma zu arbeiten. Seine Aufgabe bestand im Wesentlichen 53
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darin, mit Baggerführern Löcher zu graben. Dann musste er Profile des Untergrunds erstellen, die aussagen sollten, ob der Boden als Baugrund taugt und wo die Schluck fähigkeit besonders geeignet ist, um Dachwasser abzu leiten. Im Untergrund verhielt es sich immer gleich: Der Baugrund war solide, das Wasser konnte abfliessen, sehr zur Freude des bauenden Ehepaars, das längst den Granit für die Kochinsel ausgesucht hatte. Was wäre anderes zu erwarten gewesen in einem Land, dessen Bürger den Bau des Eigenheims kollektiv als Lebensziel anstrebten, weshalb immer mehr Kulturland in Bauland umgezont wurde? Landschaftsplaner beklagten die Zubetonierung der Nation, während sich die Baufirmen an der anhaltenden Konjunktur erfreuten. Und Aeschlimann hob die Löcher an der Schnittstelle dieses Interessenkonflikts aus. Dann wurden Kräne aufgebaut, aus dem ehemaligen Kulturland wurde eine Baustelle und nach einem halben Jahr stand ein Einfamilienhaus da wie ein Grabstein. Schon bald hatte es Aeschlimann satt, am Kulturland zu schaufeln. Getreu seinem Motto, dass die Welt ein Spielplatz ist, den es zu erkunden galt, beschloss er, den Sandkasten zu verlassen. Also bewarb er sich bei den grossen Verlagen, deren Zeitungen jeden Tag in die Einfamilienhäuser flatterten, wo sie Horizonte erweiterten oder auch nicht. Er erhielt nur Absagen. Das war nicht überraschend. Was konnte er denn schon vorweisen? Er änderte seine Strategie: Alles was er brauchte, war ein Einstieg in die Medienwelt. Darauf liess sich aufbauen. Er schrieb dutzende Bewerbungen. Nichts war ihm zu Schade: Lokalblätter, Gewerbezeitschriften, Kirchenblätter. Und der Guck!. 54
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Weil Degen die Regenbolz-Story für eine gute Leistung hielt, gab er Aeschlimann kurz vor Ende seines Praktikums eine zweite Chance. «In regelrechten Bus-Karavanen kommen sie über die Grenze, schicken Kinder und Behinderte zum Betteln und stehlen und verschwinden wieder ins Ausland, wo sie sich mit dem Diebesgut ein süsses Leben finanzieren!», enervierte er sich wild gestikulierend in seinem Büro. Hinter ihm funkelte der Degen im Sonnenlicht. «Ich will, dass du sie ausfindig machst, du heftest dich an ihre Fersen, zeig mir, wie sie funktionieren! Ihre Maschen, ihre Tricks, ihre Erbarmungslosigkeit, wenn sie ihre Kinder als Bettler auf die Strasse stellen und womöglich noch prostituieren. Man sieht sie inwischen überall in der Stadt, mehr denn je! Ich will eine Reportage mit dem Titel: HIER KOMMEN DIE RUMÄNEN – UM ZU BETTELN UND ZU STEHLEN.» Aeschlimann nickte brav. Er würde bestimmt kein zweites Mal mithelfen, eine Story zu konstruieren, nur um dem Chef zu gefallen. Er verliess zwar das Redaktionsgebäude unter dem Vorwand, sich «mitten in die Recherche zu stürzen», verbrachte die Nachmittage aber in Cafés und las Bücher oder hing einfach seinen Gedanken nach. Regenbolz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Hatte sich Kurt Karrer seinetwegen etwas angetan? Die Frage beschäftigte ihn mit jedem Tag mehr. Noch immer fehlte von Karrer jede Spur. Also versuchte Aeschlimann im Internet etwas herauszufinden. Was war Kurt Karrer für ein Mensch? Seinem Facebookprofil sah man nicht an, dass er verschollen war. Es wirkte so lebendig oder eben leblos wie alle Facebookprofile, auch 55
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wenn es keine neueren Posts mehr gab. Einen kurzen Moment überlegte Aeschlimann, wie viele der Millionen Profile in den sozialen Medien wohl Toten gehörten und fand den Gedanken unheimlich. Im Internet lebte man irgendwie weiter, ob man es wollte oder nicht. Auf Karrers Profil gab es Bilder eines gepflegten Gartens mit Kalksteinmauer, Sonnenschirm, Kugelgrill und Schwimmbecken. 2015 hatte er Urlaubsbilder aus der Karibik hochgeladen: weisse Sandstrände, Sonnenauf- und untergänge, Kokosnussplamen, das übliche Programm. Karrer trug auf den Bildern ein Polohemd mit aufgestelltem Kragen und eine Sonnenbrille von Ray Ban. Stets brav rasiert mit einem Klecks Gel in den Haaren und einem kleinen Bärtchen unter der Unterlippe grinste er in die Kamera. Er wirkte wie jemand, der vor allem eines tat im Leben: Sorge tragen. Zu seinem Garten, seinem Kugelgrill, seinem Schwimm becken, zu sich selber. Und als Polizist trug er Sorge zum Gesetz. Das war kein Selbstmörder.
* Am letzten Tag seines Praktikums bat Degen Aeschlimann wieder in sein Büro. Der Chefredaktor schloss die Tür und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Beine überschlug er. «Nun geht dein Praktikum also zu Ende. Ich war selber mal in deiner Situation, Journalist zu werden ist gerade heute nicht einfacher geworden. Aber erzähl du mir zuerst, wie es dir gefallen hat.» «Sehr gut. Sehr interessant. Sehr lehrreich», log Aeschlimann. Wobei «lehrreich» der Wahrheit entsprach. Er hatte viel gelernt, hatte wertvolle Einblicke hinter die 56
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assade erhalten. Nur hatte er nicht das gelernt, was Degen F meinte. «Das freut mich zu hören. Allen Praktikanten ergeht es so. Der Guck! ist ein gutes Sprungbrett in die Medienwelt. Ein Praktikum beim Guck! zählt etwas. Aber lass es mich gleich vorwegschicken: Wir können dich nicht behalten, sorry.» Er machte ein bedämmertes Gesicht und fuhr fort: «Ich weiss, das ist leider immer eine Enttäuschung. Aber erstens haben wir im Moment einfach keine freien Stellenprozente und zweitens geschieht es extrem selten, dass mich jemand derart überzeugt, dass ich ihn gleich anstelle. Die meisten sammeln zuerst noch anderswo in der Medienwelt Erfahrungen und dann kommen sie wieder zu mir. Wenn ich sehe, dass sie sich gemacht haben, kann ich über eine Anstellung nachdenken, verstehst du?» Aeschlimann zeigte Verständnis und strengte sich an, Enttäuschung über seine Nichtanstellung zu mimen. «Das bringt mich zu deinen Fähigkeiten. Du bist gut. Aber du musst besser sein. Du bist Quereinsteiger. Darum musst du umso mehr zeigen, dass ein unerkanntes Talent in dir schlummert, darauf wartet, entdeckt zu werden. Das habe ich leider zu wenig erkannt. Kannst du das nach vollziehen?» «Gewiss», antwortete Aeschlimann. «Weisst du, die Sache mit den Bettlerbanden zum Beispiel. Ich schick dich los, du bist tagelang ausser Haus. Und bringst mir nichts zurück. Da frag ich mich ja dann schon, hallo? Du musst die Augen offen haben, einen Spürsinn entwickeln! Hätte ich sonstwen losgeschickt, dann wäre die Story anderntags auf der Front gewesen, mit knall 57
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harten Facts. SIE KOMMEN IN BUSSEN ÜBER DIE GRENZE, UM ZU BETTELN UND STEHLEN.» Er malte die Schlagzeile in die Luft und frohlockte: «Eine Reportage hautnah dran, sowas will man lesen! Das gleiche mit den Prostituierten, da hast du ebenfalls nichts geliefert und nachher hatten wir die Story trotzdem, weil jemand mit offeneren Augen als du sich der Sache nochmals angenommen hat. Siehst du, was ich meine?» Aeschlimann sagte nichts. Er wollte das Gespräch so schnell und widerstandslos wie möglich hinter sich bringen. Gianni Degen war ein Sklave des wirtschaft lichen Erfolgs einer lausigen Zeitung, die Sensationslust zu Geld machte. Er verformte die Realität, so wie es ihm passte und verstand es, sich nur so weit in die Graubereiche zu begeben, dass er keine Konsequenzen fürchten musste. Ausländische Prostituierte und rumänische Bettlerbanden waren dankbare Opfer. Man konnte über sie erzählen, was man wollte oder sie schlichtweg erfinden. Denn es gab ja keine Anwälte, die für sie einstanden. Und auch niemand, der dem Guck! hinterherrecherchierte, solange die Geschichten das Wohlwollen einer breiteren Bevölkerungsschicht genoss, die ihre Wahrnehmung endlich «in der Zeitung» bestätigt sah. Gianni Degen hatte sämtliche Stammtische des Landes auf seiner Seite. «Ich habe die Bettlerbanden tagelang gesucht und nicht gefunden. Was, wenn es sie einfach nicht gibt?», sagte Aeschlimann ruhig. «Was, wenn du einfach schlecht gesucht hast? Oder sie gar nicht finden wolltest?» Degen setzte ein überlegenes Gesicht auf.
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«Ich habe sie gesucht, sehr intensiv. Doch das Schwert der Wahrheit sagte mir, dass es sie nicht gibt», erwiderte Aeschlimann. Der Chefredaktor liess sich nicht provozieren. «Es gibt die Bettlerbanden, das sieht jeder, der mit halbwegs offenen Augen durch die Welt geht. Aber genau daran fehlt es dir. Du willst nur sehen, was in deine liebe Welt passt. Böse Ausländer darf es nicht geben, du willst sie lieber verheimlichen, um deinem politischen Gegner nicht in die Hand zu spielen. So läuft es leider nicht. Wir sind als Journalisten der Wahrheit und der Objektivität verpflichtet. Auch wenn sie unangenehm ist.»
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3 Der Verdacht 30. März 1986, vier Monate vor dem Brand auf dem Huberhof Mittwochabend um 20 Uhr hatte sie Chorprobe in der Kirche. Es war ihre einzige wöchentliche Abendaktivität. Sie freute sich jedes Mal darauf, auch wenn die anderen Chor mitglieder allesamt älter als sie waren, gebrechlich und nahe an der Demenz. Sie vergassen die Notenblätter zu Hause oder brachten die falschen mit. Im Grunde war es egal, denn falsch sangen sie so oder so. Doch auch das spielte keine Rolle, denn es ging um die Gemeinsamkeit, wenn die Stimmen das Gewölbe der Kirche füllten. Jeder und jede bemühte sich, das beizutragen, was die Stimme hergab und das war für Ines Huber magisch, auch wenn es schief klang. Ihre Stimme war hell und klar wie ihre blauen Augen. Ausserdem erlaubten ihr die Chorproben, für zwei Stunden vom Hof zu ver schwinden und nur für sich selber einer Tätigkeit nachzu gehen. Wenn sie danach die 20 Minuten wieder vom Kapell hügel hinunter in die Senke spazierte, liess sie sich Zeit, atmete die kühle Luft ein, verfolgte die Silhouette des Wald rands vor dem dunkelblauen Himmel und empfand Frei heit. Dann gingen ihr die Zeilen eines Gedichts durch den Kopf, das sie sehr mochte. Gut zu wissen, dass die Erde rund ist, wenn ein Schiff am Horizont über die Ränder versinkt. Gut zu wissen, dass die Erde sich dreht, wenn am Abend die Sonne verschwindet. Dass irgendwo immer Tag ist, und irgendwo immer Nacht. 60
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Und überall Welt. Und für einen, der aufbricht, in jeder Richtung ein Heim weg. An einem kalten Mittwochabend im März 1986 nahm sie die Noten aber nur als Vorwand mit. Sie marschierte an der Kirche vorbei weiter bergauf bis zum Kreuzberg, der in der Verlängerung des Kappellhügels lag. Ganz oben gab es eine Sitzbank neben einem hölzernen Kreuz, rundum waren die Bäume und Gebüsche gestutzt worden, sodass man freie Sicht auf das Dorf hatte. Werner Zeller wartete schon auf sie. Er breitete eine Wolldecke auf der Bank aus und goss heissen Kaffee aus einer Thermoskanne in zwei Tassen. Unter ihnen war es finster geworden, in den Häusern brannte Licht und man konnte den Rauch der K aminfeuer riechen. Ganz leise klangen die Singstimmen aus der Kirche. Schon zum dritten Mal trafen sie sich auf dem Kreuzberg. Dabei waren sie sich bis vor Kurzem fremd gewesen. Ines be gab sich nur ins Dorf, wenn sie Einkäufe erledigen musste. Und Werner Zeller hatte als Polizist nie einen Grund ge habt, den Huberhof aufzusuchen. Das wollte sie ändern. Also hatte sie sich dazu überwunden, ihn anzusprechen, als sie ihm vor Weihnachten im Dorfladen begegnet war. Sie müsse ihn sehen. Mittwochabend? Sie könne sich doch auf seine Diskretion verlassen, hatte sie geflüstert und nervös ge lächelt. Er hatte zurückgeflüstert, dass Diskretion sein Beruf sei und ebenfalls gelächelt. Sie brauchte ihn. Beim ihrem ersten Treffen noch vor Weihnachten waren sie über den langgezogenen Kamm des frisch verschneiten Kreuzbergs spaziert und hatten über dieses und jenes ge 61
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sprochen. Sie hatten sich gut unterhalten. Zu gut. Ines hatte gespürt, dass ihr Plan schiefgehen könnte. Sie wollte, nein musste, ein Fundament des Vertrauens schaffen – gleich zeitig durfte sie in Werner Zeller keine falschen Hoffnungen wecken. Auch bei ihrem zweiten Treffen Ende Januar, hatte sie es nicht geschafft, den wahren Grund, weshalb sie ihn sehen wollte, anzusprechen. Stattdessen redeten sie über Neujahrsvorsätze und andere Belanglosigkeiten. Ines spürte, dass sie das falsche Fundament baute. Nun sassen sie zum dritten Mal auf der Bank, jeder still an seinem Kaffeebecher nippend. Wieder und wieder formu lierte Ines ihr Anliegen in Gedanken, doch sie brachte die Worte nicht über ihre Lippen. Sie hatte den Moment ver passt. Es war eine Frage der Zeit, bis Werner die Stille brach. Und sie ahnte, was kommen würde, schliesslich hatten sie alle Belanglosigkeiten längst abgehandelt. «Erzähl mir mal von deinem Mann. Ich muss sagen, über ihn weiss ich wenig. Obschon ich jeden im Dorf ein bisschen kenne», hörte sie ihn sagen. Ines war sicher, dass sich Zeller unwissender gab, als er war. Jeder im Dorf kannte die Vergangenheit ihres Mannes. Jetzt kam sie nicht mehr darum herum. «Nun ja, er ist …, also im Wesentlichen ist er der Grund für unsere Treffen», antwortete sie zögerlich. «… wir haben uns über die Jahre längst entfremdet.» Das war nur die halbe Wahrheit. Seit er vor 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden war, war ihr Ehemann nicht mehr derselbe. Sie hatte sich damit längst abgefunden. Doch in jüngster Zeit beunruhigte sie etwas. Und darum brauchte sie Werner Zeller – in seiner Funktion als Polizist. Alles, was im Moment zählte, war, dass sie ihre Tochter be schützen konnte, indem sie den schrecklichen Verdacht mit je 62
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mandem teilte, der ihr eine Einschätzung geben könnte und wüsste, wie zu handeln war. Werner Zeller war vermutlich der einzige, der Erfahrung in solchen Dingen hatte. Und hatte er nicht gesagt, dass Diskretion sein Beruf sei? Genau das brauchte sie jetzt. Ein zuhörendes Ohr und Verschwiegenheit. «Tja, die Liebe hält nicht ewig an», entgegnete Zeller. «Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich Monika noch so anziehend finde, wie am ersten Tag unserer Ehe.» «Es … es ist aber nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst», sagte Ines. Sie brach in Tränen aus. «Mein Mann und ich haben nichts mehr miteinander zu tun. Jeder geht einfach seinen täglichen Pflichten nach und ich gehe ihm sogar aus dem Weg. Wir haben getrennte Schlafzimmer und es macht mich fertig, wenn ich daran denke, dass das womöglich mit ein Grund ist, dass …» Sie vergrub das Gesicht in den Händen. «Dass was?», fragte Zeller vorsichtig. Ihr plötzlicher Ge fühlsausbruch überraschte und ermutigte ihn zugleich. Er wagte es, einen Arm um sie zu legen. «Ach nichts. Ich frage mich nur immerzu, ob ich das Leben gelebt habe, von dem ich geträumt habe, als ich noch ein Mädchen war oder ob ich mich einfach eingefügt habe in ein System. Weisst du? Ich meine, wir sind doch zwei nor male Menschen, die nichts Böses machen, aber wir müssen uns verstecken für nächtliche Spaziergänge, weil unsere Ehe partner nichts wissen dürfen. Das ist doch verrückt!» Sie wischte sich die Tränen ab und zwang sich zu einem Lächeln, als sie «verrückt» sagte. Damit hatte sie es im letzten Moment abgewendet. Sie war drauf und dran gewesen, ihre Sorge endlich zu teilen. Doch sie traute sich nicht. Es war zu gefährlich. Ihr Verdacht war 63
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zu schlimm, um ausgesprochen zu werden. Und es war ja nur ein Verdacht. Was hätte sie Zeller denn sagen sollen? Dass ihr Mann seine Tochter so ansah, wie sie es von damals kannte, als sie selber eine junge Erwachsene war und sie sich kennenlernten? Und dass es ihr seltsam vorkam, wenn er Maria bat, ihm bis spätabends bei irgendwelchen Arbeiten an den Maschinen zu helfen, die unbedingt gemacht werden mussten, während sie in der Chorprobe war? Dass er die ge nauso gut alleine verrichten konnte oder mit Sohn Meinrad, der als heranwachsender junger Mann bestimmt besser Hilfe leisten konnte als Maria mit ihrer zierlichen Figur – ihrem Körper einer jungen Frau? Ihr Verdacht war zu schlimm, um nur schon daran zu den ken. Und ausserdem stand er auf keiner Beweislage. Sie war bloss eine verunsicherte Mutter, die sich zu fragen begann, was es eigentlich bedeutete, wenn man seit Jahren getrennte Schlafzimmer hatte. Und weil sie an dieser Frage herum grübelte, hatte sie sich zu achten begonnen. Darauf, wie ihr Mann mit seiner Tochter umging. Seither hatte sie Angst. Gleichzeitig versuchte sie sich zu beruhigen: Sah man am Ende nicht genau das, was man im Verdacht hatte? Viel leicht interpretierte sie alles falsch. Sie hatte jede Verbindung zu ihrem Mann verloren, vom ersten Tag an, als er wieder auf freiem Fuss war. Das Gefängnis hatte ihn verändert, der Unfall – das Dorf. Sie wusste, dass er sich schämte, sich verraten fühlte, auch wenn er es nie aussprach. Er liess sich nicht helfen. Er schottete sich von allem ab, sodass man nicht anders konnte, als sich vor ihm zu fürchten. «Wenn es dich tröstet, also ich meine … Ich wollte nur sagen, dass …» Zeller war verlegen. «… Monika und ich, also wir 64
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haben eigentlich auch nichts mehr miteinander zu tun. Wir haben Paul, unseren Jungen, und das verbindet uns, aber mehr auf einer Zweckebene, verstehst du? Ansonsten hat sie ihre Hunde und ich mache Jagd auf Ladendiebe.» Er lächelte und versuchte sie zu ermuntern, mitzulachen. «… und wir haben auch getrennte Schlafzimmer.» Sie lächelte. «Danke.» «Danke, wofür?» Sie sagte nichts. Dass es weder Bäume noch Büsche vor der Sitzbank gab, bot nicht nur freie Sicht auf das Dorf. Es bedeutete auch, dass Ines Huber und Werner Zeller trotz der Dunkelheit leicht beobachtet werden konnten. Und so begaben sich drei Per sonen auf den Heimweg, kaum, dass die Singstimmen vom Kapellhügel verstummt waren.
* Seit Kurt verschwunden war, fehlte etwas. Das Zusammenleben mit ihm fand zwischen Leitplanken statt, die für Stabilität, Ordnung und Sicherheit gesorgt hatten. Carla Blaui spürte, dass nun alles zu einem Ende kommen würde. Das Leben würde wieder seinen Weg gehen. Sie stand an einem Punkt, an dem sie schon einmal gestanden hatte, bevor die Zwischenlösung namens Kurt Karrer ihr eine Fristverlängerung geboten hatte. Sie war eine starke Frau. Doch das Schicksal hatte sie geprüft. Vor ihr lag schon immer eine ungewisse Zukunft, und hinter ihr eine unbekannte Vergangenheit. Unbekannt für Kurt jedenfalls. Er war ein ruhiger Pol der Ahnungslosigkeit gewesen, der nur so viel 65
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wusste, wie ihm seine Augen verrieten. Und die zeigten ihm eine heile Welt, in der Kleinkriminelle zum Düstersten gehörten. Kurt hatte nicht gewusst, wer sie wirklich war. Nie hätte er geahnt, was weit zurück in ihrem Lebenslauf verborgen lag. Sie hatte einen Menschen getötet. Das Zusammensein mit Kurt war langweilig gewesen. Doch darüber hätte sich Carla nie beklagt. Langeweile war ein guter Zustand, verglichen mit dem, was vorausgegangen war. Carla fragte sich oft, wie Kurt es aushalten konnte, dass sie ihm eigentlich nichts von sich erzählt hatte. Am Anfang ihrer Beziehung hatte sie Angst, sie wusste, dass irgendwann die Fragen kommen würden. Doch sie hatte sich getäuscht: Kurt stellte keine Fragen. Schon früh war alles klar: Er war Polizist und redete am liebsten über seinen Job, sie arbeitete auf dem Grundbuchamt, wovon es nicht viel zu erzählen gab. Und so war es vor allem Kurt, der redete, während sie zuhörte. Beziehungsweise so tat, als ob sie zuhörte, während sie mit den Gedanken sonstwo war und gelegentlich ein «Ach so» oder «Ach wie blöd» oder «Ach wie gut» von sich gab. Wenn er beim Abendessen seinen Tagesablauf fertig erzählt hatte, fragte er immer ernsthaft interessiert: «Und bei Dir, was lief auf dem Grundbuchamt?» Carla ant wortete: «Ach nichts Wildes. Auf Parzelle 223, dort neben dem Maisfeld haben wir nun ein Stück Kulturland in Bauland umgezont. Der Gemeinderat hat das gutge heissen, du weisst ja, sie schielen auf die reichen Zuzüger, die man pauschalbesteuern kann.» Und Kurt, der den Zusammenhang zwischen Umzonung und Steuergunst nicht erkannt hätte, nickte bloss. Eine Konversation mit 66
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Kurt konnte sich anfühlen wie eine Unterredung mit einem leeren Gefäss. Hätte man ihn mit einer Holzsorte vergleichen müssen, dann hätte Buche nicht schlecht gepasst: unauffällig und solide, eine gute Beschaffenheit. Aber nur als Brennholz verwertbar. Dann stand Carla jeweils auf und machte den Abwasch. Wenn sie zu Bett gingen, wünschten sie sich eine gute Nacht. So baute sich Carla langsam auf, was sie brauchte: Einen Mikrokosmos der Ordnung und des Schweigens, eine Welt mit kleinen Sorgen, die sich um Dinge wie Nachbarn oder Rasen mäher drehte. Ein Leben zwischen Leitplanken. Sie musste an die Notiz denken, die Kurt auf der Küchenablage hinterlassen hatte: Ich sehe nach dem Rasen mäher. Das war seine letzte Botschaft an sie gewesen. Carla hatte das Papier mit einem Verbena-Magnet an den Kühlschrank geheftet. Sie las den simplen Satz nochmal. Ja, der Rasenmäher war weg, das hatte sie inzwischen auch fest gestellt. Sie hatte zuerst angenommen, Kurt sei damit in die Landi gefahren, um irgendetwas zu beanstanden, wie er es oft tat. Doch wo war er jetzt und was hatte das mit Kurts Verschwinden zu tun? Ohne zu wissen, was sie sich erhoffte, trat sie in den Garten hinaus. Der Spätsommer hatte die Landschaft sanft altern lassen. Die Sonne warf ein intensives Licht auf den abgemähten Acker, wo die Sonnenblumen gestanden hatten. Von fern erklang das Motorengeräusch eines Kleinflugzeugs. Ihr Blick ging über das spiegelglatte Wasser im Schwimmbecken hinüber zum gepflegten Garten des Nachbars. Da fielen ihr zwei Dinge auf: Eine Lücke im Farn, der die grüne Grenze zum Grundstück des Nachbars bildete. Und ein Gartenzwerg, den sie nicht kannte. Ohne Zweifel stand da ein neuer. Das Telefon in 67
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der Küche klingelte. Carla ging ins Haus und nahm ab. Es war Kommandant Jacques Teckel. Er erklärte ihr, dass man die Suche nach Kurt bis auf Weiteres einzustellen plane. Sie legte auf und sah nachdenklich durchs Küchenfester. Ein Kleinflugzeug kreiste am Himmel. Oder war es ein Vogel?
* Vincenzo Blaui holte gerade zu einer weiten Kurve über den Wald aus, als er bemerkte, dass sein Modellflieger nicht mehr gehorchte. Anstatt den Bogen zu vollenden und wieder in Richtung des Sonnenblumenackers zu drehen, hielt er im Sinkflug auf den Wald zu. Die hohen Tannen störten offenbar das Signal: Je tiefer der Flieger flog, desto schlechter liess er sich steuern. Vincenzo begriff, dass er die Kontrolle über das immer leiser surrende Ding vollends verloren hatte und es abstürzen würde – gemäss der Flugbahn ziemlich genau dort, wo sich mitten im Wald der stillgelegte Steinbruch befand. Immerhin gab es eine Strasse dorthin, dachte sich Vincenzo. Er war entschlossen, die Trümmer zu finden. Schon lange hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, alles, was mit ihm in Verbindung gebracht werden konnte, zu beherrschen. Er konnte es sich nicht erlauben, die Kontrolle zu verlieren. Nie. Vincenzo stieg in seinen Wagen und fuhr in Schritttempo dem Waldrand entlang, er wollte keinen Staub aufwirbeln auf dem trockenen Mergelweg. Zur unauffälligen Identität, die er sich aufgebaut hatte, gehörte nicht nur die Verbena und seine Ehe mit Gaby. Sondern auch ein Hobby, 68
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das ihn sympathisch machte und dümmlich w irken liess. Er hatte sich die Modellfliegerei ausgesucht. Als er die Landstrasse erreichte, die Regenbolz mit Birnbaum verband, folgte er ihr einige hundert Meter und nahm dann den Abzweiger auf die alte Kiesstrasse, die zum stillgelegten Steinbruch führte. Bei einer manns hohen Rolle mit Drahtseil und einer ebensogrossen, rostigen Schaufel – Relikte aus den Zeiten als hier noch Kalk abgebaut worden war – liess er seinen Wagen stehen. Es war ein vergessener Ort. Die Natur tat das ihrige, um ihn sich zurückzuholen, während Menschen nur noch selten herkamen, um hier unbehelligt ihren Abfall zu entsorgen. Alte Waschmaschinen, Pneus und Autobatterien lagen zwischen Geröll herum, das von Moos bedeckt war. Vincenzo ging einige Schritte in das verlassene Areal und hielt nach seinem gelb-schwarzen Flieger Ausschau. Seine Vermutung war goldrichtig. Am Fusse der Felswand, die den Steinbruch begrenzte, konnte er die gelb-schwarzen Trümmer ausmachen. Offenbar war sein Flieger an der Felswand zerschellt, auf deren Fluhkopf eine einsame Föhre stand. Doch da lag auch etwas anderes. Obschon es nicht die erste war, die er zu Gesicht bekam, gefror ihm das Blut. Unmittelbar neben den Trümmern seines Fliegers lag eine Leiche. Arme und Beine standen in unnatürlicher Stellung vom Körper ab – was einen sonderbaren Kontrast bot zum zufriedenen Ausdruck im makellosen Gesicht von Kurt Karrer. Wie er da am Fusse der Felswand lag, gab es eigentlich nur eine Erklärung für Vincenzo: Sein Schwager musste sich über die Felswand gestürzt haben. Die Entdeckung war nicht gut. Sie war sogar ein Problem; ein Polizist, der unter mysteriösen Umständen verschwun69
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den war und nun tot aufgefunden wird. Ausgerechnet von ihm, Vincenzo Blaui, der nur eines sein wollte: unauffällig. Er stand eine Weile am Fusse der Felswand und blickte nachdenklich auf Trümmer und Leiche zu seinen Füssen. Auf keinen Fall würde er den Fund melden. Doch selbst wenn er es nicht tat, wäre das Problem nicht gelöst. Früher oder später würde jemand anderes Kurt entdecken und dann würde die Polizei ermitteln. Das musste er verhindern. Besser war es, Kurts Verschwinden blieb ein Mysterium, so wie es in der Zeitung stand. Vincenzo musste die Kontrolle behalten. Und das bedeutete: Kurt Karrer musste weg. Er begann die Trümmer des Fliegers einzusammeln. Als er sicher war, dass er alle Teile gefunden hatte, brachte er sie zu seinem Wagen, fischte eine Wolldecke aus dem Kofferraum und kehrte zur Leiche zurück. Sein Schwager sah eigentlich ganz intakt aus. Als wäre er so unspektakulär aufgeschlagen wie der Modellflieger. Es gab weder Blut flecken noch Verwesungsgeruch. Vincenzo wickelte Kurt in die Wolldecke, trug ihn quer durchs Areal und setzte ihn neben die rostige Schaufel. Noch einmal vergewisserte er sich am Fundort, dass es keine Spuren gab. Da war nichts. Es dämmerte schon, als er Kurt auf die Rückbank seines Wagens setzte und auf einem beinahe zugewachsenen Forstweg in den dunklen Wald fuhr. Als er sicher war, an einem Ort angekommen zu sein, wo eine unerlaubte Feuer stelle nicht entdeckt würde, hielt er an. Regenbolz schlief bald, kein Mensch würde sich um diese Zeit zum still gelegten Steinbruch begeben. 70
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Er ordnete die Trümmer seines Fliegers so an, dass die Flammen optimal darin züngeln würden. Dann sammelte er trockenes Fallholz, das dem Feuer Substanz geben würde, und baute es sorgfältig zu einem Scheiterhaufen auf. Vorsichtig legte er seinen Schwager darauf, den er zuvor gewissenhaft mit Benzin aus dem Autotank eingesalbt hatte, und zündete ihn an. Kurt Karrer brannte gut. Bald erinnerte nur noch ein grosser schwarzer Fleck und ein Haufen feiner Asche an das Feuer. Es schien ihm, sein Schwager hätte auch ohne Benzin ganz ordentlich gebrannt. Vincenzo hatte alles unter Kontrolle.
* Es war neun Uhr morgens. Carla hatte unruhig geschlafen. Sie rauchte eine Zigarette und trat geradewegs in den Garten des Nachbarns, wo sie den Zigarettenstummel in den Buchsbaumbusch warf. Der Anruf des Kommandanten Teckel hatte sie am Tag zuvor von ihrer Entdeckung abgelenkt. Der neue Gartenzwerg hatte ein dämliches Grinsen im Gesicht und trug eine Laterne, die mit kleinen Sonnenkollektoren versehen war. Vermutlich sollte er k limaneutral leuchten. «Kann ich helfen?», ertönte es hinter ihr. Der Nachbar, nicht viel grösser als seine Zwerge. Eigentlich ein fleischgewordener Gartenzwerg. Seine Brille war im Begriff, sich in der Morgensonne abzudunkeln. Er trug Adiletten, denn in die Gartenschuhe zu schlüpfen hätte länger gedauert. So hätte er seinen ungebetenen Gast nicht in flagranti ertappen können. Carla zeigte auf seinen Zwerg. «Ist der neu?» 71
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«In der Tat», entgegnete der Nachbar. Es klang nicht, als wollte er ein Kompliment für den neuen Gartenzwerg hören, sondern so, als ob er ein Geständnis erwartete. «Schön. Gefällt mir. Besser als der alte.» «Soso … Mir hat aber der alte besser gefallen. Eines Morgens lag er zerbrochen da.» Der Nachbar klang vorwurfsvoll. «Und Sie meinen, ich hätte etwas damit zu tun?» «Das habe ich nicht gesagt.» «Ich vermisse meinen Lebenspartner, wie ihnen nicht entgangen sein dürfte», sagte Carla, wobei sie Kurt als Vorwand benutzte. «Wenn Zwergen ihre grössten Sorgen sind, dann beneide ich sie.» Der Nachbar stammelte eine Beileidsbekundung. Und Carla murmelte auch etwas von wegen, dass es ihr leid täte für den kaputten Zwerg, ohne es ernst zu meinen, aber dass sie nichts dazu beigetragen habe. «Darf ich dann aber dennoch fragen, was sie in meinem Garten suchen, Frau Blaui?» «Ich wollte mir den Zwerg anschauen», log sie. «Er hat Sonnenkollektoren, nett. Ich nehme an der soll leuchten in der Nacht.» Der Nachbar war nun etwas überrascht ob dem Interesse und erklärte, dass er auch gespannt sei, wie gut die Kollektoren funktionieren. Dass diese fortschrittlich seien und bald überall zur Anwendung kämen, jetzt da die Atomkraftwerke wegmüssten. Doch Carla hörte nicht zu. Sie dachte an die Lücke im Farn. Und als sie durch diese hindurch in den eigenen Garten schaute, erkannte sie schlagartig den Zusammenhang zwischen der Lücke, dem kaputten Zwerg und der Notiz von Kurt – in der direkten Verlängerung der Lücke stand 72
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die leere Garage des Rasenmähers und auf der gleichen Linie stand der Gartenzwerg hinter ihr. Carla wirbelte herum. Ihr Blick suchte das abgemähte Sonnenblumenfeld ab. Der Nachbar redete immer noch von erneuerbaren Energien und war inzwischen bei der Windkraft im hohen Norden angelangt, doch schon seit er den Bogen von der Kernkraft zur Wasserkraft gespannt hatte, war ihm, als hätte er Carlas Aufmerksamkeit verloren. «Einen schönen Tag», unterbrach sie ihn und trat auf den Acker hinaus. Carla war sich sicher, dass sie dem Rätsel auf der Spur war. Eine feine Schneise verlief durch die kümmerlichen Reste der Pflanzenschäfte. Eine Schneise! Die Neugier trieb sie an, an Kurt dachte sie nicht. In Carlas Kopf drehten sich andere Gedanken. Als der Sonneblumenacker zu Ende war, konnte sie die Schneise noch immer im hohen Gras zwischen den licht stehenden Bäumen des angrenzenden Waldes verfolgen. Und als sie zu einer Felskante kam, auf der eine einsame Föhre stand, wusste Carla, was zu tun war. Es war an der Zeit, sich ihrer Tat zu stellen, die sie all die Jahre gequält hatte und die nun gegenwärtiger war denn je. Es gab keine Vergebung. Ausser vielleicht, wenn sie sich selber antat, was sie ihrem Vater angetan hatte. In jeder Richtung gab es einen Heimweg für sie. Doch sie entschied sich für geradeaus. Carla trat an die Felskante, schloss die Augen und sprang in die Tiefe.
* Roland Boller war ein stolzer Unternehmer. Der grösste und einflussreichste in Regenbolz. Seine dreizehn Sattel73
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schlepper waren ständig auf Achse, landesweit, europaweit. Am westlichen Dorfeingang, gleich hinter dem Regenbolzer Willkommensschild, standen seine drei Hallen. Wenn die Sattelschlepper über die Feiertage nicht unterwegs waren, reihte er sie auf dem Vorplatz auf, die Kühlergrille zur Landstrasse gerichtet. Vorbeifahrende sollten sein Lebenswerk ruhig bestaunen: Die Flotte hatte er stetig a usgebaut. Er war ein Macher mit einem unternehmerischen Spürsinn. Und grosszügig war er auch. Nicht nur f inanzierte er die Dorfmusik, wo er selbst die Posaune blies, er spendetet auch der freiwilligen Feuerwehr. Und hinter seinen Hallen betrieb er einen Recyclinghof, wo jeder, der sich als «Bolzner» ausweisen konnte, seinen Müll umsonst abladen durfte – alte Waschmaschinen, Sofas, Altmetall, Kartons, Elektroschrott. Boller nahm a lles entgegen. Das förderte seine Beliebtheit im Dorf. Er war in Regenbolz gross geworden und nun gab er etwas zurück. Manchmal gab er auch mehr zurück, als man ahnte. Schon lange suchte er den stillgelegten Steinbruch im Wald auf, den ausser ihm vermutlich keine Menschenseele mehr betrat. Hin und wieder kippte er ausgewählten Sondermüll, für dessen Entsorgung Gebühren angefallen wären, gratis und franko ins verlassene Areal und stellte jedes Mal zufrieden fest, dass die Natur damit gut leben konnte. Sie nahm Auttobatterien, Haartrockner und Waschmaschinen still entgegen und gedieh prächtig. Boller ging es nicht darum, Kosten einzusparen. Nein, es ging um mehr. Es war sein stiller Protest gegen die linksgrüne Politik, die überall überhandnahm und die in ihm den Gedanken regte, dass sein politisches Engagement eines Tages über illegale Müllentsorgung hinausgehen sollte. Wenn die in Bern oben beschlossen, dass seine 74
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S attelschlepper neue Katalysatoren brauchten, weil sonst die Gletscher schmolzen, dann kippte Boller dafür eine Ladung Müll in den Steinbruch. Das war nichts anderes, als ausgleichende Gerechtigkeit. So machte er Politik. Noch vor Sonnenaufgang machte er sich nun mit einer Ladung Autobatterien auf den Weg und pfiff dabei vergnügt ein Lied. Die neuen Katalysatoren für die ganze Flotte hatten ihn 60.000 Franken gekostet. Es war wieder Mal an der Zeit für einen Ausgleich. Im stillgelegten Steinbruch angekommen wollte er seine Autobatterien gerade zwischen die Felsblöcke kippen, als ihm der leblose Körper am Fusse der Felswand auffiel. Noch nie hatte er eine Leiche gesehen. Beim Anblick Carla Blauis gefror ihm das Blut. Boller wollte schon den Notruf wählen, liess es aber bleiben, als ihm die Konsequenz bewusst wurde. Die Entdeckung war nicht gut. Sie war sogar ein Problem. Mit Sicherheit würde die Polizei unbequeme Fragen stellen: Wieso er sich hier aufhielt, noch dazu mit einer Ladung alter Autobatterien. Vielleicht würde er gar als Tatverdächtiger gelten. «Ruhig Blut», sagte er laut zu sich selber. Regenbolz schlief noch. Er hatte alle Zeit der Welt, niemand würde sich in den stillgelegten Steinbruch begeben. Er musste nur kühlen Kopf bewahren und überlegt handeln. Er liess alles so, wie er es vorgefunden hatte und fuhr mitsamt seinen Autobatterien zurück ins Dorf, wo er sich unauffällig zur Telefonzelle beim Kapellhügel begab. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn niemand beobachtete, nahm er den Hörer und wählte: 333 444. Es war etwas geschehen. Und Boller hatte es gesehen.
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* Währenddessen begann Jacques Teckel den Tag wie immer. Nachdem er seinen Schnauz gestutzt hatte, begab er sich sicheren Schrittes auf den Posten, setzte sich an seinen Schreibtisch und wartete darauf, dass etwas geschah. Um neun Uhr würde er sich zum Znüni in die Krone begeben. Er begann jeden Tag aufmerksam und war immer darauf gefasst, dass etwas geschehen könnte, das seine Präsenz erforderte. Für die letzten Tage galt das ganz besonders, nachdem Kurt Karrer verschwunden war. Dessen Verbleib war weiterhin ein Rätsel. Und während Teckel sonst ein Faible für Rätsel hatte – schliesslich waren sie Teil seines Berufs – beschlich ihn beim Gedanken an Karrer ein unangenehmes Gefühl. Nicht nur weil dessen Verschwinden möglicherweise im Zusammenhang mit der Suspendierung stand, die er zu verantworten hatte (er hatte sich nichts vorzuwerfen), sondern, weil die Presse bereits ausführlich über den Fall geschrieben hatte. Auf keinen Fall sollten alte Wunden aufgerissen werden. Regenbolz hatte lange gebraucht, bis es den Vierfachmord von 1986 überwunden hatte. Die Causa Karrer durfte sich nicht zu einem erneuten Mysterium entwickeln, das die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Also hatte er die Fahndung eingestellt. Sein Telefon klingelte. «Guten Tag, hier ist Frey von der Guck!-Redaktion, spreche ich mit Kommandant Teckel?», fragte eine Frau. «… Ja, wie kann ich Ihnen helfen?», antwortete Teckel, wobei er alles andere als hilfsbereit klang. 76
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«Wir haben über unseren Leserreporterdienst eine seltsame anonyme Nachricht erhalten», erklärte die Journalistin. «Ich dachte dem sollten Sie nachgehen.» Teckel liess sich instruieren. Wenig später jagte er seinen Dienstwagen mit Blaulicht durchs Dorf, bog auf die Landstrasse und nahm den Abzweiger auf die alte Kiesstrasse. Es war kurz vor neun Uhr, doch die Krone musste warten. Carla Blaui, die Lebenspartnerin von Kurt Karrer, lag tot am Fusse der Felswand des stillgelegten Steinbruchs. Teckel bot per Funk Verstärkung auf. Seine Gedanken kreisten. Die Entdeckung war nicht gut. «Dann war das also kein Spinner, der bei uns angerufen hat», hörte er im nächsten Moment eine weibliche Stimme hinter sich. Teckel wirbelte herum. Eine junge Frau, kaum dreissig Jahre alt, hielt ihm die Hand hin. «Ruth Frey, vom Guck!, wir haben telefoniert.» «Ach so, ja, das kann man wohl so sagen», entgegnete Teckel bemüht lässig, während er der Journalistin die Hand reichte und sich nicht anmerken liess, dass er über ihre Anwesenheit höchst unerfreut war. «Ich muss Sie bitten den Tatort zu verlassen», fügte er bestimmt an und schickte sie zu den inzwischen angerückten Kollegen, die gerade dabei waren, gelbes Absperrband aufzuziehen. «Tatort? Sie gehen also von einem Delikt aus?», fragte die Journalistin und machte keine Anstalten, seinen Anweisungen Folge zu leisten. «Wir stehen am Anfang der Ermittlungen, ich muss Sie bitten –» 77
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«Prüfen Sie einen Zusammenhang zum Verschwinden des Polizisten?», unterbrach ihn die Journalistin. Teckel wurde nervös. «Kein Kommentar!», sagte er entschieden und verwies nochmals darauf, dass sie sich in Richtung der Kollegen zu entfernen habe, die Mühe bekundeten, das gelbe Band aufzuziehen, denn sie fanden keine geeigneten Bäume, an dem sie es hätten anbinden können. «Aber ich kann davon ausgehen, dass sie in diese Richtung ermitteln?», fuhr die Journalistin unbeeindruckt fort. «Kein Kommentar!», wiederholte Teckel. «Ich an Ihrer Stelle würde dem nachgehen. Oder was gedenken Sie zu tun?» Teckel versuchte sie zu ignorieren, was ihm nicht gelang. Ihre Präsenz zwang ihn sogar zu einem ungewollten Schritt. Er fühlte sich beobachtet. Und wenn er eines wusste, dann das: Vor den Medien musste man hinstehen. «Bestellt die Spurensicherung!», bellte er zu den Kollegen, die den Versuch, das gelbe Band aufzuspannen in zwischen aufgegeben hatten. «Ich will, dass hier jeder Stein umgedreht wird. Wir behandeln alles verdächtig, das keinen natürliche Ursprung hat.» Ein Echo hallte von der grossen Felswand wider, doch es kam nicht weit, ehe es vom dichten Wald geschluckt wurde.
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4 Die Buntbrache 7. April 1986 Drei Monate vor den verhängnisvollen Vorkomnissen im Sommer 1986, die Regenbolz für immer zum Dorf mit dem Vierfachmord machen sollten, fuhr Jürg Knechtli, Professor für Agrarökologie an der Hochschule für Landwirtschaft und Ackerbau in Niederbolz, nach Regenbolz. Seine Auf gabe war es, sechs Standorte für das Projekt «Buntbrache» zu finden und die Landwirte zu überzeugen: Sie sollten einen Sommer lang einen Acker hergeben, den man mit einer Mischung aus Gräsern und Wildblumen, die eigent lich als Unkraut galten, bestellen würde. Das sollte Flora und Fauna wieder ins Gleichgewicht bringen, wenigstens punktuell. Denn seit die Landwirtschaft auf Nutzpflanzen und Milchwirtschaft getrimmt war, litt die Diversität. Und dies hätte langfristig Konsequenzen für das gesamte Öko system, so hatte es der Professor von der Hochschule für Land wirtschaft und Ackerbau erforscht. So verschwand nicht nur der Kleine Scheckenfalter, sondern auch der Blaue Eichen zipfenfalter, wenn Alpen-Wegerich und Esparsetten (zwei der Pflanzen, die die Bauern als nutzlos erachteten) nicht mehr gediehen. Knechtli führte eine ganze Liste mit all den Insekten, die langfristig zu beklagen wären. An einem reg nerischen Apriltag traf er mit seinen Unterlagen auf dem Huberhof ein, wo er von einem knurrenden Hund empfan gen wurde. Der Professor schlich um den Hof herum, im Stall lief ein Radio und ein Gebläse machte Lärm. Doch er fand keine Menschenseele. Offenbar war der Bauer weg. Längst hatte Knechtli auf anderen Höfen die Erfahrung 79
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g emacht, dass die Bauern sich ungern von seinen Tatsachen belehren liessen und sie für den Kleinen Scheckenfalter oder den Blauen Eichenzipfenfalter wenig Gehör hatten. Der Huberhof hätte mit seiner abgelegenen Lage und dem Acker direkt am Waldrand zwar ideale Bedingungen für einen Buntbrache-Standort gehabt, doch Knechtli konnte die Ab lehnung für sein Vorhaben förmlich riechen. Der knurrende Hund, das Radio, die Pumpe – alles schien ihm zu bedeu ten, dass man hier andere Sorgen hatte. Der Professor wollte schon gehen, als plötzlich ein Junge auf tauchte. Er wirkte verwildert und trug Sandalen, trotz der kühlen Temperaturen. Seine langen Haare waren zerzaust und er hatte auffällige Geheimratsecken, was Knechtli er staunte. Er schätzte ihn höchstens um die sechzehn Jahre alt. «Guten Tag», sagte der Professor freundlich, bemüht, nicht wie ein Schnüffler zu wirken. «Wohnt hier der Bauer Meinrad Huber?» Der Junge bejahte und fügte an, dass der Bauer weg sei. Die Mutter ebenfalls. Ob er etwas ausrichten könne, er sei der Sohn. «Nun ja, es ist etwas kompliziert. Ich hätte mich mit deinem Vater oder deiner Mutter gerne rasch an einen Tisch gesetzt, um mein Anliegen zu erklären», sagte Knechtli, er zeigte auf seinen Bund an Akten. Der Junge war interessiert. Er wies zum Wohnhaus und ehe sich Knechtli versah, folgte er schon dem verwilderten Jungen in eine dunkle Küche voller Fliegen. Es schien ihm zwar aussichtlos, dass seine Botschaft verstanden wurde, doch wieso sollte er das Interesse ignorieren, das ihm über raschend entgegengebracht wurde? Also breitete er seine Unterlagen auf dem Holztisch aus, während der Junge ihm 80
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einen üblen Pulverkaffee anrichtete, in einer Tasse, so gross, dass sie einen halben Liter fasste. Eine ganze Stunde lang hörte der Junge zu. Knechtli sprach über Düngung, Mager wiesen, Diversität, Insektensterben und Standortvorteile. Er liess nicht aus, zu erwähnen, dass die Bauern für ihre Mit arbeit grosszügig entlöhnt würden und die Hochschule für Landwirtschaft und Ackerbau obendrein die a usfallende Ernte kompensieren würde. Seinen Kaffee liess er nach ei nem Anstandsnippen stehen und hoffte, dass es dem Jungen nicht auffiel. Er übergab ihm sämtliche Unterlagen zur geplanten Buntbrache, mitsamt einem Formular für die Überweisung des Kompensationsbetrags, falls der V ater ein willigen sollte. Beim Verabschieden, erkundigte sich Knechtli, ob der Junge tagsüber nicht in der Schule sein sollte. Er zuckte nur mit den Schultern. Wie er denn heisse, wollte der Profes sor wissen. «Gheimi», antwortete der Junge. Und weil er ahnte, dass Knechtli diesen Namen nicht kannte, buchstabierte er ihn. Die Idee mit der Buntbrache gefiel Gheimi. Eine Wiese voller Blumen und Insekten, die die Brache ihr selbstver ständliches Zuhause nannten, sich treu darum sorgten. Das war nicht dasselbe wie ein der Stall, in den man die wider willigen Kühe mühsam reintreiben musste, wo sie mit dem Kopf zwischen Eisenstäben stehen und aus dem trostlosen Futternapf fressen mussten, bis ihre Milchleistung a bfiel. Dann wurden sie geschlachtet. Es war auch nicht dasselbe wie ein mit Mais bestellter Acker, der mit dem Pflug um gewälzt werden musste, damit etwas wachsen konnte. Erst wenn die kräftigen Maispflanzen einmal standen und einen dichten grünen Teppich bildeten, wurde der Acker w ieder 81
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zur Natur. Gheimi liebte seine Streifzüge durch die Pflan zen, die ihn überragten. Manchmal wünschte er sich, er würde sich darin verirren. Doch dazu hätte er sich dumm anstellen müssen, schliesslich standen die Pflanzen in Reih und Glied. Manchmal markierte er mitten im Acker einen Schaft mit seinem Messer und versuchte dann anderntags die Pflanze wiederzufinden. Wenn er es schaffte, fühlte er sich wie ein Insekt. Wie eines jener kleinen Wesen, die in der Buntbrache ein- und ausschwärmten und immer wüssten, was zu tun war. In der Buntbrache könnte man sich ver irren, dachte Gheimi. Denn da standen die Pflanzen nicht in Reih und Glied, sondern wuchsen wild. Er hatte Knechtli zwar versprochen, das Gespräch dem Vater auszurichten, doch das war eine leere Versprechung. Gheimi hatte etwas anderes vor. Kurz vor Feierabend begab er sich ins Dorf. Auf der Bank war wenig los. Niemand sollte hören, dass er ein auf sich lautendes Konto eröffnete. «Meinrad Huber, Huberhof, Regenbolz», bestätigte der Mann am Schalter mit dem zufriedenen Lächeln, das ihm ein neu gewonnener Jungkunde wie immer aufs Gesicht zau berte. «Dann bin ich mal gespannt, was das Sparschwein her gibt», meinte er gut gelaunt. Er hatte ja keine Ahnung. Ein Sparschwein besass Gheimi nicht. Genaugenommen besass er keinen Rappen. Doch das sollte sich ändern. Seit die Mutter tot war, ging Gheimi nicht mehr in die Schule. Die Lehrerin konnte ihm ohnehin nichts beibringen, das er für nützlich hielt. Und seit jeher schlossen ihn die an 82
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deren Schüler aus. Obschon, oder gerade weil, sie ihm geistig unterlegen waren. Nur Zerro war sein Freund. Gheimi war überaus intelligent. Woher er seine Gabe zum schnellen Denken hatte, das ihn Zusammenhänge erkennen liess, wo andere keine sahen, wusste er nicht. Seine Vorfahren waren alle Bauern gewesen, die es gewohnt waren, die Dinge so zu tun, wie man sie eben tat. Wenn das aber schon immer so gewesen wäre, dachte sich Gheimi, dann gäbe es keinen Fort schritt. Vermutlich gab es alle paar Generationen wieder einen Querdenker und dank diesen Querdenkern war die Menschheit zu ihrem Fortschritt gekommen. Also machte Gheimi alles ein bisschen anders. Wenn die Lehrerin in schöner Schnörkelschrift an die Tafel vormalte: «Fritz freut sich auf sein Pausenbrot», notierte Gheimi in seinem Heft etwas, das aussah wie ein Code: «Frtz frt sch f sn Psnbrt». Dann erklärte er der Lehrerin, dass er alle Vokale wegge lassen habe, weil er der Meinung sei, dass das menschliche Gehirn die Wörter auch ohne die Laute erkenne, und imstande sei mit dem blossen Skelett der Konsonanten, das richtige Wort zu bilden. Das spare Tinte. Die Lehrerin war erbost. Das sei Unsinn, meinte sie. Schliesslich könnte zwischen den Konsonanten ein beliebiger Vokal s tehen, und dann ergäbe es keine Wörter. Zum Beweis las sie: «Fratz frot such of sin Pesenbret» und triumphierte, das sei keine Sprache, sondern klinge allenfalls entfernt wie Holländisch. Die Klasse lachte. Gheimi widersprach. Es komme eben auf die Intelligenz der lesenden Person an, ob sie imstande sei, den richtigen Vokal einzusetzen oder nicht. Die Lehre rin habe hoffentlich absichtlich falsche Vokale eingesetzt, ansonsten müsste man vielleicht ihre Hirnleistung über prüfen. Daraufhin wurde die Lehrerin stocksauer und schickte ihn heim. 83
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Wegen solcher Scharmützel hatte die Lehrerin Gheimi auf dem Korn. Das war ihm egal und hatte sogar sein Gutes, es war der Lehrerin geradezu recht, wenn er dem Unterricht fernblieb. Und so hielt er sich lieber in den Auen auf oder streifte alleine durch die Maisfelder. Mit den anderen Jugendlichen vom Dorf konnte er nichts anfangen. Sie waren es, die ihm den Namen Gheimi gegeben hatten, um sich über ihn lustig zu machen. Eigentlich hiess er Meinrad, wie sein Vater und vor ihm schon der Grossvater. Wahrscheinlich hiessen die Vorfahren auch weiter hinten im Stammbaum alle so, es fehlte eben der Querdenker, der mit der Tradition brach. Weil sein Haaransatz seitlich ungewöhnlich stark zurückgewichen war, obschon er erst sechzehn war, nannten die anderen Kinder ihn «Geheimrat» anstatt Meinrad und schliesslich wurde «Gheimi» daraus. Er wehrte sich nicht gegen den Namen, irgendwie gefiel er ihm sogar. Es klang geheimnisvoll. Das Leben war geheimnisvoll. Das wollte Gheimi auch sein. Nicht durchsichtig und langweilig wie die anderen mit ihren gewöhnlichen Namen wie Pascal, Michael oder Roland. Sie stellten genau die Personen dar, die ihre Namen vermuten liessen. Bei Gheimi konnte nie mand hinter den Namen blicken. Er liess seine verbleiben den Haare zu einer ungezähmten Mähne wachsen und trug seine Geheimratsecken stolz zur Schau. Dann wurde die Mutter überfahren. Er hätte spätabends noch die Heuballen mit dem Traktor in die obere Etage des Stalls gehievt, hatte der Vater eines Mor gens gesagt. Beim Rückwärtsfahren habe er ein Rumpeln vernommen, und geglaubt, er hätte den Hund überfahren. Doch es sei die Mutter gewesen. Gheimi und Maria sassen wie angewurzelt in der dunklen Küche und lauschten der 84
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schrecklichen Botschaft, die der Vater so überbrachte, als wollte er eine Widerrede vermeiden. Schon früh waren sie an den Tod gewöhnt worden. Wie oft hatten sie eine liebevolle Bindung zu einem Tier aufgebaut, das dann von einem Tag auf den anderen weg war. Wenn der Vater überhaupt etwas sagte, dann, dass dies der «Gang der Dinge sei» und ihnen letztlich das Essen auf den Tisch brachte. Der Huberhof war ein gefühlskalter Ort in der Hand des Vaters, wo Tierseelen Wirtschaftsgut waren. Auch der Tod der Mutter war nichts weiter als der Gang der Dinge. Sie war ganz anders gewesen als der Vater – fröhlich, lebens bejahend. Wenn es junge Katzen gab, half sie, sie im Dach stock vor dem Vater zu verstecken, der sie in die Bolz ge worfen hätte, in einem mit Steinen beschwerten Sack, damit sie sofort untergingen. Man könne es sich nicht leis ten, mehr Mäuler als notwendig zu stopfen. Das war seine Erklärung. Die Mutter sagte zwar stets, dass er früher ein anderer Mensch gewesen sei, bevor er ins Gefängnis hatte gehen müssen. Sie klang dann, als würde sie ihn in Schutz nehmen, sie sagte: «Das Dorf hat ihn zu dem gemacht, der er heute ist … Der Unfall …» Der Vater hatte nur sechs Finger. Vor langer Zeit hatte ihm ein Drahtseil die linke Hand verkrüppelt. Seither war laut der Mutter alles anders. Gheimi konnte das nicht beurteilen. Er kannte nur den Vater, der e inen Handschuh trug, um die hässliche Hand zu verbergen. Und wenn schon: Was half es zu wissen, dass sein Vater früher ein anderer gewesen war? Er ging nicht zur Kirche und grüsste niemanden. Wer nicht zur Kirche kam, gehörte nicht zum Dorf. Und wer nicht grüsste, war ein Feind.
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«Niemand darf das wissen», sagte der Vater. Draussen f ielen die letzten Schneeflocken des Winters, sie vermochten die schüchtern spriessenden Krokusse nicht zu verdecken. Es war die Jahreszeit des Erwachens, nicht des Abschieds. Nur in der dunklen Küche des Huberhofs galt das nicht. «Wenn die drüben vom Tod eurer Mutter erfahren, werden sie mich beschuldigen. Und dann könnt ihr sehen, wo ihr bleibt, wenn der Hof hier stillsteht.» Maria und Gheimi schwiegen. Selten erklärte der Vater ihnen etwas, sie waren sich nur Anweisungen von ihm gewohnt. Hol die Heugabel. Oder: Treib die Kühe in den Stall. Wenn er bis spät nachts an den Landmaschinen schraubte, musste Maria ihm oft helfen, weil sie mit ihren schlanken Armen und dünnen Fingern besser in die Hohl räume der Landmaschine greifen konnte und geschickt darin war, zwischen Schläuchen und Karrenschmiere winzige Schrauben wieder anzuziehen. Es gab viele Dinge, die der Vater mit seiner verkrüppelten Hand nicht ver richten konnte. «Ich habe der Mutter letzte Nacht ein Grab gemacht, sie ruht in Frieden. Kommt mir nicht mit Abdankung und solchem Zeug. Sie ist jetzt tot, daran ändert sich nichts. Wenn ihr Abschied nehmen wollt, dann tut das für euch, das Grab ist hinter der Scheune.» Damit liess er Maria und Gheimi am Küchentisch sitzen. Als Gheimi die aufgeschüttete Erde sah, traten ihm die Trä nen in die Augen. Wütend rannte er in die Auen, wo er erst unter einer Weide zur Ruhe kam. Das Wasser ging wie immer spiegelglatt und ruhig seinen langsamen Weg am Fusse der grossen Bäume. Er nahm sein Messer zur Hand, das ihm die Mutter einst zum Schnitzen geschenkt hatte. 86
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Mit einem Nagel hatte er seinen Namen auf seine Weise in den dunklen Holzgriff geritzt: GHM. Die Mutter hatte sich doch selber längst vom Vater abgewandt. Nie hatte sie es aus gesprochen, doch Gheimi spürte es, wenn sie ihm am Bett eine gute Nacht wünschte. Sie zählte die Tage, bis der Vater draussen auf dem Acker tot umfiel. Dann wären sie frei ge wesen, hätten den Huberhof verlassen und ein glückliches neues Leben anfangen können. Immer wenn er sich in den Maisfeldern versteckte, legte sich Gheimi auf den Rücken und schaute durchs Pflanzendach den Wolken zu, wie sie über den Himmel jagten. Das regte in ihm einen Glauben an die Zukunft. Dabei hätte er es w issen müssen. Der Vater mähte die Felder nieder. Und jetzt hatte er die Mutter über fahren. Ein Gedicht ging ihm durch den Kopf. Gut zu wissen, dass die Erde rund ist, wenn ein Schiff am Horizont über die Ränder versinkt. Gut zu wissen, dass die Erde sich dreht, wenn am Abend die Sonne verschwindet. Dass irgendwo immer Tag ist, und irgendwo immer Nacht. Und überall Welt. Und für einen, der aufbricht, in jeder Richtung ein Heim weg.
* Das Polizeirevier von Regenbolz war in einem stattlichen Neubau aus Beton und Glas untergebracht, mit einem Grünstreifen vornedran, auf dem ein paar mickrige Birken beisammen standen. Das Gebäude, das 2015 feierlich eröffnet worden war, strahlte Sicherheit und Ordnung aus. Im Hinterhof markierten gelbe Kreuze die Parkplätze für 87
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die Einsatzfahrzeuge. Es gab mehr Parkplätze als Fahrzeuge und so entlud der Lastwagen der Spurensicherung seine Fracht auf einer markierten Fläche. Wie von Jacques Teckel angeordnet: sämtliche Gegenstände ohne natürlichen Ursprungs, eingesammelt und mit Etiketten versehen. Und weil im stillgelegten Steinbruch so einiges rumgelegen hatte, war der Hinterhof der Polizei nun mit einer ganzen Menge Müll zugestellt: Es gab grosse Gegenstände, wie die rostige Schaufel oder die Drahtseilrolle, die noch vom früheren Kalkabbau stammten. Dazu gesellten sich Haushaltsgeräte, Autobatterien, Pneus, ein kaputter Rasenmäher und ein Messer. Jacques Teckel dachte bald, dass der Müll zur Lösung seines Rätsels (das er zuerst noch genau definieren musste) wenig beitragen würde. Doch immerhin konnte er schon Mal festhalten, dass der stillgelegte Steinbruch offenbar zur illegalen Müllentsorgung benutzt wurde und man eine Barriere und ein Verbotsschild montieren würde. Erwartungsgemäss gab es unter den Gegenständen nichts Verdächtiges und das war gut so. Es galt ja nur den Anschein einer akribischen Untersuchung zu wahren. Falls die Journalistin erneut Fragen stellen sollte, konnte Teckel getrost berichten, dass die Spurensicherung keine neuen Erkenntnisse zutage gefördert hatte, leider sei von einem Suizid auszugehen. Carla Blaui hatte sich, aus w elchen Gründen auch immer, über die Felswand gestürzt, An zeichen für Dritteinwirkung gab es keine. Noch vor Feierabend wies Teckel die Spurensicherung an, den Schrott zu entsorgen. Einzig das Messer steckte er ein. Immerhin war es so etwas wie eine Tatwaffe, auch wenn es an Carla Blauis Leiche keine Schnittwunden gab. Doch es 88
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stand dem Anschein einer akribischen Untersuchung gut, wenigstens einen Gegenstand verdächtig zu behandeln. Niemand sollte behaupten, er würde das durchaus eigen artige Verschwinden von Blaui und Karrer nicht unter die Lupe nehmen. Nein, Jacques Teckel nahm es genau. Etwas anderes konnte sich der Polizeichef des Dorfs mit dem grössten ungelösten Kriminalverbrechen des Landes auch nicht leisten. In seinem Büro angekommen, tippte Teckel die Merkmale des Messers gewissenhaft in seinen Computer. Er schrieb: Freizeitmesser mit ausklappbarer Klinge von 7 cm, Schaft aus schwarzem Holz. Insgesamt 15 cm lang (wenn Klinge ausgeklappt). In die Zeile «spezielle Merkmale» tippte er: Schwach und vermutlich von Hand eingeritzte Buchstaben im hölzernen Griff: GHM. Die Datenbank gab sofort einen Treffer an. Jacques Teckel sass wie vom Blitz getroffen in seinem Stuhl, die Hände schweissnass und flach auf dem eichenhölzernen Schreibtisch. Da stand: Übereistimmung mit: Akte 1-1986.16/7. / VIERFACHMORD FAMILIE HUBER angelegt von: G.C. Status: UNGELOEST
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Nachdem er sich beim Guck! aus dem Staub gemacht hatte, zog Max Aeschlimann wieder bei seinen Eltern ein. Sie bewohnten ein grosses Haus in einem ruhigen Viertel am Rande Basels. Es war ziemlich ruhig geworden am Vergissmeinnichtweg 36, seit die Kinder ausgezogen waren. Die Mutter freute sich darüber, dass ihr Sohn zumindest vorübergehend wieder Quartier bezog. Morgens sassen sie gemeinsam am runden Tisch in der Küche, tranken Kaffee und die Mutter las den Guck!. Zwar bat Aeschlimann seine Mutter, der Zeitung mit einer Attitüde zu begegnen, mit der sie normalerweise Fremde an der Haustüre empfing, wenn sie sie im Verdacht hatte, Zeugen Jehovas zu sein. Doch sie winkte nur ab. Bereits hatte sie einen Ordner angelegt, in dem sie alle Texte ihres Sohns sammeln wollte. Wenn aus ihm eines Tages ein grosser Journalist werden sollte, dann hätte sie die Anfänge für immer archiviert, sagte sie. Bis auf den Text über den «Raserbullen» war der Ordner leer. Aeschlimann mochte die Frühstücke mit der Mutter. Die Küchentür stand meist offen, auch wenn es allmählich kühler war draussen. Das Radio lief gedämpft und hin und wieder gab die silbern glänzende Espressomaschine ein Gemurmel von sich, worauf er sich einen weiteren Kaffee machte, auch wenn es bereits sein dritter oder vierter war. Kaffee, war er sich sicher, konnte man nie genug bekommen. Und man sollte nie ablehnen, wenn man auf einen Kaffee eingeladen wurde. Das Gemurmel der Maschine verstand er als Einladung. Er schlug die Wochenzeitung auf, die er abonniert hatte, kaum dass er sein persönliches Kapitel Guck! beendet hatte. Die Texte handelten oft von Gleichstellung, Willkommenskultur, Rettung der Demokratie und anderen 90
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wichtige Themen. Doch Aeschlimann konnte sich nicht fürs Lesen begeistern. Natürlich hatte er sich auch bei der Wochenzeitung beworben und war sogar zum Gespräch eingeladen worden. Die Redaktion lag mitten in der Stadt und wirkte ganz anders als das Glasgebäude des Guck!. Es gab eine kleine Bürofläche, die halbwegs zum Café nebenan geöffnet war, wo sich Studenten ganztags durch grosse Bücher wälzten oder am kostenlosen Wifi hingen und dazu eine Afri-Cola schlürften. Am Nachmittag kamen Mütter mit ihren Kindern und das grossräumige Café wurde zum Spielplatz. Die Geräusche drangen nicht zu knapp in die Redaktion der Wochenzeitung, wo man diese aber als kreative Aura und im Sinne der Offenheit und Gemeinsamkeit schätzte, mit der man im Blatt auch über Asylthemen schrieb. Als der Redaktionsleiter Aeschlimann zum Gespräch empfangen hatte, herrschte gerade eine ausgewogene Mischung an Studenten, Müttern und Kleinkindern im Café, sodass man laut sprechen musste, um sich zu verstehen. Der Redaktionsleiter war wenig angetan gewesen von Aeschlimanns Werdegang. Geologie und Guck! boten eine seltsame Mischung, die er nicht einordnen konnte. «Schauen Sie Herr Aeschlimann, sie mögen bestimmt sehr gut in Sachen Religionen sein …», hatte er gesagt. «Wieso Religionen?», «Sagten Sie nicht, Sie hätten Theologie studiert?» «Nein. Geologie.» Er sprach nun etwas lauter, offenbar hatte er zuvor die spielenden Kleinkinder nicht übertönt. «Ach, so …», entgegnete der Redaktionsleiter. «Nun, anyway … Das ändert im Grunde wenig. Was ich sagen wollte: Sie verstehen bestimmt viel von Vulkanen oder 91
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inosauriern. Doch solche Themen sind weniger unser D Kerngebiet.» Aeschlimann hatte erwidert, dass er von Vulkanen und Dinosauriern keine Ahnung hätte, ebenso wenig wie von Religionen, hatte sich für den Kaffee bedankt und war verschwunden. Als er nun die Wochenzeitung vor sich hatte, statt zu lesen jedoch seine Mutter beobachtete, wie sie mit ihrer Lesebrille in den Guck! vertieft war, beschloss er, sein Abo wieder zu künden. Da fiel ihm die Überschrift erst auf, die auf der Rückseite des Guck! prangte. ERNEUTER SCHRECKEN IN REGENBOLZ: LEBENSPARTNERIN DES VERMISSTEN POLIZISTEN K.K. TOT AUFGEFUNDEN. UMSTÄNDE UNKLAR. Er entriss seiner verdutzten Mutter den Guck! und begann zu lesen. Früh am Mittwochmorgen ging beim Leserreporterdienst des Guck! eine seltsame Meldung ein. Ein Mann, der ano nym bleiben wollte, meldete, dass er in einem stillgelegten Steinbruch ausserhalb des Dorfes Regenbolz eine Leiche gefunden habe. Die Redaktion verständigte sofort die Regen bolzer Polizei, welche wenig später den Fundort sicherte. Pikant: Bei der Leiche handelt es sich um C.B. – sie ist die Lebenspartnerin des Regenbolzer Polizisten K.K., der vor einer Woche spurlos verschwunden ist, nachdem er eine Katze überfahren hatte und deswegen vom Dienst suspen diert worden war. Noch immer fehlt von K.K. jede Spur. Nun wird seine Lebenspartnerin tot aufgefunden. War es Suizid? Immerhin lag sie am Fusse einer Felswand. Doch die 92
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Regenbolzer Polizei schliesst offenbar ein Delikt nicht aus. Kommandant Jacques Teckel bot sofort die Spurensicherung auf und liess den stillgelegten Steinbruch auf den Kopf stellen. «Ich will, dass hier jeder Stein umgedreht wird. Wir behandeln alles verdächtig, das keinen natürliche Ursprung hat», lautete seine Anweisung. Seither gibt sich die Polizei bedeckt. Schon jetzt steht fest: Das Verschwinden des Paares C.B und K.K. dürfte ein Rätsel sein, das so schnell nicht ge löst werden wird. Das passt tragischerweise zu Regenbolz – es ist das Dorf mit dem grössten ungelösten Kriminalver brechen des Landes: 1986 wurde eine Familie auf ihrem Hof ausgelöscht. Zwei Jugendliche wurden dafür verantwortlich gemacht, konnten aber mangels Beweisen nicht verurteilt werden. Sie sassen nur milde Haftstrafen ab und wanderten danach nach Südamerika aus. Bleibt zu hoffen, dass das Verschwinden von C.B. und K.K. nicht zum gleichen Mys terium wird.» Darunter prangte das Guck!-eigene Inserat: ETWAS GESEHEN? ETWAS GESCHEHEN? Rufen Sie uns an unter der Nummer 333 444, und gewinnen Sie fünfzig Franken! Der Text war mit einem Foto von Regenbolz garniert. Eigentlich ein friedliches Dorf, ging es Aeschlimann durch den Kopf: Ein paar Häuser versammelten sich um eine Kirche, die erhaben auf einem Hügel stand. Runderhum Ackerlandschaft und Wald. In der Autorenzeile des Artikels stand der Name Ruth Frey. Aeschlimann kannte sie nicht. Er googelte rasch auf seinem iPhone nach Ruth Frey und fand heraus, dass sie 2014 die Journalistenschule in 93
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Luzern abgeschlossen hatte. Bestimmt war sie die neue Praktikantin.
* Dass Jacques Teckel unverhofft über den Vierfachmord stolperte, war keineswegs erfreulich. Der Fall war abgeschlossen. Ungelöst zwar, aber beendet. Regenbolz musste darüber hinwegkommen, die Dorfbewohner mussten diese Sache vergessen und ihr normales Leben weiterleben. Dafür hatte Teckel gesorgt, schon vor über dreissig Jahren, vom ersten Tag an, als er im Amt war. Seine Entdeckung verunsicherte ihn. Es war, als wollte etwas an die Ober fläche dringen, aber dort war es nicht erwünscht. Niemand scherte sich mehr um den Vierfachmord. Teckel wusste allerdings auch, was seit über dreissig Jahren in der untersten Schublade seines Schreibtischs versorgt war. Er holte den Brief hervor. Da stand alles reuig aufgeschrieben – von Zeller. Er mochte einmal ein guter Polizist gewesen sein, doch der Vierfachmord hatte ihn überfordert. Schliesslich war er übergeschnappt. Und er, Jacques Teckel, hatte es richten müssen, auch wenn es etwas Kreativität erfordert hatte. Den Brief hatte er all die Jahre aufgehoben, für den Fall, dass er eines Tages beweisen müsste, wie chaotisch die Ermittlungen 1986 gewesen waren. Zeller hatte das Ver brechen lieber totschweigen wollen. Doch es brauchte eine Erklärung und er, Teckel, hatte sie gefunden. Seine Botschaft an das Dorf hatte gelautet: «Ja, das Böse hat uns heimgesucht. Doch ich bin da, um es zu bekämpfen und uns zu beschützen.» Genau das hatte er getan. Er machte Regenbolz wieder zu etwas, worauf man stolz sein konnte: eine Oase der Bauerntradition und Auenlandschaften. 94
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Er faltete den Brief zusammen und verstaute ihn wieder in der untersten Schublade seines Schreibtischs. Dann prüfte er seinen Eintrag und musste erneut feststellen, dass die Datenbank tatsächlich eine Übereinstimmung gefunden hatte. Am 20. November 2001 war das ominöse Messer von jemandem mit den Initialen «G.C.» erfasst worden. Damals war Werner Zeller schon tot, Er hatte sich nach seiner Absetzung nie mehr von der Flasche lösen können, vereinsamte und erlebte die Jahrtausendwende nicht mehr. 1999 erlag er einem Krebsleiden. Die Initialen G.C. konnten nur bedeuten: Gertrud Conzelmann, die seltsame Künstlerin, die bis 2003 Sekretärin auf dem Polizeiposten gewesen war – und seither ebenfalls übergeschnappt. Hastig löschte Teckel seinen Eintrag aus der Datenbank. Er legte das Messer in die unterste Schublade zum Brief und atmete einen Moment durch. Auf keinen Fall würde er Conzelmann fragen, was es mit dem Messer auf sich hatte. Das würde mehr als bloss alte Wunden auf reissen. Er musste die Sache Carla Blaui in die richtigen Bahnen lenken. Der Fall war abgeschlossen. Selbstmord. Aus Verzweiflung darüber, dass ihr Lebenspartner Kurt Karrer verschwunden war. Der hatte auch Selbstmord gemacht. Weil er suspendiert worden war. Es lag auf der Hand. Dumm war nur, dass es von Karrer nach wie vor keine Leiche gab und das wiederum bedeutete, dass Karrer erst nach zehn Jahren offiziell für tot erklärt werden konnte. Wie dem auch sei. Jacques Teckel räusperte sich, um sicherzugehen, dass seine Stimme in Anbetracht des Trubels nicht an Klangfülle verloren hatte. Sonorität war Sicherheit. Dann begab er sich in die Krone und ass zu Mittag. 95
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Stillschweigend schloss Teckel in den Tagen danach die Akte Carla Blaui. Umso aufsehenerregender verkündete er dafür, dass eine Barriere montiert werde, um den stillgelegten Steinbruch vor illegalen Müllentsorgern zu schützen. Teckel versprach in einer Medienmitteilung die Rückkehr eines «fantastischen Ökosystems» mit seltenen Pflanzen, Eidechsen und Schlangen. Das sollte vergessen machen, dass dort eben noch eine Leiche gefunden worden war. Doch wie er bald merkte, war sein Manöver etwas zu auffällig gewesen, um unauffällig zu sein. Er hatte erwartet, dass niemand auf seine Medienmitteilung eingehen würde (ausser dem Bolzner Anzeiger, der die Mitteilung brav mit Bild auf die Titelseite hob). Aber dann erreichte ihn ein Anruf. «Guten Tag Herr Teckel, hier spricht Frey vom Guck!», hörte er die verfluchte Journalistin sagen. «Ich möchte mich zum stillgelegten Steinbruch erkundigen.» «Es steht alles in der Medienmitteilung, ich nehme an, sie fragen nach der neuen Barriere?», entgegnete er knapp. Ruth Frey verneinte lachend. «Ich frage mich, weshalb Sie die Spurensicherung beigezogen haben?» Teckel glaubte, sich zu verhören. Ihretwegen hatte er die Spurensicherung beigezogen. Und deswegen war er über das verfluchte Messer gestolpert. Er kochte. Sagte aber sonor und sachlich: «Frau Frey, das kann ich aus ermittlungstechnischen Gründen nicht beantworten.» «Aber es ist vermutlich schon deswegen, weil das Verschwinden von Kurt Karrer und Carla Blaui, so kurz nacheinander, ziemlich mysteriös ist, oder?» 96
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«So mag es aussehen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass das Verschwinden dieser zwei Personen zwar tragisch ist, jedoch keine kriminelle Energie dahintersteckt.» «Das deckt sich mit den Erkenntnissen der Spuren sicherung?» «Ja.» «Was ist denn Ihre Erklärung für das Verschwinden der beiden, wenn ich fragen darf?» «Sie dürfen. Aber ich kann Ihnen wie gesagt keine näheren Informationen geben. Nur so viel: Sie können sich vorstellen, dass es für Carla Blaui ein schwerer Schlag war, als ihr Lebenspartner verschwand. Ich kannte beide persönlich, sie waren seelenverwandt.» «Sie vermuten also, dass Carla Blaui Suizid beging, nachdem Kurt Karrer verschwand?» «Ganz genau. Und ich wünsche nicht zitiert zu werden. Dankeschön.» Teckel wollte schon auflegen, als die Journalistin fragte: «Aber von Kurt Karrer gibt es nach wie vor keine Spur, oder?» «Keine weiteren Informationen.» Wieder hatte er schon fast aufgelegt, doch die Journalistin liess nicht locker. «Noch eine letzte Frage, wenn Sie erlauben!» «Gut, eine Frage noch. Dann ist Schluss. Und ich bitte Sie, sich in Zukunft an die Medienstelle der Polizei zu wenden, anstatt direkt anzurufen. Ich könnte jeden Moment zu einem Einsatz gerufen werden.» «Verstehe. Regenbolz ist das Dorf mit dem grössten Kriminalverbrechen des Landes …» «Worauf wollen Sie hinaus?» 97
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Teckel wurde nervös. «Nun ja, ich habe kurz recherchiert. Und wenn ich nicht irre, dann ist es seit 1986 erst das zweite Mal, dass in Regenbolz die Spurensicherung beigezogen wurde. Also habe ich mir gedacht, dass Sie vielleicht einen Zusammenhang zum Vierfachmord von 1986 sehen?» Teckels Hirn signalisierte Alarm. Eine Antwort musste her, nein, eine Lüge. Doch man sollte die Presse nie an lügen, das würde einen früher oder später einholen. Er stammelte, um etwas Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, dass das ja eine abenteuerliche These sei, weit hergeholt, wie sie denn darauf komme? Immerhin liege der Fall weit zurück und sei abgeschlossen. Worauf die Journalistin einwarf: «Aber ungelöst. Und bei solchen erledigt geglaubten Kriminalfällen ist es doch geradezu typisch, dass Jahre, nachdem man die Ermittlungen aufgegeben hat, per Zufall etwas entdeckt wird!» «Gewiss, das kann schon vorkommen. Doch ihre Annahme ist völlig absurd! Ich habe die Spurensicherung beigezogen, weil der Todesumstand von Carla Blaui zunächst nicht offensichtlich war. Doch wie gesagt: Die Spuren sicherung hat absolut nichts zutage gefördert, das ein Verbrechen nahelegt. Und schon gar nichts, das mit dem Vierfachmord zu tun haben könnte!» Teckel plauderte gekonnt, wobei er immer wieder ein Lachen beimischte, das die Lächerlichkeit der Hypothese untermauern sollte. «Sie können sich vorstellen: Im stillgelegten Steinbruch liegt ein Haufen Müll rum, wir haben alte Haushalts geräte, Pneus, Autobatterien und Gartengeräte einge sammelt … wie gesagt allerlei Schrott, aber alles unverdächtig. Völlig harmlos!» 98
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Ruth Frey bedankte sich für das Gespräch. Jacques Teckel gab den Dank zurück. Dann legte er auf. Und begann zu hofften, dass dieser Fluch vorbeiging.
* Die Zeit bei seinen Eltern war wunderbar, auch wenn Aeschlimann keinen Plan hatte, wie es mit ihm weiter gehen sollte. Sein Wunsch Journalist zu werden, war fürs Erste glorreich gescheitert. Stattdessen passte er seinen Tagesablauf den aussergewöhnlich warmen Herbsttagen an. Nach dem Frühstück packte er jeweils sein gestreiftes Badetuch und ein Buch ein, schwang sich aufs Fahrrad und fuhr an den Rhein. Unterhalb der Dreirosenbrücke setzte er sich auf die hellen Kalksteine, die sich in der Morgensonne bereits angenehm aufgewärmt hatten. Da sass er, las in seinem Buch und lauschte dem Lärm der arbeitenden Welt, hin und wieder fuhr ein mit Kies beladenes Schiff vorbei. Das Buch, das er las, handelte von einem Mann der davonlief, Frau und Familie zurückliess, und einfach durchs Land wanderte, ohne Geld und ohne Ziel. Nach 25 Jahren kommt er wieder heim, niemand kennt ihn, die Frau lebt ein neues Leben. Das gefiel Aeschlimann. Der Gesellschaft davonlaufen, einfach, weil es ging. Das Leben war kein Computerspiel, bei dem man nur die Handlungen ausführen konnte, die der Programmierer vorgesehen hatte. Man konnte alles tun. Und nichts. In diesen glücklichen Tagen tat er vor allem nichts. Aeschlimann erinnerte sich an den das Zitat eines berühmten Autors, der auf die Frage nach seinem Erfolg ungefähr so geantwortet hatte: «Die Geschichten sind überall, tagtäglich kreuzen wir sie, wir müssen sie nur erkennen. Das ist der Trick. Hat 99
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man seine Geschichte einmal erkannt, dann läuft sie vor einem ab wie ein Film. Man muss nur noch niederschreiben, was man sieht.». Eigentlich beschrieb er ein Geschenk, wobei Aeschlimann nicht sicher war, ob er den Wortlaut korrekt in Erinnerung hatte. Denn das legitimierte ihn, tagtäglich auf seinem Kalkstein zu sitzen. A lleine mit den Kiesschiffen. Völlig untätig war er nicht. Er baute sich eine Website, nannte sich ganz unverhohlen «Freischaffender Journalist» und tat so, als hätte er ganz viel Erfahrung und könnte sich vor Aufträgen kaum retten. Im Internet Präsenz markieren, das konnte nicht schaden. Es gab ein Kontaktfeld mit seiner Telefonnummer und E-Mail- Adresse – jeder sollte sich bei ihm für eine Zusammen arbeit melden können. Seine Website war kaum zwei Wochen online, als der erste Anruf kam. Laut der Vorwahl musste der Anrufer aus dem Raum Zürich stammen – von dort also, wo die grossen Medienhäuser angesiedelt waren. Aeschlimann nahm voller Erwartung ab und legte bald wieder auf. Es war ein Meinungsforschungsinstitut gewesen, das sich ganz höflich nach seiner Zufriedenheit bei seiner Krankenkasse erkundigt hatte. Es sollte nicht der letzte Werbeanruf sein. Bald musste er feststellen, dass seine Internetpräsenz vor allem ein gefundenes Fressen für die Algorithmen war, die das Netz nach den Dummen abgrasten, die dort freiwillig ihre Kontaktdaten zur Schau stellten. Ein Umfrageinstitut meldete sich, ein Schlüsselservice und eine Krankenkasse. Wobei er jedes Mal geduldig abnahm und sich danach verärgert vornahm, den nächsten Anrufer ohne freundliches 100
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Hallo zum Teufel zu jagen. Ja, er erwartete schon den nächsten Schlüsselservice … Und als der Anruf kam, hatte Aeschlimann einen Plan parat. «Guten Tag, hier spricht Zeller. Ist hier ein Herr Aeschlimann?», fragte ein Fremder zu höflich, um nicht von einem Callcenter zu stammen. Aeschlimann erwiderte: «Nein, hier ist seine Empfangsdame …», wobei er sich nicht die Mühe machte, weiblich zu klingen, «… aber ich verbinde Sie gleich.» Und dann stellte er sein Handy an die Boxen seines Laptops, und liess einen Schlagersong in Endlosschlaufe trällern. Wie lang der ungebetene Anrufer drangeblieben war, wusste er nicht. Aeschlimann räumte seine Installation erst nach einer halben Stunde wieder zusammen. Und da war er weg. Wenn er morgens lange in den Tag schlief, wurde Aeschlimann stets von der Katze geweckt, die neugierig in sein Zimmer spazierte. Er hörte dann, noch im Dämmerschlaf, wie sie darauf bedacht war, lautlos zu sein. Was ihr aber misslang, denn ihre Krallen verrieten sie auf dem Parkettboden. Dann beobachtete er, wie sie in jede Ecke seines leeren Zimmers schaute und wieder davontrottete. Als wollte sie bedeuten, dass es hier nichts zu holen gab. Die überfahrene Katze von Gertrud Conzelmann ging ihm durch den Kopf, der verschwundene Kurt Karrer … Regenbolz. Aeschlimann nahm den Ordner seiner Mutter zur Hand und las den einzigen Artikel, den sie dort abgelegt hatte. Der Text über den «Raserbullen» war ein einziges Armutszeugnis. Er hatte Mühe, das Geschriebene mit sich in Einklang zu bringen, die Sätze waren reine Anbiede101
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rung an eine sensationsgierige Leserschaft, schlimmer noch: der Versuch Gianni Degen zu gefallen. Die Autorenzeile brandmarkte ihn auf immer, sie bedeutete: Max Aeschlimann, mitgegangen, mitgehangen. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen einen Polizisten RASERBULLEN zu nennen, wenn er sich treu geblieben wäre. Als Gertrud Conzelmann anrief, war er hellhörig geworden, obwohl er sich das hätte verbieten müssen. Daraus entstand der Text, den er nun beschämt las. … Doch die Polizei wird Antworten liefern müssen. Der Satz kam ihm bekannt vor. Nicht weil er ihn selber geschrieben hatte. Derselbe Satz stand auch in einem der Artikel von 1986 zum Vierfachmord, den er bei seiner kurzen Recherche zu Regenbolz quergelesen hatte. Weil er nichts Besseres zu tun hatte, rief er die nationale Mediendatenbank auf und suchte nach den Stichwörten «Regenbolz» und «Vierfachmord». Eine ganze Reihe von ein gescannten Artikeln erschien. Die meisten stammten vom Guck!. Ein Titel lautete: SÄUFERBULLE BLEIBT IN KONTROLLE HÄNGEN – AUFKLÄRUNG DES VIERFACHMORDS IN GEFAHR. Verfasst von Boris Boser, einem alten Guck!-Haudegen. Aeschlimann hatte viel von ihm gehört. Boser war für den Guck! eine Schlüsselfigur gewesen. Er definierte den modernen Boulevard mit aggressiven Methoden: Er suchte Angehörige von Opfern zu Hause auf und drohte ihnen, Spekulationen zu veröffentlichen, würden sie ihm die Türe vor der Nase zuschlagen. Mit seiner perfiden Methode hatte er Erfolg. Die Angehörigen sahen sich gezwungen, 102
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ihm Red und Antwort zu stehen, wenn sie nicht riskieren wollten, dass er die Nachbarn ausfragte oder gar etwas erdichtete. Oder Boser schlich auf Abdankungsfeiern herum, verschaffte sich Zugang zu T otenhäusern, wo er Aufgebahrte fotografierte, die man nach einer Frontal kollision notdürftig wiederhergestellt hatte. Boser wollte zur Schau stellen. Sein Lebenswerk hiess: «Schaut her, so weinen die Hinterbliebenen». Offenbar hatte er es auch auf den Ermittler im Vierfachmord abgesehen. Endlich vermeldet die Polizei eine Entwicklung in der Sache des Vierfachmords von Regenbolz – und was für eine! Nachdem der Ermittler Werner Zeller nun seit Wochen keine konkreten Ergebnisse liefern kann, lieferte er sich da für selber. Mit über einem Promille im Blut blieb er in einer Polizeikontrolle hängen und wurde suspendiert. Noch tappt die Polizei beim Vierfachmord weiter im Dunkeln. Immer hin könnte die Suspendierung Zellers auch eine Chance sein, sofern die Polizei nun einen fähigeren Mann in den Posten zu heben weiss. Aeschlimann schob seinen Laptop zur Seite – Zeller, so nannte sich der Mann vom Callcenter, den er neulich in die Endlosschlaufe verbannt hatte … Er begann sich schon leise zu verfluchen, suchte die Nummer in der Anruferliste und drückte auf Rückruf. Der Mann nahm ab. «Guten Tag Herr Zeller, hier spricht Aeschlimann …» «Ach der Herr Aeschlimann. Wie geht es ihnen? Hat ihre Empfangsdame ausgerichtet, dass ich angerufen habe?» Aeschlimann beschloss, nicht näher auf die Empfangsdame einzugehen. 103
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«Genau. Tut mir leid, dass ich sie verpasst habe. Aber jetzt haben wir es ja geschafft, was war der Grund ihres Anrufs?» «Das hat sich inzwischen erledigt, danke für den Rückruf.» «Warten Sie! Kommen Sie aus Regenbolz?» «Natürlich komme ich aus Regenbolz, Zeller ist ein hiesiges Geschlecht.» «Dann kennen Sie bestimmt den Ermittler im Vierfachmord.» «Natürlich. Das war mein Vater. Und das war auch der Grund meines Anrufs. Ich habe gesehen, dass Sie über Regenbolz und die dortige Polizei geschrieben haben. Mein Vater war ja auch Polizist und ist von ihrer Zeitung gejagt worden. Da wollte ich ihnen mal etwas zeigen.» «Moment, ich bin nicht mehr beim Guck!, ich arbeite jetzt als freier Journalist.» «Wie dem auch sei. Mein Anliegen hat sich erledigt.» «Was wollten sie mir zeigen?» «Einen Ordner. Mit den Unterlagen meines Vaters. Sie zeichnen ein anderes Bild als alle Welt kennt.» «Geben Sie mir Ihre Adresse, ich komme gleich vorbei!» «Zu spät Herr Aeschlimann. Ich habe doch bereits gesagt, dass sich mein Anliegen erledigt hat. Ich habe den Ordner einer Journalistin übergeben.» «Ruth Frey …», sagte Aeschlimann resigniert und wartete nur darauf, dass Zeller seine Vermutung bestätigte. «Genau. Sie können sich ja bei Ihrer Kollegin melden, falls es Sie nun doch interessiert.» «Wie gesagt, ich arbeite nicht mehr beim Guck!», er widerte Aeschlimann enttäuscht, während er bereits über104
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legte, wie er diese Ruth Frey kennenlernen konnte. Er war sich sicher: Das war die Geschichte, auf die er gewartet hatte, die ihn finden würde, so wie es der berühmte Autor gesagt hatte. Allerdings hatte der nicht gesagt, dass man die Geschichte zuerst an sich vorbeiziehen lassen durfte und dann eine zweite Chance erhielt … Ein Ordner mit unbekannten Akten zum Vierfachmord! Ganz egal, was da drinstand: Das war eine Goldgrube. «Hat mich jedenfalls gefreut, Sie doch noch zu sprechen, Herr Aeschlimann. Grüssen Sie ihre Empfangsdame», hörte er Zeller noch sagen. Und dann war er weg. Sofort suchte Aeschlimann im Internet wieder nach Ruth Frey und fand sie auf Facebook. Ihr Profilbild verriet, dass sie einen Hund hatte. Aeschlimann schickte ihr eine Freundschaftsanfrage. Und weil sie gerade online war, gleich eine Nachricht hinterher: Hallo Ruth, wir kennen uns nicht. Ich war vor dir Prakti kant beim Guck!, jetzt bin ich freischaffend. Hast du Lust mal auf einen Kaffee, um ein bisschen über den Journalisten beruf zu plaudern? Nimmt mich wunder, was du so vom Guck! denkst und wie du dich nach deinem Praktikum weiter durchzuschlagen gedenkst;-) Nach ein paar Minuten bestätigte sie seine Anfrage. Und auch eine Antwort kam prompt zurück. Hallo Max. Du hast ein Praktikum beim Guck gemacht? Cool. Ich bin fest angestellt. LG. Peinlich. Doch Aeschlimann beschäftigte mehr, dass Ruths Antwort eine abschliessende war. Sie ging nicht auf seinen Kaffee-Vorschlag ein. Und offenbar war sie 105
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dem Guck! gegenüber weniger kritisch eingestellt als er, sonst wäre seine Anfrage auf offene Ohren gestossen. Er tippte: Eine Festanstellung! Gratuliere. Dann kannst du mir ja noch mehr Tipps geben, ich schaffte es nur zu einem dreimonatigen Praktikum. Hättest du Lust auf einen Kaffee diese Woche? Diesmal dauerte es länger, bis ihre Antwort kam, obschon sie die ganze Zeit online war. Lieber Max, ja, ich kann dir gerne ein paar Tipps geben, obschon ich mich auch als Anfängerin betrachte. PS: Ich habe einen Freund … ;-) Sie ahnte offenbar, dass er an anderem interessiert war, als an den Tipps. Er antwortete: Super! Dein Freund muss sich keine Sorgen machen! Und schlug ein paar Termine vor. Normalerweise war Aeschlimann unpünktlich. Er hasste es zu warten, lieber liess er andere warten. Meistens kam er eine Viertelstunde zu spät. Je nachdem, mit wem er sich traf, konnte es auch eine halbe Stunde werden. Diesmal war er pünktlich. Dafür kam sie zu spät. Sie war gross, schlank und elegant in Brauntöne gekleidet, geschmackvoll ohne den Eindruck zu erwecken, als sei sie gerade an der Bahnhofstrasse aus dem Schaufenster einer Boutique entstiegen. Sie war hübsch. Ihr dunkles schulterlanges Haar hatte sie zurückgebunden und ihre ebenso dunklen Augen verrieten irgendwie, dass sie schon vieles gesehen hatte. Aeschlimann hatte sich eine Ruth Frey, die beim Guck! arbeitete, anders vorgestellt. 106
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Sie bestellte einen Grüntee. Aeschlimann sprach sofort den Guck! an. Er stellte fest, dass sie beide ungefähr gleich alt waren und fragte dann, wie sie bereits zu einer solch bemerkenswerten Festanstellung gekommen sei. Sie nahm ihm seine Bewunderung nicht ab. «Nun ja, bemerkenswert …», sagte sie, doch sie hütete sich davor, schlecht über den Guck! zu reden. Stattdessen führte sie aus, wie spannend, abwechslungsreich und fordernd ihre Arbeit sei. Sie gab das wieder, was vermutlich schon in der Stellenausschreibung gestanden hatte. Doch Aeschlimann ahnte, dass es ein Vorwand war. Noch traute sie ihm nicht. «Dann gefällt es dir beim Guck!?» «Ja, auf jeden Fall, wie gesagt.» «Mir hat es auch ganz gut gefallen, obschon mein Praktikum natürlich nicht mit einer Festanstellung zu ver gleichen ist. Woran arbeitest du denn grad so?» «An Verschiedenem.» Sie gab sich bedeckt. Seine Frage war in Journalistenkreisen eine verpönte, ungefähr so, wie wenn man je manden nach seinem Lohn fragen würde. Journalisten hatten immer Angst, ihre unpublizierten Geschichten zu verraten, vor allem wenn der Fragende selbst im Geschäft war. Sofern Aeschlimann das von sich behaupten konnte. «Woran denn konkret?», hakte er nach. Sie überlegte eine Weile und sagte dann: «Hauptsächlich gehe ich gerade rumänischen Bettlern nach.» «Ach so, die Bettlerbanden, die in Bussen über die Grenzen kommen, angeblich …» Offenbar hatte Degen die Bettlerbanden nicht aufge geben. Er erwartete nicht, dass sie seine Skepsis teilte. 107
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«Es gibt schon Indizien. Warst es also du, der dazu schon recherchiert hat? Degen erwähnte etwas.» So wie sie «recherchiert» betonte, schien sie über sein Treiben im Bild zu sein. Doch immerhin verleitete es sie zu einem Schmunzeln, was Aeschlimann als Fortschritt im Vertrauensgewinn wertete. «Bestimmt hat Degen dir von meinem Versagen erzählt. Na ja, darum sitze ich ja jetzt ohne Job da», sagte er gleichgültig. «Ja, vermutlich.» Sie lächelte etwas unbeholfen, als wollte sie ihm nicht zu nahe treten. «Wie dem auch sei. Und sonst? Gibt es irgendwelche heissen News beim Guck!?» Das war eine denkbar dumme Frage. Jetzt klang er definitiv, als wollte er sie aushorchen. Sie schaute ihn einen Moment lang ruhig an. Ihre dunklen Augen fixierten ihn wissend, Aeschlimann hätte sich ertappt vorkommen müssen. Doch dazu war der Anblick zu schön. «Du bist nicht hier, um irgendwelche Tipps für deinen Werdegang zu kriegen, richtig? Hätte mich ehrlich gesagt auch überrascht. Weisst du, ich habe einiges über dich gehört beim Guck! und all das klang nicht danach, als ob du ausgerechnet bei einer Guck!-Journalistin Rat suchen wolltest. Kann es sein, dass du an etwas ganz Bestimmtem interessiert bist?» Sie war schlau. Doch sein Versteckspiel hätte ihn sowieso nicht weitergebracht. «Ich weiss von dem Ordner. Er hätte eigentlich bei mir landen sollen, der Besitzer wollte ihn mir zustellen, doch ich verpasste seinen Anruf. Und dann hat er sich schon bei dir gemeldet.» 108
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Es hatte etwas Befreiendes. Jetzt begegneten sie sich auf Augenhöhe. «Interessant. Ich sollte mich bei dir bedanken. Obschon ich mir deinetwegen zuerst eine Standpauke an hören musste, was meine Zeitung für miesen Journalismus betreibe …. Der Besitzer des Ordners enervierte sich ab deinem Artikel über die tote Katze und den Raserbullen und meinte dann, wir sollten besser mal richtig recherchieren, anstatt stets nur oberflächlichen Unsinn über Regenbolz zu schreiben.» «Geht es im Ordner um den Vierfachmord?» Sie überlegte kurz, als würde sie abwägen, ob es sich lohnen könnte, ihn in die Sache einzuweihen. «Es scheint so, als wären darin einige Notizen des damaligen Ermittlers abgelegt.» «Was steht drin?» «Ich hab noch nichts gelesen.» Aeschlimann glaubte ihr nicht. Die Katze war aus dem Sack. Sie hatte alles in der Hand. Er rechnete sich verschwindende Chancen aus, dass sie ihn am Ordner teil haben liess. «Das könnte jedenfalls eine Riesenstory sein. Un bekannte Akten vom Vierfachmord …», sagte er, und versuchte desinteressiert zu klingen. «Wer weiss.» «Was wirst du tun?» «Keine Ahnung. Mir in Ruhe alles ansehen.» «Ich gehe mal davon aus, dass du dabei nicht auf meine Hilfe erpicht bist.» Sie lachte. Es war kein böses Lachen. Sondern eines, das ihr hübsches Gesicht noch schöner werden liess und in dem Mitleid mitschwang, als hätte er ihr soeben seine 109
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Liebe gestanden. Bestimmt hatte sie sich dieses Lachen antrainiert, um Männern eine möglichst schonende Abfuhr zu erteilen. «Wir werden sehen. Aber ich muss jetzt los. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.» Aeschlimann bezahlte. Sie bedankte sich mit einem weiteren Lächeln, doch diesmal mit einem, das ihn hoffen liess. Noch hatte sie ihn nicht abserviert. Auf dem Heimweg von Zürich nach Basel stieg Aeschlimann spontan auf halbem Weg aus dem Zug und nahm den Bus nach Regenbolz. Er wollte das Dorf mit eigenen Augen sehen. Der Busfahrer grüsste praktisch jedes ent gegenkommende Fahrzeug, indem er zwei Finger hob. Man kannte sich. An einer Station mitten in der Ackerlandschaft stieg Aeschlimann aus und legte den Rest des Wegs entlang der Landstrasse trotz leichten Regens zu Fuss zurück. Ein Tempo-50-Schild markierte den Beginn des Dorfs. Es folgte ein Holzgebilde in Form eines Chalets, das aber nichts weiter war als ein aufwendiges Willkommensschild. Ein Beet war davor gepflanzt mit Mohn und anderen Blumen, die Aeschlimann nicht benennen konnte. In geschwungenen Lettern stand da: Willkommen in Re genbolz, Oase der Bauerntradition und Auenlandschaften. Aeschlimann erinnerte sich nicht, je ein so aufwendiges Willkommensschild gesehen zu haben. Man hätte auch auf das Schild schreiben können: Vergesst den Vierfachmord. Die ersten Häuser waren Neubauten mit Flachdächern, Carports und Satellitenschüsseln. In den Gärten gab es Swimmingpools, Plastikliegestühle oder Teakholzmöbel und imposante Grillgeräte. Typische Wohnträume einer 110
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in der Stadt arbeitenden und auf dem Land lebenden Mittelschicht. Die Anwesen waren von Zäunen oder Kalksteinmauern umgeben, als hielten die Bewohner ihre Nachbarn für Feinde. Von einer Oase der Bauerntradition war nichts zu sehen, zumindest nicht am Dorfrand, der eine gesichtslose Siedlung darstellte, in der jeder sein bisschen Luxus verteidigte. War es am Ende gar erstaunlich, dass hier nicht noch mehr Vierfachmorde g eschehen waren? Im Dorfkern gab es alte Bauernhäuser mit Ziegel dächern und Sichtbalken, eine Bankfiliale und einen modernen Polizeiposten. Vor dem Dorfladen stand eine Tafel mit der Aufschrift: «Heute frischer Fisch». Hoch über den Dächern thronte die Kirche auf einer Anhöhe, die Kapellhügel hiess, wie einem Wegweiser zu entnehmen war. Dort oben lag auch der Friedhof. Aeschlimann fragte sich, wie wohl das Grab der Vierfachmord-Opfer aussehen musste. Doch er war zu faul, um hochzusteigen. Statt dessen ging er weiter durchs Dorf, vorbei an der einzigen Dorfbeiz, die Krone hiess. Im Haus nebenan gab es einen Jagd- und F ischerladen: Zerro᾽s Angelzubehör und Waffen. Danach folgte wieder der Gürtel der Neubauten. Und dann ein zweites Willkommensschild am Dorfausgang, gefolgt vom Tempo-50 Schild. In der Ferne lag ein Hof, der von der Landstrasse zwei geteilt wurde. Je näher er dem Anwesen kam, desto bekannter kam es Aeschlimann vor. Das musste der Nusshof sein. Er erinnerte sich an das Foto von Gertrud Conzelmann, das im Guck! erschienen war. Irgendwo auf der Landstrasse musste die Katze überfahren worden sein. Die Neugier packte ihn. Vielleicht war G ertrud Conzelmann 111
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zu Hause und konnte ihm e twas über den verschwundenen Polizisten erzählen, e twas, das es noch nicht aus Regenbolz herausgeschafft hatte. Er suchte nach dem Eingang zum Wohnhaus und war nicht sicher, ob er vor der richtigen Türe stand, denn da gab es zwar ein Klangmobile und eine Sammlung verdorrter Wurzelstöcken. Aber keine Klingel und auch sonst nichts, das verriet, ob hier eine Gertrud Conzelmann wohnte. Seltsame Klänge drangen aus dem Inneren, vielleicht von einem Xylophon. Sofort war er sicher, dass er richtiglag. Er beschloss zu warten, bis die dissonanten Klänge verstummten, vorher würde sie es sowieso nicht hören, wenn er an die Tür klopfte. Eine Dreiviertelstunde stand er im Nieselregen auf der Landstrasse und konnte sich selber nicht erklären, was er hier tat. Endlich endeten die Klänge, die zusammen mit dem grauen Himmel und der nassglänzenden Landstrasse eine wahre Weltuntergangsstimmung zelebrierten und er hörte gedämpft einen Dialog zwischen einem Mann und einer Frau. Dann ging die Türe auf, der Mann verabschiedete sich und streifte mit dem Kopf haarscharf am Klangmobile vorbei. Er spannte einen Regenschirm auf, grüsste knapp, als er Aeschlimann sah und verschwand über die Landstrasse Richtung Dorf. «Frau Conzelmann?» Sie war gerade im Begriff wieder durch die Tür in ihr Klangreich zu verschwinden, drehte sich aber misstrauisch um. «Kennen wir uns?» «Mein Name ist Aeschlimann, ja, wir haben einmal telefoniert. Ich bin, beziehungsweise war, Journalist beim Guck!. Sie haben mich angerufen, als ihre Katze überfahren wurde, erinnern sie sich?» 112
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«Natürlich. Was wollen Sie?» «Ich bin gerade zufällig vorbeigekommen, eigentlich vermutete ich hier die Bushaltestelle …» «Die ist weiter die Strasse lang.» Sie wischte sich die Regentropfen mit dem Seidentuch, das um ihren Hals hing, von den dicken Brillengläsern. «Was machen sie mitten auf der Landstrasse bei diesem Wetter?», wollte sie plötzlich wissen. Bevor er etwas entgegnen konnte, bot sie ihm an, auf einen heissen Tee herein zu kommen. Ein dunkler Flur führte in die Küche mit schwarz-weiss gekacheltem Boden und einem kleinen Gasherd, der leicht schief stand, sodass man beim Braten von Spiegeleiern Mühe hätte. Vermutlich briet Gertrud Conzelmann keine Spiegeleier. Überall standen Kerzen. Man konnte sich leicht vorstellen, wie der Nusshof eines Tages niederbrennt, weil Gertrud Conzelmann sich schlafen gelegt und dummerweise nur 102 der 103 Kerzen gelöscht hat. Alles war alt im Haus und zugestellt mit irgendwas: Skulpturen aus Ton, Vasen, Wurzelstöcke, Instrumente. Die Wände waren mit üppig gerahmten Fotografien von Landschaften, alten Menschen und Wolkenbildern zugepflastert. Die Böden waren schief und nicht aufeinander abgestimmt, sodass es überall Schwellen und Stufen gab. Ein grosszügiger Kachelofen schien die einzige Heizung zu sein. Aeschlimann erhaschte einen kurzen Blick in das Musikzimmer, in dem Gertrud Conzelmann offenbar ihre Totentänze aufführte. Ein paar Instrumente standen h erum, von denen er nur die Harfe und die Trommel benennen konnte. Der Rest musste aus fernem Orient oder von sonst woher stammen und fremd klingen. In der Luft hing ein Geruch 113
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von Räucherstäbchen. Conzelmann wies ihn an, sich an den kleinen Küchentisch zu setzen. «Mögen Sie Brennesseltee?» «Gern.» Sie setzte Wasser auf. Er hasste Brennesseltee, aber es schien ihm der Situation bekömmlich, sich den Gesetzen in der kleinen Küche widerstandslos zu unterwerfen. Auf dem Tisch lag eine Broschüre von FuturNatur mit der Aufschrift: «Biber auf dem Vormarsch: Der Herr der Flüsse kommt zurück.» Conzelmann nahm ein Stück Holz zur Hand, hielt es an den Herd und liess es anbrennen. Sofort verbreitete es duftenden Rauch. Mit andächtigen Bewegungen mass sie damit den Raum aus und verschwand in den Flur. Als sie zurückkam, bemerkte Aeschlimann, welch angenehmer Duft das doch sei. Sie entgegnete knapp: «Palo Santo». Weil ihm das nichts sagte und er diesen Umstand nicht rechtzeitig mit einem wissenden Nicken kaschierte, führte sie aus: «Heiliges Holz. Aus Südamerika, ein Brauch von den Indios. Der Duft wirkt belebend, schützend, schlichtend. Böse Geister fliehen vor ihm und negative Energie wird zu positiver.» Aeschlimann nickte. Sie setzte sich ihm gegenüber. «Myria war ein so treues Wesen. Ich kämpfe mich zurück ins Leben.» Aeschlimann gab sich Mühe mitleidig zu schauen. «Verstehe. Ja, der Verlust muss schmerzhaft gewesen sein.» Sie nahm einen Schluck Brennesseltee. Er tat es ihr gleich. Der Tee schmeckte wie wenn jemand Spargeln gegessen und danach seinen Urin aufgekocht hätte. 114
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«Kommen Sie, ich zeig Ihnen die Grabstätte.» Conzelmann bugsierte ihn in den wild wuchernden Garten und zeigte die Stelle, wo etwas schwarze Erde brachlag und Myria vergraben sein musste. Ihr Futternapf aus Porzellan stand da. Gertrud Conzelmann hatte ihr Palo Santo in der Hand und befreite Myrias Grab von bösen Geistern. Plötzlich fragte sie, ob er keine Kamera dabei habe: «Sie wollen doch bestimmt über Myria schreiben und wie es mir jetzt, drei Monate nach ihrem Tod geht. Machen Sie ein Bild von der Grabstätte, ich habe nichts dagegen. Die Welt soll ruhig sehen, dass ich mein Tier genauso würdevoll wie einen Menschen verabschiede.» «Ach so, nein. Ich arbeite nicht mehr bei der Zeitung.» Sie zerrte ihn wieder in die Küche. «Myria war mein Ein und Alles. Ich kann keine Katze mehr haben, es gibt keine andere als Myria. Verstehen sie?» Aeschlimann nickte. «Ausserdem hatten es Katzen schon immer schwer in diesem Dorf. Aber es gibt auch andere Tiere, um die ich mich kümmern kann. Das hier ist ein Geheimnis, sie können es doch für sich behalten?» Sie nahm die FuturNatur-Broschüre zur Hand. Aeschlimann fragte sich, ob Gertrud Conzelmann noch ganz bei Sinnen war, wenn sie von einem Dahergelaufenen, von dem sie nur wusste, dass er einmal bei der Zeitung gear beitet hatte, die ganz sicher keine Geheimnisse hütete, Schweigsamkeit verlangte. Sie war nicht ganz bei Sinnen. Er versicherte ihr, dass er schweige wie ein Grab, wobei sie die Redewendung irritierte. Als sie sich wieder gesammelt hatte, triumphierte sie: «Biber!» «Sie wollen sich einen Biber anschaffen?» 115
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«Nicht einen. Ich will mehrere!» Sie breitete die Broschüre aus. «Vor hundert Jahren wurde der Biber hier vertrieben, weil man die Flüsse untertunnelt und begradigt hat. Doch seit überall renaturiert wird, bilden sich wieder die Habitate, die er braucht. Waren sie mal in den Auenlandschaften, welche die Bolz hier formt?» Die Bolz war der Bach, der durch Regenbolz floss. Aeschlimann hatte noch nicht viel davon gesehen, denn die Bolz verlief grösstenteils in einem Tunnel unter dem Dorf hindurch. Aber auf dem Willkommensschild wurden die Auenlandschaften ja gerühmt. Sie mussten etwas ausserhalb des Dorfes liegen. «Sie wollen also den Biber aussetzen? Haben Sie ein Projekt gestartet?» «Ja und nein. Ja, ich will den Biber wieder hier haben, er wurde von hier vertrieben wie die Indianer aus Amerika. Wer würde die Indianer nicht wieder durch die Prärie reiten sehen wollen?» Aeschlimann sagte nichts. «Und nein, ich habe kein Projekt gestartet. In diesem Dorf würde das nur auf Ablehnung stossen. Ich habe da meine eigenen Ideen, Sie werden schon sehen. Aber Sie müssen den Mund halten, hören Sie.» Er versicherte ihr nochmal sein Schweigen (diesmal ohne Grab), bedankte sich für den Tee und schickte sich an zu gehen. «Es ist an der Zeit, dass wir Tieren auf Augenhöhe begegnen, verstehen Sie», sagte Conzelmann zum Abschied.
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5 Der Plan 12. April 1986 Seit die Mutter tot war, fiel Maria die Arbeit im Haushalt zu. Gheimi half, wo er konnte und verrichtete weiterhin seinen Dienst auf dem Hof, wobei er den Vater, so gut es ging, mied. Nur zum Abendessen mussten sie sich mit ihm an den Tisch setzen. Das war schon immer eine stille Angelegenheit gewesen, niemand hatte das Bedürfnis zu reden. 19 Tage nach dem Tod der Mutter beschloss Gheimi, das zu ändern. Es würde zu reden geben. Er legte die Unterlagen des Professors auf den Tisch. «Was ist das?», raunte der Vater. «Pläne für eine Buntbrache. Die Hochschule für Land wirtschaft und Ackerbau wird sie diesen Sommer auf unse rem Acker am Waldrand errichten.» Maria warf Gheimi einen fragenden Blick zu. «Die werden auf meinem Land gar nichts errichten», entgegnete der Vater gelassen, ohne die Unterlagen anzu sehen. Gheimi liess sich nicht beirren. «Doch, da steht es. Die Gemeinde hat das beschlossen, sie ist dazu befugt.» Die Dokumente sahen amtlich genug aus, um dem Vater weiszumachen, dass die Sache ohne sein Einverständnis entschieden wurde. «Soso. Das Amt für Klugscheisser will mir den Ackerbau erklären. Und warum sollten die sich an dich wenden?» «Du warst auf dem Feld draussen, als der Professor kam.» 117
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«Dann richte dem Professor doch das nächste Mal aus, dass er sich von meinem Land scheren soll und seinen Bunt blödsinn sonstwo aufbauen soll.» Alles lief nach Plan. «Wie gesagt, das ist beschlossene Sache. Ich habe damit nichts zu tun. Ich habe nur die Botschaft entgegengenommen und gesagt, dass ich dich informiere. Die wollen schon bald mit der Aussaat beginnen. Weil unser Acker die idealen Bedingungen hat und es um wissenschaftliche Daten geht, dürfen die das bestimmen.» Der Vater wurde rot im Gesicht, doch Gheimi konnte erkennen, dass er ihm den Schwindel glaubte und fuhr fort: «Wenn niemand mitbekommen soll, dass Mutter tot ist, dann spielen wir besser mit, ohne grossen Widerstand zu leisten. Sonst kommen die von der Gemeinde hierher und stellen Fragen. Dann werden sie sich vielleicht nach Mutter erkundigen.» Meinrad Huber schwieg. Dass jemand von der Gemeinde bei ihm rumschnüffelte, konnte er zuletzt gebrauchen. Und schon gar nicht sollte der verdammte Dorfbulle aufkreuzen, der letztlich an allem schuld war. Ines hatte seltsam gewirkt in letzter Zeit, ängstlich fast. Mehr als einmal war sie spä ter als üblich von den Chorproben heimgekommen. Schnell hatte er den Verdacht gehegt, dass sie einen anderen Mann trifft. Er hatte sich bei den a nderen Chormitgliedern um gehört und erfahren, dass sie hin und wieder gefehlt hatte. An einem Mittwochabend hatte er ihr nachgestellt. In sicherer Distanz und im Schutze der Dunkelheit war er ihr gefolgt, bis auf den Kreuzberg. Es hatte vertraut ausgesehen, wie sie gemeinsam auf der Bank gesessen und an Tassen ge nippt hatten. Ines und der Dorfbulle.
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Er hatte seine Ines danach in der Küche erwartet. Sie hatte ihn in der Dunkelheit zuerst nicht bemerkt, dann nach Luft geschnappt und ihn hysterisch angeschrien. «Was machst du mit Maria? Sag es mir! Ist es wegen mir? Weil wir getrennte Schlafzimmer haben?» Ehe er sich versah, hatte sie das Brotmesser von der Küchenablage in der Hand und kam auf ihn zugeschossen. Er konnte sie abwehren, indem er sie seitlich von sich weg stiess, wie er es tat, wenn erschreckte Kälber zum Angriff ansetzten. Sie prallte mit dem Kopf in den Küchenschrank und blieb reglos am Boden liegen. Als er sie auf den Rücken kehrte, entdeckte er das Messer. Sie hatte den Schaft noch in den Händen, die Klinge steckte in ihrem Leib. Ines war nicht mehr zu helfen gewesen. «Wenn nur einer von denen einen Fuss weg vom Acker setzt und auf den Hof kommt, knall ich ihn ab. Sag deinem Professor Bescheid.» Gheimi nickte und hielt dem Vater Stift und Papier hin, das er zu unterschreiben hatte. Meinrad Huber senior war mit seinen Gedanken immer noch bei der verstörenden Mittwochnacht. Er war sich seiner Schuld bewusst. Hätte er sie bloss nicht so grob abgewehrt. Doch was hatte Ines derart aufgebracht? Er hatte sie wegen dem Dorfbullen zur Rede stellen wollen, es hatte sich aber angehört, als ob sie ihm etwas vorhalten wollte. Im nächsten Moment war sie mit dem Messer auf ihn zugeschossen, als wäre er ein Monster. Ohne das Dokument genauer anzuschauen, setzte er seinen Namen darauf. Ihm blieb verborgen, dass die Kom pensation für den Ernteverlust stattliche fünftausend Franken pro Hektar betrug. Und er bemerkte auch die leer stehende Zeile für die Kontoangabe nicht. 119
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Zum ersten Mal erkannte Gheimi, dass es ein Vorteil sein konnte, wenn man denselben Vornamen wie der Vater trug. Im Mai 1986 liess die Hochschule für Landwirtschaft und Ackerbau die Saat ausbringen und bald spross ein grüner Flaum, der zur meterhoch wuchernden Buntbrache werden sollte. Die 15.000 Franken wurden von der Hochschule für Ackerbau und Landwirtschaft pünktlich auf Gheimis Konto überwiesen. Das Geld würde die Flucht aus Regenbolz ermöglichen. Noch wusste Gheimi nicht wie. Hauptsache Maria und er kamen weg vom Huberhof. Er hatte gehört, dass in der Stadt Kies- und Ölschiffe anlegten, die sich nach der Löschung wieder auf den Weg flussabwärts machten: Frankreich, Deutschland, Holland – bis zum Meer. Wenn es gelingen würde, auf einem Schiff als Matrosen anzuheu ern, dann läge ihnen die weite Welt zu Füssen. Am ersten Schultag nach den Sommerferien würden sie abhauen. Den Vater alleine zurücklassen auf dem Huberhof und nie in der Schule ankommen, sondern Regenbolz für immer den Rücken kehren.
* Nachdem die polizeiliche Ermittlung nichts ergeben hatte, Dritteinwirkung schloss man aus, wurde Vincenzo Blaui der Totenschein seiner Schwester ausgehändigt. Er war ihr einziger Angehöriger. Der Versicherer verliess an einem Montagmorgen seine Verbena, um die Urne gegen eine Gebühr von 110 Franken beim Krematorium abzuholen. Im Regenbolzer Anzeiger gab er eine Todesanzeige auf.
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Carla Blaui, 2.6.1968 – 20.9.2018 Und wieder ist es Schlafenszeit, ein grauer Tag zerrann, und morgen legst du Müh’ und Kleid gehorsam wieder an. Und wenn du manchen Morgen so dich in den Tag gefügt, kaum traurig, aber selten froh, sagt Gott wohl: Es genügt. Richard von Schaukal Die Worte passten gut zu Carla, fand Vincenzo. Sie er zählten viel über seine Schwester. Doch die Regenbolzer würden die Zeilen für ein austauschbares Gedicht halten, wie sie es ihren Verstorbenen selber mit ins Grab gaben. Carla hatte sich nie abfinden können, mit dem, was sie vor vielen Jahren getan hatte. Seither führte sie ein Leben auf der Flucht – kaum traurig, selten froh. Niemand kannte ihr Geheimnis. Nachdem Kurt verschwunden war, hatte sie aufgebracht angerufen. Vincenzo hatte sie zu beruhigen versucht. «Jetzt warte doch mal ab, Carla. Kurt versteckt sich irgendwo, weil er ein stolzer Polizist ist und in seiner Funktion, eine, nun ja, nicht die beste Figur abgegeben hat. Bestimmt taucht er bald wieder auf. Die Suspendierung ist ja nur vorläufig. Er wird seinen Dienst weitermachen, der Zeitungsartikel gerät in Vergessenheit und alles geht weiter wie zuvor», hatte er gesagt. Doch sie war wütend geworden. 121
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«Begreifst du denn gar nichts? Ein Polizist ist verschwunden! Aus heiterem Himmel. Dem werden sie nachgehen, die werden bei mir aufkreuzen und Fragen stellen! Und dann fliegt alles auf!» Kurz darauf fand Vincenzo seinen Schwager tot im still gelegten Steinbruch und verbrannte ihn. Er wollte seiner Schwester helfen, verhindern, dass Kurts Verschwinden näher untersucht wird – obschon er wusste, dass Carla damit nichts zu tun hatte. Sie hütete ein anderes Geheimnis. Er stellte die Urne auf seinen Schreibtisch und widmete sich einem Schadensfall, den das Ehepaar Wutz im Zuge des Unwetters zu vermelden hatte: Ihr Sonnensegel hatte sich mit dem Wind davongemacht und war erst am Kirchturm auf dem Kapellhügel hängen geblieben. Es war nicht mehr zu retten gewesen. Das Rezept seines Erfolgs war, dass er die Verbena nicht so führte, wie man es von anderen Versicherungen kannte, die sich auf kleingedruckte Paragraphen beriefen, um sich der Zahlungspflicht zu entziehen. Vincenzo zahlte so gut wie alles. Und jedes Jahr schenkte er seinen Kunden ein Glas Honig zu Weihnachten. Die Regenbolzer schlossen gerne Versicherungen ab. Man brauchte sie nicht einmal dazu zu animieren. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass Regenbolz das Dorf mit dem grössten ungelösten Kriminalverbrechen des Landes war. Im kleinen Schaufenster, das zur Dorfstrasse gerichtet war, hatte er einen simplen Schriftzug angebracht: VERBENA VERSICHERUNG – Damit das Leben sicher ist. Zwei Modellflieger hatte er auch reingestellt. Jeder im Dorf wusste, dass die Modellfliegerei sein grosses Hobby war. 122
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* Wider Erwarten meldete sich Ruth Frey mit einer Nachricht auf Facebook bei Aeschlimann. Hast du Lust, mal gemeinsam in den Ordner zu schauen? Lg Ruth Natürlich hatte er Lust, wobei er sich nicht so ganz sicher war, woher diese Lust rührte. War es die Jagd nach der grossen Geschichte? Regenbolz wurde ihm nach dem Treffen mit Conzelmann und ihren Biberfantasien allmählich zu bunt, er hatte das Dorf beiseitegelegt und sich um seine finanzielle Lage gekümmert, indem er in einem Café zu kellnern begann. Es war wohl eher das Wiedersehen mit Ruth, das ihn dazu bewog, sofort mit Ja, unbedingt zu antworten. Die Vorstellung, mit ihr sinnsuchend einen geheimnisvollen Ordner zu durchstöbern, gefiel ihm ausserordentlich gut. Egal, welches Geheimnis man dabei lüftete. Dieses Mal war auch sie pünktlich. Sie bestellte keinen Grüntee, sondern eine Cola und wuchtete den Ordner auf den Tisch. «Ich hab mal ein bisschen reingeschaut. Da sind vor a llem Zeitungsartikel drin. Sieht aus, als hätte Werner Zeller seinen persönlichen Medienkrieg geführt.» Aeschlimann begann zu blättern. Zeller hatte in den alten Guck!-Artikeln viele Stellen rot angestrichen und in einer sauberen Handschrift kommentiert. «Habe ich so nie gesagt» stand da, oder «Kann man nicht belegen.» Einmal stand: «Das hat der verdammte Dackel verursacht, hat mit mir nichts zu tun!» Es wirkte wie das 123
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ermächtnis eines Verbitterten. Mehr nicht. Die ‹Akten› V waren nichts anderes als die gesammelten Boser-Artikel, die Zeller so nicht stehen lassen wollte. Damit liesse sich höchstens die Guck!-Berichterstattung kritisieren, sofern Zeller denn recht hatte, was zu prüfen aufwendig und nutzlos schien. Wen interessierte es schon, ob die Zeitung in einem Fall, der über dreissig Jahre zurückliegt, publizistisch belangt werden konnte? Vielleicht diente der Ordner immerhin dazu, den Kontakt mit Ruth aufrechtzuerhalten. Sie fischte ein Notizblatt aus dem Ordner. Lose Sätze standen darauf, als ob Zeller eine To-do-Liste a ngefertigt hätte. «Das ist spannend», sagte sie nachdenklich, ihre Stirn in Falten gelegt, wie sanfte Dünen, untermalt von makellos symmetrischen Augenbrauen, die ungeschminkt waren und dennoch die Ausdruckstärke eines hundertköpfigen Männerchors hatten. Ihre Wimpern waren lang und schutzbietend, sie hüteten das Geheimnis in ihren dunkelbraunen Augen. Sie sah auf und bemerkte, dass Aeschlimann gedankenverloren starrte. Jedoch nicht auf das Blatt, auf das sie den Finger gelegt hatte. Es war ihm peinlich. Sie lächelte, wobei er sich bemühen musste, nicht an den Grübchen in ihren Wangen hängen zu bleiben. Auf dem Blatt standen drei stichpunktartige Sätze, immer quittiert mit einem Ausrufezeichen und drei Grossbuchstaben: – Es gibt keine alte Doris! – Ines keine Brille! – Mähdrescher und Katzen haben nichts miteinander zu tun! – > GHM 124
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«Ja in der Tat, das ist spannend, irgendwie geheimnisvoll. Da sollte man unbedingt dranbleiben», sagte Aeschlimann. Er musste sich beherrschen. «Immerhin können wir dem mal nachgehen. Zellers Sohn, der uns den Ordner gegeben hat, könnte wissen, wer die alte Doris ist und was es mit der Brille dieser Ines Huber auf sich hat. Sie war eines der vier Mordopfer. Aber diese drei Punkte klingen ja wie Kernargumente, die zu diesem GHM führen, was immer das ist. Vielleicht eine Firma. Auch dem können wir nachgehen.» «Ja, unbedingt», sagte Aeschlimann, nun fast euphorisch. Nicht wegen ihres Tatendrangs. Sie hatte «wir» gesagt. Sie waren ein Team. So liess sich an Geheimnissen arbeiten. Ausserdem war ihm etwas aufgefallen: Der Ermittler Zeller erwähnte die Katzen in seinen Notizen. Und Gertrud Conzelmann sagte, dass es Katzen schon immer schwer gehabt hätten in Regenbolz. Es klang, als bezog sie sich nicht nur auf ihre Myria. Aeschlimann d atierte Ruth über seine Begegnung mit der Musiktherapeutin auf. Regenbolz war schlagartig wieder zuoberst auf seiner Prioritätenliste.
* Gertrud Conzelmann war eine Frau, die man leicht unterschätzte. Sie lebte in ihrer eigenen Welt wo Klänge und Düfte regierten. Im Dorf galt sie als die «seltsame Künstlerin» und wurde nicht wahr- und schon gar nicht ernstgenommen. Dabei beherrschte die Musiktherapeutin auch, was die bodenfesten Regenbolzer, die sich am Stammtisch der Krone anschwiegen, für sich beanspruchten: anpacken und durchziehen. Egal, welchen Irrsinn sie sich ausdachte. 125
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In einem Magazin über Jagd und Fischerei studierte sie die Inserate und verabredete sich mit einem Fischer, der auf Angeltouren in Flüssen und Auen spezialisiert war. Sie buchte eine Tour und liess auf dem Fluss unauffällig die Bemerkung fallen, dass ja eigentlich Biber ihre Lieblingstiere seien, worauf der Fischer spontan zu einem Bau fuhr. Conzelmann sagte, es sei ein Jammer, dass man die jungen Biber nicht fangen könne und als Haustiere halten, so verliebt sei sie in die Kleinen. Der Fischer meinte, dass man das wahrlich nicht könne, sonst stehe bald kein Baum mehr im Garten. «Aber fangen könnte man sie theoretisch?» «Nun ja, man kann alles fangen. Aber sie wollen bestimmt keinen Biber als Haustier.» «Und aussetzen?» «Die brauchen sie bloss in einen Fluss zu werfen und dann sorgen sie selber für den Rest.» Der Fischer führte aus, dass die Biber eine Plage seien, weil sie ganze Flussläufe verändern, Ufer unterhöhlen und Bäume umlegen. Conzelmann hörte geduldig zu und stellte im richtigen Moment ihre Fragen. «Dann gibt es doch bestimmt Jäger, die die Biber fangen und umsiedeln?» «Umsiedeln …? Nein, in der Regel machen die kurzen Prozess. Heikle Sache, wenn Sie mich fragen. Heutzutage ist jedes Vieh heilig wie die Kühe in Indien. Auch der Biber ist geschützt.» Der Fischer kam in Redefluss. Conzelmann verhielt sich geschickt und hatte am Ende ihrer Angeltour Name und Adresse eines Wilderers, der auf einem Campingplatz am Fluss in einem fest installierten Wohnwagen wohnte. Fisch hatte sie keinen gefangen. 126
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Einige Wochen später war sie im Besitz einer Biberfamilie, die sie für eine Nacht in einem aufblasbaren Swimmingpool in ihrem Garten unterbrachte und tags darauf in den Regenbolzer Auenlandschaften aussetzte. Der Wilderer hatte keine Fragen gestellt. In seinem Business war das üblich. Als Conzelmann ihrer Biberfamilie nachsah, wie sie leise ins spiegelglatte Wasser davonschwamm, überkam sie ein Gefühl der Macht. Als hätte sie im Darknet eine Waffe erworben, die sie nun auf Regenbolz richtete. Die Biber verschwanden in der Dunkelheit lautlos unter der Weide, deren Äste knapp das Wasser streiften. Als ob sie hier schon immer zu Hause gewesen wären. Jeden Tag machte sie sich auf zu den Auen und sah zu ihrer Freude, wie eine Biberburg zu wachsen begann. Ausserdem bauten die Biber einen Damm, der die Wassertiefe ver änderte. Ein neues Becken entstand. Conzelmann hatte in der FuturNatur Broschüre gelesen, dass sich durch die Baulust des Bibers eine ganze Vielfalt anderer Tiere anzusiedeln beginnt. Es hatte geheissen, dass die Artenvielfalt regelrecht explodiere: Frösche, Fledermäuse, Eisvogel und Schwarzstorch würden sich in den Feuchtgebieten wohlfühlen, die der Biber schuf. Und dann fiel der erste Baum. Kurz vor der Stelle, wo die Bolz unter dem Dorf verschwand, gab es ein romantisches Plätzchen mit einer Sitzbank und einer schutzbietenden Weide, die 2003 als Gönnergeschenk der Dorfmusik gepflanzt worden war. Die Regenbolzer verliebten sich hier gern. Jetzt war die Gönnerweide gefallen, direkt über die Sitzbank. Der Stamm war zugespitzt wie ein Bleistift. 127
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Gertrud Conzelmann beobachtete eine Weile aus der Ferne, wie Spaziergänger schockiert von der Verwüstung des beliebten Plätzchens Kenntnis nahmen. Dann rückte sie ihr Seidentuch zurecht und kehrte mit einer heimlichen Freude zum Nusshof zurück. Ihre Biber würden es den Regenbolzern zeigen, diesem verlogenen Dorf. Und niemand ahnte, dass sie die Fäden zog. Fast niemand. Vor ihrem Haus stand der Journalist. «Guten Tag Frau Conzelmann.» «Guten Tag, Herr …», sie tat so, als könnte sie sich nicht an den Namen erinnern. «Aeschlimann. Darf ich auf einen Tee hereinkommen?» «Wenn Sie mir verraten, worum es geht?» «Katzen.» «Letztes Mal schienen Sie nicht sonderlich interessiert zu sein, als wir an Myrias Grab standen.» «Es geht nicht nur um Myria. Sie sagten, dass Katzen es schon immer schwer hatten in Regenbolz. Erinnern Sie sich?» «Ja, das ist so.» «Können Sie das ausführen?» Als sie ihre Blechkanne in der kleinen Küche aufsetzte und wieder Brennesseltee anbot, bejahte er artig. Dann räucherte sie den Raum mit Palo Santo. Die Luft war rein. «Was wollen Sie wissen?» Sie setzte sich mit zwei Tassen und der Kanne an den kleinen Küchentisch. «Erzählen Sie von den Katzen.» Conzelmann schwieg einen Moment. Dann machte sie ein wissendes Gesicht, rückte ihr Seidentuch am Hals zu128
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recht und fragte geheimnisvoll: «Was wissen Sie über den berüchtigten Sommer 1986?» «Der Vierfachmord …», antwortete Aeschlimann und Conzelmann fiel ihm ins Wort: «Ja, das sagt jeder. Sie wissen also nicht viel, wie ich sehe. Waren Sie einmal auf dem Friedhof von Regenbolz?» «Ja», log Aeschlimann. Sie brauchte ja nicht zu wissen, dass er auf seinem einzigen Streifgang durchs Dorf zu faul war, um auf den Kapellhügel hochzusteigen. «Und haben sie da vier Gräber der Opfer gefunden?» «Nein», vermutete Aeschlimann. «Eben.» «Eben was?» «Es gibt sie nicht. Es gibt nur ein Sammelgrab.» «Und was soll daran falsch sein?» «Was habe ich Ihnen in meinem Garten gezeigt?» «Das Grab von Myria.» «Na also. Zu einem toten Wesen gehört ein Grab. Auf dem Kapellhügel finden Sie keine vier Gräber. Weil man gar nie vier Leichen gefunden hat.» «Und Sie meinen, dass der Vierfachmord deswegen nicht passiert ist?» Aeschlimann resignierte insgeheim, für Conzelmann war vermutlich alles eine Verschwörung: Der Tod ihrer Katze, der Vierfachmord, die ganze Welt. Er überwand sich, einen grossen Schluck Tee runterzuwürgen, um das Gespräch baldmöglichst zu beenden. «Der Sommer 1986 ist kompliziert, müssen sie wissen», fuhr Conzelmann mit vielsagendem Ton fort. «Es geschah nicht das, was alle meinen.» 129
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«Sie müssen es ja wissen…», Aeschlimann verlor die Geduld, doch beherrschte sich schlagartig wieder, als er hörte, was sie als Nächstes sagte. «Ja, ich muss es wissen. Schliesslich war ich die Sekre tärin auf dem Polizeiposten. Ich weiss alles.» «Sie waren die Sekretärin von Werner Zeller?» «Ich sehe, sie kennen immerhin einen Namen. Ja, von Werni. Ich tippte seine Protokolle anfangs noch auf Schreibmaschine, da waren Sie noch gar nicht geboren, junger Mann. Und dann kamen die ersten Computer und die ganze Umstellung auf diese neuen Systeme, bei denen alles vernetzt ist, und ich habe selbst dann noch Notizen von ihm übertragen, als er schon tot war. Ich war die Einzige, die zu ihm gehalten hat, als der Dackel den armen Werni ins Elend stürzte.» «Der Dackel?» Aeschlimann versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er in Zellers Notizen von einem Dackel gelesen hatte. Vielleicht sass er doch keiner Spinnerin auf. Jetzt bereute er es, dass er seinen Tee schon fast geschafft hatte. Das würde doch ein längeres Gespräch werden. Und auf keinen Fall sollte sie nachschenken. «So nannte Werni seinen Hilfspolizisten. Jacques Teckel heisst er mit richtigem Namen. Er ist heute Polizeichef von Regenbolz. Aber Sie haben mich nach den Katzen gefragt. Im Grunde hängt das alles zusammen.» «Mit dem Vierfachmord?» «Ja und nein. Es ist kompliziert. Werni war stets der Überzeugung, dass der Vierfachmord und die Katzen nichts miteinander zu tun haben. Und darum wurde er abgesetzt. Teckel hat die Ermittlungen an sich gerissen. Er hat Werni reinlaufen lassen.» 130
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Aeschlimann wollte nachhaken, doch sie erzählte bereits von den Opfern des Vierfachmords: Die Familie Huber, die abgelegen auf ihrem Hof gelebt hatte, der eines Morgens in Flammen stand. Der alte Huber habe nie gegrüsst, betonte sie. Er konnte nicht verhindern, dass sie Brennesseltee nachschenkte. «Niemand kannte die Hubers besonders gut, sie waren eigentlich autark auf ihrem Hof und suchten auch keinen Kontakt zum Dorf. Die beiden Kinder gingen zwar zur Schule, doch sie waren Aussenseiter und mussten viel auf dem Hof helfen. Ich habe sie hin und wieder gesehen, der Junge hatte eine seltsame Frisur. Das Mädchen war eine hübsche, junge Frau. Sie kam ganz nach der Mutter, die übrigens auch eine sehr zierliche Frau war, die überhaupt nicht zu ihrem Mann passte. Der alte Huber war ein verschwiegener Bauer, den man kaum je zu sehen bekam. Der ging nur der Arbeit auf seinen Feldern nach.» «Und die waren alle vom einen auf den anderen Tag tot?» «Der Hof ist am Morgen des 16. Juli 1986 quasi komplett niedergebrannt. Die Spurensicherung fand Leichenreste in den Schlafräumen, mit grosser Wahrscheinlichkeit war der Brand mit Absicht gelegt worden und die Opfer lagen zu diesem Zeitpunkt bereits tot in ihren Betten. Anders wäre nicht zu erklären gewesen, wieso niemand zu flüchten versucht hatte. Ausserdem musste der Brand an mehreren Orten zeitgleich ausgebrochen sein. Die Ermittlungen konzentrierten sich also auf diesen Stand der Dinge. Und dann kam eben noch hinzu, dass es in jenem Sommer bereits eine unheimliche Serie von schrecklichen Katzenmorden gegeben hat. Zwei Jugendliche, die Hüg131
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li-Zwillinge, trieben ihr Unwesen. Die Katzen wurden geköpft und verbrannt aufgefunden.» «Und das brachte man in einen Zusammenhang?» «Ja. Aber erst als Werni abgetreten war. Als der Dackel übernommen hatte. Seine Überzeugung war, dass die Hügli-Zwillinge auch die Hubers auf dem Gewissen haben mussten, denn kurz vor dem Mord war auf dem Huberhof etwas geschehen, das ihre Handschrift trug.» «Was?» «Der Mähdrescher der Hubers wurde entführt und in die Buntbrache gefahren. Die Hüglis waren bekannt für solchen Unsinn.» «Die Buntbrache?» «Eine Wiese mit wilden Blumen, ein Paradies für die freie Natur. Im Dorf hatte man noch gerätselt, wie nun gerade der Huber auf die Idee gekommen war, einen seiner Äcker damit zu bestellen. Es war ein Projekt der Hochschule für Landwirtschaft und Ackerbau. Der Huber redete doch mit niemandem, zuallerletzt mit Akademikern.» «Aber wieso sagen Sie dann, der Sommer 1986 sei kompliziert? Dann war ja offenbar alles klar.» «Nichts ist klar!», sie wurde laut, beherrschte sich und sprach normal weiter: «Für die Öffentlichkeit war die Sache dann erledigt, auch wenn die Hüglis wegen mangelnder Beweislage nie für den Mord verurteilt werden konnten. Sie sassen bloss eine kurze Haftstrafe für die Katzenmorde ab und wanderten danach aus, nach Südamerika, der Vierfachmord blieb automatisch an ihnen haften. Niemand hat mehr nach den wahren Umständen gefragt. Aber vergessen Sie nicht, dass Teckel Werni in den Rücken gefallen war!» 132
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Sie machte eine Kunstpause und flüsterte dann mit weit aufgerissenen Augen hinter ihren dicken Brillengläsern: «Werni wurde abgesetzt, weil er der Wahrheit auf der Spur war. Der Dackel hat ihm dann eine Trinkerei an gelastet, damit er die Ermittlungen übernehmen konnte.» «Unsinn …», entfuhr es Aeschlimann. Doch er kam nicht dazu auf die abenteuerliche Erzählung mit einer Frage zu reagieren. Conzelmann plauderte bereits weiter: «Teckel hielt die Hüglis für die Täter, auch wenn eindeutige Beweise fehlten. Er wollte sich als Retter der Stunde hervortun, der die Bösewichte einfing. Und er hatte die Presse auf seiner Seite, die ihm aus der Hand frass.» Nun verlor Aeschlimann vollends die Geduld. Die Lügenpresse war das Grundrezept jeder Verschwörungstheorie. Natürlich bediente sich auch Conzelmann dieses Mittels, während sie in blossem Rauch heilende Kraft sah. «Wieso sollte Teckel das tun? Etwa weil er selbst mit dem Mord zu tun hatte und von sich ablenken wollte?», forderte er sie entnervt heraus. «Oh nein, das glaube ich nicht. Teckel ist ein braver Idiot», sagte sie lächelnd und schlug dann gleich wieder den geheimnisvollen Flüsterton an. «Ich erinnere mich genau, wie Werni am 15. Juli 1986 ins Büro kam und zu mir sagte, dass auf dem Huberhof etwas faul ist.» «Was war faul?», fragte Aeschlimann lustlos. «Mehr sagte er nicht. Danach überschlugen sich die Ereignisse. In der Nacht auf den 16. Juli 1986 brannte der Huberhof nieder, nur Stunden nachdem Werni noch dort gewesen war.» 133
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6 Der Mähdrescher 15. Juli 1986 Im Dorf ging der Schrecken um. Bereits zum fünften Mal innert zwei Wochen wurde Werner Zeller der Tod einer Katze gemeldet. Dabei hatte er, wie jedes Jahr, eine ruhige Ferienzeit erwartet. Viele verreisten, das Dorf war dann normalerweise noch unauffälliger als ohnehin schon. Doch spätestens als die alte Aebi ihm tränenerstickt berichtete, dass sie ihre Katze tot aufgefunden hatte, wusste er, dass er es mit einem Serientäter zu tun hatte. Die Katze der alten Aebi war nämlich nicht nur ihr Ein und Alles, sondern auch eines nicht natürlichen Todes gestorben. Sie war bei lebendigem Leib verbrannt worden. Vom Tier blieb wenig mehr als ein Hau fen Asche und Reste verkohlten Pelzes übrig. Jemand hatte die Katze mit Futter angelockt und dann mit Benzin übergossen. Davon zeugte ein Wurstzipfel und ein grosser Fleck auf der Strasse, dort, wo das Benzin auf dem Asphalt verbrannt war. Es war nicht genau dasselbe Muster wie bei den vorangehen den Katzen, die geköpft oder erschossen worden waren. Den noch war offenkundig, dass es sich um dieselbe Täterschaft handeln musste. Zeller begann zu dämmern, dass die Som merferienzeit in jenem Jahr 1986 alles andere als ruhig werden würde. Nur ahnte er nicht, wie unruhig. Die Nachrichten über die Katzenmorde verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, weshalb sämtliche Katzenhalter, die nicht verreist waren, ihre Tiere einsperrten und besorgt bei Zeller anriefen. Sie wollten wissen, ob es stimmte, dass ein Tier quäler sein Unwesen treibe, ob lediglich Katzen bedroht 134
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seien oder auch Hunde, Schweine, Pferde – gar Menschen? Regenbolz war verunsichert. Zeller musste beruhigen. Er setzte ein Informationsschreiben auf, das im Dorfladen und im Gemeindehaus aufgehängt wurde. Darin bestätigte er, dass die bislang fünf toten Katzen ein ungewöhnliches Muster von Gewalteinwirkung aufwiesen, mahnte die Be völkerung aufmerksam zu sein, gleichzeitig Ruhe zu be wahren und Verdachte bei ihm zu melden. Vermutlich steckten irgendwelche Dumpfbacken dahinter, die bereits aktenkundig w aren. Zeller wies seinen neuen Hilfspolizisten an, die Akten vergangener Vandalismusfälle herauszu suchen. Vor einigen Wochen war ihm der Neuling zur Seite gestellt worden, frisch ab Polizeischule, wissbegierig, korrekt und b ereit, eine grosse Polizeikarriere zu starten. Die Kat zen taten ihm leid, doch immerhin gab es nun so etwas wie einen Kriminalfall, mit dem er den Hilfspolizisten beschäf tigen konnte. «Jawoll, sofort», quittierte der junge Jacques Teckel die Anweisung seines Chefs, er war erst 28 Jahre alt. Das gab Zeller Zeit, sich um seine eigenen Sorgen zu küm mern. Warum nur meldete sie sich nicht mehr? Seit vier Monaten hatte er nichts mehr von Ines gehört. Zuletzt hatte er sie Ende März auf dem Kreuzberg gesehen. Jetzt war Mitte Juli. Wo war sie bloss? Gedankenverloren setzte er sich an seinen Schreibtisch und blätterte im Guck!, als ob dort drin eine Antwort stünde. SCHNEEBALL-HERING VERMUTLICH ABGETAUCHT , stand auf der Titelseite. Der Text handelte von einem Finanzschwindler. Vielleicht war Ines auch abgetaucht. Sei netwegen? Zeller spürte, dass er etwas unternehmen musste. 135
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Es klopfte. Teckel hatte brav die alten Akten durchstöbert und präsentierte Zeller voller Erwartung eine Zusammen fassung der Ergebnisse. Hätte er einen Schwanz gehabt, er hätte wild gewedelt, dachte sich Zeller und gab ihm ein wohlwollendes «sehr gut» als Belohnung. Sein neuer Hilfs polizist erinnerte ihn an Monikas Hunde, zwei nutzlose Dackel, die nichts anderes beherrschten, als mit dem Schwanz zu wedeln und zu gehorchen. Es hatte nie eine Anklage im Zusammenhang mit vergan genen Vadalismusfällen gegeben. Die Ermittlungen wurden stets mit einer Anzeige gegen Unbekannt eröffnet und auch wieder geschlossen. Das brachte ihn nicht weiter. «Welchen Schritt sehen Sie nun vor, Herr Zeller?», er kundigte sich Teckel. «Ich schau mich mal auf dem Huberhof um. Sie halten hier die Stellung, Jacques Dackel.» «Mein Name ist Teckel, Herr Zeller. Wieso gerade der Huberhof?» «Dort hat es viele Katzen. Und wenn dort auch eine umgebracht wurde, ist es möglicherweise noch nicht bis ins Dorf vorgedrungen.» Damit liess er den ratlosen Jacques Teckel stehen. Die Katzen gaben ihm den idealen Vorwand, sich dem Huber zu erklären, wenn dieser ihn, misstrauisch wie er war, auf seinem Hof empfangen würde. Er musste endlich wissen, was mit Ines los war. Schon von Weitem sah er an jenem 15. Juli die Schneise. Sie verlief quer durch die Buntbrache und endete mittendrin bei einem verlassenen Mähdrescher. Es wunderte ihn, dass sich offensichtlich jemand d arangemacht hatte, die Bunt brache niederzumähen. Auf dem Hof wurde er vom Hu 136
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ber-Jungen empfangen, als hätte dieser ihn schon längst kommen sehen. «Was hat das zu bedeuten?», fragte Zeller, er nickte zur Buntbrache. Der Junge antwortete: «Keine Ahnung. Da scheint sich jemand unseren Mähdrescher ausgeliehen zu haben.» Seine Schwester kam mit besorgten Blick dazu. «Wo sind eure Eltern?» «Mutter ist heute in der Stadt beim Augenarzt. Ihre Brille muss angepasst werden.» «Ach so.» Der Junge log. Ines trug keine Brille, das wusste er. «Und der Vater?» «Der ist zum Schlachthaus nach Birnbaum gefahren.» «Seit wann lädt der sein Vieh in Birnbaum ab?» «Ich glaube, er sagte, dass er für die alte Doris dort mehr bekommt als hier, wenn ich mich recht erinnere», sagte der Junge. «Die alte Doris?» «Ja, das ist unsere älteste Milchkuh, oder besser war.» Der Junge schaute auf sein Handgelenk, wo er aber keine Uhr trug. «Vermutlich ist sie jetzt schon im Jenseits, die arme Doris. Aber das ist der Gang der Dinge, Herr Zeller, das bringt uns hier das Essen auf den Tisch.» «Was du nicht sagst. Ich bin nicht hier, um eure Wurst ware zu diskutieren. Ich frage mich nur, was euer Mäh drescher in der hochgelobten Buntbrache sucht.» Der Junge legte seine Stirn, über der auffälligen Geheim ratsecken standen, in Falten. «Das frag ich mich auch. Aber gab es nicht einige Gegner in der Sache?» 137
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«Nicht, dass ich wüsste. Obschon, was ausgerechnet deinen Alten dazu bewog hat, hier mitzumachen, wundert mich schon. Aber ich bin eigentlich wegen einer anderen Sache hier. Sag, wie geht es euren Katzen?» «Unseren Katzen? Hervorragend, soweit ich weiss. Ich habe zwar nicht den Überblick, denn die kommen und gehen. Wir können es uns hier nicht leisten, mehr Mäuler als notwendig zu stopfen, wissen Sie. Aber warum fragen Sie?» «Es gab da ein paar Vorfälle im Dorf, da wurden Katzen ziemlich bestialisch getötet und da wollte ich mal sicher gehen, dass das hier draussen nicht auch schon passiert ist.» «Ach so.» Der Junge klang verdächtig. «Leer mal deine Taschen, Junge.» Er tat wie geheissen. «Ein schönes Messer hast du da. Damit liesse sich einer Katze leicht der Kopf abtrennen.» «Ich verwende es nur zum Schnitzen.» «Ja, klar doch. Alle verwenden ihre Messer nur zum Schnitzen. Darum sind wir ja ein Volk von Schnitzern, nicht wahr? Und was haben die Buchstaben zu bedeuten?» «Das ist meine Signatur.» «Du heisst Meinrad, wie dein Vater, wenn ich mich recht entsinne. Wieso die Buchstaben GHM?» «Alle nennen mich Gheimi.» «Da steht aber nicht Gheimi.» Zeller wurde den Verdacht nicht los, dass Gheimi etwas zu verbergen hatte. Er wollte gerade der Schneise entlang zum Mähdrescher gehen, als er den Jungen rufen hörte: «Vielleicht haben die Süfibuebe etwas mit den Katzen morden zu tun!» 138
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Zeller blieb stehen. «Ach, jetzt weisst du also doch Bescheid?» «Nein, ich hab nur mal gehört, dass sie davon sprachen, so etwas zu tun. Aber ich hielt es für Angeberei.» Zeller wandte sich von der Buntbrache ab. «Sag deinem Vater, er soll den Mähdrescher so stehen lassen. Niemand soll sich in die Wiese begeben. Ich sende den Dackel, er soll sich das genauer anschauen. Vielleicht waren es am Ende ja die Knallköpfe, die auch die Katzen auf dem Gewissen haben.» «Es ist keine Wiese, sondern eine Buntbrache.» «Nerv mich nicht.» «Welchen Dackel wollen Sie senden?» «Meinen neuen Hilfspolizisten. Jacques Teckel mit Name, falls es dich interessiert. Aber hier scheint ja niemand so zu heissen, wie er heisst, Gheimi. Und deine Mutter kommt heute noch zurück?» «Ja, abends. Warum fragen Sie?» «Na, um sicher zu gehen, dass sie dich rechtzeitig ins Bett steckt.» Mit diesen Worten schwang sich Zeller in seinen Wagen und brauste davon.
* Wie schon nach der ersten Begegnung, versuchte Aeschlimann die eigenartige Conzelmann zu deuten. Einerseits klang sie verrückt. Sie war verrückt. Andererseits konnte er nicht ganz ausschliessen, dass sie die Wahrheit sagte. Wenn sie tatsächlich die Sekretärin des Ermittlers Zeller gewesen ist, dann war sie direkt an der Quelle. Hatte der neue Ermittler, den sie Dackel nannte, tatsächlich die Fal139
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schen zu den Tätern gemacht? Immerhin galt der Fall bis heute als ungelöst. Der Vierfachmord war landesweit bekannt und Regenbolz Synonym für ein ungelöstes Rätsel. Doch Aeschlimann hatte sich gar nie überlegt, was «ungelöst» bedeutete. Zu einer identifizierten Täterschaft gehörte auch eine Verurteilung. Und die hatte es offenbar nie gegeben. Ihm wurde klar, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als alles zu lesen, was je zum Vierfachmord geschrieben worden ist. Dann würde er schnell herausfinden, wer Conzelmann war: Eine Spinnerin oder tatsächlich eine Person an der Quelle des Geschehens, die nie angehört wurde – weil sie daherkam wie eine Spinnerin. Aeschlimann nahm sein Handy zur Hand und tippte Ruth eine Nachricht. Nicht über Facebook, inzwischen besass er ihre Nummer. Das Treffen mit Conzelmann war interessant. Da ist viel leicht viel mehr im Busch, sofern sie keine Spinnerin ist. Der «Dackel» ist übrigens der Ermittler, der nach Zeller übernommen hat. Er ist angeblich heute noch Polizeichef von Regenbolz. Sie antwortete sofort. Jacques Teckel? Mit dem hatte ich bereits zu tun. Ich habe mich übermorgen in Regenbolz mit Paul Zeller verabredet, der Sohn des Ermittlers, der uns den Ordner gegeben hat. Er betreibt dort einen Fischerladen. Er überlegte kurz und schrieb dann: Ich begleite dich, wenn du magst. 140
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Am nächsten Morgen setzte er sich mit seinem Laptop in ein Café und arbeitete sich den ganzen Vormittag konzentriert durch sämtliche Archive, die irgendetwas zu Regenbolz im Jahr 1986 enthielten. Er fand alle Artikel, die im Ordner abgelegt und von Zeller kommentiert worden waren. Ausserdem fand er beim Guck! Artikel über die Katzenmorde, die unmittelbar vor dem Vierfachmord datierten. Im Online-Archiv der Hochschule für Landwirtschaft und Ackerbau in Niederbolz gab es Informationen über die Versuchsanlage des Projekts «Buntbrache», das zum Ziel hatte die Biodiversität in Zeiten zunehmender Monokulturen zu fördern. Der Huberhof war einer von sechs Standorten. Und der einzige, den es heute noch gab. Nach dem 16. Juli 1986 prangte tagelang kein anderes Thema als der Vierfachmord auf der Titelseite des Guck!. Der erste Artikel berichtete vom Brand, dem laut Boris Boser eine «beunruhigende Vorgeschichte» vorausge gangen war. MYSTERIÖSER BRAND ERSCHÜTTERT REGENBOLZ – FEUER LÖSCHT GANZE FAMILIE AUS. WAR ES BRANDSTIFTUNG? ES GIBT EINE BEUNRUHIGENDE VORGESCHICHTE. Ein Bauernhaus brennt nieder und tötet eine vierköpfige Familie. Brandstiftung nicht ausgeschlossen. Pikant: Es gab Anzeichen. Als die Feuerwehr am Morgen des 16. Juli zum Huberhof ausserhalb des Dorfes Regenbolz gerufen wird, geht sie von einem normalen Brand aus. Doch jede Hilfe kommt zu spät. 141
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Die Reste von vier Leichen, fast gänzlich verbrannt, werden gefunden – erst nachdem das Feuer gelöscht ist. Familie Huber fiel den Flammen zum Opfer. Vater, Mutter und die beiden Kinder – Regenbolz trauert um eine harmonische Familie, die alle mochten. Doch was war die Ursache des Brandes? Noch gibt sich der Ermittler Werner Zeller bedeckt und verweist auf die Geheimhaltung bei laufenden Ermittlungen. Dem Guck! liegt aber die Schilderung eines Insiders vor, der namentlich nicht genannt werden möchte. Er sagt, die Feuerwehr habe keinen eindeutigen Brandherd gefunden. Vielmehr sehe es danach aus, als sei das Feuer gleichzeitig an mehreren Orten ausgebrochen – und das deute auf Brandstiftung hin. Unheimlich: Am Tag zuvor wurde der Mähdrescher der Familie Huber durch Unbekannte entwendet und in eine nahe Wiese gesteuert, noch heute sieht man die nieder gemähte Schneise. Noch unheimlicher: Unmittelbar vor der Tragödie wurden in Regenbolz fünf Katzen bestialisch er mordet. Waren es Ankündigungen? Geht es hier also nicht nur um einen unglücklichen Brand? Ist Regenbolz mit einem Vierfachmord konfrontiert? Die Polizei wird Ant worten liefern müssen. Fest steht: Regenbolz hält den Atem an. Zuerst die Katzen, dann der Mähdrescher und jetzt die Familie Huber. Was kommt als Nächstes? Boser schien den Ton anzugeben bei der landesweiten Berichterstattung zu Regenbolz. Er schrieb in den zwei Monaten nach dem 16. Juli 1986 ganze dreiundzwanzig Artikel. Aeschlimann las sie alle in chronologischer Reihenfolge. Als Boser keine neuen Details und Spekula 142
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tionen mehr liefern konnte, begann er, die polizeilichen Ermittlungen zu kritisieren. Ein Text trug den Titel: ERMITTLUNGEN STAGNIEREN – IST DER ERMITTLER NOCH TRAGBAR? Damit stellte er Werner Zeller in Frage. Er nannte die polizeiliche Verschwiegenheit «totale Ratlosigkeit», wusste, dass «am Tatort geschlampt» worden war und dass die Feuerwehr zu spät erkannt habe, dass es vier Leichen gab. Die Spurensicherung sei zu spät beigezogen worden, stattdessen hätten die Feuerwehrleute «das halbe Haus zum Einsturz gebracht, um den Brand einzu dämmen». Viel zu spät habe man an Opfer gedacht, was Boser dazu veranlasste, die Feuerwehr dilettantisch zu nennen. Aeschlimann fand einen Text mit dem Titel: ENDLICH MAL EIN FEUER LÖSCHEN – GEHÖREN FREIWILLIGE FEUERWEHREN ABGESCHAFFT? Trotz aller Abneigung, die er für Boser empfand, musste er schmunzeln, als er zu lesen begann. Regenbolz hat keine Berufsfeuerwehr, sondern nur eine f reiwillige Feuerwehr. Das ist ein gehöriger Unterschied, der hier ganz offensichtlich gewaltig zum Ausdruck kam. Die Regenbolzer Feuerwehr besteht aus Männern, die sich jeden Montag in der Dorfmusik engagieren, dienstags ist Männerturnen und mittwochs eben Feuerwehr. Da wird dann der Bubentraum vom Zünseln und Löschen und dem Manövrieren mit der grossen Leiter geübt, beziehungsweise gelebt. Was kann man da erwarten? Jedenfalls nicht, dass diese lustige Bande (die an der Regenbolzer Fasnacht übri 143
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gens als Harlekins verkleidet im Feuerwehrwagen auftritt) einen hochkomplexen Brand löscht und gleichzeitig den unheimlichsten Tatort sichert, den das Land je erlebt hat. Bedenklich ist, dass die Regenbolzer Feuerwehr offenbar keine Sekunde daran dachte, dass sie es nicht nur mit einem Brand, sondern auch mit einem möglichen Tatort zu tun hat. Vielmehr durfte jeder mal mit dem Schlauch ordentlich draufhalten, dafür trifft man sich ja jeden Mittwochabend und übt – um diesen Ernstfall endlich einmal erleben zu dürfen. Endlich mal ein richtiges Feuer löschen. Und nach dem jeder seine zehn Minuten mit dem Schlauch gespielt hatte (es ist die Rede von 15 Mann, die a usgerückt waren) ist es nicht erstaunlich, dass das Haus bald nur noch ein Haufen verschlammter Asche war. Dem raschen Eingreifen des Co-Ermittlers Jacques Teckel war es zu verdanken, dass die Spurensicherung überhaupt noch auf den Plan gerufen wurde. Diese konnte dann trotz allem Dilettantismus fest stellen, dass Brandstiftung zu bestätigen war. Doch die Leichenreste geben so gut wie nichts mehr preis. Anfang August 1986 gab es laut den Zeitungsberichten noch immer keinen Ermittlungsfortschritt. Dafür geschah etwas anderes: Werner Zeller musste den Chef posten an Jacques Teckel abgeben. Er war mitten in der Nacht in einer Polizeikontrolle hängengeblieben und wegen Trunkenheit am Steuer suspendiert worden. Boser kommentierte das am 2. August 1986 in einem Text mit dem Titel: REGENBOLZ MACHT WENIGSTENS ETWAS RICHTIG
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Darunter zeigte eine schwarz-weiss Aufnahme wie Zeller in Handschellen von einem jungen Polizisten in einen Dienstwagen bugsiert wird. Werner Zeller war ein Trinker. Kein Wunder stagnierten seine Ermittlungen. Schliesslich blieb er in einer Kontrolle hängen. Aeschlimann musste an Conzelmanns Worte denken: Man habe ihn reinlaufen lassen. Die Auslegung einer Verschwörungsfanatikerin. Nachdem Aeschlimann alle Texte gelesen hatte, verspürte er den Drang nach frischer Luft. Spontan stieg er in den Bus nach Regenbolz, um die Auen aufzusuchen. Er entschied zuerst in die Senke ausserhalb des Dorfs zu spazieren, wo 1986 der Huberhof niedergebrannt war. Ihn packte die Neugier: Wie sah ein Fleck Erde aus, über dreissig Jahre nachdem dort etwas derart grausames Geschehen war? Er hatte gelesen, dass die Grundmauern noch lange gestanden hatten, die Gemeinde hatte vergebens versucht, einen Landkäufer zu finden. Niemand wollte die Parzelle besitzen, die Schauplatz eines solchen Verbrechens ge wesen war. Doch Aeschlimann fand weder Grundmauern noch sonst etwas, das an den Schrecken von 1986 erinnerte. Da war nichts weiter als eine grosse blühende Wiese – die Buntbrache. Sie war nicht nur seit 1986 er halten geblieben, sondern offenbar auch ausgeweitet worden. Selbst dort, wo einst der Huberhof gestanden hatte, wucherten nun die wilden Pflanzen, die laut einer Info tafel Cirsium arvense, Verbena officinalis oder Elymus repens hiessen. Die Gräser und Kräuter hatten offenkundig weniger Vorbehalte als Menschen gegenüber der Parzelle. Es war ein friedlicher Anblick, Aeschlimann gefiel die 145
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Buntbrache. Er hatte keineswegs das Gefühl, an einem Ort des Schreckens zu stehen. Einige Gehminuten entfernt lagen die Auen. Die Bolz breitete sich hier aus, wie es ihr gefiel. Es gab mehrere Seitenarme, die von Kiesbänken und kleinen Wäldchen getrennt waren, hin und wieder sammelte sich das Wasser in glasklaren Becken. Ausserdem gab es Sümpfe mit hochstehendem Schilf und Tümpel mit Seerosen, Fröschen und Wasservögeln. Ein Kiesweg, der als Auen-Lehrpfad aus gewiesen war, führte durch die intakte Natur. Ab und zu garnierte eine Infotafel den Auen-Lehrpfad. So erfuhr Aeschlimann, dass es die Auen nur noch gab, weil 1958 eine Gruppe von Aktivisten erfolgreich verhindert hatte, dass die Bolz schon viel weiter vor Regenbolz begradigt und untertunnelt wurde. Zwar bestehe nun ein leicht erhöhtes Hochwasserrisiko für das Dorf, doch die Bolz sei erst einmal über die Ufer getreten, im Sommer 2005. Als er eine Sitzbank erreichte, liess er sich nieder, genoss noch eine Weile die Abgeschiedenheit und machte sich dann auf den Heimweg. Durchs Busfenster sah er den Häusern des Dorfs nach. Er musterte Flachdächer und Giebeldächer, als ihm ein Haus mit einem Schaufenster auffiel, in dem ein simpler Schriftzug stand: VERBENA VERSICHE RUNG – Damit das Leben sicher ist. Etwas kam ihm bekannt vor. Er nahm sein iPhone zur Hand und googelte den Begriff. Tatsächlich: «Verbena officinalis: Das Echte Eisenkraut, auch Taubenkraut, Katzenblutkraut, Sagenkraut oder Wunschkraut genannt, ist eine Pflanzenart, die zur Gattung der Verbenen gehört.» So war es auch auf der Infotafel gestanden am Rande der Buntbrache.
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* Tags darauf reiste Aeschlimann erneut nach Regenbolz, diesmal mit Ruth. Sie schien nicht bester Laune zu sein und grüsste nur knapp. Er startete einen Konversationsversuch, indem er fragte, wie es denn beim Guck! so laufe und traf offenbar einen wunden Punkt. Sie murmelte «viel zu tun» und wandte ihren Blick auf die vorbeiziehenden Äcker, so als ob er ihren Gesichtsausdruck nicht sehen sollte. Doch im Spiegelbild der Fensterscheibe meinte er zu erkennen, dass sie ihre hübsche Stirn in Falten legte, ernste Falten. Das gefiel ihm. Nicht nur wegen der Dünenlandschaft, sondern weil es in ihm den Eindruck weckte, dass es bei der Arbeit für sie schlecht lief. Vielleicht begann sie den Guck! zu hinterfragen. Er liess sich nicht i rritieren und sagte vergnügt: «Bin gespannt, was dieser Paul Zeller für ein Typ ist.» Punkt 17 Uhr klopften sie an die Tür von Zerro᾽s Angel zubehör und Waffen. Eine Weile geschah nichts, dann verdunkelte sich der Raum hinter dem Schaufenster, weil eine massige Gestalt sich zur Tür bewegte. Paul Zeller war ein kleinwüchsiges Fass auf kurzen Beinen, das schwer atmete. «Kommt rein», sagte er, nachdem er die Ladentür mit etlichen Umdrehungen im Schloss geöffnet hatte, eine Begrüssung liess er aus. «Wir gehen gleich ins Hinterzimmer», er zeigte auf einen Vorhang neben der Kasse. Der Laden war vollgestopft mit Angelhaken und Ködern in allen Farben und Grössen. An den Wänden hingen Gewehre und Geweihe, an der Decke baumelte ein 147
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Adler und in einer Ecke stand ein ausgestopfter Bär, so als ob Regenbolz im Herz der Wildnis lag. Im Hinterzimmer bot Zeller Mineralwasser an, das einmal Kohlensäure gehabt hatte. «Ihr habt ein bisschen reingelesen, nehme ich an», sagte er und klang so, als sollten sie rasch zur Sache kommen. Aeschlimann versuchte den beleibten Mann mit der Stimme in Verbindung zu bringen, die er damals am Telefon gehört hatte. Er hatte sich Paul Zeller irgendwie vitaler vorgestellt. Er musste 150 Kilo auf die Waage bringen. In seiner Brusttasche prangte eine Schachtel Slim-Zigaretten der Marke Vogue, die so gar nicht zu seinem massigen Körper passte. Als ihm der Löffel auf den Boden fiel, mit dem er seinen Pulverkaffee gerührt hatte, konnte er ihn nicht mehr aufheben. Ruth zögerte einen Moment, hob ihn dann auf und Zeller bedankte sich. «Ja, genau. Wir haben uns den Ordner angesehen», übernahm Ruth das Wort, auch sie wollte zur Sache kommen. «Und dabei sind uns einige Dinge aufgefallen. Zuerst einmal scheinen es ja vor allem Zeitungsartikel zu sein, die ihr Vater dort abgelegt hatte.» «Ja, sicher», warf Zeller ein, «Die Zeitung steht bei dieser Sache im Zentrum!» «Wir dachten eben, es seien mehr Fakten da drin, die Notizen ihres Vaters, seine Theorie des Mordhergangs, verstehen Sie?», versuchte Aeschlimann zu erklären. «Ihr Journalisten … Fakten also … Und ich dachte immer, die stünden eben in der Zeitung. Was steht denn sonst dort drin, wenn nicht Fakten? Mutmassungen etwa?» Er schüttelte amüsiert den Kopf. «Ihr müsst da schon selber anpacken. Das ist eben euer Job. Ihr müsst lesen und 148
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abgleichen und zwischen den Zeilen deuten. Es steht alles da drin in diesem Ordner.» «Was meinen sie mit alles?», fragte Ruth. «Dass mein Vater kein Trinker, sondern ein rechtschaffener Mann war und dieser Teckel ihn den Medien zum Frass vorgeworfen hat, um seinen Posten zu erben. Aber eben: Zwischen den Zeilen steht es, da müsst ihr euch schon ein bisschen anstrengen.» «Können Sie beweisen, dass Teckel ihrem Vater etwas angetan hat?» «Er hat ihn reinlaufen lassen, arschkalt.» Jetzt waren es schon zwei, die vom selben sprachen, ging es Aeschlimann durch den Kopf. Auch wenn Zeller und Conzelmann rein optisch eine Art Gruselkabinett fern jeder Glaubwürdigkeit darstellten. «Wie?», wollte er wissen. «Na, indem er hinter dem Rücken meines Vaters mit der Presse zusammenspannte und geheime Informationen über die Ermittlungen preisgab.» «Können Sie das beweisen?» «Wie gesagt. Lesen Sie die Artikel im Ordner. Teckel hat nicht nur meinen Vater ausgebremst. Er hat auch die Ermittlungen in die falsche Richtung geführt. Darum ist der Fall bis heute ungelöst.» «Wie meinen Sie das, ungelöst?», fragte Aeschlimann und war gespannt, was jetzt kam. «Es gibt nicht den Vierfachmord, den Teckel erzählt. Er hat die Dinge an sich gerissen, einen Hergang der Geschehnisse herbeifantasiert und sich dann als Beschützer des Dorfes hervorgetan. Diejenigen, die er als Täter identifizierte, konnten aber nie belangt werden, weil es zu wenig Beweise gab. Doch das interessierte niemanden 149
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mehr, denn dieser Boser schrieb Teckels Fantasien brav in die Zeitung. Der hatte seine grosse Story.» «Boser, der Journalist vom Guck!?» «Der arbeitet doch nicht etwa immer noch bei euch? Mein Vater sagte konsequent, dass er keine Informationen zu einer laufenden Ermittlung preisgibt. Also rannte Boser zu Teckel. Und der bestätigte Bosers These, wonach die vier Menschen mutmasslich von jenem Tierquäler er mordet worden waren, der schon die Katzen getötet hatte. Die Gruselgeschichte schlechthin, eine fette Schlagzeile. Ihr wisst Bescheid über diese Sache mit den Katzen?» «Die Serie von Katzenmorden, ja davon haben wir gehört.» «Also. Dieser Zusammenhang war aus der Luft gegriffen. Ein Hirngespinst, das Boser und Teckel gemeinsam in die Welt setzten. Mein Vater glaubte natürlich nicht daran, also haben sie ihn gemeinsam aus dem Weg geschafft.» «Das ergibt keinen Sinn», fuhr Ruth dazwischen. «Wieso sollte Teckel mit Boser zusammenspannen und ihm eine Schlagzeile liefern? Was hatte er davon?» «Ihr habt doch den Ordner gelesen, den ich euch gegeben habe, nicht?» «Ja», sagten Ruth und Aeschlimann wie aus einem Mund. «Aber offenbar nicht kritisch genug.» «Sie sagen also, dass es den Vierfachmord in der bekannten Version nicht gegeben hat. Wieso sind Sie da so sicher?», fragte Ruth. «Ich? Junge Dame, ich habe alles miterlebt.» «Das ist mir schon bewusst, aber sie bekamen ja wahrscheinlich vor allem die Version ihres Vaters mit. Und er betrachtete sich offensichtlich als Opfer einer Verschwö150
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rung von Boser und Teckel. War es nicht einfach so, dass ihr Vater sich nicht eingestehen konnte, dass er überfordert war?» Zeller atmete schwer aus und zündete sich dann eine dünne Vogue an, was komisch aussah. Aeschlimann glaubte, nur Damen würden diese Marke rauchen. Wenn es ein Gegenteil einer Dame gab, dann Paul Zeller. «Sie irren. Ich kenne nicht nur die Erzählung meines Vaters.» Er nahm einen Zug. Aeschlimann und Ruth wagten nicht, zu unterbrechen. «Ich hätte den beiden Hüglis, die von Teckel zu den Tätern gemacht wurden, ein Alibi geben können. In der Nacht des Vierfachmords bin ich mit ihnen herumgelungert. Wir machten Jagd auf Katzen. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass sie nichts mit den Geschehnissen auf dem Huberhof zu tun hatten.» «Das ist nicht Ihr Ernst», entfuhr es Ruth. Sie starrte ungläubig, die Stirn hochgezogen, mit wachen Augen. Aeschlimann war nicht weniger überrascht. «Was heisst, Sie hätten ein Alibi geben können? Haben Sie das nicht getan?» «Nein. Ich traute mich nicht.» «Weshalb?» «Weil mein Vater dann gemeint hätte, dass ich mit den Katzenmorden zu tun hatte. Ausgerechnet ich, der Sohn des Polizisten. Sie können sich denken, wie das Wellen geschlagen hätte. Ich hatte nie eine Katze getötet. Ich war nur mit den falschen Jungs rumgehangen. Wieso hätte ich mich verdächtig machen sollen, um die Hüglis zu beschützen? Sie waren zwei Idioten. Ich konnte ja nicht ahnen, 151
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dass man sie wegen der Katzensache k urzerhand zu Vierfachmördern erheben würde.» «Das heisst also Sie haben in dieser Nacht mit den Hüglis Katzen getötet und können daher mit Sicherheit sagen, dass die Zwillinge nichts mit den Geschehnissen auf dem Huberhof zu tun hatten?» «Nein, wie gesagt, ich habe nie eine Katze getötet. Sie schickten mich nur los es zu tun, was ich dann aber nicht tat, weil etwas dazwischenkam. Doch glauben Sie mir, ich hätte es gemerkt, wenn die Hüglis etwas Derartiges im Sinn gehabt hätten. Ich gehörte zu ihrer Bande. Wir machten aus jugendlichem Leichtsinn Jagd auf Katzen, sonst nichts.» «Aber dann hätten Sie ja auch kein verlässliches Alibi geben können», sagte Aeschlimann enttäuscht. «Wie dem auch sei», entgegnete Zeller und begann sich zu erheben. Das Gespräch war an einen Punkt gelangt, an dem er keine weiteren Antworten mehr geben wollte. Er hatte vor 31 Jahren ein Versprechen gegeben, das er nicht zu brechen gedachte. Es war etwas nach 18 Uhr, als sie Zerros Laden wieder verliessen. Sie gingen eine Weile schweigend durchs Dorf, jeder bei seinen Gedanken. Aeschlimann schlug vor, noch irgendwo einen Kaffee zu trinken. Sie betraten die Krone. Und machten gleich wieder kehrt, als die ganze am Stammtisch versammelte Runde sie feindselig anstarrte. Aeschlimann schlug vor, die Auen aufzusuchen. Während sie in der Dämmerung aus dem Dorf spazierten, erzählte er Ruth von seinem zweiten Treffen mit Conzelmann. Dass sie ja eigentlich eine seltsame Figur sei, doch als Sekretärin von Werner Zeller vermutlich nah am Ge 152
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schehen gewesen sei und ebenfalls sage, dass es den Vierfachmord in der bekannten Version nicht gebe. «Laut Conzelmann gelang es Teckel, die Hügli-Zwillinge als Katzenmörder zu überführen. Und weil sie für solchen Unfug im Dorf bekannt waren, lag es für ihn auf der Hand, dass sie auch den Mähdrescher der Hubers entführt hatten. Doch nehmen wir mal an: Der eindeutige Beweis, dass sie die Hubers getötet hatten, fehlte ihm –» «… dann wären die Hüglis zu Unrecht beschuldigt worden», vollendete Ruth. «Tatsächlich wurden sie nur für die Katzenmorde verurteilt und nie für den Vierfachmord. Da wurden sie in dubio pro reo entlastet. Sie mussten dennoch eine drei jährige Haftstrafe absitzen und sind gleich danach aus gewandert. Der Vierfachmord blieb an ihnen haften.» «Aber wieso ist dem niemand nachgegangen? Das wäre ja eine völlige Fehlinterpretation der Geschehnisse!» «Immerhin gilt der Fall offiziell als ungelöst …» «Und das geschah alles unter Jacques Teckel, der heute noch Polizeichef von Regenbolz ist?», fragte Ruth. «Dann wird es Zeit, dass wir ihn fragen, was er 1986 ermittelt hat. Und was die genauen Umstände waren, damals, als er die Ermittlungen übernahm, weil Zeller als Trinker enttarnt wurde.» Aeschlimann gingen die Worte durch den Kopf, die der beleibte Paul Zeller eben gesagt hatte: Boser sei zu Teckel gerannt, nachdem Werner Zeller keine Informationen preisgeben wollte. Conzelmann hatte das auch durch blicken lassen, als sie sagte, dass Teckel die Presse auf seiner Seite gehabt habe. Nur hatte Aeschlimann ihr nicht wirklich zugehört. 153
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«Vielleicht spielt die Presse, namentlich der Guck!, eine ganz andere Rolle in der Angelegenheit als bloss die des B erichterstatters», formulierte er seinen Gedankengang. «Was meinst du damit?» «Lies mal all die Artikel von Boris Boser. Man hat fast das Gefühl, er hätte die Polizeiarbeit diktiert.» «Was willst du damit sagen?» Sie klang leicht aggressiv. Aeschlimann liess sich nicht irritieren. «Was, wenn wahr ist, was Zeller gerade gesagt hat? Werner Zeller war gar kein Trinker. Sondern ein rechtschaffener Mann. Du wirst doch nicht von einem Tag auf den anderen Alkoholiker und fährst betrunken Auto, noch dazu als Polizist!» Ruth schien nicht seiner Meinung zu sein. Sie blickte genervt ins stille Wasser der Bolz und widersprach dann: «Vielleicht war der Vierfachmord einfach der Anlass, der Zellers Trinkproblem aufdeckte, weil die Öffentlichkeit zum ersten Mal seine Arbeit verfolgte und er mit dem Druck nicht umgehen konnte.» «Oder Teckel wollte seinen Vorgesetzten loswerden und hat ihn zusammen mit der Presse als Trinker hingestellt.» Nun war sie wütend. «Das kann doch nicht dein Ernst sein! Das läuft so nicht. Wir sind hier nicht in einer Bananenrepublik. Die Presse ist unabhängig und der Wahrheit verpflichtet. Es gibt Regeln, einen Kodex! Schon mal davon gehört?!» Aeschlimann sagte nichts. Doch ihm schien, dass ihre plötzliche Verärgerung etwas zum Ausdruck brachte, das sie eigentlich verbergen wollte. Er liess sie noch ein biss154
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chen schnauben, während sich in seinem Kopf eine These formte, die vor Ruth in ihrem gegenwärtigen Zustand auszusprechen gewagt war. Er tat es trotzdem. «Du arbeitest beim Guck!, du siehst wie das läuft. Da sitzen Typen wie Gianni Degen am Drücker und reiben sich die Hände, wenn sie Tragödien ausschlachten können. Ein Vierfachmord ist eine Goldgrube! Wir können davon ausgehen, dass Boser alles tat, um an Informationen aus den Ermittlungen zu kommen. Doch er beisst bei Zeller auf Granit und wendet sich stattdessen an den Unterhund Teckel. Der füttert ihn mit Informationen, erwartet aber eine Gegenleistung. Also kreiert Boser die nächste Schlagzeile: SÄUFERBULLE GEFÄHRDET DIE ERMITT LUNGEN. So verhilft er Teckel zu seinem Amt als Polizeichef von Regenbolz. Und dieser g efällt sich in der Rolle desjenigen, der sein Dorf vor einem Vierfachmörder beschützen darf. Allerdings braucht er nun einen Täter. Er stürzt sich auf die Hüglis, denn sie sind als Katzenmörder die einzigen bekannten Bösewichte in Regenbolz. Ausserdem gab es den entführten Mähdräscher, was ihre Handschrift trug und obendrein erzählt Boser ja schon längstens im Guck! dass der Zusammenhang zwischen Katzen morden und Vierfachmord auf der Hand liegt. Sie werden also zu den Vierfachmördern stilisiert, können vor Gericht aber nicht belangt werden, w andern aus, die Sache ist er ledigt. Das beudeutet: Der wahre Mörder wurde nie gefasst. Weil der Guck! nicht nur die Realität verbog. Sondern auch die Ermittlungen!» Aeschlimann hatte sich in Fahrt geredet. Es war ihm egal, dass Ruth weiterhin angewidert seinen Blick mied. Je länger er seine These formulierte, desto plausibler erschien sie ihm. Plötzlich machte alles Sinn. Die Zeitungsartikel 155
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waren nicht bloss Texte, die das Geschehen dokumentierten – sie waren das Geschehen. Endlich reagierte Ruth: «Denkst du ernsthaft, der Guck! erfindet Schlagzeilen und die werden von der Öffentlichkeit unhinterfragt zur Wahrheit erkoren? Mag sein, dass du in deiner Funktion als Praktikant gewisse Werte mit Füssen getreten hast, Max Aeschlimann. Aber geh bitte nicht automatisch davon aus, dass alle so ticken!» Damit liess sie ihn stehen und verschwand auf dem Auen-Lehrpfad. Zuerst ihre miese Laune im Bus, jetzt ihr Gefühlsausbruch – Aeschlimann blickte zufrieden auf die stille Wasseroberfläche der Bolz. Er war sich sicher, dass Ruth Frey gegenwärtig vor allem eine Frage beschäftigte: Was zum Henker suchte sie beim Guck!? Plötzlich tauchte eine Schnauze im Wasser auf. Ein Biber schwamm direkt auf Aeschlimann zu und machte unbeeindruckt kehrt, als er erkannte, dass er zu dieser späten Stunde nicht alleine war.
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7 Die Falle 2. August 1986 Zwei Wochen nach dem Brand auf dem Huberhof befand sich Regenbolz in Schockstarre. Eine ganze Familie war aus gelöscht worden. Und niemand wusste warum. Die Stim mung im Dorf begann umzuschlagen: Trauer und Angst wurden von Unverständnis und Wut abgelöst. Wann wür den die Ermittlungen endlich etwas ergeben? Was musste als nächstes passieren, ehe die Polizei den Täter stellte? Regen bolz war ausser sich. Die freiwillige Feuerwehr formierte sich zur Bürgerwehr und fuhr nachts mitsamt der grossen Leiter Kreise um das Dorf. Mit jedem Tag der verging, kritisierte der Guck! das polizei liche Schweigen schärfer. Boris Boser schrieb: «Regenbolz ist ein Dorf, das keine Kriminalität kennt. Doch jetzt überschlagen sich die Ereignisse: zuerst die unheimliche Serie bestialisch getöteter Katzen und dann der Brand auf dem Huberhof, bei dem alles darauf hin deutet, dass die Familie Huber ermordet und absichtlich verbrannt wurde. Doch die Polizei will sich noch immer nicht zu einem möglichen Zusammenhang der beiden Taten äussern, sondern gibt sich lieber bedeckt. Derweil hält das Dorf den Atem an. Was muss als Nächstes geschehen, damit die Polizei endlich aufwacht?» Nachdem er fertiggelesen hatte, zeriss Werner Zeller den Zeitungsartikel, legte die Beine auf den Tisch und lehnte sich nachdenklich in seinem Sessel zurück. Er musste Boser stoppen. Nur hatte er keinen Ermittlungsfortschritt zu ver 157
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melden. Im Bericht der Spurensicherung hiess es, dass sich die gefundenen Leichenreste nicht zu vier Menschen zusam menfügen liessen. Das liege einerseits daran, dass das Feuer weit fortgeschritten war, sowohl Haus als auch Leichen weit gehend vernichtet wurden. Andererseits könne man auch nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass überhaupt vier Menschen verbrannt waren. Der Befund bestätigte Zeller in seinem Verdacht: Was auch immer auf dem Huberhof ge schehen war, – es war komplexer, als es aussah. Etwas hatte sich bereits am Vortag mit dem Mähdrescher und den beiden Kindern zugetragen. Gheimi, der seltsame Junge … Mehrfach hatte Zeller die Brandruine aufgesucht, war die Schneise in der Buntbrache abgegangen und hatte auch den Waldrand und die Maisfelder um den Hof herum abgesucht. Doch ausser den wenigen Blutspuren in der Bunt brache unweit des Mähdreschers, die er bereits am Tag des Brandes entdeckt hatte, konnte er nichts finden. Nun waren zwei Wochen vergangen. Zeller musste handeln, konnte aber niemanden einweihen. Er würde in Erklärungsnot geraten. Er müsste eingestehen, dass er Ines Huber kannte, sogar heimlich getroffen hatte. Man würde ihm eine Beziehung zu einem der Opfer unterstellen. Im Nu würde er vom Ermittler zum Tatverdächtigen. Ausserdem konnte Zeller nicht ausschliessen, dass die Tragödie in einem Zusammenhang mit ihm selbst stand: Waren es am Ende seine Treffen mit Ines, die alles ausgelöst hatten? Er dachte an ihren Gefühlsausbruch bei ihrem letzten Treffen auf dem Kreuzberg, als sie über ihren Mann gesprochen hatte. Was steckte dahinter? Nach diesem Abend hatte er sie vier Monate nicht mehr gesehen. Dann die Begegnung mit Gheimi. Der Junge hatte einen seltsamen Eindruck gemacht, als hätte er bereits erwartet, dass jemand kommen und 158
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ragen stellen würde. Seine Antworten wirkten vorbereitet. F Zeller hatte sofort erkannt, dass er log. Und Stunden später geschah der Brand. Er nahm ein Blatt Papier zur Hand und notierte Ghei mis Lügen: – Es gibt keine alte Doris! – Ines keine Brille! Wieso wollte der Junge verheimlichen, wo seine Eltern waren? Dass Ines keine Brille trug, wusste Zeller. Und selbst wenn: Er bezweifelte, dass sie für eine Korrektur der Gläser den weiten Weg in die Stadt gefahren wäre. Optiker gab es auch auf dem Land. Überprüfen konnte er die Aussage nicht. Jene, dass der Vater angeblich eine alte Kuh in Birn baum abladen wollte, dagegen schon. Zeller war noch am Abend des 15. Juli hingefahren. Der Schlachthof in Birn baum hatte schon geschlossen gehabt, doch er hatte den Schlächter zu Hause gefunden. Von einer alten Doris, die der Huber angeblich hier abgeladen haben sollte, hatte der nichts gewusst. Gheimi log also tatsächlich. Doch was hätte er tun sollen? Es war bereits nach 21 Uhr gewesen und er hatte es nicht gewagt, noch einmal auf dem Huberhof aufzukreuzen. Was hätte er dem Huber auch sagen sollen, wenn der inzwischen dort gewesen wäre? «Dein Sohn hat mich angelogen, darum sehe ich nochmals nach. Und nur so nebenbei: Geht es Ines gut?» Er hätte höchstens fragen können, was mit dem Mähdrescher geschehen war. Doch auch das wäre spät abends verdächtig gewesen. Und so hatte er beschlossen, sich besser fernzuhalten. Ihn hatte das Gefühl beschlichen, dass seine Treffen mit Ines aufgeflogen waren und dass der Mähdrescher und die Lügen des Jungen damit in irgendeinem Zusammenhang standen. 159
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Als Nächstes notierte er: – Mähdrescher und Katzen haben nichts miteinander zu tun! Der Mähdrescher stand nicht zufällig in der Buntbrache. Zeller erinnerte sich, wie Gheimi ihn aufgehalten hatte, als er den Mähdrescher begutachten wollte. Er war gerade einige Schritte auf die Schneise zugesteuert, als Gheimi behauptete, die Hüglis hätten davon gesprochen, Katzen zu töten. Zeller hatte ihm geglaubt und den Mähdrescher links liegen gelas sen. Anderntags fand er dann die Blutspuren: wenige Fle cken von braunem, eingetrocknetem Blut in der Buntbrache. Sie mussten schon am Vorabend dort gewesen sein, wenn nicht sogar mehr als bloss Blut … Deshalb hatte Gheimi ihn abgelenkt. Zeller war sich sicher: Der Mähdrescher stand dort, weil damit eine Gewalttat verübt worden war. Jemand war damit überfahren worden. Blieb noch das Messer, das Gheimi auf sich trug. Er no tierte: –>GHM … die Initialen, die Gheimi in den Holzgriff geritzt hatte. Zeller war sich sicher, dass der seltsame Junge mit den auf fälligen Geheimratsecken die Schlüsselfigur war. Es klopfte an der Tür. Der Dackel. Hastig verräumte Zeller seine Notizen und liess ihn eintreten. «Ich möchte nicht aufdringlich sein Herr Zeller, aber die Presse meldet sich schon wieder den ganzen Tag über», stam melte der Dackel. «Na und?», entgegnete Zeller gereizt.
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«Nun ja, ich denke, wir müssen die Ermittlungen in eine Richtung lenken. Es ist jetzt schon zwei Wochen her, wir müssen erste Ergebnisse präsentieren.» «Soso. Und welche Richtung schlagen Sie vor?» «Wir dürfen den Zusammenhang zwischen den Katzen morden und dem Brand nicht weiter als abwegig behandeln. Haben Sie heute die Zeitung gelesen? Das ganze Land ist sich inzwischen einig, dass es kein Zufall sein kann.» «Sie schlagen also vor, dass wir die Presse zu Ermittlern erheben? Da haben Sie etwas falsch verstanden, Teckel. Es läuft normalerweise umgekehrt. Wir finden heraus was geschehen ist und die Presse informiert über unsere Erkennt nisse. Und nicht: Wir tappen im Dunkeln und versuchen dann die Märchen wahr zu machen, die sich Journalisten ausdenken!» «Natürlich, Herr Zeller, absolut. Das war auch nicht meine Intention … ich wollte nur …» «Sie wollten was?!» Der Dackel überwand sich, einen geraden Satz zu sagen, zuvor holte er tief Luft. «Ich denke nur, wir dürfen nicht Gefahr laufen, das Offensichtliche auszublenden, bloss weil wir es nicht wahr haben wollen.» «Das Offensichtliche? Ich sagen Ihnen jetzt etwas Offen sichtliches, Teckel: Es schert mich einen Dreck, wenn die Presse den ganzen Tag anruft, das ist nun mal so. Und solange Sie den Hörer abnehmen und verdammt nochmal sagen, dass wir aus ermittlungstechnischen Gründen nichts preisgeben, machen Sie einen exzellenten Job! Ist das zu viel verlangt? Also stellen Sie Ihren Übereifer zurück und kon zentrieren Sie sich genau darauf: Sie nehmen den Hörer ab und sagen die folgenden zwei Sätze, notieren Sie: Die 161
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olizei gibt bis auf Weiteres keine Details preis, um die Er P mittlungen nicht zu gefährden. Sobald gesicherte Fakten vorliegen, werden wir informieren.» Der Dackel kramte hektisch sein Notizbuch hervor und schrieb mit. «Natürlich, Herr Zeller, bitte entschuldigen Sie … Ich wollte nur … « «ICH WILL, dass Sie jetzt verschwinden. Hauen Sie ab!» Zeller brauchte eine andere Umgebung, um nachzu denken … Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr in die Stadt, wo ihn niemand kannte. In letzter Zeit, suchte er die Spelunke, die sich Anker nannte, obschon sie nicht am Hafen lag, öfters auf. Nur entging es ihm diesmal, dass er dabei beobachtet wurde. Im Anker fühlte er sich gut aufgehoben: Hier hatten alle etwas zu beklagen. Man trotzte der Ungerechtigkeit mit Alkohol, dem Kompass für die Sinnsuche. Zeller bestellte einen Schnaps. Er hatte seine Ehe mit Monika nie in Frage gestellt. Bis er Ines kennengelernt und gemerkt hatte, dass es auch ganz anders hätte sein können. Monika und er waren eine Zweckgemeinschaft, mehr nicht. Sie hatten zusammen gefunden, ohne dass Gefühle eine wesentliche Rolle gespielt hatten. Mit Ines war das anders. Es war, als hätten sich ihre Wege gekreuzt, weil es so sein musste. Andererseits war er bis zuletzt nicht schlau geworden aus ihr. War es nur er, der etwas für sie empfand? So wie seine Sekretärin für ihn schwärmte, während er für sie rein gar nichts empfand? Gertrud Conzelmann schenkte ihm selbstgemachte Konfi türe, lud ihn ein, gemeinsam in den Auen spazieren zu ge hen, den Laubfröschen und dem Uhu zu lauschen, die dort 162
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hausten. Er reagierte, indem er ihr verbot, im Vorzimmer Duftkerzen brennen zu lassen. Ausserdem verlangte er, dass die Türe zu seinem Zimmer stets geschlossen bleiben müsse. Er bestellte einen weiteren Schnaps. Hätte er Ines bloss in der Jugendzeit kennengelernt, dann wäre er mit Monika nie zusammengekommen. Schon lange war alles zwischen ihnen erloschen, sofern überhaupt einmal etwas gebrannt hatte. Paul, der gemeinsame Sohn, wurde zu ihrem einzigen Bin deglied. Jeder ging seines Weges, hatte seine Freiräume. Die Ehe glich eigentlich einem Abkommen, die Familie einer Wohngemeinschaft. Sie hatten das nicht gesteuert, vielmehr war es einfach eine natürliche Ordnung, die sich eingependelt hatte. Mit Ines beim Kreuz zu sitzen, fühlte sich an wie ein spätes Erwachen. Als könnte man doch noch aufbrechen, ge meinsam. Jetzt war sie tot. Und Zeller hatte keine Ahnung, was geschehen war. Als er genug Trost geschöpft hatte, verliess er den Anker und machte sich auf den Heimweg. Im Radio sang Bob Dylan: «Dead Man. When will you rise?» Eine Hand auf dem Lenkrad, die andere aus dem Fenster gelehnt, fuhr Zeller gemütlich aus der Stadt, vorbei an Wiesen und Wäldern Richtung Regenbolz. Er hatte die Scheinwerfer aufgeblen det, um Rehe rechtzeitig zu sehen, wenn sie auf die Strasse springen sollten. Doch es war etwas anderes, das im Licht seiner Scheinwerfer erschien. Eine Strassensperre. Er dros selte das Tempo, drehte das Radio leiser und liess das Fenster herunter. «Einen schönen guten Abend», sagte ein Uniformierter, den er nicht kannte, in höflichem Ton. Es war zwei Uhr morgens. «Wir machen hier eine Stichprobenkontrolle, dürfen wir Ausweis und Papiere sehen?» 163
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Ausser Zeller war um diese Zeit niemand mehr auf den Strassen unterwegs. «Und Sie sind?», fragte Zeller, darauf bedacht, nicht be trunken zu wirken. Angriff war die beste Verteidigung. «Mein Name ist Kurt Karrer.» «Soso, junger Mann und ihre Funktion?» «Ich bin angehender Polizist.» Er zeigte seinen Ausweis, der ihn als Polizei-Angehörigen des Nachbarbezirks Birnbaum auswies. Zeller begann zu ahnen, dass die Situation ungemütlich für ihn werden könnte. «Mein Dienstgrad tut hier aber nichts zur Sache, Herr Zeller …», fuhr der angehende Polizist ungefragt fort, «… bitte stellen sie den Motor ab und steigen Sie aus.» «Woher kennen Sie meinen Namen?» «Auch das tut nichts zur Sache. Ich bitte Sie noch einmal, bitte geben Sie mir Ihre Papiere und steigen Sie aus», sagte der junge Polizist betont höflich und um Gelassenheit be müht, doch man merkte ihm die Nervosität an. Zeller stieg aus. Am Waldrand konnte er einen weiteren Wagen ausmachen. Und dann ging es schnell. Jacques Teckel trat aus der Dunkelheit hervor, hinter ihm Boris Boser mit Fotoapparat. «Teckel, was zum Henker?» «Tut mir Leid Herr Zeller, dieses Treffen ist für mich ebenso unangenehm wie für Sie.» «Was macht die verfluchte Presse hier?» «Ich sah mich leider gezwungen, dem Hinweis von Herrn Boser nachzugehen, wonach Sie Kneipen aufsuchen und danach betrunken Auto fahren. Sie haben hoffentlich Ver ständnis dafür, dass wir dem nachgehen mussten. Wir möch ten gerne einen Alkoholtest machen.» 164
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Der Dackel wagte es, ihm die Stirn zu bieten. Doch er war nicht mutig genug, ihm alleine gegenüberzutreten, statt dessen brachte er die Presse mit. «Mach deinen Test Teckel. Aber eines muss dir bewusst sein: Er wird negativ ausfallen und dann bist du morgen früh gefeuert und ich sorge eigenhändig dafür, dass dein Kollege von der Presse darüber berichten wird.» Seine Finte funktionierte nicht. Teckel liess sich nicht ein schüchtern. Er hielt Zeller ein Röhrchen hin, in das er rein blasen musste. Dann stand das kleine Grüppchen einige Mi nuten schweigend da und wartete, bis das Röhrchen sich zu einem Resultat verfärbt hatte. Als es soweit war, sagte Teckel mit prüfendem Blick und sicherer Stimme: «1.2 Promille.» Nun hatte Kurt Karrer seinen grossen Moment. Er klang wie ein Kind, das dem Weihnachtsmann ein Gedicht auf sagt, als er Zeller erklärte, gegen welchen Paragraphen er verstossen hatte. Danach bugsierte er ihn in den wartenden Polizeiwagen. Boris Boser schoss Bilder. Und aus den Laut sprechern von Zellers Wagen trällerte Dylan immer noch vergnügt in die Augustnacht: «What are you tryin’ to over power me with, the doctrine or the gun? My back is already to the wall, where can I run?»
* Die Regenbolzer Krone war ein Lokal, das der Zeit trotzte. In den Sechzigerjahren war sie stehengeblieben. Es gab auch 2017 noch dieselben Sitzbänke mit eingelassenen Fächern, in denen die aufgerollten Zeitungen steckten, dieselben Biergläser, Lampenschirme und Tischtücher. Die Vorhänge waren in den Sechzigern noch weiss ge wesen, jetzt waren sie Gelb vom vielen Rauch, von den 165
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v ielen Krummen, die im Lokal geraucht wurden und Lungen zerstört hatten, bis das Rauchverbot gekommen war. Man hatte sich beugen müssen, widerwillig. Die Krone war ein Ort, an dem Veränderung abgelehnt wurde. Kern der Ablehnung war der kreisrunde Stammtisch und seine Belegschaft, die sich hier jeden Tag versammelte. Um dem Wandel Widerstand zu leisten. Jeder hatte mitbekommen, dass ausgerechnet die Gönnerweide bei der beliebten Sitzbank hatte dran glauben müssen. Manche waren gar Augenzeugen gewesen, als ein Baumpfleger den Baum zerkleinerte und auf einen Kleinlastwagen auflud. Das war erst der Anfang, war man sich am Stammtisch einig. «Wenn die einmal da sind gehen sie nicht mehr weg», schimpfte Boller. Den gleichen Satz hatte er in dieser Runde schon öfters gesagt, doch in anderem Zusammenhang. Als Inhaber der Boller Transporte Regenbolz, war er selten einig mit der Landesregierung, die nur Regeln erliess, die dem Gewerbe schadeten. Und den Gemeinden vorschrieb, sie müssten Asylanten aufnehmen. Regenbolz war bislang verschont geblieben, doch in der Nachbargemeinde Birnbaum musste eine alte Zivilschutzanlange zum Asylheim umfunktioniert werden, seit die Flüchtlingswelle aus Afrika und dem Nahen Osten Europa erfasste. Dann hatte Boller gesagt: «Das hat man nun davon, wenn man den Sozialstaat über alles stellt. Die verpulvern unsere Renten, um diesen jungen Männern hier ihr Nichtstun zu finanzieren, während sie in der eigenen Heimat gebraucht würden!» Und schliesslich: «Wenn die einmal da sind, gehen sie nicht mehr weg.» Dann hielt sich jeder in der Runde an seinem Bierglas fest, nickte und murmelte etwas. Manchmal sagte einer: «Genau so ist es.» Doch als er es diesmal 166
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sagte, meinte Boller nicht die Asylanten. Sondern die Biber. Guido der Gärtner wusste: «Pappel und Weide mögen sie besonders. Das sind weiche Hölzer. Die mähen uns bald die Pappelallee nieder und in den Auen gehen sie auf die Weiden los.» «Aber Hauptsache die Renaturierung steht über allem», fügte Boller an. Moser, der Metzger, pflichtete ihm bei, indem er «hirnrissig!» murmelte. Karl, der das Sägewerk betrieb, sagte nichts. Er sah der Bibersache gelassener entgegen. Bäume umlegen entsprach ja auch seinem Wesen. Und vielleicht gäbe ihm das die Gelegenheit, einmal eine schöne Weide, die der Biber zerstört hatte, zu Brettern zu machen. Seine eigenen Buchen konnte er eigentlich nur zu Brennholz verwerten, damit machte er kein grosses Geld. Dennoch hatte er eine Ver sicherung abgeschlossen, die ihm eine Entschädigung versprach, wenn die Buchen durch Sturm oder Borkenkäfer geschädigt werden sollten. Seither wartete er darauf, dass das eintraf. Er schaltete sich ins Gespräch ein. «Guido, du sagtest sie mögen Weide und Pappel. Wie stehts mit Buche?» «Brauchst dir keine Sorgen zu machen. Meistens gehen sie nur an die ufernahen Bäume. Und sie bevorzugen Weichholz», entgegnete der Gärtner. Karl schwieg. Dann müsste er eben selber Hand an legen. Der Italiener von der Versicherung konnte bestimmt gut rechnen und mit dem Computer ungehen, doch von der Natur hatte der keine Ahnung. «Wenn das so weitergeht, müssen wir etwas unter nehmen», sagte Boller. «Dieser ganze Renaturierungs167
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wahn geht mir gewaltig auf die Eier. Das sind die Grünen! Wegen denen muss ich schon alle Katalysatoren meiner Sattelschlepper erneuern, das kostet mich 60.000 Franken. Und was hab ich davon? Frische Luft, in der sich der Biber ansiedelt und das Dorf verunstaltet!» Schweigend pflichteten die anderen ihm bei. Auch Karl pflichtete bei, indem er wie alle anderen still an seinem Bierglas nippte. Dann stand er auf und verabschiedete sich. Man musste etwas unternehmen. In seiner Werkstatt spannte Karl ein Rundholz auf den Bock und spitzte es mit der Kettensäge zu. Mit dem Hobel trug er Span für Span ab bis das Muster verbarg, dass eine Kettensäge am Werk gewesen war. Als er sein Werk betrachtete, war er sicher, dass niemand sagen konnte, dass das kein Biber war. Zuallerletzt der Italiener von der Verbena.
* Der zweite Baum fiel. Und zwar exakt so, wie Guido der Gärtner es vorausgesagt hatte: Der Biber machte sich an die Pappelallee ran, die die Landstrasse auf dem Abschnitt zwischen dem westlichen Dorfausgang und der Abzweigung Birnbaum säumte und bei Motorradfahrern besonders beliebt war. Ein Baum lag quer über der Strasse, zugespitzt wie ein Bleistift und mit einem Biberzahnmuster, das unmissverständlich klarmachte, wer hier am Werk gewesen war. Sofort sperrte die freiwillige Feuerwehr die Allee ab und baute orange Pfeile am Dorfausgang auf. Sie zeigten eine Umfahrung an. Ein Baumpfleger wurde eilends aufgeboten, der der gelegten Pappel die Äste ab168
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trennte. Und dann wurde Karl vom Sägewerk vorgelassen, der seine Hilfe angeboten hatte. Er zerkleinerte den Stamm und hievte das Holz auf seinen Rundholztransporter. «Vielleicht kannst du den armen Baum wenigstens noch verwerten», meinte der Baumpfleger und Karl antwortete nur: «Pappel ist ein weiches Holz.» Der Baumpfleger brauchte ja nicht zu wissen, dass man Pappel für den Innenausbau durchaus verwerten konnte. Am Abend war die Pappel Thema in der Krone, wo auch bekannt wurde, dass der Biber mittlerweile die Unter tunnelung der Bolz verstopft hatte. Der Pegel war gefährlich angestiegen. Der Bauer Brunner, der den angrenzenden Acker bewirtschaftete, sorgte sich um seine Ernte. Boller wetterte, er habe es ja vorausgesagt und mahnte, man müsse etwas unternehmen. Guido regte an, dass man die Pappelstämme untendurch einzäunen könnte, rund zwei Meter hoch. Das müsste den Biber fernhalten. Sein Vorschlag war nicht ganz uneigennützig. Dürfte er im Auftrag der Gemeinde die 57 verbleibenden Pappeln der Allee einzäunen, hätte er bis Ende Jahr genügend Arbeit. Karl schwieg. Schliesslich nahm Boller das Wort an sich, er hatte die lauteste Stimme, das rollendste R und als grösster Unternehmer des Dorfs sowieso die Anführerrolle am Tisch. «Dummes Zeug! Einzäunen auf Steuergelder? Soweit kommt’s noch, dass wir uns also dem Biber beugen und a lles, was uns lieb ist einzäunen? Nein. Ich will die gar nicht hier haben! Die sollen zurück, dahin, wo sie herge169
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kommen sind. Wir dulden hier kein Wohlfühlklima, das die Befindlichkeit der Biber am Ende über unsere eigene stellt.» Es war so etwas wie ein Machtwort. Danach wurde es leiser am Stammtisch, denn Bollers konkreter Plan wurde tuschelnd erläutert. Als alle in der Runde ihr Bier aus getrunken hatten, erhob sich jeder und tat, wie ihm ge heissen. Auch Karl machte mit. Zu Hause fragte er seine Martha: «Haben wir noch alte Leinentücher? Ich brauche zwei, am besten weisse.» Tags darauf traf sich die Runde nach der Arbeit nicht in der Krone, sondern in einer von Bollers Hallen, die er extra freigemacht hatte. Moser, der Metzger, brachte die Spraydosen. Guido hatte Schablonen vorbereitet. Und Karl hatte weisse Leinentücher dabei. Dann wurde gearbeitet. Brunner überwachte die Rechtschreibung. Schablone für Schablone wurde aufgelegt und als es dunkel war, machte man sich auf den Weg in zwei Richtungen entlang der Landstrasse. Die Kirchenglocke schlug schon Mitternacht als die Männer an beiden Dorfausgängen ihr Werk vollbracht hatten und es zufrieden begutachteten: An den beiden Willkommensschildern, die Regenbolz als Oase der Bauerntradition und Auenlandschaften auswiesen, hingen Leinentüchern auf denen der schlichte Satz prangte: NIEDER MIT DEM BIEBER! «Und du bist sicher, dass man Biber mit einem langen I schreibt?», fragte Boller, der mit Brunner am Westende des Dorfes stand. «Ja, ziemlich. Es heisst ja Biiiiber. Nicht Bibber.» 170
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In diesem Moment klingelte Bollers Handy. Es war Guido, der mit Karl am Ostende des Dorfes zu Werke ging. «Nur, um sicher zu gehen: Schreibt man B – », doch er redete nicht fertig. Stattdessen hörte Boller durchs Handy, wie Guido mit Karl sprach, der trotz der späten Stunde soeben seine Martha angerufen und dieselbe Frage gestellt hatte. «Martha sagt ohne E …? Und sie weiss das ganz sicher?» «Ja doch, sie ist Lehrerin.» «Und was machen wir denn jetzt?» «Keine Ahnung. Wir sagen eben, es ist Dialekt.» Dann wandte sich Guido durchs Handy wieder an Boller: «Wir haben ein Problem …» «Jaja, ich habs bereits mitgehört», entgegnete Boller entnervt und wandte sich zu Brunner, der neben ihm stand. «He da, langes I, ohne E, verdammt!» Brunner schaute fassungslos. «Sollen wir das E herausschneiden?», fragte Guido durchs Handy. «Nein, dann ist ja jedem klar, welcher Fehler uns unterlaufen ist. Wir lassen es. Wir sagen, es sei Dialekt», antwortete Boller und beendete entnervt den Anruf. Wie, um sich zu vergewissern, dass das eine praktikable Lösung sein könnte, sagte er laut vor sich hin: «Niiidrr mitem Biiibrr» Brunner wagte zu bemerken, dass dann das «MIT DEM» irritierend sei, weil das ja Hochdeutsch sei und Boller schaute ihn verächtlich an. Doch es blieb keine andere Lösung. Man beliess es dabei. 171
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Als Regenbolz am nächsten Morgen aufwachte, machten die Leinentücher schnell die Runde, der Schreibfehler wurde wohlwollend übersehen. Denn es ging um die Sache und darin waren sich die meisten einig: Der Biber stellte eine Bedrohung dar. Gertrud Conzelmann nahm die Leinentücher ebenfalls wohlwollend zur Kenntnis. Regenbolz sollte ruhig in Aufruhr geraten, da hatte sie nichts dagegen. Am Ende half es der Debatte, die sie anstossen wollte. Wenn zwei Lager das Dorf spalten sollten, war das umso besser. Allerdings wusste sie nicht, dass sie das eine Lager so ziemlich allein bestritt, wie sich bald zeigen sollte. Denn der Biber wütete weiter. Conzelmann konnte es sich selbst nicht erklären. Dass der Biber derart schnell und intensiv die Landschaft umkrempelte, wie es ihm passte, stand nicht in der FuturNatur-Broschüre. Es fiel die dritte Pappel in der A llee und die vierte. Und schliesslich sogar eine der Birken, die im Vorgarten des Polizeireviers standen. Die Leinentücher blieben hängen, was nur bedeuten konnte, dass sowohl Gemeinderat als auch Polizei den allgemeinen Unmut gegenüber dem Biber goutierten. Niemandem kam es seltsam vor, dass der Biber die Allee befiel, wo ihm doch die umgelegten Bäume dort gar keinen Dienst verrichteten. Es gab dort kein Gewässer zu stauen, sondern nur die Landstrasse, die wieder und wieder von der freiwilligen Feuerwehr gesperrt werden musste. Auch die umgelegte Birke vor dem Polizeirevier entsprach nicht dem, was der Biber normalerweise bewerkstelligt. Doch die Zeichen w aren eindeutig: zugespitzt wie ein Bleistift, das Biberzahnmuster. 172
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Wieder und wieder verstopfte der Biber die Untertunnelung. Weil die freiwillige Feuerwehr nicht nachkam mit Entstopfen, stand Brunners Acker bald dauerhaft unter Wasser. Sogar der Auen-Lehrpfad war einsturzgefährdet, weil der Biber das Ufer untertunnelt hatte. Im Dorf wuchs der Unmut. Der Biberbeauftragte des Kantons wurde aufgeboten. Er sah sich sämtliche Schäden an und runzelte dann die Stirn. Nicht alles, was ihm gezeigt wurde, konnte er mit dem Biber in Einklang bringen. Die Unterhöhlung des Auen-Ufers, die verstopfte Untertunnellung und die ufernah gelegten Bäume trugen klar Biberhandschrift. Im Vorgarten des Polizeireviers und an der Pappelallee hatte er dagegen nichts verloren. Der Biberbeauftragte richtete dem Gemeinderat aus, dass er das vorgefundene Schadensmuster zuerst in der Literatur überprüfen müsse. Vorsichtig fügte er an, dass möglicherweise nicht der Biber allei niger Verursacher der Schäden sei. Damit hatte er jede Glaubwürdigkeit verspielt. «Was ist denn anderes zu erwarten bei einem links grünen Brillenträger, als dass er keine Erklärung findet und jemand anderem die Schuld geben will!», enervierte sich Boller in der Krone. Es war an der Zeit für ausgleichende Gerechtigkeit. In der Folge geschah eine seltsame Begegnung zwischen Boller und Karl vom Sägewerk. Es war schon nach Mitternacht, als die beiden sich am östlichen Dorfausgang über den Weg liefen. Boller mit seiner Flinte, Karl mit seiner Kettensäge. Sie grüssten sich beiläufig, als ob sie sich jede Nacht so begegneten und setzten ihre Wege fort. Jeder machte sich seine Gedanken, doch keiner konnte sich ausmalen, was der andere vorhatte. 173
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* Anderntags war wieder ein Baum gefallen. Diesmal eine Buche direkt am Waldrand, fern von Gewässern. Sie war über einen Feldweg gekippt, mitten in ein Rapsfeld. Und an den Regenbolzer Willkommensschildern hingen nicht mehr bloss die Leinentücher. Sondern zwei Biber. Erlegt und an ihren Schwänzen aufgehängt. Die Nachrichten machten die Runde und bald hatte jeder Regenbolzer die aufgehängten Biber mit eigenen Augen gesehen. Unweigerlich fand Geschehenes und Gesehenes den Weg in die Presse, die die Informationen einordnete: Zwei geschützte Biber waren getötet worden, wohl aus Protest. Das Schlagwort lautete: TIERQUÄLEREI. Die Medienarchive ergaben, dass Regenbolz schon einmal Schauplatz der Tierquälerei gewesen war, damals im Sommer 1986 … Als Jacques Teckel die Zeitungen las, sah er sein Lebenswerk bedroht. Regenbolz – Bibermorde – Katzenmorde – Vierfachmord. Und überall las er: «… ausgerechnet im Dorf mit dem grössten ungelösten Kriminalverbrechen des Landes.» Auch Gertrud Conzelmann verfolgte das Geschehen. Es war ausgeartet. Dass zwei ihrer Biber sterben mussten (sie wusste nicht, wie viele noch verblieben), hätte sie niemals geahnt – geschweige denn in Kauf genommen. Jetzt war sie wieder die Verliererin. Zuerst Werni, dann Myria, jetzt die Biber. Regenbolz nahm ihr alles, was ihr lieb war. Doch sie würde nicht aufgeben. Eine rachsüchtige Energie durchfuhr sie. Schwungvoll setzte sie Tee auf. Dann begab sie 174
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sich an den Computer, setzte sich die Brille, die an einer Schnur befestigt um ihren Hals hing, auf die Nase und startete Google. Sie tippte: «Molotow-Cocktail selber bauen». Das Tutorial-Video, in dem nach einer kurzen Anleitung allerlei Dinge in Feuerbällen aufgingen, spiegelte sich in ihren dicken Brillengläsern. Gertrud Conzelmann war eine Frau, die man unterschätzen konnte. Bei Jacques Teckel klingelte derweil das Telefon. Es war die Journalistin. Teckel fragte höflich, was er für sie tun könne und bereitete sich schon vor, einen beschwichtigenden Satz zu den Bibern zu sagen, als er begriff, dass sie gar nicht wegen den Viechern anrief. «Mir sind per Zufall Ungereimtheiten aufgefallen», sagte Ruth Frey. «Und zwar betreffend Ihrer Rolle während den Ermittlungen von 1986 zum Vierfachmord.» Teckel glaubte sich zu verhören, liess sich aber nichts anmerken als er sagte: «Frau Frey. Ich nehme an, sie sind darüber im Bild sind, was gegenwärtig in Regenbolz passiert. Wir werden offenbar gerade von einem Tierquäler heimgesucht, der es auf geschützte Biber abgesehen hat. Sie können sich ausmalen, dass ich alle Hände voll zu tun habe. Ich muss Sie leider bitten, mich nicht mit längst Vergangenem zu belästigen.» Doch Ruth Frey liess sich nicht abwimmeln. «Natürlich, Herr Teckel, ich habe Verständnis. Aber es gehört nun mal zu meiner Pflicht, Sie zu konfrontieren, bevor ich einen kritischen Artikel über Ihre Ermittlungen von 1986 veröffentliche.» «Kritisch berichten? Worüber wollen Sie denn be richten? Es gibt nichts mehr zu sagen zu 1986 und schon gar nicht zu meiner Person, ich bitte Sie! Ich war es, der das 175
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Dorf wieder auf die Beine gebracht hat, das können Sie von mir aus gern betonen.» «… nun ja. Wie gesagt, es liegt mir da eine andere Schilderung vor, der ich gerne nachgehen möchte. Am besten wäre es, wenn Sie mich zu einem Gespräch empfangen, damit wir allfällige Missverständnisse ausräumen können und Sie dann nicht schlechter wegkommen, als not wendig.» Teckel kochte. «Ich?! Schlecht wegkommen?! Sind Sie noch bei Sinnen?» «Mir liegen Informationen vor, die darauf hinweisen, dass Sie 1986 nicht nur im Sinne der Ermittlungen ge handelt haben.» Einen kurzen Moment herrschte Stille in der Leitung. «Morgen, 14 Uhr. Sie kriegen eine halbe Stunde, mehr nicht! Sie kommen in mein Büro, dann reden wir und damit ist dieses Thema ein für alle Mal abgeschlossen, dass das klar ist!» «Gut, bis morgen. Ich erscheine zusammen mit Max Aeschlimann, der mit mir an der Recherche arbeitet, wenn das in Ordnung ist.» «Welche Recherche?» «Wir gehen der Frage nach, wieso der Vierfachmord von Regenbolz nie gelöst wurde.» «Ich bitte Sie», Teckel lachte in den Hörer. «Erstens ist der Fall nicht ungelöst und zweitens überlassen Sie die Polizeiarbeit besser den Profis.» «Wie dem auch sei. Wir sehen uns also morgen.» Ruth legte auf und wählte sogleich die Nummer von Aeschlimann. Ohne auf den kleinen Disput von neulich in den Auenlandschaften einzugehen, sagte sie: «Ich habe 176
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ein Treffen mit Teckel vereinbart. Jetzt wird sich herausstellen, was an deiner These dran ist.» Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht unterdrücken, Aeschlimann entging es nicht. «Wir ziehen also am selben Strang?», fragte er. «Je nachdem, was wir morgen im Gespräch mit Teckel erfahren.» «Da ist noch etwas anderes, das ich dir unbedingt erzählen muss», sagte er aufgeregt. «Ich habe ein bisschen gegraben und einen überraschenden Zusammenhang entdeckt. Sagt dir Verbena etwas?» «Nein, erzähl es mir morgen. Ich mach den Rest des Tages frei», antwortete Ruth, beendete hastig den Anruf und liess das Handy verschwinden. Gianni Degen kam an ihren Tisch. «Den Rest des Tages freimachen? Das höre ich ungern von meiner Star-Rechercheurin», er liess sich neben sie in einen Sessel fallen, schlug die Beine übereinander und setzte eine wissende Visage auf. «Wer ist denn der Glückliche?» «Es gibt keinen Glücklichen, Gianni. Du hast also immer noch alle Chancen.» Degen schaute kurz irritiert, kam dann aber zum Schluss, dass er richtig gehört hatte und sagte mit hörbarer Ironie, die aber einen gewissen Ernst nicht verdrängen sollte: «Tja, leider bin ich in festen Händen.» Ruth hob die Schultern. «Aber, was ich eigentlich sagen wollte. Morgen: 15 Uhr, Pressekonferenz zur Übernahme der Atlantis Bank, ich wäre froh, wenn du hingehen könntest. Und da es ja leider keinen Glücklichen gibt, muss ich wohl darauf bestehen, dass –» 177
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«Trifft sich schlecht», Ruth liess ihn nicht fertig reden, «ich bin morgen Nachmittag mit einem Informanten verabredet, der mir einen Ort an der grünen Grenze zeigen will, einen Übergang, den rumänische Banden offenbar rege benutzen. Die sollen dort nachts in Scharen mit Diebesgut vorbeiwandern. Du weisst doch: Meine Recherche zu den Bettlerbanden, ich habe sie noch nicht auf gegeben.» Degen hörte interessiert zu und blickte zufrieden drein. «Sehr gut, das höre ich gerne. Na dann, schau ich mal ob jemand von der Wirtschaft abzugreifen ist. Die Bettlerbanden sind wichtiger, ich will die haben, dranbleiben!» Er erhob sich, drehte sich aber nach wenigen Schritten um und sagte lässig: «Freitagabend in zwei Wochen ist die Gala anlässlich des Medienpreises. Du hast doch ein schwarzes Kleid, nehme ich an?» Ohne eine Antwort abzuwarten verschwand er.
* Gertrud Conzelmann besass kein Auto. Wenn sie das Haus verliess, dann zu Fuss. Ausserdem hielt ja der Bus unweit des Nusshofs. Einen Führerausweis besass sie zwar, doch es war Jahre her, seit sie das letzte Mal hinter einem Lenkrad gesessen hatte. Für das, was bevorstand, war es aber unumgänglich. Sie nahm den Bus in die Stadt und mietete einen Twingo. Als der Vermieter fragte, ob sie eine Vollkasko abschliessen möchte, sagte sie: «Un bedingt.» Zur gleichen Zeit empfing Jacques Teckel seine ungebetenen Gäste im Polizeirevier von Regenbolz, bot freundlich 178
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Kaffee an, fragte nach Milch oder Zucker oder beidem – Gastfreundschaft war die halbe Miete, dazu ein kräftiger Händedruck und eine sichere Stimme. Sein modernes Büro besass eine bis an den Boden reichende Fensterfront, Teckel hatte das Dorf stets im Blick. Er rückte drei Stühle an den runden Besprechungstisch, setzte sich als letzter und sagte: «So, Frau Frey, Herr Aeschlimann. Was darf ich be antworten?» «Wie gesagt: Wir gehen der Frage nach, wieso die Ermittlungen von 1986 nie zu einem klaren Ergebnis führten, weswegen seither der Fluch des grössten ungelösten Kriminalverbrechens auf Regenbolz lastet», sagte Ruth geradewegs. «Und was ist der Anlass, wenn ich fragen darf?», fragte Teckel geradezu motiviert zurück. «Ich verstehe wohl, dass das Thema interessiert, doch ich möchte erinnern, dass diese Sache weit in der Vergangenheit liegt. Regenbolz hatte mit seinem Ruf zu kämpfen. Erst in jüngerer Zeit haben die Bürger diese Last langsam abstreifen können, seien Sie sich also bitte bewusst, dass Sie niemandem einen Gefallen tun, wenn Sie alte Wunden aufreissen.» «Dessen sind wir uns bewusst», entgegnete Aeschlimann. «Wir werden auch nichts publizieren, dass nicht im Sinne der Sache ist.» «Im Sinn welcher Sache, wenn ich fragen darf?» Teckel behielt Oberhand. «Sagen Sie uns doch einfach, weshalb die Ermittlungen aus Ihrer Sicht zu keinem Ergebnis führten. Beziehungsweise, wie es dazu kam, dass mit den Hüglis die falschen Täter verfolgt wurden», forderte Ruth ihn leicht unge duldig auf. 179
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«Also, jetzt möchte ich Ihnen zuerst einmal wider sprechen. Die Ermittlungen führten nicht zu keinem Ergebnis, sondern – wie sie richtig gesagt haben – wir hatten die beiden Hüglis im Verdacht. Wenn sie ein bisschen tiefer recherchiert hätten, dann wüssten sie, dass die beiden einen sehr teuren und scharfsinnigen Anwalt hatten, der sie dann eben mit viel Geschick aus der Sache heraushebelte. So ist das nun mal in unserem Rechts system.» Seine gespielte Freundlichkeit wich einem unerbitt lichen Verhandlungston mit seichter Belehrung. Teckel liess geschickt keine Angriffsfläche zu, indem er in einen Vortrag über Rechtsprechung ausschweifte und über Anwälte redete, die nichts unversucht lassen, um Beweise zu verwässern. Das sei leider nicht im Sinn der Sache, doch ein moderner Rechtsstaat schütze letztlich eben auch die Täter. «Darum meine eingangs gestellte Frage: Im Sinn welcher Sache recherchieren Sie?», schloss er. Er wusste, wie er eine halbe Stunde hinter sich bringen konnte. Noch hatte er keine Frage beantworten müssen. «Herr Teckel, wenn Sie erlauben, wir brauchen einfach konkrete Antworten und dann sind wir im Nu wieder weg», entgegnete Ruth. «Uns ist zu Ohren gekommen, dass Sie damals in einer heiklen Phase der Ermittlungen mit der Presse, namentlich mit Boris Boser, zusammengespannt haben, um ihren Vorgesetzten Werner Zeller aus dem Weg zu räumen. Was sagen Sie dazu?» Teckel blieb seelenruhig in seinem Stuhl sitzen und verzog dann sein Gesicht zu einem überlegenen Lächeln. «Jetzt wollen Sie von mir hören, dass ich dieses abscheuliche Verbrechen dazu missbrauchte, mich hervorzutun?» Danach war es mit seiner Beherrschung vorbei. 180
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«Ich kann gar nicht betonen, wie absurd das ist, ich gehe am besten gar nicht darauf ein. Lassen Sie mich eines sagen: Sie haben keine Ahnung. Sie massen sich an, etwas zu begreifen, das stattgefunden hat, da waren Sie ver mutlich noch gar nicht geboren! Mit den zwei, drei Fakten, die Sie recherchiert haben, begreifen Sie nicht mal ansatzweise die Komplexität einer solchen Ermittlung. Sie sind zwei junge Weltverbesserer aus der Stadt, die offenbar noch nicht viel vom Ernst des Lebens begriffen haben, wenn Sie auf solchen Schwachsinn kommen. Wissen Sie, was es für die Menschen hier bedeutete, von einem Tag auf den anderen mit dem Bösen in seiner düstersten Form konfrontiert zu sein? Danach wochenlang in der Ungewissheit auszuharren, weil Zeller sich weigerte zu kommunizieren? Sie haben wahrscheinlich keine Ahnung von Krisenkommunikation, aber lassen Sie mich Ihnen eine kleine Lektion erteilen. Es braucht in so einem Fall dringend jemanden, der Fakten schafft, auch wenn Sie unan genehm sind. Ja, mir fiel diese undankbare Aufgabe zu, nachdem mein Vorgesetzter sich nicht besser zu helfen wusste als mit der Flasche!» Teckel hatte sich in Fahrt geredet. Ruth blieb unbeeindruckt. «Was waren die genauen Umstände, unter denen Zeller als Trinker enttarnt wurde?» Teckel blieb die Antwort schuldig. Sein Telefon klingelte und er nahm sofort ab, mit einer Zielstrebigkeit, die jede Priorität im Raum überdeutlich machte. «Welche Richtung? Verstanden, komme sofort!» Er knallte den Hörer auf die Gabel, schoss aus seinem Stuhl hoch und bellte: «Ein Notfall! Meine Sekretärin wird Sie hinausbegleiten.» 181
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Er rauschte davon. «Ich würde sagen, deine These ist vermutlich gar nicht mal so falsch», wand sich Ruth an Aeschlimann, kaum dass Teckel verschwunden war. Sie erhob sich vom Be sprechungstisch und begab sich seelenruhig an Teckels Schreibtisch. «Gib mir Bescheid, wenn die Sekretärin kommt.» «Bist du wahnsinnig? Verdammt, Ruth, damit ist nicht zu spassen!», flüsterte Aeschlimann aufgeregt, während er in den Flur spähte und nach der Sekretärin Ausschau hielt. Ruth stöberte gelassen in Teckels Schubladen, nahm ihr iPhone zur Hand und fotografierte. Die Sekretärin betrat den Flur. Aeschlimann wollte Ruth gerade warnen – als es ohrenbetäubend krachte. Die Sekretärin stiess einen spitzen Schrei aus und machte fluchtartig kehrt. Ruth warf sich unter den Schreibtisch, Aeschlimann sprang reflexartig in den Flur. Die grosse Fensterfront war zersprungen. Wie ein riesiges Spinnennetz stand sie im Fensterrahmen. Doch nicht lange. Es krachte ein zweites Mal, die Scheibe zerbarst. Glassplitter schossen durch den Raum und deckten den Boden ein, mittendrin ein Backstein. Von fern konnte man Sirenengeheul hören. Aeschlimann wagte sich hervorzuspähen. Mitten auf der Dorfstrasse stand Gertrud Conzelmann und zündete einen Lappen an, der aus einer Flasche hing. Als er brannte, bewunderte sie ihre Fackel einen Moment lang, hielt sie gestreckt von sich und blickte auf, um ihr Ziel zu avisieren. Sie bemerkte Aeschlimann, schaute verwirrt, schwang dann mit der freien Hand ihr Seidentuch über die Schulter und holte aus. Die brennende Flasche flog in hohem Bogen zielsicher durchs Fenster. Mit 182
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einem fauchenden Geräusch breiteten sich Flammen aus, kaum dass die Glasflasche mitten in Teckels Büro aufgeschlagen war. Draussen kamen aus zwei Richtungen Polizeiwagen mit Blaulicht angebraust. Teckel sprang über die Dorfstrasse, die Waffe schussbereit, brüllte er: «Lassen Sie alles fallen, sofort!» Conzelmann dachte nicht daran, ihn wahrzunehmen, geschweige denn ihm Folge zu leisten. Sie war nur mit sich selber beschäftigt. Plötzlich waren viele Regenbolzer auf der sonst so ruhigen Dorfstrasse, sie kamen aus ihren Häusern, aus der Krone und aus dem Dorfladen. Sogar Zerro manövrierte sich aus seinem Laden und Vincenzo Blaui schaute interessiert durch sein Schaufenster, ohne sich dem schau lustigen Volk zu erkennen zu geben. Teckels Büro brannte lichterloh. Die Freiwillige Feuerwehr brachte sich in Stellung. Alle wurden sie nun Zeugen des seltsamsten Schauspiels, das Regenbolz je erleben sollte. Im Mittelpunkt stand die «seltsame Künstlerin». Während Teckel weiterhin mit vorgehaltener Waffe auf sie zielte und eine Reaktion erwartete, nahm Conzelmann ihren letzten Molotow-Cocktail, zog den Stofflappen aus dem Flaschenhals und ergoss den Inhalt zum hörbaren Entsetzen der gaffenden Meute über sich. Dann stiess sie eine Mischung aus Gesang und Geschrei in den Himmel. «MYYYYYYYRIAAAAAAA!» Man hielt es für einen Kampfschrei, ähnlich dem, was dem Hörensagen nach Dschihadisten brüllen, ehe sie sich in die 183
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Luft jagen. Die gaffende Meute zog sich panisch dahin zurück wo sie hergekommen war: mehrheitlich in die Krone und in den Dorfladen. Nur Aeschlimann und Ruth, die sich aus Teckels brennendem Büro gerettet hatten, blieben ungläubig auf der Dorfstrasse stehen und konnten nicht fassen, was sie beobachteten. Gertrud Conzelmann hätte nicht eindrücklicher durchdrehen können. Während alle ihren Schrei für bedrohlich hielten – Teckel hielt sich den Ellbogen vor die Stirn, als blendete ihn etwas, während seine Waffe nun lustlos auf den Boden zielte – hatte Aeschlimann immerhin eine vage Ahnung, was Conzelmann zum Ausdruck bringen wollte, als sie nach ihrer toten Katze jaulte. Im nächsten Moment hatte sie eine Streichholzschachtel in der Hand, den Blick starr zum Himmel gerichtet. Ihr Seidentuch hing von Brennstoff triefend an ihr herunter. Ein Funken hätte genügt und Conzelmann wäre in einen Feuerball aufgegangen. Teckel hob zögerlich seine Waffe, während er sich immer noch den Ellbogen vor das Gesicht hielt und sich langsam zurückbewegte. Als er sich zum Abdrücken entschloss, schleuderte der Rückstoss seinen Arm in den Himmel. Teckel sah aus wie eine Marionette, deren Extremitäten von unsichtbaren Fäden schlecht gesteuert waren. Die abgefeuerte Patrone flog in einer flachen Parabel weit über die Gibeldächer und Flachdächer von Regenbolz und sollte erst auf Birnbaumer Boden unauffällig zu Boden fallen, wo man das Geschoss für eine von einem Vogel fallengelassene Nuss gehalten hätte, wenn man es bemerkt hätte. Alle, die sich noch nicht in der Krone oder im Dorfladen verbarrikadiert hatten, hielten den Atem an – in baldiger Erwartung, Gertrud Conzelmann explodieren zu sehen. Ausser Bruno Moser, der freiwillige Feuerwehr184
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mann und Dorfmetzger, der daran gewohnt war, im Augenblick, in dem Leben erlosch, Emotionen zu ver drängen. Moser war ein Mann der Intuition. Ohne länger zu warten, drehte er den Schlauch am Löschwagen voll auf und hielt direkt auf Conzelmann. Die Kraft des Wasserstrahls hob sie von den Füssen wie ein Blatt im Wind. Sie beschrieb eine deutlich kürzere Parabel als Teckels Patrone, klatschte an die Betonfassade des Polizeireviers und blieb wie ein nasses Tuch am Boden liegen. Damit war der Schrecken augenblicklich weggewaschen und der kurze Moment allgemeiner Panik wurde von nüchterner Analytik abgelöst. Teckel suchte die Oberhand, fand sie, ohne Moser eines Blickes zu würdigen und bellte Befehle. Alle Uniformierten wussten sofort, was sie zu tun hatten, als liefe ein Film weiter, der kurz stehen geblieben war. Der Brand wurde eingedämmt, die seltsame Künstlerin auf einen Barren gehoben, gelbes Absperrband wurde aufgezogen und orange Pfeile zeigten eine vorübergehende Umfahrung über Birnbaum an. Aeschlimann und Ruth beobachteten das Treiben, als Teckel auf sie zugeschossen kam: «Sie gehen nirgendwo hin, Sie sind vorübergehend festgenommen und warten auf dem Posten, bis ich hier fertig bin.» Widerstandlos liessen sie sich ins unbeschadete Ver hörzimmer bringen, das nichts weiter war als ein Raum mit drei Stühlen, einem Tisch und einer Zimmerpflanze. Keine Spiegel hinter denen sich Mithörer verschanzen konnten, keine Mikrofone, keine gedämpften Wände. In Regenbolz gab es selten etwas zu verhören. 185
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Am späten Nachmittag gab Teckel Entwarnung. Der Notfall war ihm wie gerufen gekommen. Sein Büro war weitgehend zerstört. Der Computer bestand nur noch aus verschmolzenem Plastik und verschmorten Innereien. Vom eichenhölzernen Schreibtisch war nichts mehr übrig. Dennoch prüfte er sorgfältig, ob nichts überlebt hatte, das nicht überleben sollte. Um nicht den Anschein zu er wecken, dass er mit dem Verschwinden seines Büros eigentlich gut leben konnte, packte er zwei Habseligkeiten (einen unbeschadeten Briefbeschwerer und einen halbwegs intakten Schuhlöffel) ein und begab sich ins Verhörzimmer. Diesmal liess er es aus, seinen Gästen etwas anzubieten, ebenso legte er keinen Wert auf Freundlichkeit. Die beiden Journalisten waren jetzt Tatverdächtige. Er legte Schuh löffel und Briefbeschwerer auf den Tisch und kam direkt zur Sache: «Sie sehen: Als Polizeikommandant gibt es stets eine turbulente Gegenwart, welche wichtiger ist als die –» «Gegenwart und Vergangenheit hängen immer zu sammen», fiel ihm Aeschlimann ins Wort und fügte an: «Ich nehme an, Sie kennen die Vergangenheit von Frau Conzelmann?» Teckel war überrascht, dass Aeschlimann wusste, wer die seltsame Künstlerin war. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen. «Natürlich kenne ich Gertrud Conzelmann, sie arbeitete einst hier auf dem Polizeiposten, ehe sie sich ihrer eigenen Welt hingab …» «Zufällig ist sie eine der Personen, die uns angedeutet haben, dass Werner Zeller von Ihnen aus dem Weg 186
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geräumt wurde. Ich will Ihnen nicht dreinreden, Herr Teckel, aber für ihre nun anstehenden Ermittlungen müsste es doch von Interesse sein, herauszufinden, was das Motiv von Conzelmann gewesen war. Wieso griff sie ausgerechnet den Polizeiposten an?» Im Nu hatte sich das Gespräch anders entwickelt, als Teckel geplant hatte. In ihm regte sich bereits wieder gewaltiger Ärger. «Keine Sorge, ich lass mir bestimmt nicht von Journalisten in meine Ermittlungen reinreden.» «Ach ja. Und wie war das dann damals mit Boris Boser?» «Schluss jetzt! Sie sind hier nicht weiter als Journalisten, die unsinnige Fragen stellen, zugegen. Ich stelle hier die Fragen, denn da Sie zufällig in meinem Büro waren, als die Attacke geschah, muss ich Sie leider zum erweiterten Kreis der Verdächtigen zählen. Wie sie mir ja nun eben geschildert haben, stecken sie unter einer Decke mit Conzelmann. Ich kann Ihnen sagen in welche Richtung meine Ermittlungen gehen werden: Ich konzentriere mich auf den merkwürdigen Umstand, dass Sie ausgerechnet in jenem Moment in meinem Büro sassen, als eine Wahn sinnige draussen zu randalieren begann. Seien Sie also besser vorsichtig!» «Ist das eine Drohung?» fragte Ruth gelangweilt. «Sie verschwinden jetzt alle beide und seien Sie froh, wenn wir uns nicht mehr begegnen.» Es dämmerte bereits, als Aeschlimann und Ruth den Polizeiposten verlassen durften. Es gab einiges zu be sprechen. Also folgten sie dem vom Biber beschädigten Auen-Lehrpfad bis zur Sitzbank. 187
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«Was hast du in Teckels Schublade fotografiert?», wollte Aeschlimann sofort wissen. «Irgendein Dokument. Finden wir’s heraus», murmelte Ruth und zog ihr iPhone aus der Hosentasche. Die Bildqualität war gerade gut genug, um zu erkennen, dass es sich um einen Brief handelte, der mit einer Schreibmaschine verfasst worden war. Der Haupttext war zu klein geschrieben, als dass man ihn auf dem iPhone hätte lesen können. Doch Signatur und Datum waren handgeschrieben und lesbar. In geschwungenen Lettern stand da: Werner Zeller, Regenbolz am 18. August 1986 «Verdammt Ruth, wie hast Du das nur geahnt …?», «Keine Ahnung. Ich dachte eher ich finde einen Liebesbrief oder sonstwas Schmutziges, mit dem man Teckel vielleicht erpressen könnte.» «… ihn erpressen?!» Aeschlimann wollte empört klingen, klang aber begeistert. «Sieht jedenfalls so aus, als hätten wir etwas gefunden, das Teckel lieber versteckt hielt. Was immer da drin steht, wir werden es heraus finden, wenn wir das Bild vergrössern und vielleicht ein bisschen am Kontrast schrauben.» Doch Ruth hörte ihm nicht zu. Sie war wieder in den Bildschirm vertieft. «Verrückt … Das sind die Buchstaben aus Zellers Notizen. Schau mal!» Sie hielt ihm das iPhone hin. Am oberen Bildrand war ein Messer mit einem schwarzen Holzgriff zu erkennen. Ganz schwach sah man die eingeritzten Buchstaben GHM. «Das wird ja immer besser...», stiess Aeschlimann ungläubig hervor. «Denkst du es hat etwas mit dem Vierfachmord zu tun? Die Tatwaffe kann es jedenfalls nicht 188
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sein, denn ein Messer wird zumindest in den Zeitungs archiven nirgends erwähnt. Und wenn Teckel eine Tatwaffe sichergestellt hätte, dann hätte er das bestimmt kommuniziert.» «Es sei denn, die Waffe passt nicht zu seiner Theorie.» «Wir müssen unbedingt den Brief entziffern …» «Und was hat es nun mit dieser Verbena auf sich, die du am Telefon erwähnt hattest?», wechselte Ruth das Thema. «Halt dich fest, hier kommt die nächste Über raschung!» Aeschlimann erzählte von seinem Ausflug nach Regenbolz zwei Tage zuvor, von der Buntbrache-Infotafel mit den B lumennamen und vom Schaufenster der Versicherung. Dass er es einen eigenartigen Zufall fand, dass die Versicherung den gleichen Namen trägt wie ein Kraut, das in der Buntbrache gedeiht. Wie ihn das dazu veranlasst hatte, das T elefon zur Hand zu nehmen und bei der Hochschule für Ackerbau und Landwirtschaft in Niederbolz anzurufen. Eine freundliche Dame gab ihm bereitwillig Auskunft zum Projekt Buntbrache. Sie erklärte, dass Regenbolz der einzige der sechs ursprünglichen Bunt brache-Standorte war, der nach wie vor existierte. Überall sonst wurde das Projekt nach den Versuchsjahren 1986 und 1987 eingestellt, da es an Bereitschaft der Bauern fehlte, weiterhin mitzumachen. «Doch in Regenbolz gab es eine spezielle Situation, eine tragische, die sich für das Projekt aber günstig auswirkte», hatte die Dame gesagt. «Ach so, welche denn?», hatte sich Aeschlimann unwissend gegeben und die Dame begann vom Vierfachmord zu reden. Wie die Buntbrache weiterhin in Regenbolz 189
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stehenblieb, während die Gemeinde vergebens einen Landkäufer suchte. «Es gab keine Angehörigen, die ein Anrecht auf den Boden erhoben und so wandte sich Regenbolz mit der Bitte an die Hochschule für Ackerbau und Landwirtschaft, das Land weiterhin zu bestellen. Es gab sogar eine Rückzahlung. Aber das sage ich ihnen jetzt im Vertrauen, ich weiss nicht ob ich befugt bin, Ihnen das zu erzählen. Wobei, nach all den Jahren wird das wohl niemanden kümmern, der Fall ist doch verjährt?» «Ja, gewiss!» «Also. Die Bauern, die sich am Projekt beteiligten, wurden ja für den Ernteausfall entschädigt. Die Bank stellte dann meines Wissens aber etwas Seltsames fest: Das Konto, auf das die Hochschule den Betrag überwies, wurde erst einige Wochen vor der Tragödie eröffnet, ausser dem Betrag der Hochschule war darauf nichts verbucht und es wurde auch nie etwas abgehoben. Und dann entdeckte man, dass es gar nicht vom Bauer Huber selbst eröffnet worden war!» «Sondern?» «Von einem Jungen. Offenbar vom Sohn der Hubers, der ebenfalls Meinrad hiess, wie sein Vater.» «Das heisst, der Sohn hatte das Geld vielleicht für sich verbucht, ohne dass der Vater davon wusste?» «Davon ging man aus, ja.» «Und was geschah dann mit dem Geld?» «Nun, es war gewissermassen herrenlos. Man entschied sich dann eben zur Rückzahlung an die Hochschule für Ackerbau und Landwirtschaft. Man vereinbarte, dass das Land weiterhin als Buntbrache bestellt wird und die Hochschule dafür sorgt, dass das Feld nicht verwahrlost.» 190
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«Von was für einem Betrag ist da die Rede?», wollte Aeschlimann wissen. «Ach das war nicht ein Riesenbetrag, zehn-, zwanzigtausend vielleicht.» «Und davon unterhielt man dann das Projekt weiter? Aber das reichte doch bestimmt nicht für die Finanzierung bis zum heutigen Tag.» «Nun ja, man unterhielt nicht mehr das eigentliche Forschungsprojekt. Die Buntbrache ist dort ja quasi nur noch ein Platzhalter. Aber ja, Sie haben recht: Nach ein paar Jahren war das Geld aufgebraucht. Die Hochschule steckte dann eigenes Geld rein, da sie die Buntbrache weiter erhalten wollte, für Feldkurse mit Studenten, wissen Sie. Und dann ergab sich wieder eine glückliche Fügung, als die Verbena-Versicherung Interesse bekundete.» «Die Verbena?» «Ja. Sie unterstützt das Projekt bis heute. 2003 kam die Versicherung auf die Hochschule für Ackerbau und Landwirtschaft zu und bot eine Partnerschaft an, eine sehr wohlwollende. Die Verbena kaufte die angrenzende Parzelle, auf der der 1986 niedergebrannte Huberhof gestanden hatte, dazu und vermachte sie der Hochschule mit der Bitte, die Buntbrache auszuweiten. Die Verbena tat das natürlich nicht ganz selbstlos, immerhin geschäftet eine Versicherung ja mit dem Wohlbefinden der Bevölkerung, nicht wahr? Und indem man das Land wieder der Natur übergab, wurde der Ort des Schreckens quasi rehabilitiert. Dieses Angebot nahm die Hochschule für Ackerbau und Landwirtschaft natürlich gerne an.» Aeschlimann hatte sich höflich für das nette Gespräch bedankt und wollte schon auflegen, als ihm eine letzte Frage in den Sinn kam. 191
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«Eines noch: Verbena, das ist doch auch der Name eines der Gewächse der Buntbrache, nicht wahr. Ist das Zufall?» Es war kurz still gewesen in der Leitung, ehe die Dame überrascht gesagt hatte: «Verbena officinalis, natürlich! Das echte Eisenkraut, auch Taubenkraut genannt. Jetzt wo Sie es sagen, das ist mir noch gar nie aufgefallen!» Ruth hörte gebannt zu und als sie gerade zu einer Be merkung ansetzen wollte, sagte Aeschlimann: «Warte, das ist noch nicht alles. Ich habe die Verbena-Versicherung kurz geprüft und jetzt kommt es: Inhaber ist ein gewisser Vincenzo Blaui, der Bruder von …» «Carla Blaui», vollendete Ruth. «Die Lebenspartnerin des verschwundenen Kurt Karrer, die Selbstmord gemacht hat.»
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8 Der Brief 4. August 1986 Als am 4. August die Zeitung erschien, war das Chaos in Regenbolz perfekt. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile. SÄUFERBULLE BLEIBT IN KONTROLLE HÄN GEN – AUFKLÄRUNG DES VIERFACHMORDS IN GEFAHR stand in fetten, schwarzen Lettern auf der Titelseite des Guck! Boris Boser schrieb: «Endlich vermeldet die Polizei eine Entwicklung in der Sache des Vierfachmords von Regenbolz – und was für eine! Nachdem der leitende Ermittler Werner Zeller nun seit Wochen keine konkreten Ergebnisse liefern kann, lieferte er sich dafür selber. Mit über einem Promille im Blut blieb er in einer Polizeikontrolle hängen und wurde suspendiert. Noch tappt die Polizei beim Vierfachmord weiter im Dunkeln. Immerhin könnte die Suspendierung Zellers auch eine Chance sein, sofern die Polizei nun einen fähigeren Mann in den Posten zu heben weiss.» Zwei Tage nach Zellers Suspendierung wurde Jacques Teckel zum Regenbolzer Polizeichef befördert. Es eilte. Die Polizei direktion sah in ihm den einzigen Anwärter, den man mit dem Fall betrauen konnte. Dass Teckel noch keine dreissig 193
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Jahre alt war und kaum Berufserfahrung vorzuweisen hatte, war zweitrangig. An einer Pressekonferenz betonte der jüngste Regenbolzer Polizeichef aller Zeiten, dass er den Un mut der Bevölkerung verstehe und ernst nehme. «Lassen sie uns dieses dunkle Kapitel gemeinsam über stehen. Ich verspreche Ihnen, dass Regenbolz in Zukunft wieder für das stehen wird, was es vor dem 16. Juli 1986 re präsentierte: ein Dorf mit Bauerntradition und hinreissen den Auenlandschaften.» Zeller wurde die Frühpensionierung angeboten. Tagelang sass er alleine zu Hause, während Monika mit den D ackeln unterwegs war. Auch ihr Ruf hatte gelitten, sie rächte sich nun an ihrem Mann, indem sie den Hunden ihre ganze Auf merksamkeit schenkte – und ihm keinen Funken. Immerhin war er nun einen Teil seiner Sorgen los. Er hatte nichts mehr mit den Ermittlungen zu tun. Doch sein Gewissen plagte ihn. Und so beschloss er, reinen Tisch zu machen: seine Tref fen mit Ines, sein Gespräch mit Gheimi am Abend bevor der Huberhof niederbrannte, die wenigen Blutspuren beim Mähdrescher in der Buntbrache – er wollte alles loswerden. Zeller setzte sich an die Schreibmaschine und schrieb einen langen Brief an Teckel. Jacques Teckel stand derweil mächtig unter Druck. Er musste mit den Ermittlungen vorankommen. Da kam der Brief gerade recht. Der frisch gekürte Polizeichef las das Geständ nis seines Vorgängers interessiert und ging dann sofort zum Mähdrescher, der noch immer in der Buntbrache stand. Er fand nichts Verdächtiges. Der Mähdrescher sah ganz normal aus. Wäre damit ein Mensch getötet worden, wie Zeller es vermutete, hätten eindeutige Spuren vom Gemetzel zeugen 194
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müssen – da war nichts. Wollte Zeller sich rächen, indem er eine falsche Spur legte? Teckel schoss einige Bilder, die bewie sen, dass weder Blut noch sonstwas an den Messerklingen klebte. Dann marschierte er entschlossen der Schneise ent lang zurück zu seinem Dienstwagen. Der Fall gehörte jetzt ihm. Der Brief war der eindeutige Beweis, dass Zeller einem Gespenst nachjagte – das irre Vermächtnis eines Trinkers. Er würde ihn aufbewahren, falls er eines Tages belegen müsste, dass sein ehemaliger Vorgesetzter Informationen zu rückgehalten hatte und einer wirren Theorie nachgejagt war. Einzig der Hinweis, dass die Hüglis die Katzenmörder sein könnten, schien vielversprechend zu sein. Die Information stammte ja nicht von Zeller selbst, sondern anscheinend vom Huber-Jungen – von einem der Mordopfer. Damit gab es eine V erbindung zwischen den Katzenmorden und dem Vierfachmord. Teckel war überzeugt, dass er dem Rätsel auf der Spur war. Er würde die Hüglis unter Druck setzen. Sie müssten die Katzenmorde gestehen und auch, dass sie den Mähdrescher in die Buntbrache gefahren hatten. Damit würde er sie zu den Hauptverdächtigen erklären und ihnen Strafmilderung versprechen, wenn sie kooperierten. Sie müssten gestehen, dass ihr Scherz mit dem Mähdrescher es kaliert war und sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen hätten, als die ganze Familie Huber auszulöschen und es wie eine Feuertragödie aussehen zu lassen. Teckel setzte sich in seinen Dienstwagen, liess die Sirene auf heulen und jagte den Wagen durchs Dorf zum Anwesen der Hüglis.
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* Nach Conzelmanns Durchdrehen gab es nur ein Gesprächsthema in Regenbolz. Jeder wusste etwas zu berichten. Und so fügte sich langsam zusammen, was geschehen war. Auch die Presse interessierte sich brennend dafür: Regenbolz war von einer AMOKLÄUFERIN heimgesucht worden, ihre FAHRT DES SCHRECKENS hatte am Westende des Dorfes begonnen, wo sie das Regenbolzer Willkommensschild in Brand steckte. Danach war sie in einem eigens für die Tat gemieteten Wagen in halsbrecherischem Tempo über die Landstrasse gerast und hatte am Ostende des Dorfes ihren zweiten Anschlag verübt. Die freiwillige Feuerwehr war zu diesem Zeitpunkt zum westlichen Dorfausgang ausgerückt, konnte das Willkommensschild aber nicht mehr retten. Als man vom Brand des Schildes am östlichen Dorfausgang vernahm, wollte man sich auf schnellstem Weg dorthin begeben. Doch da brannte auch schon der Polizeiposten. Seither lagen beide Willkommensschilder, die Regenbolz als Oase der Bauerntradition und Auenlandschaften auswiesen und die in jüngerer Zeit mit Transparenten versehen waren, auf denen NIEDER MIT DEM BIEBER geschrieben stand, in Schutt und Asche. Nicht wenige Regenbolzer wählten die Nummer 333 444. Es war etwas geschehen und viele hatten es gesehen. Die seltsame Künstlerin vom Dorfrand war übergeschnappt – was nicht weiter ergründet werden musste angesichts des Umstands, dass sie ja eine seltsame Künstlerin war. Der Guck! führte aus, dass es oft Menschen am Rande der Gesellschaft waren, die zu drastischen Mitteln wie Amok 196
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griffen. Der Nusshof, der sowohl auf Regenbolzer als auch Birnbaumer Boden stand, hätte nicht deutlicher «am Rand» liegen können (was in der Krone zum Missverständnis führte, dass «am Rande der Gesellschaft» gleichbedeutend sei mit «am Rande des Dorfes»). Gertrud Conzelmann war ein klarer Fall: seltsam, isoliert, übergeschnappt. Ein Unheil, das im letzten Moment hatte abgewendet werden können. Der Guck! sah Parallelen zwischen Conzelmann und anderen berühmten Amokläufern. Sie hatte Molotow-Cocktails geworfen, ein Selbstmordattentat versucht und dieses mit einem Schrei eingeleitet, «der laut Augenzeugen nach Märtyrertod klang» – es war alles vorhanden. Teckel wurde zu seiner persön lichen Zufriedenheit mit den Worten zitiert: «Die Polizei konnte die heikle Situation im richtigen Mo ment entschärfen, dafür danke ich allen selbstlosen Kollegen.» Damit würdigte er auch Bruno Moser, ohne ihn namentlich nennen zu müssen. Es hätte ein schlechtes Bild abgegeben, wenn der Titel ‹Held der Stunde› dem Dorfmetzger hätte abgetreten werden müssen. Was Teckel allerdings gar nicht gefiel, war das Bild, das zum Artikel gestellt wurde. Es zeigte ein verkohltes Chalet, das einmal ein stolzes Willkommensschild gewesen war – sein Will kommensschild. Die Symbolik war düster: Rauch erhob sich über der Brandstätte, im H intergrund lag das Dorf unschuldig in der Unschärfe. Darunter stand: In Regenbolz, bekannt als das Dorf mit dem grössten unge lösten Kriminalverbrechen des Landes, geschah die Amok fahrt.
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* Acht Pappeln, eine Birke und eine Buche hatte der Biber umgelegt. Niemand schöpfte Verdacht. Doch nun hatte sich die Lage zugespitzt. Erst die nächtliche Begegnung mit Boller, die er erst zu deuten wusste, als die erlegten Biber an den Willkommensschildern hingen. Dann der Auftritt der seltsamen Künstlerin, dessen Hintergrund niemand kannte. Karl war unschlüssig, ob er weitermachen sollte. Seit Conzelmanns Anschlag herrschte im Dorf wieder Misstrauen und Wachsamkeit wie damals 1986. Jeder spähte über seinen Zaun oder hinter der Gardine hervor. Einmal musste die Polizei ausrücken, weil der sensorgesteuerte Storen des Ehepaars Wutz am Zweienweg 4 mitten in der Nacht ausgefahren war, niemand wusste warum. Das Ehepaar Wutz lag wie angewurzelt im Ehebett und rief im Flüsterton die Polizei. Regenbolz war angespannt. Und so traute sich Karl nicht mehr nachts mit seiner Kettensäge aus dem Haus. Dabei hatte es begonnen Spass zu machen. Er hatte sich schon tagsüber auf die nächtlichen Ausflüge gefreut. Dann sagte er seiner Martha jeweils, dass er noch einen Rundgang im Buchenwald mache und danach sehe, dass die Rehe die jungen Bäume nicht von ihren Zäunen befreiten. Oder er sagte, dass er noch Fallholz vom Forstweg räumen müsse, damit er frühmorgens mit dem Heizohack HM 10 durchkomme. Martha hatte nie Fragen gestellt. Stets war er mit seiner Stihl MS 661 C-M W und einem Bund Hobeln für das Muster der Biberzähne los gezogen. Am Anfang war er nervös gewesen, der Lärm der Kettensäge hätte ihn leicht verraten können. Doch wenn er die Stihl dann aufheulen liess, schoss Adrenalin durch 198
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seinen Körper, seine Nervenenden flatterten. Nichts konnte ihn stoppen. Mit flinken Händen zauberte er die Biberzahnmuster an die zugespitzen Stämme. Es waren wahre Kunstwerke. Mit jedem Mal wurde er dreister, sodass er einmal aus purem Nervenkitzel die Birke vor dem Polizeirevier umlegte. Nicht weil es für seinen Plan notwendig gewesen wäre, sondern einfach, weil er es sich zutraute. Und weil er es faszinierend fand, wie weit er gehen konnte, ohne aufzufliegen. Die Regenbolzer urteilten danach, was ihre Augen ihnen zeigten: gelegte Bäume, zugespitzt wie ein Bleistift – das war der Biber. Karl hätte vermutlich die Kirche u mlegen können und man hätte es dem Biber angelastet. Seine Stihl und die Dunkelheit der Nacht machten ihn zu einem mächtigen Mann. Der Gedanke, aufhören zu müssen, schmerzte ihn. Es war, als hätte er das Blut des Abenteuers geleckt. Er konnte nicht stoppen. Das war erst der Anfang gewesen. Sein Projekt musste in die nächste Phase übergehen.
* Die Arbeit im kleinen Café, das sich Subito nannte und dessen Herzstück eine grosse Rancilio war, die behäbig zischte und schnaubte, wenn sie einen Espresso ausspuckte oder Milch schäumte, war gut. Aeschlimann fand Ge fallen daran, Tag für Tag das kleine Café zu öffnen, darauf zu warten, dass Gäste kamen und ihren Tag mit einem frischen Kaffee in Schwung brachten. Zuerst kamen die Alten und lasen Zeitungen. Dann kamen die Bauarbeiter zum Znüni und schliesslich übernahmen die Studenten das Revier, schlugen Laptops und Bücher auf und erkundigten sich nach dem WLAN-Passwort. Jeden Tag begann Aeschlimann mit einer Schaffenslust, die aber nicht nur 199
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mit Kaffee zu tun hatte. Ihm winkte nichts weniger als eine Neuinterpretation des grössten ungelösten Kriminalverbrechens des Landes. Das war seine Geschichte, die ihn gefunden hatte und die er an der Seite einer bildhübschen, mutigen und klugen Frau bestritt. Während er Capuc cinos mit Herzmuster aufgoss, war er in Gedanken bei seiner Recherche. Auf einem grossen weissen Papier hatte er alle bekannten Akteure des Vierfachmords notiert und dazu geschrieben, was er über sie wusste. Im Zentrum stand die Familie Huber, ringsherum Werner Zeller, Jacques Teckel, Gertrud Conzelmann, Paul Zeller, Boris Boser bis hin zum verschwundenen Kurt Karrer und s einer Lebenspartnerin Carla Blaui. Er war gerade dabei, die Dampfdüsen der Rancilio zu reinigen, als sein iPhone surrte. Es war Ruth. «Du arbeitest doch in Basel in einem Café.» «Ja, wieso?» «Ich brauch einen Kaffee. Ich komme heute Nachmittag vorbei.» «Na dann …», antwortete Aeschlimann überrascht. Kaffee gab es überall … «Ich bring Hermann mit.» «Hermann?» «Meinen Hund. Der darf doch rein?» «Natürlich. Bring ihn mit.» Aeschlimann war kein Hundefreund, doch für Hermann würde er eine Ausnahme machen. Und er würde es vermeiden, Ruth seine Meinung über die Vermenschlichung des Hundes zu sagen, die damit begann, dass Hundehalter ihren Viechern einen Menschennamen gaben. Er würde auch das Wort «Köter» aus seinem Wortschatz verbannen, zumindest vorübergehend. 200
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Einige Stunden später stürmte Hermann ins Subito, sprang nervös an Aeschlimann hoch und wedelte wild mit seinem Schwanz, als würde er einen alten Bekannten begrüssen. Der Hund an seinen Beinen verunmöglichte eine Begrüssung unter Menschen, was Aeschlimann für einmal recht war, da er sowieso nur ein dämliches «Hey» herausgebracht hatte, obschon (oder weil) er genügend Zeit gehabt hatte, sich eine Begrüssung zu überlegen. Bevor er sie kennenlernte, hatte er Ruth als ideologischen Feind betrachtet, weil sie beim Guck! arbeitete. Dann erlebte er ihre Schönheit. Aeschlimann liess sich von Schönheit zwar inspirieren, aber nicht irritieren. Er war zu misstrauisch, um Schönheit nicht zu unterstellen, sie wolle von etwas ablenken oder etwas bezwecken. Doch Ruth lenkte von nichts ab und bezweckte nichts. Sie war nur sich selbst: ungeschminkt und desinteressiert an ihrer Umwelt. Er begann sie zu bewundern. «Was darf ich ausgeben?» «Einen Macchiato, sofern du das drauf hast.» «Und ob, ich habe gerade erst die Dampfdüse gespült.» «Na dann, dampf mal.» Sie lächelte. Aeschlimann tat, als würde die Rancilio seine ganze Aufmerksamkeit erfordern und versuchte nicht zu neugierig zu klingen, als er fragte: «Hast du frei heute? Oder was bringt dich her?» «Eigentlich müsste ich arbeiten, aber es gab eine Planänderung.» Er unterbrach das rhythmische Schwenken der Milchkanne unter der Düse und schaute gespannt zu Ruth auf. «Ich habe gekündigt.» 201
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Aeschlimann stand kurz der Mund offen, dann liess er die Kanne, die ihm längst die Hand verbrannte, zu Boden fallen und murmelte «Aua …» ohne den Blick von Ruth abzuwenden. «Ich sehe, du hast es drauf mit dem Milchschäumen», kommentierte Ruth. Aeschlimann war die Milch egal. Das Gehörte versetzte ihn in einen Zustand angenehmer Gleichgültigkeit. Er fasste einen Lappen und kniete sich seelenruhig auf den Boden. Sie hatte gekündigt und war direkt zu ihm gekommen. Nachdem er den Boden halbherzig geputzt hatte, stützte er sich wieder auf den Tresen und sagte: «Willkommen …» «… im Club?», vollendete Ruth. «Ich würde sagen, ich nehme noch einen Anlauf und wenn es wieder nichts wird mit der Milch, kriegst du eine Cola. Darauf stossen wir an.» Den Rest des Tages bediente Aeschlimann seine Kundschaft fahrig. Er war mit Ruth ins Gespräch vertieft, die Gäste fragten höflich, ob sie stören dürfen oder riefen genervt nach der Bedienung. Wenn er einen Gast los geworden war, wandte er sich sofort wieder Ruth zu. «Dann hat er dich zur Rede gestellt?» «Klar. Ich hatte ihm ja tags zuvor gesagt, dass ich nicht an die Pressekonferenz zur Übernahme der Atlantis Bank gehen kann, weil ich in der Sache der Bettlerbanden ein Treffen hätte. Als Teckel dann anrief, war natürlich offensichtlich, dass ich Degen angelogen hatte.» «Teckel hat angerufen?!» «Er beschwerte sich über uns, behauptete wir steckten mit Conzelmann unter einer Decke und wollten in Regen202
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bolz gezielt Unruhe stiften. Degen hat sich bei Teckel entschuldigt und mich dann zur Rede gestellt.» «Hast du ihm erzählt an was wir dran sind?» «Nein, er hat gleich rumgezetert, ich hätte sein be dingungsloses Vertrauen missbraucht.» «Und das hat dich dazu veranlasst, gleich zu künden?» «Es hat noch anderes nicht gepasst. Aber sag mal, wann schliesst denn das Café hier?» «In zwei Stunden.» «Gut, dann spaziere ich jetzt eine Runde mit Hermann bis du fertig bist. Danach könnten wir zusammensitzen und du datierst mich in deiner Recherche auf.» «In unserer Recherche», korrigierte Aeschlimann. «Mach dich auf etwas gefasst, ich habe grosse Neuig keiten.» Wie sie mit Hermann das Subito verliess, war sich Aeschlimann sicher, dass der Hund etwas ersetzte. Ruth war eine Frau, die Männern nicht so schnell vertraute. Ausser sie waren Hunde. Im kleinen Park bei der Uni standen nackte Bäume im Licht der spärlichen Laternen. Ruth setzte sich auf eine Bank, liess Hermann von der Leine und machte sich darauf gefasst, ihren Plan zu vollenden. Sie habe sein Vertrauen irreparabel geschädigt, hatte Gianni Degen gesagt. Das waren seine Worte gewesen, gewählt, um eine logische Reaktion zu provozieren. Ob irreparabel definitiv sei, hatte sie gefragt, als wäre es ihr dringender Wunsch, dass Gianni Degen ihr verzieh. Er hatte eine Kunstpause eingelegt und so getan, als müsste er nachdenken. «Wie steht es denn nun mit der Gala?» «Du willst, dass ich dich begleite?» 203
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Sein Schweigen war Antwort genug. Degen war klug genug, es nicht auszusprechen. Sie sollte es selber inter pretieren, aus freien Stücken handeln. Er würde nur geschehen lassen, was sie selbst wollte. Sie wich seinem Blick aus und fixierte das eingerahmte Bild mit dem Underwood-Zitat an seiner Bürowand. «Würde das nicht seltsam aussehen, ich an deiner Seite?» Er zuckte nur mit den Schultern. «Und deine Frau?» «Die ist verreist. Wir brauchen ja nicht gemeinsam vor die Fotografen zu stehen.» «Und damit wäre das irreparabel geschädigte Vertrauen wieder hergestellt?» «Es wäre jedenfalls ein Schritt in diese Richtung. Deiner Karriere wird es sicherlich nicht schaden. Die Gala ist der Event in der Branche, da ist alles mit Rang und Name vertreten, du kannst wichtige Kontakte knüpfen.» «Gut, ich begleite dich», hatte Ruth eingewilligt. Sie hatte ihre Adresse auf einem Zettel notiert und gesagt: «Sende mir ein Taxi. Es gibt keine Klingel. Der Taxifahrer soll mich auf dem Handy anrufen, wenn er vor der Tür steht. Gib ihm meine Nummer durch.» Jetzt war es 18.27 Uhr, jeden Moment müsste der Taxi fahrer anrufen. Ruth kramte ein Diktiergerät aus ihrer Tasche und hielt es bereit, während sie Hermann beobachtete, wie er sich einer Schar Tauben anschlich. Er duckte sich, sprang dann mit hochschiessenden Vorderbeinen auf die Tauben zu, sie flatterten davon. Aus den hohen Fenstern der Universität fiel Licht in den Park. Dort drin ging 204
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es vermutlich nicht anders zu und her, vor ihrem geistigen Auge spielte sich eine Szene ab: Eine Studentin, die eine wichtige P rüfung soeben in den Sand gesetzt hat und ihr Professor, der eine Möglichkeit aufzeigt, ohne sie auszusprechen. Die Szene war Fantasie. Vielleicht fand sie aber auch gerade statt, in diesem Augenblick, hinter den dicken Mauern aus weissem Marmor und den hohen Fenstern. Um 18.31 klingelte ihr iPhone. Ruth nahm ab, stellte auf Lautsprecher und startete das Diktiergerät. «Frau Frey?» «Ja, guten Abend.» «Hier ist Suleimani von Taxi24. Ich stehe vor Ihrer Tür, Bäckergasse 16, richtig?» «Ja, genau. Hat Sie ein Herr Degen gesandt?» «Richtig. Gianni Degen. Ich soll sie zum Opernhaus bringen.» «Zum Opernhaus? Was findet denn dort statt?» «Eine Gala, soweit ich weiss. Sind Sie nicht informiert?» «Tun Sie mir bitte einen Gefallen, Herr Suleimani. Richten Sie Herrn Gianni Degen aus, dass ich nicht kommen werde und nicht wünsche, dass er mir ein Taxi sendet, um mich als seine Begleitung an die Gala zu bringen, während seine Ehefrau auf Reisen ist. Er wird ihre Unkosten begleichen.» «… Natürlich», antwortete der Taxifahrer etwas verstört. Hermann jagte immer noch erfolglos den Tauben nach. Sie pfiff nach ihm und machte sich auf den Rückweg zum Subito. Unterwegs warf sie den Brief ein, den sie bereits am Nachmittag verfasst hatte. 205
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Lieber Gianni, wie du bemerkt hast, bin ich nicht zur Mediengala ge kommen. Ich denke, es war besser für uns beide. Ich werde auch nicht mehr zur Arbeit beim Guck! erscheinen, sondern lasse Dich auf diesem Weg vorab wissen, dass ich per sofort kündige. Ich werde eine korrekt verfasste Kündigung nach reichen, wohlwissend, dass ich die dreimonatige Kündi gungsfrist nicht einhalte. Ich erwarte aber von Dir, dass du mir diesbezüglich entgegenkommst und die Kündigung in die Wege leitest. Ich denke, wir wissen beide, was mein Anlass für diese drastische Massnahme ist und werden die Sache daher möglichst reibungslos beenden. Ruth PS: «Was ich an den Menschen mag? Sie sind so leicht zu manipulieren.» – Frank Underwood Der Umschlag würde Degen am Montag erreichen. Als sie Aeschlimann vor dem dunklen Subito warten sah, fühlte sie sich befreit. Das Wochenende gehörte ihrer gemein samen Recherche.
* «Dann lass mal hören.» Sie sassen an Aeschlimanns Arbeitstisch. Er führte Ruth durch sein Poster, als wäre es eine Landkarte, auf der er ihr eine Reise erklärte. «Es beginnt damit, dass der Huberhof am Morgen des 16. Juli 1986 in Flammen steht. Die Feuerwehr kann den Brand nur mit Mühe löschen, dazu habe ich den Rapport eines Kommandanten Läubli gefunden. Boser schrieb im 206
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Guck! von einer «dilettantischen Löschaktion». Der Hof brennt fast vollständig nieder, danach werden Leichenreste in den Schlafzimmern gefunden. Es liegt auf der Hand: Die hier wohnhafte Familie Huber ist den Flammen zum Opfer gefallen. Die Spurensicherung hält aber in ihrem Bericht drei entscheidende Dinge fest: Erstens lassen sich die Leichenreste nicht vier Menschen zuordnen, was an gesichts des weit fortgeschrittenen Brandes aber nicht unbedingt erstaunlich war. Es gibt damals keine Möglichkeit zu überprüfen, ob die Leichenteile sich genetisch unterscheiden. Die einzige Möglichkeit der Identifizierung einer nicht erkennbaren Leiche geht 1986 über Haare und Gebiss, DNA-Analyse kannte man noch nicht. Haare waren nicht vorhanden, weil verbrannt. Reste eines Ge bisses wurden zwar gefunden und konnten dem Vater zugeordnet werden, doch die Leichenteile wurden in verschiedenen Räumen gefunden – müssen also von mehr als einer Person stammen. Zweitens wird im Bericht der Spurensicherung vermutet, dass die Opfer nicht direkt durch die Flammen oder den Rauch starben, sondern vermutlich schon vorher tot gewesen waren. Und Drittens: Der Brand wurde absichtlich gelegt, darauf lässt das Brandmuster schliessen, das keinen eindeutigen Brandherd erkennen lässt. Man geht davon aus, dass er an mehreren Orten gleichzeitig ausgebrochen ist. Werner Zeller nimmt die Ermittlungen auf und gibt sich bedeckt. In der Medienberichterstattung gibt es in den zwei Wochen nach dem Brand keinen einzigen Verweis auf gesicherte Fakten aus den Ermittlungen, sondern bloss Mutmassungen. Hartnäckig wird über einen Zusammenhang zu den früher im Sommer vorgefallenen Katzenmorden spekuliert. Rollen wir das kurz auf: Anfangs Juli 1986 wurden fünf 207
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Katzen im Dorf getötet. Die Tiere wurden zu Tode gequält. Zeller ermittelt auch in diese Richtung, doch wie wir aus seinen Notizen wissen, schliesst er einen Zusammenhang aus. Ganz anders die Presse, namentlich Boris Boser: Der Journalist ist überzeugt, dass die Katzenmörder auch die Hubers ausgelöscht haben. Er führt an, dass es in Regenbolz noch nie eine solche Gewalttätigkeit gegeben hat und bringt den entführten Mähdrescher ins Spiel: ein Vandalismusakt, der seiner Ansicht nach von ähnlichem Charakter ist wie Tierquälerei. Anfang August wird Zeller überraschend als Trinker entlarvt – Teckel übernimmt seinen Posten. Das ist ein Schlüssel moment.» Aeschlimann zog den Guck!-Artikel vom 3. August 1986 hervor, in dem Boser vermeldet, dass Zeller in der Polizeikontrolle hängengeblieben war. Der Text war so verfasst, als hätte Boser die Informationen aus zweiter Hand erhalten. Zum Artikel gehörte ein Foto, das Zeller im Moment seiner Festnahme zeigt: Ein junger Polizist bugsiert ihn mit Handschellen in einen Polizei wagen. «Laut Bosers Artikel soll ein zufällig anwesender Passant dieses Bild geschossen und dem Guck! übermittelt haben», fuhr Aeschlimann fort. «Aber schau mal, was da unten rechts steht.» «Boris Boser hat das Bild geschossen», flüsterte Ruth und zeigte mit dem Finger auf die winzige, kursive Schrift unter dem Foto. Da stand: Bild: B.B. «Ganz genau. Und damit ist klar, dass es eine einge fädelte Sache war. Boser kann schlecht per Zufall morgens um zwei Uhr vor Ort gewesen sein. Erinnerst du dich, wie Teckel reagierte, als du ihn neulich fragtest, unter welchen 208
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Umständen genau es zur Verhaftung von Zeller gekommen war?» «Er blieb die Antwort schuldig. Und du bist sicher, dass die Initialen B.B. zu Boris B oser gehören?» «Absolut, das war sein Kürzel. Zu dieser Zeit war es noch üblich, dass Reporter nicht nur schrieben, sondern auch fotografierten. Ich frage mich nur: War der wirklich so blöd und schrieb sein Kürzel darunter?» «Nicht unbedingt. Heute ist es jedenfalls so, dass die Bildredaktion für die Urheberzeile zuständig ist», wandte Ruth ein. «Gehen wir also davon aus, dass es eine Absprache zwischen Teckel und Boser gab», fuhr Aeschlimann fort. «Zeller sollte im Beisein der Öffentlichkeit in die Kon trolle laufen, damit er abtreten musste.» «Doch wieso hat Teckel das getan?» «Gute Frage. Ich weiss nicht, wie es dir erging, aber mein persönlicher Eindruck von Teckel ist, dass er eine Art Beschützerinstinkt für das Dorf entwickelt hat. Er gefällt sich als Retter. Somit könnte die Notlage eine Chance für ihn gewesen sein. Weisst du, wie ich meine?» «Du meinst das Helfersyndrom. Aber du kannst ihm nicht einfach eine pathologische Hilfsbereitschaft unterstellen, immerhin war etwas Schlimmes geschehen und das musste aufgeklärt werden.» «Nun ja … Die Macht an sich zu reissen, um den Fall selber zu lösen, hat doch schon etwas Pathologisches, nicht? Er sagte zu uns: ‹Es braucht in so einem Fall dringend jemanden, der Fakten schafft, auch wenn sie unan genehm sind. Mir fiel diese undankbare Aufgabe zu, nachdem mein Vorgesetzter sich nicht besser zu helfen wusste, als mit der Flasche›, erinnerst du Dich? Wir wissen jetzt 209
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aber, dass es seine Inszenierung war, Zeller musste als Trinker vorgeführt werden. Danach stand Teckel unter Druck, die Ermittlungen voranzubringen. Da war es doch naheliegend, dass er mit seinem Verbündeten Boser mitzieht. Gemeinsam erheben sie ihre Version eines Vierfachmords zur R ealität, beziehungsweise zur Medienrealität.» Einen kurzen Moment herrschte Stille. «Klingt schon plausibel. Aber wir haben keine Beweise. Wir können nur anhand von Zellers Notizen zeigen, dass er nicht an einen Zusammenhang zwischen den Katzenmorden und dem Vierfachmord glaubte. Und dass Boser zugegen war, als Zeller in die Kontrolle lief – was allerdings noch kein Beweis ist, dass es tatsächlich eine Ab sprache gab», sagte Ruth resigniert. «Du irrst.», entgegnete Aeschlimann und zog über legen lächelnd ein Blatt Papier hervor. «Ich habe dein Foto des Briefs vergrössert und in mühsamer Kleinarbeit ent ziffert.» Ruth begann zu lesen. Lieber Jacques Teckel, Ich bin bereit, mein Ausscheiden zu akzeptieren und hege Dir gegenüber keinen Groll. Ich bitte Dich nur, diesen Brief ernst zu nehmen. Letztlich geht es nicht um Dich oder mich – sondern um die Ermittlung. Bei unserem letzten Aufeinandertreffen in meinem Büro, habe ich Dich abge kanzelt – es tut mir leid. Bitte lass mich erklären, weshalb es zu Differenzen zwischen uns gekommen ist, als es darum ging, über die Ermittlungen im «Vierfachmord» zu kom munizieren. Es ist kompliziert und ich habe Dir gewisse 210
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Informationen vorenthalten, die ich nun mit Dir teilen will. Ich habe Ines Huber im März 1986 persönlich kennen gelernt. Sie wollte mich mehrmals treffen und wirkte, als wollte sie mir etwas anvertrauen, zuletzt brach sie in Tränen aus, als sie über ihren Ehemann (Meinrad Huber senior) sprach. Nach diesem Treffen brach unser Kontakt ab. Ab Ende März habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich bin dann am 15. Juli 1986, also wenige Stunden bevor der Brand aus brach, auf dem Huberhof gewesen, wie du weisst. Da stand der Mähdrescher bereits in der Buntbrache, ich habe ihn aber nicht näher untersucht. Stattdessen unterhielt ich mich mit dem Jungen (Meinrad Huber junior, er nennt sich «Gheimi»), der mir seltsame Angaben über den Verbleib seiner Mutter und seines Vaters machte. Er sagte zwei Dinge, die nachweislich nicht stimmten: Zum einen, dass seine Mutter in der Stadt sei, um eine Brillenkorrektur vorneh men zu lassen – Ines Huber trug aber keine Brille. Und zum anderen, dass der Vater in Birnbaum auf dem Schlachthof sei, wo er aber nie war, ich habe es überprüft. Ich war aber in diesem Moment zu wenig misstrauisch, das werde ich mir nie verzeihen. Als wir anderntags zum Brand gerufen wurden, sah ich mir den Mähdrescher in der Buntbrache genauer an, Du erinnerst Dich. Dabei entdeckte ich Blutspuren, es sah aus, als ob dort ein Kampf stattgefunden hätte. Vielleicht auch mehr. Ich denke, der Mähdrescher wurde benutzt, um jemanden zu töten. Anders kann ich mir die Blutspuren nicht erklären. Ausserdem weiss ich, dass der Junge ein Messer auf sich trug, was mir verdächtig erscheint. Ich war mir daher von Anfang an sicher, dass die Ereignisse komple xer sein mussten. Wieso log der Junge, was den Verbleib 211
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seiner Eltern angeht? Gab es einen Kampf in der Bunt brache? Ich kann nicht ausschliessen, dass die Eltern zum Zeitpunkt meines Treffens mit Gheimi am Vortag des Brandes nicht bereits tot waren. Wieso sonst sollte der Junge lügen? Bitte verzeih mir, dass ich diese Informationen zurückge halten habe. Ich weiss, ich hätte von Anfang über meine Treffen mit Ines Huber informieren müssen. Doch ich war überwältigt von den Ereignissen und fürchtete (und fürchte es noch immer), dass ich selber eine Rolle spiele in dem Ganzen. Vielleicht wurden Ines Huber auch die Treffen mit mir zum Verhängnis? Dass die Katzenmorde in einem Zusammenhang mit den Geschehnissen auf dem Huberhof stehen, kann ich mir nicht vorstellen. Was auf dem Huber hof geschehen ist, ist komplexer als es aussieht. Finde heraus, wieso der Mähdrescher in der Buntbrache steht – das muss der Schlüssel sein. Und bedenke den Befund der Spurensiche rung: Die gefundenen Leichenteile lassen gar nicht den Rückschluss zu, dass vier Menschen verbrannt sind. Gab es überhaupt vier Tote? Eines noch: Womöglich haben die Hügli-Zwillinge mit den Katzenmorden zu tun. Ich bin aber nicht mehr dazu ge kommen, dem nachzugehen. Werner Zeller, Regenbolz am 18. August 1986 «Wow …», sagte Ruth sprachlos, als sie fertiggelesen hatte. «Sieht doch schon anders aus, oder? Wir müssen nun herausfinden, was auf dem Huberhof wirklich geschah. Gehen wir von Zellers Verdacht aus: Es starben gar nicht vier Menschen, es fehlen bloss vier. Dass Ines Huber ihm 212
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etwas anvertrauen wollte, deutet darauf hin, dass schon viel früher etwas nicht stimmte auf dem Huberhof. Und er verdächtigt Gheimi.» «Denkst du, der könnte der Mörder sein? Er tötet seine Familie, brennt den Hof nieder und kann fliehen?» «Möglich. Doch wieso vermutet Zeller er könnte selber eine Rolle gespielt haben? Wieso brach Ines Huber in Tränen aus, als sie über ihren Mann sprach? Das kann nur eines bedeuten: Die beiden hatten ein Verhältnis, der alte Huber findet es heraus und …» «… aber er würde doch nicht die ganze Familie töten?», fiel ihm Ruth ins Wort. «… ein Familiendrama?» Ruth schüttelte den Kopf. «Das leuchtet nicht ein. Wieso sollte er Feuer legen? Bei Familiendramen ist es doch üblich, dass der Täter sich nicht die Mühe macht, etwas zu vertuschen. Es soll ja gerade alle Welt sehen, was er anrichtet. Nein. Der Brand geschah, um es so aussehen zu lassen, als wären vier Menschen gestorben, dabei waren es weniger. Ich tippe darauf, dass der Junge seine Eltern tötete.» «Und die Schwester?» «Die tötete er auch. Oder sie ist Mittäterin. Es war entweder ein Doppelmord der Kinder an ihren Eltern oder ein Dreifachmord des Jungen an seiner Familie. Aber kein Vierfachmord. Der Brand sollte Gheimi – und je nachdem seiner Schwester – einen Vorsprung für die Flucht verschaffen. Dann entwickeln sich die Dinge sogar zu ihren Gunsten: Zeller fürchtet, dass er selber das Drama aus gelöst hat und blockiert die Ermittlungen. Daraus entflammt der Machtkampf mit Teckel. Dass Zeller abtreten muss, verschafft dem Narrativ «Vierfachmord» freie 213
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Fahrt. Teckel verdächtigt die Hüglis. Tatsächlich kann er ihnen die Katzenmorde nachweisen, endlich ein Erfolg in der Ermittlung. Er setzt sie unter Druck und unterstellt ihnen, auch den Vierfachmord begangen haben. Und Boris Boser zieht medial schön mit. Er muss nur oft genug die Hüglis «mutmassliche Täter» nennen und schon werden sie zu den erwiesenen Tätern.» «Okay. Nehmen wir mal an, Gheimi ist der Mörder. Immerhin gibt es so etwas wie ein Motiv: das Konto für die Entschädigung des Ernteausfalls. Es war Gheimi, der es eröffnet hatte …», Beide schwiegen einen Moment. Jeder ging seinen Gedanken nach. Die Ansätze waren da, doch ebenso die Gewissheit, dass Zeller recht hatte: Die Geschehnisse in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 1986 waren viel komplexer als sie auf den ersten Blick aussahen – auch jetzt, da Aeschlimann und Ruth vermutlich mehr Informationen besassen, als irgendjemand vor ihnen. Zeller hatte nichts vom Geld der Buntbrache gewusst. Doch würden des wegen Kinder ihre Eltern töten? Was hatte es mit dem Mähdrescher in der Buntbrache auf sich? Wie kam das Messer in Teckels Schreibtisch? Schliesslich sagte Ruth: «In einem Punkt hat Teckel wohl recht. Wir müssen nicht die Arbeit der Polizei machen. Wir sind keine Ermittler. Wir müssen bloss aufzeigen, was die Umstände waren, die dazu führten, dass das Verbrechen ungelöst blieb. Danach sollen die Profis die Ermittlungen neu aufrollen.» Dann beugte sie sich wieder über das Poster und fragte: «Doch nun zu den Namen der Gegenwart. Was sollen Kurt Karrer und Carla Blaui damit zu tun haben?» 214
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Es war bereits nach 23 Uhr, doch sie waren noch lange nicht fertig mit Regenbolz. «Mach dich auf eines gefasst: In Regenbolz hängt alles zusammen», sagte Aeschlimann und fischte wieder den Artikel von Boris Boser hervor, der von der Festnahme Werner Zellers handelte. «Schau dir das Bild genau an.» Ruth hielt sich das Papier eng vor die Nase. «Was erkennst du?» «Ein Polizist, der Zeller in einen Dienstwagen bugsiert.» «Schau dir den Polizisten genau an.» Das Gesicht sah man nur im Profil, der junge Mann hielt mit der linken Hand die hintere Wagentür auf und hatte die rechte Hand auf Zellers Schulter, der mit einem Bein bereits im Wagen war. «Ist das Kurt Karrer?» «Ganz genau. Kurt Karrer, 25 Jahre alt, damals als angehender Polizist noch dem Bezirk Birnbaum zugeteilt, zuletzt unter Teckel in Regenbolz tätig. Und in neuerer Zeit mysteriös verschwunden, vermutlich tot. Sein Verschwinden ist, passend zu Regenbolz, ungeklärt. Seine Lebenspartnerin, Carla Blaui, macht daraufhin Selbstmord.» Aeschlimann musste sich beherrschen, um nicht eu phorisch zu klingen, immerhin waren ein ungeklärtes Verschwinden und ein Suizid keine frohen Botschaften. Doch der Kreis schien sich zu schliessen. «Da ist noch was. Carla Blaui ist die Schwester von Vincenzo Blaui, dem Inhaber der Verbena-Versicherung. Die Versicherung ist Gönnerin der Buntbrache. Das Unternehmen liess die Anbaufläche sogar vergrössern. Die Buntbrache erstreckt sich heute nicht nur über den Acker, 215
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sondern auch über die ehemaligen Grundmauern des Huberhofs. Ich bin kein Fan geflügelter Worte, doch ‹da wächst Gras drüber› passt nicht schlecht, oder?» Ruth brachte nur ein geflüstertes «Verdammt …» hervor. «Heisst das, die Buntbrache wächst dort, um irgendwas unter dem Deckel zu halten?» «Das wäre natürlich aufregend, aber auch reichlich abenteuerlich.» «Denkst du, Kurt Karrer war etwas auf der Spur und wurde deswegen beseitigt?» Aeschlimann hatte kurz denselben Gedanken gehabt, dann aber schnell wieder verworfen. Kurt Karrer war wegen der überfahrenen Katze suspendiert worden und daraufhin verschwand er. Jetzt nahm Ruth den Gedanken wieder auf. «Das Verschwinden von Karrer ist jedenfalls immer noch ein Rätsel. Und der kurz darauf erfolgte Suizid von Carla Blaui kann doch kein Zufall sein», sagte sie. «Karrer kannte immerhin die Umstände, unter denen Zeller 1986 abgesetzt wurde. Vielleicht hat er, genau wie wir, Unstimmigkeiten bei den Ermittlungen entdeckt und wurde darum abgemurkst.» Aeschlimann musste schmunzeln. «Von wem?» «Von Vincenzo Blaui, der unter seiner Buntbrache irgendwas versteckt hält. Oder von Jacques Teckel. Und Carla Blaui musste dann eben auch dran glauben, weil sie zuviel wusste.» Jetzt musste sie selber schmunzeln, angesichts der abenteuerlichen Theorie, die sie formulierte. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Vincenzo Blaui seinen Schwager und seine Schwester töten würde, 216
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nur um irgendwas in einem über dreissig Jahre zurückliegenden Mordfall zu vertuschen. Was sollte denn sein Bezug zum Vierfachmord sein? Dass er die Buntbrache ausweiten liess, muss nichts heissen. Seine Versicherung heisst ja Verbena, also scheint er sich diesen Pflanzen verbunden zu fühlen. Ihm gefällt die Buntbrache – mir übrigens auch – und seiner Versicherung steht es gut, Gönnerin davon zu sein. Und dass Teckel ein Mörder ist, halte ich für ausgeschlossen.» «Du hast recht. Konzentrieren wir uns aufs Handfeste.» Sie nahm einen Fizstift und schrieb einen Arbeitstitel auf das Poster: Die Ermittlungen im «Vierfachmord» wurden vom Machtkampf Zeller/Teckel und von der Guck!-Berichterstattung gelenkt/sabotiert. Darum ist der Fall bis heute ungeklärt – gab es überhaupt einen Vierfach mord? «Kling gut», fand Aeschlimann. Ruths Blick fiel zu Hermann, der zufrieden auf dem Sofa schlief. Es war spät geworden. Aeschlimann liess sie diese Feststellung selbst machen. Ebenso, dass sie den letzten Zug nach Zürich verpasst hatte. «Dann muss ich wohl hierbleiben», sagte sie schliesslich. Und damit waren seine Gedanken, die eben noch wild um Regenbolz gedreht hatten, wie weggewaschen.
* Der Samstag begann damit, dass Hermann ins Bett stieg, das Kinn auf die Vorderpfoten legte, und vorwurfsvoll zu Aeschlimann blickte. Aeschlimann liess die beiden liegen 217
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und holte Brot und Orangensaft in der Bäckerei. Als er in die Wohnung zurückkehrte, sass Ruth in der Küche und tippte gerade eine Nachricht in ihr iPhone. Aeschlimann konnte es nicht lassen, einen Blick über ihre Schultern zu werfen. Den Text konnte er nicht lesen, aber er sah, an wen die Nachricht adressiert war. Er fragte so unbeeindruckt wie möglich und ohne Ruth seine kleine Spionage merken zu lassen: «Dein Freund?» Und als sie verneinte (sie sagte «Nur eine Kollegin»), sah Aeschlimann die Zweisamkeit vom Vorabend verfliegen. Jedes Fest ging vorbei, wenn es wieder hell wurde. Ruth hatte ihn angelogen. Am Nachmittag machten sie mit Hermann einen Spaziergang am Rheinufer. «Ich kenne eine Redaktorin bei der Chronik, die rufe ich morgen gleich an. Ich denke, unsere Recherche wird mit Handkuss genommen», sagte Ruth und klang fast ein bisschen euphorisch. «Möglich», antwortete Aeschlimann. Die Chronik war das bedeutendste Wochenmagazin des Landes. Dort zu publizieren galt als Ritterschlag unter Journalisten. Sie gingen still dem Rheinufer entlang. Das Wasser floss träge an ihnen vorbei und ein Dampfschleier erhob sich in der Dämmerung. In der Ferne fuhr ein Tram über die Brücke, dessen Geschepper über das Flussbett hallte, es verlor sich im sanften Summen einer Stadt, die nicht einmal am Wochenende zur Ruhe kam. Aeschlimann nahm sich vor, irgendwann aufs Land zu ziehen. «Ist was?», fragte Ruth nach einer Weile. Sie waren gerade an einer Bank angekommen und Aeschlimann hatte sich mit ernster Miene hingesetzt. 218
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«Kopfweh.» Es war eine seiner Angewohnheiten, einsilbige Ant worten zu geben, wenn er etwas verbergen wollte. Fragende sollten sich dann selber eine Übersetzung davon machen. «Tja, es ist spät geworden gestern. Du wirkst aber dennoch irgendwie seltsam. Gestern warst du noch völlig euphorisch und jetzt tönst du geradezu, als wolltest du a lles in den Fluss werfen. Drück dich aus!» «Was hast du Degen geschrieben heute morgen?» «Degen?» «Ja, deine Kollegin.» «Okay, ich sehe, woher der Wind weht. Schaust du immer fremden Leuten aufs Handy?» Sie klang nicht verärgert, sondern amüsiert. Aeschlimann wurde nicht schlau. Ruth zückte ihr Handy, öffnete Whatsapp, hielt es ihm hin und sagte: «Hier lies!» Aeschlimann scrollte widerwillig über das Display. Whatsapp war ein Kanal unter Freunden. Zwischen einem Macho wie Degen und einer jungen Frau wie Ruth wirkte Whatsapp nicht nur fehl am Platz, sondern bedrohlich. «Du wärst mit Degen gestern für eine Gala verabredet gewesen?!» «Genau. Heute Morgen habe ich mich bei ihm entschuldigt, dass ich nicht erschienen bin. Wieso ich nicht erschienen bin, erfährt er dann am Montag per Post, ebenso, dass ich kündige.» Aeschlimann schaute ungläubig. Und dann erzählte Ruth, wie Degen ihr angeboten hatte das «irreperabel geschädigte Vertrauen» wieder herzustellen. 219
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«Verdammt Ruth, du machst mir Angst. Du hast Männer im Handumdrehen an den Eiern. Zuerst Teckel, jetzt Degen. Muss ich Angst haben?» «Du? Nein, wieso?» «Stimmt, ich bin ein anständiger Kerl.» «Nein. Du bist nicht mächtig.» Sie grinste.
* Der Regenbolzer Gemeinderat brauchte kein Budget zu sprechen, um die Willkommensschilder wieder aufbauen zu können. Die Verbena-Versicherung zahlte vollen Schadenersatz. Man engagierte einen lokalen Zimmermann und legte Wert darauf, lokale Hölzer zu verwerten. Karl lieferte an einem Mittwochmorgen einen Stapel Bretter, die zu einem First zusammengezimmert wurden. Im Schutz der Spaltschindeln, die das kleine Dach bildeten, stand wieder mit eingebrannter Schrift schwungvoll geschrieben: Willkommen in Regenbolz, Oase der Bauern tradition und Auenlandschaften. Das Dorf wappnete sich für den Winter. Entlang der Landstrasse wurden orange Latten montiert, falls meterhoher Schnee fallen sollte (was seit 1999 nie mehr ge schehen war) und auf dem Kapellhügel schlug die Kirchenglocke jede Viertelstunde ihren Dreiklang, zur vollen Stunde wurde das ganze Repertoire aufgefahren (es gab sechs unterschiedlich grosse Glocken im Turm). Alles ging seinen gewohnten Gang. Die freiwillige Feuerwehr traf sich zu ordentlichen Übungen, die Dorfmusik ebenso, Montagabend war Damenriege und Dienstagabend 220
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ännerriege. Bald gesellte sich ein weiteres Schild zu den M neu aufgerichteten Willkommensschildern. Es pries den Weihnachtsmarkt an, der immer am ersten Advent in einer von Bollers Hallen stattfand. Man konnte Kerzen ziehen, Punsch oder Glühwein trinken, Porzellan, Wurzelstöcke und andere Naturgeflechte kaufen. Oder Weihnachtsbäume, die Guido der Gärtner feilbot und jedem Kunden die gleiche Leier vorjammerte. Das Geschäft sei im Eimer, seit die Nordmann-Tanne aus allen Himmelsrichtung über die Grenze komme und das werde noch schlimmer, wenn dereinst EU-Recht herrsche. So gab Guido mit jeder verkauften Tanne «aus echtem Regenbolzer Boden» ein bisschen Politik mit in die Weihnachtsstube. Die echten Bolzner kauften bei ihm. Wenn der Winter ordentlich war, konnte sich Regenbolz in eine beschauliche Landschaft verwandeln. Doch auch wenn genügend Schnee lag, blieb der Skilift ausser Betrieb. Das war schon lange so. Obschon der Kreuzberg bei Bisenlage und kalten Temperaturen zu einem wahren Wintermärchen wurde. Auf dem Kamm standen die Bäume licht und man konnte sich jenseits des Polarkreises wähnen, zwischen den dick in Reif verpackten Tannen. Blieb es anhaltend kalt, gefroren die Auen zu natürlichen Eisbahnen, auf denen man Schlittschuhlaufen konnte. Regenbolz war bereit für eine friedliche Adventszeit. Doch die Vergangenheit hatte begonnen, das Dorf einzuholen und sollte trotz bevorstehender Adventszeit keine Pause machen.
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Teckel lehnte ab, ein zweites Mal mit Aeschlimann und Ruth zu sprechen, doch sie brauchten seine Antworten nicht zwingend. Der Brief von Zeller sprach für sich. Boser, ein inzwischen alter Mann, der seinen Lebensabend genoss und sich um seinen Ruf genauso wenig scherte wie in jüngeren Jahren, wollte sich nicht an jene Nacht er innern, als Zeller in die Kontrolle lief. Zu seinen Initialen in der Urheberzeile des Fotos, meinte er nur: «Vermutlich war ich es, der das Bild des Passanten entgegengenommen hat, ich weiss es nicht mehr. Deswegen hat wohl der Produzent fälschlicherweise meine Initialen reingetippt, anstatt zvg – zur Verfügung gestellt.» Schliesslich wollte Boser dann doch wissen, welcher Fährte sie auf der Spur waren und als sie ihm geradeheraus sagten, dass sie davon ausgingen, dass der Vierfachmord eine Fehlinterpretation war, die aus einem Machtkampf zwischen Teckel und Zeller hervorging, während die Guck!-Berichterstattung das ihrige beigetragen hatte, lächelte er nur und sagte: «Na dann, viel Glück.» Er war 84 Jahre alt und strahlte die Ruhe eines Rentners aus, der im Angesicht des baldigen Abtretens nichts mehr bereuen würde. Ruth stellte ein Informationszugangsgesuch bei der Birnbaumer Polizei. Die Verhaftung Werner Zellers stand in Verbindung mit den Ermittlungen im Vierfachmord und war darum von grösstem öffentlichem Interesse, so ihre Argumentation. Das Gesuch wurde gutgeheissen. Im Birnbaumer Polizeiarchiv fand sie den Rapportbericht der Nacht vom 2. auf den 3. August 1986. Darin war vermerkt, 222
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dass es sich um eine «ausserplanmässige Kontrolle auf Anraten der Regenbolzer Polizei» gehandelt hatte. Ausser Werner Zeller war niemand angehalten worden. Derweil nahm sich Aeschlimann die Verbena vor. «Endlich jemand, der diese Geste gegenüber dem Dorf wahrnimmt!», antwortete Vincenzo Blaui, auf die Gönnerschaft angesprochen. «Ich bin zusammen mit meiner Schwester im Jahr 2001 nach Regenbolz gezogen. Wir wussten nichts von der dunklen Vergangenheit dieses netten Dorfes. Die Gemeinde hat ja vergebens versucht einen Landkäufer zu finden, wissen Sie. Jedenfalls erschien es mir dann naheliegend, diese wunderschöne Buntbrache auszuweiten und ich habe das Geld gerne gesprochen. Als Versicherer ist es mir ja auch ein Anliegen, dass sich meine Kundschaft wohlfühlt, viele Regenbolzer sind meine Kunden.» «Wieso haben Sie Ihre Versicherung Verbena getauft?», wollte Aeschlimann wissen. «Ich wollte einen Namen, den man mit dem Grünen assoziiert. Die Verbenen sind tolle Pflanzen. Und der Buntbrache fühlte ich mich stets verbunden, die Regenbolzer übrigens auch. Sie hilft zu vergessen, was 1986 an jenem Ort geschehen ist.» Der Mann schien gerne zu plaudern. Also wagte sich Aeschlimann zu sagen: «Mein herzliches Beileid zum Tod ihrer Schwester. Bitte entschuldigen Sie meine Neugier – aber was waren denn die Umstände ihres Suizids, wenn ich fragen darf?» «Ach wissen Sie, meine Schwester hat nie ein glück liches Leben geführt. Ihr Leben verlief vor a llem dank ihres Partners Kurt Karrer in geordneten Bahnen, er war 223
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ein Glücksfall für sie. Und als er verschwand, mutmasslich weil die Suspendierung ihn aus der Bahn geworfen hat – dazu müssen Sie wissen, dass er P olizist mit Leib und Seele war, sehr rechtschaffen – da ist Carlas Welt zusammen gebrochen. Ich konnte es nicht abwenden. Haben Sie die Todesanzeige gesehen, die ich im Regenbolzer Anzeiger aufgegeben habe? Ich habe ein schönes Gedicht gefunden, sehr passend, wie ich finde.» «Nein, habe ich nicht gesehen», antwortete Aeschlimann, den ein schlechtes Gewissen überkam. «Geben Sie mir eine Adresse, ich kann sie Ihnen senden.» Als Aeschlimann zwei Tage später per Post die Todes anzeige erhielt, besserte sich sein schlechtes Gewissen nicht. Hatte sich Carla Blaui wirklich umgebracht, weil Kurt Karrer verschwunden war? Er legte die Anzeige beiseite und damit auch die Fährte zur Verbena, die keine war.
* Das Titelbild der Dezember-Ausgabe der Chronik zeigte eine Illustration der Regenbolzer Willkommensschilder, allerdings mit abgeändertem Willkommensgruss. Willkommen in Regenbolz – Dorf des grössten ungelösten Kriminalverbrechens des Landes. Im Hintergrund lag unverdächtig das Dorf, doch bei genauerem Hinsehen erkannte man dunkle Wolken am Himmel und eine feine Rauchsäule, die sich dort erhob, wo der Huberhof in seiner Senke gelegen hatte. Das C von 224
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Chronik wurde halbwegs vom Kirchturm verdeckt, als wollte es sich dahinter verstecken. Darunter stand: Wieso der Vierfachmord von Regenbolz nie gelöst wurde. Der Text umfasste sieben Seiten. Akribisch zeichneten Aeschlimann und Ruth die Geschehnisse des Juli 1986 nach: Sie begannen mit den Katzenmorden und beschrieben dann den Brand des Huberhofs am 16. Juli 1986. Der erste Teil des Textes brachte nichts Neues zu Tage, sondern führte zur bekannten Auffassung, wonach die Gewalt taten in einem Zusammenhang stehen mussten. Doch dann beleuchteten sie Teckels Ermittlungen gegen die Hügli-Zwillinge. Geschickt stellten sie die öffentliche Wahrnehmung über die Täterschaft den Tatsachen gegenüber, die 1986 niemanden interessierten: Dass die Hüglis nur für die Katzenmorde verurteilt worden waren, bedeutete, dass es beim Vierfachmordfall keine Täter gab. Sie warfen die überraschende Frage auf: Gab es überhaupt einen Vierfachmord? Oder ist das bloss die Fehlinterpretation einer von Anfang an misslungenen Er mittlung? Sie gingen nochmals an die Anfänge der Ermittlungen nach dem 16. Juli 1986 zurück, brachten die Verstimmung zwischen Teckel und Zeller ins Spiel und belegten die wahren Umstände, unter welchen Zeller als Trinker entlarvt wurde. Zellers Brief druckten sie in voller Länge ab. Damit wurde klar: Hinter dem Brand auf dem Huberhof musste etwas ganz anderes stecken als bloss zwei Jugendliche, die Katzen töteten und Mähdrescher entführten. Dass die Hüglis als Täter präsentiert wurden, wirkte sofort an den Haaren herbeigezogen. Der letzte Abschnitt lautete: 225
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Teckel und Boser sind zwar nicht die Täter – doch die Väter des «Vierfachmords». Was ist wirklich geschehen in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 1986 auf dem Huberhof? Niemand weiss es. Dieser Frage müssen sich die Behörden nun erneut annehmen, auch wenn der Fall verjährt ist. ‹Starben überhaupt vier Menschen?› fragte Werner Zeller bereits 1986 in seinem Brief an Teckel. Die Frage ist heute noch so dringend wie vor 31 Jahren. Der Text schlug ein wie eine Bombe. Regenbolz war sofort wieder in aller Munde. Das ganze Land fachsimpelte, was wirklich geschehen war. War es ein Doppelmord der Kinder an den Eltern gewesen? Ein Dreifachmord des Jungen an seiner Schwester und den Eltern? Oder war es tatsächlich ein Vierfachmord, ein Familiendrama, bei dem der Vater seine Familie auslöschte, weil die Mutter ein Verhältnis mit Werner Zeller gehabt hatte? Selbst eine deutsche Kriminalsendung zeigte sich interessiert. «Wann können wir Sie treffen, Herr Aeschlimann?», brüllte ein Mann aufgeregt durch den Hörer, der sich als Redaktionsleiter Grabscheid vorstellte. Aeschlimann antwortete: «Sie meinen uns. Ich arbeite mit meiner Recherche- Kollegin Ruth Frey zusammen.» «Natürlich. Wir möchten gerne alles über Ihre Recherche erfahren, auch, wie Sie diese unglaubliche Entdeckung gemacht haben und wie es weitergeht. Wir möchten gerne die Sendung vor Weihnachten damit bestreiten, das ist die mit der höchsten Einschaltquote. Das mischt die friedlichen Weihnachtstage gehörig auf», der Re daktionsleiter konnte sich ein Glucksen nicht unter drücken. 226
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«Ich spreche mich mit Frau Frey ab und melde mich wieder», erwiderte Aeschlimann. «Natürlich, ich habe volles Verständnis. Ich möchte nur nochmals betonen, dass auch unser deutsches Publikum, und wir sprechen von einem Millionenpublikum, unbedingt mehr aus diesem Schweizer Dorf wissen will. Es ist die perfekte Anrichte: Mord und Vertuschung im Herz der Alpen, wo sonst nur Kühe weiden und friedliche Bergmenschen leben. Jetzt die komplett neue Aufarbeitung und die Täter immer noch auf freiem Fuss, vielleicht mitten unter uns!» «Regenbolz liegt nicht in den Alpen.» «Natürlich, kein Ding. Solange das Böse aus der braven Schweiz kommt ist es immer gut. Das hat Kontrast! Wie wenn die brave Nichte plötzlich als koksende Stripperin geoutet wird. Sowas will man sehen an Weihnachten!», schwadronierte der Mann namens Grabscheid weiter. «Wie gesagt, ich melde mich.» «Gut. Eines noch: Es winkt Ihnen ein anständiges Honorar, auch darüber können wir uns noch ausführlich unterhalten.»
* Über die Weihnachtstage bezog Aeschlimann wieder im Haus seiner Eltern Quartier. Auch seine Geschwister kamen für ein paar Tage, das hatte Tradition. Die Mutter schmückte das grosse Haus und es war wieder so belebt wie zu Kinderzeiten am Vergissmeinnichtweg 36. Dann war der Strassenname Programm: Familie Aeschlimann legte Wert darauf, sich nicht zu vergessen. Es waren stets frohe Tage, manchmal die glücklichsten im ganzen Jahr. Alle 227
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hatten viel zu erzählen, von ihrem Alltag und von ihren Karrieren; der ältere Bruder war Ingenieur, der jüngere und die Schwester Ärzte. Aeschlimann traf als Erster ein. Es war ein kalter und trockener 22. Dezember mit einem stahlblauen Himmel, kein Schnee in Sicht. Zum ersten Mal hatte er dieses Jahr auch etwas zu erzählen. Regenbolz hatte ihm viel Aufmerksamkeit eingebracht. Plötzlich meldeten sich die Medienhäuser. Sie boten ihm Praktikas an, die nach Möglichkeit in feste Anstellungen übergehen würden. Aeschlimann antwortete, dass er sich im neuen Jahr wieder melden würde. Eigentlich wollte er nichts anderes mehr. Wer brauchte schon eine Karriere? In den letzten Monaten war er schlicht glücklich gewesen: die Kiesschiffe, das Subito, das nächtliche Recherchieren. Und Ruth. Auch wenn sie w ieder auseinandergegangen waren, wie sie zueinandergekommen waren: professionell. Eine leise Stimme sagte ihm, dass er ihr nie näherkommen würde. Sie war ebenso geheimnisvoll wie unnahbar. Die Mutter war gerade dabei, mit Weihnachtsgutzi be ladene Bleche in den Ofen zu schieben. Aeschlimann hatte sie kaum begrüsst, als sie schon auf eine Antwort drängte. «Was ist 1986 in Regenbolz wirklich geschehen?» Sie tat ihren Unmut über das offene Ende des Artikels kund, als hätte sie einen Krimi gelesen, dessen Ende fehlt. «Was willst du denn hören?», fragte er etwas entnervt, nachdem sie ihm dargelegt hatte, was ihrer Meinung nach untersucht werden sollte. «Na eben: Dass die doch nicht vom Erdboden verschluckt worden sind. Es gab Opfer und irgendwer muss doch der Täter sein. Das möchte ich erfahren. Nicht nur 228
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ich, übrigens. Auch im Zumba-Club wollen es alle wissen!» «Ja, wenn das so ist. Dann schreibe ich sofort einen Brief an die Regenbolzer Polizei: Der Zumba-Club meiner Mutter wünscht zu wissen …» «Blödmann!» Er wollte sich ein ungebackenes Gutzi vom Blech schnappen und bekam stattdessen eins auf die Finger. Sie hatte ja recht. Aeschlimann hätte selber zu gern gewusst, was in Regenbolz wirklich geschehen war. Andererseits wollte er auch auf andere Gedanken kommen. Regenbolz hatte ihn lange genug beschäftigt. Doch jetzt musste er sich der Mutter stellen, die mit dem Kuchenblech in der Hand seltsam gastgeberisch und fordernd zugleich wirkte. Sie wollte die ganze Wahrheit. «Es bleibt wohl ein Geheimnis. Die Wahrheit gibt es sowieso nur ein einziges Mal, in dem Moment, in dem sie stattfindet. Alles, was danach kommt, sind bloss Deutungsversuche», sagte er schliesslich und kam sich an gesichts seines philosophischen Gehversuchs blöd vor. Sie liess nicht locker. «Und die Polizei? Die muss den Fall doch neu auf rollen!» «Das tut sie. Aber vermutlich finden die nichts mehr heraus. Es ist lange her und wichtige Beweise sind verloren.» Wortlos schob die Mutter das Kuchenblech in den Ofen, was bedeuten sollte, dass sie es für den Moment gut sein liess. Am Nachmittag kauften sie im Park eine Nordmanntanne, abends holte Aeschlimann den gusseisernen Fuss aus dem Keller, mit dem sie den Baum in die Stube pflanz229
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ten. Zwei Tage später trafen die Geschwister ein. Den 24. Dezember verbrachte Familie Aeschlimann mit einem Spaziergang zum Altersheim, wo die demente Grossmutter wohnte. Dort stiess man mit ihr zu Weihnachten an, auch wenn sie kaum mehr etwas wahrnahm. Nach einem ausgedehnten Nachtessen suchten sie gemeinsam die Mitternachtsmesse auf. Es war das einzige Mal im Jahr, dass Aeschlimann freiwillig in die Kirche ging. Der Pfarrer mahnte zu schätzen, was gewesen war und zu begrüssen, was kommen würde.
* Am Neujahrstag erhielt er eine Nachricht von Ruth. Sie wünschte nicht etwa ein frohes neues Jahr, sie liess auch sonst jede Begrüssung aus und kam gleich zur Sache: Haben wir etwas übersehen? Nur so ein Bauchgefühl … Darauf folgte ein Foto. Es zeigte einen Zeitungsartikel aus dem Regenbolzer Anzeiger von 1967. Aeschlimann begann zu lesen. Der Erbauer des Skilifts stand direkt an der Stelle des Un glücks beim Ausstieg. Er konnte trotz beherztem Eingreifen, wobei er sich die Hand schwer verletzte, den tragischen Tod des Mädchens nicht verhindern. Untersuchungen sind ange laufen – wieso gab es keinen Notstopp? Erfüllte der Skilift der Marke Eigenbau überhaupt die Sicherheitsstandards? Er hatte kaum fertiggelesen, als Ruth einen zweiten Artikel sandte, ebenfalls aus dem Regenbolzer Anzeiger, jedoch vier Jahre älter. 230
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Dass sich Regenbolz nun eine kleine aber feine Wintersport destination nennen darf, ist vor allem Meinrad Huber zu verdanken, der mit eigenen Mitteln und viel mechanischem Geschick den Lift gebaut hat. Aeschlimann konnte Ruths Besorgnis nicht nachvollziehen. Meinrad Huber war offenbar der Mann, der 1963 den Skilift gebaut hatte und 1967 gab es damit einen tödlichen Unfall. Inwiefern hätten sie etwas übersehen sollen? Schliesslich hatte das alles weit vor 1986 statt gefunden. Er tippte: Na und? Ruth antwortete sofort. Wie gesagt nur ein Bauchgefühl … irgendwas stört mich. Wir haben Meinrad Huber im Text relativ unkritisch so dargestellt, so, wie unsere Informanten ihn schilderten: ein schweigsamer Eigenbrötler mit einer verkrüppelten Hand. Aber wir haben uns nie gefragt, weshalb er so war. Er ist 1967 wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden und sass im Gefängnis … Jetzt sehe ich irgendwie den Menschen da hinter. Bis hoffentlich bald im neuen Jahr! Der letzte Satz gefiel ihm am besten. Sie stellte nicht bloss ein Wiedersehen im neuen Jahr in Aussicht, sondern sehnte sich offenbar danach. Erst nach seiner kleinen Spurensuche in Ruths Nachricht, konnte er sich auf den eigentlichen Inhalt konzentrieren. Sie hatte recht. Jemand, der dem Dorf einen Skilift baute, passte nicht zu dem 231
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Meinrad Huber, den sie sich vorgestellt hatten. Sie kannten ihn nicht, sondern wussten nur, was im Dorf über ihn erzählt wurde: ein misstrauischer Bauer, der mit seiner Familie ausserhalb des Dorfes lebte, der eine verkrüppelte Hand unter einem Lappen trug und nicht grüsste.
* Die Pension Sonnenbergli lag im Schatten einer Kehrrichtverbrennung in Niederbolz. Nach einigen Telefonaten war es Aeschlimann gelungen, in Erfahrung zu bringen, dass Gertrud Conzelmann nun dort wohnte. Auf dem Schild vor dem Gebäude stand in geschwungener Schrift «Pension Sonnenbergli» und darunter (weniger schwungvoll) «Psychiatrisch betreutes Wohnen». Das Sonnenbergli war ein Heim für Menschen mit Burnouts und anderen psychischen Erkrankungen. Gertrud Conzelmann lebte nun also zusammen mit jenen Menschen, die sie mit ihren Klängen zurück ins Leben zu holen pflegte. Im Garten gab es einen Teich mit Goldfischen und gleich dahinter ver liefen die Gleise des Schnellzugs. Die Goldfische sollten ablenken. Conzelmann sass auf der Veranda. Aeschlimann rückte einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr. «Was haben Sie im Büro von Teckel gemacht?», frage Conzelmann angriffig und ohne ihn anzuschauen, kaum dass er sich gesetzt hatte. Aeschlimann war überrascht, dass sie sich an den kurzen Moment erinnerte, kurz bevor sie den Molotow-Cocktail in seine Richtung geworfen hatte. «Ich hatte eine Unterredung mit Teckel und dann habe ich mich aus dem Flammeninferno gekämpft», antwor232
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tete er und wollte Conzelmann damit zu verstehen geben, dass er in der Position war, vorwurfsvoll zu klingen, nicht sie. Doch Conzelmann blieb unbeeindruckt. «Sie stecken mit Teckel unter einer Decke. Sie haben mich ausgehorcht. Meine Biber mussten den Preis bezahlen.» Die Pension Sonnenbergli gab ihr offenbar den Rest, ging es Aeschlimann durch den Kopf. Er brauchte gar nicht zu widersprechen, so wirr wie sie klang. Er sagte nur: «Wir ziehen am gleichen Strang. Von ihren Bibern habe ich kein Wort gesagt. Und Teckel habe ich aufgesucht, weil ich es vorziehe mit den Menschen zu reden, anstatt Flammen auf sie zu werfen. Darf ich ein paar Fragen stellen?» «Was wollen Sie wissen?» «Wer war Meinrad Huber?» «Das habe ich ihnen schon einmal erklärt. Eines der Opfer, ein zurückgezogener Bauer, er grüsste nie.» «Doch so ist er bestimmt nicht immer gewesen. Was wissen Sie über seine Vergangenheit?» «Na, dass er im Gefängnis sass.» «Weshalb?» «Es gab einen Unfall mit seinem Skilift, ein Mädchen starb. Er musste zwei Jahre ins Gefängnis wegen fahrläs siger Tötung.» «War er davor anders als danach?» Conzelmann überlegte. Dann sagte sie: «Er hatte ja dann die verkrüppelte Hand.» Mehr hatte er nicht in Erfahrung bringen können, doch er brauchte auch nicht mehr zu wissen. Conzelmanns 233
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ntwort erschien im sinnbildlich. Meinrad Huber war für A den Tod eines Mädchens verantwortlich gemacht worden. Als Mahnmal seiner Schuld trug er die verkrüppelte Hand davon. Wer konnte es ihm übelnehmen, dass er sich dann zurückzog, seine Hand unter einem Lappen verbarg und sie zum Gruss, der nicht erwidert worden wäre, nicht hervorholte? Das war nicht nur ein Detail. Es erlaubte den Regenbolzern, das Verschwinden der Familie Huber als Rätsel zu akzeptieren, das nicht weiter erklärt zu werden brauchte – auch wenn es nie eine schlüssige Erklärung gab und nie ein Täter verurteilt wurde. Hauptsache, die Hubers verschwanden unter Umständen, die normalen Menschen ohne verkrüppelte Hand nicht widerfahren konnten. Aeschlimann hatte genug von Regenbolz, er wollte a bschliessen, das Dorf und seine Irren vergessen und den Kopf frei haben für neue Dinge. Normale, erklärbare Dinge. Ja, er hatte sich in Regenbolz vergraben, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Doch die Wahrheit war zu komplex. Plötzlich fühlte er sich unangenehm mit Teckel verbunden, indem er einen Drang in sich spürte die Sache mit irgendeiner Erklärung ruhen zu lassen.
* Der Biber liess Regenbolz friedlich Weihnachten feiern und gut ins neue Jahr rutschen. Karl hatte über die Festtage Pause gemacht. Er war sich nicht sicher, ob der Biber auch im Winter Bäume umlegte. Doch dann sagte Martha, Biber würden keinen Winterschlaf machen. Er hatte sie unauffällig beim Abendessen gefragt. Sie wusste alles. Die Lust übermannte ihn. Er musste seine Buchen in Angriff nehmen. 234
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Nach dem Essen setzte sich Martha in den Schaukelstuhl und Karl sagte: «Ich spaziere noch eine Runde durch die Parzelle. Es hatte stark gewindet letzte Nacht. Mal sehen, ob es etwas umgetan hat.» Martha nickte und Karl schulterte die Stihl. Einige Häuser entfernt löschte Vincenzo Blaui gerade das Licht im Büro seiner Verbena. Die Urne seiner Schwester und einen Spaten unter dem Arm, trat er auf die Dorfstrasse hinaus, schlug aber nicht den Weg nach Hause zu Gaby ein. Stattdessen folgte er einer schmalen Gasse, die ihn zwischen den Häusern hindurch an den Dorfrand brachte. Nach einigen Minuten war er bei der Buntbrache angelangt, die zu dieser Jahreszeit nichts weiter war als gefrorener Boden mit einer Schicht Raureif. Zielstrebig betrat er die Parzelle, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn niemand beobachtete. Er wusste noch genau, wo der Hof und die angrenzende Scheune gestanden hatten. Trotzdem überprüfte er auf seinem Handy die Koordinaten: 662914/161913 – er lag richtig. Hier hatte der Vater vor 31 Jahren ein Loch ausgehoben, unmittelbar hinter der Scheune. Vincenzo begann mit dem Spaten in den harten Boden zu hacken. Er würde es nicht schaffen ein tiefes Loch zu graben. Doch das war auch nicht notwendig. Die Urne seiner Schwester brauchte bloss unter der Oberfläche zu liegen, so, dass sie nicht sofort entdeckt würde. Schon bald würde die Buntbrache wieder spriessen und verbergen, was sie all die Jahre verborgen hatte. Als das Loch tief genug war, legte er die Urne hinein und bedeckte sie mit dem Aushub. Seine Schwester lag nun bei der Mutter.
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So zielstrebig wie er gekommen war, huschte er wieder vom Acker. Erneut schlug er nicht den Heimweg ein. Für einen, der aufbricht, lag in jeder Richtung ein Heimweg. Bis zum Morgen würde er problemlos die Stadt erreichen, zu Fuss durch Wälder und über Wiesen, dann den Zug nehmen, um für immer zu verschwinden. Vincenzo stieg auf den Kapellhügel, lief an der dunklen Kirche vorbei, und als er auf dem Kreuzberg stand, warf er einen letzten Blick auf das Dorf, aus dem er schon vor 31 Jahren geflüchtet war. All die Jahre über hatte ihn niemand erkannt. Aus dem seltsamen Jungen mit den auffälligen Geheimratsecken war ein gut gekleideter Glatzkopf geworden, der Versicherungen verkaufte und Modellflieger segeln liess. Ausserdem waren Maria und Meinrad Huber offiziell tot. Die Regenbolzer glaubten an den Vierfachmord, nicht an Geister. Er hatte bloss die Buntbrache auszuweiten gebraucht, um sicherzustellen, dass das Land nie bebaut wurde. Sonst wäre vielleicht das Grab der Mutter entdeckt worden. Seine Schwester konnte sich nie verzeihen, was sie getan hatte. Sie lebte in ständiger Angst, enttarnt zu werden und brauchte die stete Gewissheit, dass die Regenbolzer Polizei keinen Ungereimtheiten von 1986 auf der Spur war. Dafür zahlte sie einen hohen Preis: Das Zusammenleben mit Kurt Karrer war gleichermassen langweilig wie beruhigend für sie gewesen. Jetzt war sie tot. Und er stand im Verdacht, 1986 seine Eltern getötet zu haben. Er hatte nie einen Menschen getötet. Entschieden drehte er sich um und huschte in den Wald. Kaum dass er im Dunkel der Bäume war, fühlte er sich geborgen. Diesmal wollte Gheimi für immer verschwinden.
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9 Die Flucht
14. Juli 1986, zwei Tage vor dem Brand auf dem Huberhof. Die Sommerferien hatten begonnen, die Buntbrache blühte. Der Gang der Dinge lief in die richtige Richtung. Auch wenn Gheimi noch nicht wusste, wie er das Buntbrache-Geld von seinem Konto abheben konnte, ohne dass der Bank angestellte Verdacht schöpfte. Bestimmt hatte dieser nicht an 15.000 Franken gedacht, als er sein Kundenberaterlächeln aufgesetzt und gemeint hatte, er sei gespannt, was Gheimis Sparschwein hergeben würde. Was, wenn es eine Vollmacht brauchte, damit er etwas abheben konnte? Gheimi schrubbte den Stallboden und lauschte gedankenverloren dem Radio. Noch hatte er Zeit bis zum Ende der Sommerferien, um sein Problem zu lösen. Doch im nächsten Moment begriff er, dass der Gang der Dinge doch wieder kehrt gemacht hatte. «Kleiner Mistkerl. Ich mach dich fertig!» Der Vater kam mit hochrotem Kopf zielstrebig auf ihn zugelaufen, die Heugabel in der Hand, an der er noch alle Finger hatte. Gheimi wollte davonrennen, doch der Vater kam mit ungeahnter Geschwindigkeit auf ihn zugeschossen. Seine Miene war erbarmungslos. Er schleuderte ihn zu Boden und hob drohend die Heugabel. «Wo ist das Geld?», schrie er. Gheimis Situation war aussichtslos. Und selbst wenn er etwas gesagt hätte – Vaters Rage war mit nichts zu bändi gen. «Sag mir sofort, wo das verdammte Geld ist, du Dieb!», schrie er erneut. 237
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Als Gheimi wieder nichts sagte, sich stattdessen verängs tigt im Kuhmist zusammenkauerte, sah er die spitzen Lanzen der Heugabel auf sich zuschiessen. Im letzten Moment gelang es ihm, sich seitlich wegzuwinden. Er rannte aus dem Stall. Der Vater schwang sich auf den Mähdrescher, startete den Motor und folgte ihm. Gheimi sprintete über den Feldweg, der Motorenlärm kam näher, begleitet vom metallischen Säbeln der scharfen Messer. Der Vater würde ihn niedermähen, war sich Gheimi sicher. Verzweifelt hielt er nach Geborgenheit Ausschau. Die Buntbrache! Jetzt musste er ein Insekt sein, jetzt oder nie. Er hechtete ins Dickicht. Wie ein Käfer kroch er unter die Pflanzen und bewegte sich seitlich weg von der Linie, auf der der Mäh drescher wütend seine Schneise frass. Die zähen Pflanzen waren seine Rettung. Der Mähdrescher kam nur langsam voran. Als er sicher war, dass er etwas Abstand gewonnen hatte, harrte er keuchend aus und lauschte. Der Mäh drescher hielt an. Eine unheimliche Stille legte sich über die Buntbrache, selbst die Grillen verstummten. Dann Schritte. Und ein Geräusch, das verriet, dass der Vater mit seiner Heugabel im Dickicht wühlte. «Komm her!», brüllte er. «Dachtest du, du kannst mit dem Geld verschwinden? Abhauen?» Der Vater klang verzweifelt. Gheimi musste weg. Er konnte nun deutlich hören, dass der Vater mit seiner Heu gabel nicht nur wühlte, sondern zustach. Im nächsten Moment sah er die scharfen Spitzen dicht neben sich ins Dickicht schiessen. Doch Gheimi traute nicht, sich zu rühren. Es war zu spät. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu sammenzukauern. Und zu hoffen. Plötzlich ertönte ein dumpfer, metallischer Klang. Das rhythmische Zustechen der Heugabel verstummte. Etwas 238
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Schweres fiel ins Dickicht. Langsam erhob sich Gheimi aus den Pflanzen. Der Mond warf ein silbernes Licht über die Buntbrache. Etwas abseits stand der verlassene Mäh drescher, am Ende seiner Schneise. Der Vater war nirgends zu sehen. Dafür erkannte Gheimi eine feine Silhouette. Maria, eine Schaufel in der Hand. Sie starrte zu Boden. Da lag er. «Was habe ich getan …», flüsterte Maria. Gheimi kniete sich nieder und suchte nach einem Puls. Der Vater war tot. «Das wollte ich nicht», stammelte Maria. Von fern ertönte die Kirche. Es war 22 Uhr. Mitten in der Buntbrache stand ein Mähdrescher am Ende seiner Schneise. Und zwei Waisenkinder beugten sich über die Leiche ihres Vaters. Langsam stimmten die Grillen wieder ihren Gesang an. «Es war … ein Unfall», sagte Gheimi und versuchte dabei tröstend zu klingen. Doch seine Stimme war brüchig. Die Angst überkam ihn. «Was machen wir jetzt?», flehte Maria ihn an. «Nichts. Wir lassen alles so wie es ist. Morgen überlegen wir uns, wie wir hier für immer verschwinden. Solange wird niemand herkommen.» Als der 15. Juli 1986 anbrach, begannen sie den Tag, als wäre nichts geschehen. Gheimi wies Maria an, die Kühe zu melken und sie auf die Weide zu treiben. Das gab ihm Zeit zum Nachdenken. Sie mussten weg. Nur wie? Jemanden ein zuweihen kam nicht infrage. Sie waren jetzt Vollwaisen, sie würden in die Obhut Fremder geraten – bestenfalls in einem Heim. Vielleicht aber auch in eine Strafanstalt. Was Maria getan hatte, war zwar seine Rettung gewesen, doch 239
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keine Notwehr. Sie hatte den Vater von hinten niederge schlagen. Ausserdem würde die Sache mit dem Geld auf fallen. Es war eine Schnapsidee gewesen, die sich nun rächen würde. Niemand wusste, dass die Mutter schon seit vier Monaten tot war, der Vater konnte nun auch nicht mehr be zeugen, dass er sie aus Versehen überfahren hatte. Schlag artig wurde Gheimi bewusst, in welchem Schlamassel sie sassen: Es sah aus, als hätten Maria und er die Eltern vor sätzlich getötet, um an das Geld zu kommen. Noch immer lag die L eiche des Vaters in der Buntbrache. Auch der Mäh drescher stand noch so da, wie ihn der Vater stehengelassen hatte. S pätestens Ende Sommerferien würde auffallen, dass Maria und er alleine auf dem Hof lebten, vielleicht schon früher. In diesem Moment sah er die Staubwolke in der Ferne. Ein Auto kam über den Feldweg angebraust. Aus gerechnet Werner Zeller. «Was hat das zu bedeuten?», fragte Zeller, er nickte zur Buntbrache. Gheimi antwortete: «Keine Ahnung. Da scheint sich je mand unseren Mähdrescher ausgeliehen zu haben.» Maria kam dazu. Gheimi betete, dass Zeller ihr nichts ansah. Wieso war sie nicht bei den Kühen, wie er sie an gewiesen hatte? «Wo sind eure Eltern?» «Mutter ist heute in der Stadt beim Augenarzt, ihre Brille muss angepasst werden.» «Ach so.» Zeller sah misstrauisch drein. «Und der Vater?» «Der fuhr zum Schlachthaus nach Birnbaum» «Seit wann lädt der sein Vieh in Birnbaum ab?» 240
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«Ich glaube, er sagte, dass er für die alte Doris dort mehr bekommt als hier, wenn ich mich recht erinnere», sagte Gheimi. «Die alte Doris?» «Ja, das ist unsere älteste Milchkuh, oder besser war. Ver mutlich ist sie jetzt schon im Jenseits, die arme Doris. Aber das ist der Gang der Dinge, Herr Zeller, das bringt uns hier das Essen auf den Tisch.» «Was du nicht sagst. Ich bin nicht hier, um eure Wurst ware zu diskutieren. Ich frage mich nur, was euer Mäh drescher in der hochgelobten Buntbrache sucht.» Gheimi blickte nachdenklich und sagte dann: «Das frag ich mich auch. Aber gab es nicht einige Gegner in der Sache?» «Nicht, dass ich wüsste. Obschon, was ausgerechnet deinen Alten dazu bewog, hier mitzumachen, wundert mich schon. Aber ich bin eigentlich wegen einer anderen Sache hier. Sag, wie geht es euren Katzen?» Gheimi war überrascht und erleichtert zugleich, dass der Polizist das Thema wechselte. Bis jetzt schien er seine in der Eile erbrachten Lügen zu glauben. «Unseren Katzen? Hervorragend, soweit ich weiss. Ich habe zwar nicht den Überblick, denn die kommen und ge hen. Wir können es uns hier nicht leisten, mehr Mäuler als notwendig zu stopfen, wissen Sie. Aber warum fragen Sie?» «Es gab da ein paar Vorfälle im Dorf, da wurden Katzen ziemlich bestialisch getötet und da wollte ich mal sicher ge hen, dass das hier draussen nicht auch schon passiert ist.» «Ach so.» Gheimi versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er davon gehört hatte. Dann war das Gerede der Hügli-Zwil linge also nicht nur Angeberei. Er hatte mitbekommen, dass 241
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sie davon sprachen, diesen Sommer Anschläge auf Katzen zu verüben. Zerro hatte es ihm gesagt. Der kleine dumme Zerro, der unbedingt dazugehören wollte. Zerro hiess eigent lich Paul. Er war ein Aussenseiter, wie Gheimi. Das vereinte sie. Nur wollte Gheimi nirgends dazugehören. Während Paul derart unter dem Ruf seines Vaters litt, dass er sich eigenhändig den Übernamen «Zerro» zulegte; eine Kombi nation der Romanfigur Zorro und seinem eigenen Nach name Zeller. Gheimi fragte sich, ob Zerro bewusst war, dass er sich rein phonetisch damit eine Null nannte … das war ja genau das Gegenteil seiner Absicht, er suchte ja Anerken nung bei den Hügli-Zwillingen. Die Süfibuebe besassen eine Art Clublokal in einer Scheune, wo nichts weiter als ein g rosser runder Tisch stand, an welchem die Süfibuebe rauch ten, tranken und schimpften. Es war so etwas wie das Regen bolzer Zentrum des Nachwuchsungehorsams. Jeden Freitag abend sassen die S üfibuebe bis spätnachts in ihrer Scheune, tranken einen Jägermeister um den nächsten und überlegten sich, welchen Unsinn sie übers Wochenende im Dorf ver anstalten wollten. Die ohnehin schon dumpfen Gespräche wurden mit jedem Glas dumpfer und ihre Zungen schwerer, sodass sie ihre Pläne stets lallend fassten, ehe sie auf dem run den Tisch einnickten. Wenn sie sich anderntags erinnern konnten, worauf sie sich geeinigt hatten, schlugen sie zu: Sie zündeten Mistkübel an, sprengten Briefkästen oder schmier ten einmal «Jesus ist schwuhl» an die Kirchenmauer. Wollte man der Bande angehören, musste man sich beweisen. Zerro musste mitmachen, um zu b edeuten, dass er auch zum jugendlichen Ungehorsam g ehörte – trotz seines Vaters. Nie mals hätte Gheimi Zerro verraten. Er mochte ihn trotz sei ner Suche nach Anerkennung bei den Hüglis. Stundenlang sassen sie zusammen in den Auen beim Angeln oder gingen 242
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baden in den glasklaren Becken mit dem sandigen Boden, wenn es heiss war. Dann war Zerro ganz begeistert von Gheimi, bewunderte ihn, aber liess sich doch nie ganz davon überzeugen, dass die Hüglis zwei alberne Idioten waren und ihre Bande nur lachhaft. Jetzt stand ihm Zerros Vater gegen über und verlangte nichtsahnend Antworten, die seinen Sohn belasten könnten. «Nein, Herr Zeller, von Katzenmorden ist mir nichts bekannt. Wie sind sie denn zu Tode gekommen?» An Zellers Reaktion erkannte Gheimi sofort, dass er zu neugierig gefragt hatte. Dabei wollte er nur unauffällig wirken. Die Katzen waren ihm egal. Das Wasser stand ihm bereits zum Hals. «Leer mal deine Taschen, Junge.» Gheimi tat wie geheissen. Er hätte schwören können, dass man seinen Herzschlag sah, so nervös war er. Zeller schien mit jeder Frage misstrauischer zu werden. Wenn er noch mehr Verdacht schöpfte, würde er als nächstes entlang der Schneise zum Mähdrescher laufen und den erschlagenen Vater in der Buntbrache entdecken. «Ein schönes Messer hast du da. Damit liesse sich einer Katze leicht der Kopf abtrennen», sagte er, als ob er ahnte, dass Gheimi etwas verbarg. «Ich verwende es nur zum Schnitzen.» «Ja, klar doch. Alle verwenden ihre Messer nur zum Schnitzen. Darum sind wir ja ein Volk von Schnitzern, nicht wahr? Und was haben die Buchstaben zu bedeuten?» «Das ist meine Signatur.» «Du heisst Meinrad, wie dein Vater, wenn ich mich recht entsinne. Wieso die Buchstaben GHM?» «Alle nennen mich Gheimi.» «Da steht aber nicht Gheimi.» 243
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Zeller schaute weiterhin skeptisch. Und im nächsten Moment geschah es: Er wandte sich wortlos ab und steuerte auf die Buntbrache zu. Wie in Zeitlupe sah Gheimi den Polizisten die Schneise betreten. Er musste ihn aufhalten. «Vielleicht haben die Süfibuebe etwas mit den Katzen morden zu tun!», rief er. Zeller blieb stehen. Dann wandte er sich um. «Ach, jetzt weisst du also doch Bescheid?» «Nein, ich hab nur mal gehört, dass die Hügli-Zwillinge davon sprachen, so etwas zu tun. Aber ich hielt es für An geberei.» «Sag deinem Vater, er soll den Mähdrescher so stehen lassen. Niemand soll sich in die Wiese begeben. Ich sende den Dackel, er soll sich das genauer anschauen. Vielleicht waren es am Ende ja die Knallköpfe, die auch die Katzen auf dem Gewissen haben.» «Es ist keine Wiese, sondern eine Buntbrache», «Nerv mich nicht.» «Welchen Dackel wollen Sie senden?» «Meinen neuen Hilfspolizisten. Jacques Teckel mit Name, falls es dich interessiert. Aber hier scheint ja niemand so zu heissen, wie er heisst, Gheimi. Also ist er der Dackel. Und deine Mutter kommt heute noch zurück?» «Ja, abends. Warum fragen Sie?» «Na, um sicher zu gehen, dass sie dich rechtzeitig ins Bett steckt.» Noch während Gheimi am späten Nachmittag des 15. Juli 1986 der Staubwolke des davonfahrenden Polizeiwagens nachsah, wurde ihm klar, dass es nur noch einen Ausweg gab. In seinem Kopf formte sich ein Plan. Ein absurder Plan. Doch es war der einzige Ausweg, wie Regenbolz 244
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doch noch zu entkommen war. Er drehte sich zu Maria und sagte: «Pack unsere Sachen. Nur das Nötigste. Wir verschwin den heute Nacht.» Dann rannte er in den Stall, holte einen Leinensack, in dem einmal Tierfutter gelagert hatte und folgte der Schneise. Beim Mähdrescher angekommen, machte er wenige Schritte zielsicher in Richtung des Dickichts, wo er die Leiche seines Vaters fand. Die Dämmerung legte sich bereits wieder über die Buntbrache, die Grillen erwachten zum Leben. Als er sich noch einmal vergewissert hatte, dass keine Menschen seele ausser ihm in der Nähe war, zückte Gheimi sein Messer und kniete sich nieder. Wieder gaben ihm die zähen Pflan zen der Buntbrache Schutz, sodass niemand das grausame Werk sehen konnte, das er zu verrichten hatte. Er zerteilte den Vater. In mühseliger Arbeit trennte er Arme und Beine ab. Sein Messer war scharf, doch der Widerstand der Sehnen und Knochen war gross. Er musste sich beeilen, möglicher weise würde bald der Dackel aufkreuzen, wie es Zeller gesagt hatte. Dann durfte nichts mehr an den Vater in der Bunt brache erinnern. Er riss alle Blumen und Gräser aus, an denen Blut klebte. Der Dackel blieb fern. Vermutlich würde er seine Inspektion erst am Folgetag machen. Gheimi lobte still die behördliche Trägheit und schulterte seinen Leinen sack, der gefüllt war mit blutverschmierten Ackerkratz disteln, etwas Taubenkraut, Gräsern und seinem Vater. Die Schneise wies ihm den Weg durch die einbrechende Dunkel heit, zurück zum Hof. Maria erschrak. Doch nachdem Gheimi sie in seinen Plan eingeweiht hatte, verfiel auch sie in einen Zustand automa tischen Handelns, als gäbe es eine Checkliste, die die beiden 245
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Geschwister Schritt für Schritt abarbeiten mussten. Sie verteilten die Leichenteile des Vaters auf vier Betten. Den Torso und die Hand, an der vier Finger fehlten, legten sie in sein Bett. Dann ein Bein und je einen Arm ins Bett der Mutter und in ihre eigenen. Gheimi tränkte die Bettdecken in Wasser, sodass sie den Flammen möglichst lange stand hielten. Dann verteilte er rundherum Benzin, das er beim Traktor abgepumpt hatte. Es wurde Mitternacht. In einigen Stunden mussten sie Feuer legen, damit die Regenbolzer im Morgengrauen eine Rauchsäule entdeckten. Bis dahin musste das Feuer genügend Spuren verwischt haben, aber nicht alle. Maria schien am Plan zu zweifeln, doch weil es für Zweifel zu spät war, fragte sie nur: «Und du meinst, das funktioniert?» «Keine Ahnung. Wir müssen Glück haben. Entdecken sie den Brand zu früh, werden sie den Schwindel finden. Ent decken sie ihn zu spät und es brennt alles restlos nieder, dann werden sie meinen, wir konnten uns retten und werden nach uns suchen. Sie müssen glauben, dass vier Menschen im Feuer gestorben sind.» «Und der Mähdrescher?» «Den lassen wir so stehen. Es wird vielleicht aussehen, als hätte unser Mörder etwas damit zu tun gehabt.» «Aber Gheimi, wer sollte so etwas in Regenbolz tun und wieso?» Darauf hatte er keine Antwort. Wer sollte aus dem Nichts eine vierköpfige Familie auslöschen und was wäre das Mo tiv? «Wir können nur hoffen, dass sich die Ermittler im Kreis drehen. Vielleicht werden sie einen Zusammenhang zu den Katzenmorden prüfen, von denen Zeller gesprochen hat. Das verschafft uns Zeit.» 246
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Er war selbst nicht überzeugt. Doch zu seinem Erstaunen war es Maria. «Du hast recht. So oder so hinterlassen wir hier ein R ätsel, es wird Zeit brauchen, bis sie sich überhaupt einen Überblick der Geschehnisse verschafft haben. Und bis dahin sind wir vielleicht über alle Berge.» Als sie draussen auf dem Vorplatz standen, jeder mit einem Bündel mit Kleidern und etwas Proviant, stand der Mond hoch und warf ein schüchternes Licht auf den Huberhof, als wollte er bedeuten, dass er dem Komplott der beiden Ge schwister beiwohnte. Doch er würde schweigen, wie immer. Gheimi nahm Streichhölzer und legte nacheinander in den Schlafgemächern Feuer. Sofort nahmen die Flammen das Haus ein. Nur mit Mühe konnte er sich dem gierigen Feuer entreissen. Dann machten sie sich davon. Als Gheimi ein letz tes Mal zurückblickte, war der Huberhof eine schwarze Sil houette. In den Fenstern zuckten gelbe Flammen. Noch stieg erst eine schüchterne Rauchsäule in den dunklen Himmel auf. Der Feldweg führte Maria und Gheimi in Richtung des schlafenden Dorfes. Sie müssten es durch die Maisfelder umgehen, um sicher zu sein, dass niemand sie beobachtete. Gheimi steuerte gerade einen Korridor zwischen den Mais pflanzen an, als er in der Ferne eine Gestalt sah. Trotz der Dunkelheit war ihm sofort klar, dass sie entdeckt worden waren. Die Gestalt bewegte sich rasch auf sie zu. Er wollte Maria ins Maisfeld bugsieren, doch es war zu spät. «Gheimi?» Zerro kam auf ihn zu gerannt. Es war vier Uhr morgens. «Was machst du hier?», fragte der kleine, dumme Zerro und dem Erstaunen in seiner Stimme mischte sich Erleichte 247
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rung bei. Schon fiel er Gheimi um den Hals, wobei er eine Steinschleuder zu Boden fallen liess. «Zerro, was zum Henker ..?!» Doch er brauchte seine Frage nicht zu beenden, denn Zerro klärte ihn bereits schluchzend darüber auf, was er mit ten in der Nacht am Rande des Dorfes suchte. «Ich wollte es tun, doch ich konnte es nicht. Ich schäme mich so. Ich musste immer an dich denken, und was du sagen würdest. Glaub mir, ich hätte es nicht getan. Du hast recht, die Hüglis sind Idioten und ich will nicht dazugehören, ich verspreche es dir!» Maria, die schon einige Meter zwischen den Maispflan zen verschwunden war, kam zurück. «Jetzt beruhige dich erstmal, Zerro. Was hast du nicht getan?», redete Gheimi auf ihn ein. Zerro wischte sich Tränen aus den Augen, bemerkte Maria und schaute wieder zu Gheimi auf. «Die Katze … Ich sollte sie mit der Steinschleuder erlegen. Die getigerte von den Brunners. Die schleicht nachts immer am Dorfrand rum, dort drüben. Ich habe sie beobachtet. Aber ich konnte mich nicht überwinden. Die Katze hat mir doch nichts zu Leide getan.» «Dann haben die Hüglis die anderen fünf Katzen ge tötet?» «Ja. Und jetzt wäre ich dran, sagten sie. Aber ich mache es nicht. Ich musste immer an dich denken. Und plötzlich stehst du da. Als wäre es ein Wink.» Zerro schniefte. Allmählich beruhigte er sich. Gleich würde er fragen, was Maria und Gheimi ihrerseits da machten, mitten in der Nacht. «Habt ihr mich beobachtet?» «Nein, wir waren zufällig hier.» 248
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Zerro bemerkte die Bündel. Dann schaute er in Richtung des Huberhofs, der in seiner Senke versteckt lag. «Ihr haut ab?» Gheimi überlegte, wie er ihn ins Vertrauen nehmen konnte, ohne zu viel zu erklären. Jetzt musste ausgerechnet der kleine, dumme Zerro in ihre Flucht eingeweiht werden. Er konnte unmöglich die ganze Geschichte erzählen. «Zerro, du hast richtig gehandelt. Ich bin stolz auf dich. Dein Vater war heute bei mir und hat gefragt, ob ich etwas über die Katzenmorde weiss …» «Du hast doch nicht …», erschrak Zerro. «Nein, ich habe kein Wort gesagt. Ich würde dich doch nicht verraten, Zerro. Ich war mir ohnehin sicher, dass du nichts getan hast. Du hast doch keine der Katzen getötet, oder?» «Nein, das waren die Hüglis, ich schwör’s dir!» Zerro schluchzte wieder und fiel Gheimi erneut um den Hals. «Danke Gheimi, wie kann ich nur … Ich hätte für dich dasselbe getan.» «Ich weiss, Zerro. Aber du musst wissen … Ich … Wir …» «Was immer ihr vorhabt Gheimi, ich halte dicht.» Gheimi überlegte einen Moment. «Es ist nicht nur, was wir vorhaben, Zerro. Ich habe auch etwas Schlimmes gemacht. Du wirst es erfahren. Aber es ist nicht so, wie es aussieht. Das versprech ich dir.» Zerro schaute wieder in Richtung des Huberhofs. Jetzt war die Rauchsäule unübersehbar, trotz der Dunkelheit. Auf Zerros Gesicht spielte sich ein langsamer Prozess ab, der zu bedeuten schien, dass ihn das, was er sah, zu einer Schlussfolgerung brachte. Er flüsterte ungläubig vor sich hin. 249
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«Hast du Feuer gelegt?» «Ja.» «Damit ihr fliehen könnt?» «Ja.» «Und deine Mutter? Dein Vater?» «Beide tot. Mutter starb schon vor vier Monaten, Vater hat sie aus Versehen überfahren. Und heute starb er selbst plötzlich durch einen Herzinfarkt. Jetzt haben wir den Hof in Brand gesteckt, weil wir sonst ins Heim kämen und du weisst doch, dass das nichts für mich ist, Zerro.» In Zerros Kopf arbeitete es sichtlich, dann schienen sich seine Gedanken abrupt zu einer weiteren Schlussfolgerung zu formen und er rief erschrocken: «Man wird meinen, dass ihr im Feuer gestorben seid!» «Ja. Das ist unsere Absicht.» Zerro starrte weiter zur Rauchsäule. «Du bist so mutig, Gheimi.» «Ich … Nein, das ist nicht Mut, Zerro. Es ist nur der ein zige Ausweg. Kannst du das für dich behalten?» «Ich werde kein Wort sagen.» «Tu mir bitte einen Gefallen. Das Feuer darf nicht zu früh, aber auch nicht zu spät entdeckt werden. In zwei Stunden gehst du zur Telefonzelle am Fusse des Kapellhügels und rufst die Feuerwehr, ohne deinen Namen zu nennen. Kriegst du das hin?» Zerro nickte. Damit wandten sich Gheimi und Maria dem Maisfeld zu und liessen Zerro mit seiner Steinschleuder stehen. «Gheimi, warte!» Er wandte sich noch einmal um. «Werden wir uns je wieder sehen?» «Ich weiss es nicht Zerro. Wir sind jetzt offiziell tot.» 250
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Als sie das Ende des Maisfelds erreicht hatten, begann es schon zu dämmern. Sie huschten in den Wald, in dem es noch finster war und nur ein reges Gezwitscher von Vögeln den Tag ankündigte. Beim stillgelegten Steinbruch steuerte Gheimi auf eine Quelle zu, die am Fusse der Felswand kaltes Wasser zutage förderte. Er trank gierig und wusch sich das Gesicht. Seine langen Haare klebten stellenweise zusammen, dort wo das Blut seines Vaters längst einge trocknet war. Noch einmal nahm er das Messer, das seine Mutter ihm einst zum Schnitzen geschenkt hatte und trennte seine Haare büschelweise ab. Dann warf er sie in eine dunkle Spalte, die sich zwischen zwei grossen Fels blöcken auftat. Das Messer hinterher. Eilig gingen sie weiter, obschon es keinen richtigen Plan gab. Es war eine Flucht ohne Ziel, nur weg von Regenbolz. Als sie den Waldrand erreichten, sprang Gheimi über die Strasse, um sich auf der anderen Seite möglichst schnell wieder im Unterholz zu ver kriechen. Im nächsten Moment flog er hoch durch die Luft und landete unsanft auf dem Asphalt. Keine Sekunde hatte er daran gedacht, dass auf der einsamen Landstrasse ein Auto heranbrausen würde – schon gar nicht ein lächerlich kleiner Fiat mit einem korpulenten Finanzschwindler drin, der seinerseits auf der Flucht und nicht weniger überrascht war, ab der eigenartigen Begegnung. «Sie sind doch nicht verletzt, junger Mann!», sagte der Finanzschwindler, ohne ein Frage zu formulieren. Es klang mehr nach e iner Aufforderung. Dann stellte er Gheimi auf die Beine, wobei er ununter brochen redete. «Sie haben Glück gehabt, junger Mann. Wir haben Glück gehabt. Das darf doch nicht wahr sein, bei diesem 251
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Wetter, um diese Uhrzeit! Wo kommen Sie denn her? Kann ich Sie nach Hause bringen?» «Wir haben kein Zuhause», antwortete Maria. «Wo wollt ihr denn hin? Wieso habt ihr kein Zuhause?» «Wir sind Waisen.» Der Finanzschwindler überlegte einen Moment. Dann hielt er die Tür seines Fiats auf. «Steigt ein, bevor noch je mand vorbeikommt und Fragen stellt.» Er konnte nicht ahnen, dass er soeben zum grössten Rätsel der Kriminalgeschichte des Landes einen entscheidenden Beitrag geleistet hatte, kaum dass er die beiden Waisen in sein Auto bugsiert hatte. Das Mädchen auf dem Beifahrer sitz. Und den Jungen auf der Rückbank, neben den Millio nen. Es wäre ihm auch egal gewesen. Auf der Flucht war man eins. Und die Grenze nach Italien liess sich bestimmt leichter passieren, wenn ein Vater mit seinen Kindern einen Ausflug in die Toskana machte.
* Wie sich Gheimi nun durchs Dickicht schlug und dabei seine Identität als Vincenzo Blaui endgültig abstreifte, kam ihm die Situation mehr als bekannt vor. Er war kein normaler Mensch, und wenn er verschwand, dann waren Buntbrachen, Maisfelder und Wälder seine Fluchtwege. So kam er immer davon. Gheimi spürte, dass der dunkle Wald etwas für ihn bereithielt. Einen Heimweg. So war es. Und so würde es immer sein. In diesem Moment vernahm er ein entferntes Knacken. Gheimi wirbelte herum. Doch es war zu spät. Die Baumkrone sauste mit tosender Geschwindigkeit auf ihn herunter. 252
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Normalerweise schlug der Baum mit nichts als tosendem Gekrache auf. Doch nun war Karl, als hätte er einen dumpfen Schrei wahrgenommen, just als der Stamm sich niederlegte. Mit mulmigem Gefühl begab er sich zur Baumkrone und musste feststellen, dass seine Ohren ihn nicht getäuscht hatten. Da lag er, unter Ästen begraben, tot. Ausgerechnet der Italiener, der seine Rolle in Karls Spiel erst noch spielen sollte, dann, wenn es darum gehen sollte, seine Biberimitation zu Geld zu machen. Er wollte ihn über den Tisch ziehen, den Italiener, das schon. Aber doch nicht umbringen. «Ruhig Blut», sagte Karl laut zu sich. Es war zehn Uhr abends. Er würde den Fall in dieser Nacht restlos klären. Regenbolz schlief und kein Mensch würde sich zu dieser Stunde in den Wald begeben. Er musste nur kühlen Kopf bewahren und sich der verfüg baren Hilfsmitteln bedienen. Mehr denn je kam es nun darauf an, in die Rolle des Bibers zu schlüpfen. Er wandte sich wieder dem Baumstamm zu und verpasste den Schnittflächen das schönste Biberzahnmuster, das er je gemacht hatte. Dann achtete er peinlich genau darauf, alle Holzspäne zu entfernen, die seine Stihl ver raten hätten, und machte sich erst davon, als er sicher war, dass er auf dem hart gefrorenen Boden keine Fussspuren hinterlassen hatte.
* TOD DURCH BIBER – DAS HAT ES NOCH NIE GEGEBEN
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titelte der Guck!, nachdem Vincenzo Blaui zwei Tage später von einer Spaziergängerin gefunden worden war. Die fürchterliche Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf. Im Artikel hiess es: Regenbolz wird schon seit Längerem von einer wahren Biber-Plage belästigt. Jetzt ist gar ein Todesopfer zu be klagen. Noch nie wurde ein Mensch so getötet! Gaby Blaui war geschockt. Sie konnte sich nicht erklären, was ihr Mann mitten in der Nacht im Wald gesucht hatte. Eigentlich war ganz Regenbolz geschockt. Der Biber wurde zur echten Bedrohung. Am Stammtisch der Krone wurden neue Massnahmen diskutiert. «Ausrotten muss man sie», sagte der ansonsten schweigsame Karl und alle stimmten ihm bei. Auf sein Handwerk war Verlass. Für einen kurzen Moment hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Nummer 333 444 zu wählen und als anonymer Anrufer zu melden, dass es in Regenbolz schon länger eine wahre Biberplage gebe, überall seien Bäume umgelegt worden. Doch er wollte es nicht zu weit treiben. Ausserdem hatten das sicher andere Regenbolzer für ihn gemacht. Jedenfalls erarbeitete der Guck! eine Karte, die zeigte, wo der Biber in Regenbolz überall gewütet hatte. Und das Ehepaar Wutz liess sich in seinem Garten ablichten. «Wir haben eigenhändig vorgesorgt, nachdem klar wurde, dass seitens Behörden keine Hilfe zu erwarten war. Wir haben unsere Bäume eingezäunt», wurden sie im Guck!-Artikel zitiert. Das Bild zeigte M artin Wutz, den einen Arm um die Schulter seiner Frau Erika gelegt, während er mit der anderen Hand auf eine mikrige Birke wies, die dick mit Maschendraht umwickelt war. 254
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Ein weiteres Bild zeigte die Pappelallee, die aussah wie ein lückenhaftes Gebiss. Und im Text daneben stand: Regenbolz ist somit das Dorf, in dem landesweit erstmals ein Mensch durch einen Biber umgekommen ist. Auch Aeschlimann nahm die Neuigkeiten zur Kenntnis. Es gab also eine Fortsetzung in Regenbolz, auch wenn es nicht die erhoffte war. Ein Baum, der von einem Biber gefällt worden war, hatte einen Menschen erschlagen. Und das ausgerechnet in Regenbolz. Ungläubig las er den Artikel. Er faltete den Guck! zusammen und warf ihn zum A ltpapier. In einer Stunde öffnete das Subito, er hatte eine Menge Kaffees auszuschenken. Er wollte gerade seine Wohnung verlassen, als Ruth anrief. «Ich dachte, ich melde mich mal angesichts der News aus Regenbolz». Sie meldete sich wegen den News, nicht seinetwegen. Er antwortete lustlos: «Ja, hab’s gesehen. Eigenartig.» «Das ist alles, was du dazu sagst?» «Ja. Wieso?» «Bist du schlecht gelaunt? Ich hab ein bisschen recherchiert. Interessiert es dich?» «Schiess los.» «Also. Der Tote heisst Vincenzo Blaui, der –» «… der Inhaber der Verbena-Versicherung?!», stiess Aeschlimann hervor. «Ganz genau. Doch das ist noch nicht alles. Ich habe seinen Namen überprüft, es gibt ihn eigentlich nicht.» «Wie meinst du das?» «Blaui. Kein Mensch auf der Welt heisst Blaui. Ausser dieser Vincenzo und –» 255
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«Seine Schwester …», fiel ihr Aeschlimann wieder ins Wort. Jetzt war er hellwach. «Du meinst doch nicht …» «Nun ja, ich weiss, es klingt verrückt. Aber wir müssen es zumindest überprüfen. Die Zusammenhänge sind da, du weisst schon: Die Versicherung, die Buntbrache. Jetzt ist er selber auf eine Weise gestorben, wie noch nie jemand gestorben ist. Und da ist noch mehr.» «Was?» «Ich habe mich noch ein bisschen über Biber schlau gemacht. Also nur kurz, keine Ahnung, ob das etwas zu bedeuten hat. Aber Biber legen eigentlich nur Bäume in Gewässernähe um, Blaui wurde mitten im Wald gefunden. Und wenn ich es recht verstanden habe, legen sie auch keine Buchen um, das ist ein Hartholz. Sie bevorzugen Weichhölzer wie Weiden und Pappeln.» «Buche?» «Vincenzo Blaui wurde von einer Buche erschlagen.» Aeschlimann sagte nichts mehr. Er hatte mit Regenbolz abgeschlossen und mit Ruth irgendwie auch. Jetzt standen beide wieder mitten in seinem Leben. «Bist du noch dran?», hörte er sie fragen. «Ja. Was machen wir jetzt?» «Nun, ich dachte, ich komm in deinem Café vorbei, wenn du nichts dagegen hast.» «Nein, nein. Im Gegenteil. Das klingt gut …», stammelte er. «Ich bin jetzt auch besser geworden im Milchschäumen.» Kaum hatte sie aufgelegt, ging Aeschlimann zurück in seine Wohnung und kramte die Todesanzeige von Carla 256
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Blaui hervor, die Vincenzo Blaui ihm per Post geschickt hatte. Er hatte das Gedicht überflogen, das Kärtchen dann beiseitegelegt und die Verbena vergessen. Diesmal las er die Zeilen, die Vincenzo Blaui seiner Schwester gewidmet hatte, sorgfältig. Und wieder ist es Schlafenszeit, ein grauer Tag zerrann, und morgen legst du Müh’ und Kleid gehorsam wieder an. Und wenn du manchen Morgen so dich in den Tag gefügt, kaum traurig, aber selten froh, sagt Gott wohl: Es genügt. Richard von Schaukal So sehr er sich anstrengte, zwischen den Zeilen irgendwas zu entdecken – er fand nichts. Erst als er das Kärtchen umdrehte und die Rückseite musterte, fiel ihm auf, dass Blaui mit feinen Bleistiftstrichen eine Zahlenkombination notiert hatte: 662914/161913. Das waren Koordinaten. Aeschlimann ahnte, zu welchem Fleck der Welt sie gehörten. Er öffnete seinen Laptop, startete den Online- Kartendienst und tippte die Koordinaten ein. Sie lagen mitten in der Buntbrache. Sofort rief er Ruth wieder an. «… wir treffen uns besser gleich in Regenbolz. Hast du einen Spaten?»
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Epilog Zwei Wochen vor dem Unwetter in Regenbolz fiel dem Nachbarn ein Summen auf. Er schlüpfte in die Adiletten, trat in den Garten hinaus und spähte über den Maschendrahtzaun in Kurt Karrers Garten. Ein R asenmähroboter kreiste im Rasenquadrat. Missbilligend schaute er dem surrenden Ding zu, wie es wie von Geisterhand gesteuert auf den wenigen Quadratmetern hin und her rollte. Der Nachbar machte sich seine Gedanken. Er war selbst ein emsiger Gartenpfleger und ein bisschen stolz darauf, dass sein Rasenquadrat weitherum das schönste war. Normalerweise mähte Karrer seinen Rasen nur alle zwei Wochen, er stand meistens hoch und sah hässlich aus. Jetzt hatte er einen Roboter. In den folgenden Tagen behielt der Nachbar die Situation im Auge und musste zu seinem wachsenden Missfallen feststellen, dass der Rasenmähroboter gute Dienste leistete: Das Gras stand nun immer schön tief und war akkurat geschnitten. Alle zwei Tage ertönte das lästige Summen, wenn das Ding seine Garage verliess und dann rund eine halbe Stunde lang herumfuhr. So konnte es nicht weitergehen. Als die dunklen Wolken aufzogen, die Regenbolz das unheimlichste Unwetter seit Langem bescheren sollten, sah er die Gelegenheit. Eben hatte er den Morgan unter gestellt, sich mit Karrer über die Wolken unterhalten und einen ruhigen Dienst gewünscht. Danach war das Unwetter kurz aber heftig über das Dorf hereingebrochen und 258
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wenig später war Kurt Karrer mit Blaulicht und quietschenden Reifen zu irgendeinem Einsatz verschwunden. Carla Blaui war im Haus, der Garten war verwaist. Der Nachbar schnappte einen Spaten, begab sich unauffällig an die Grundstückgrenze und stiess zu. Ein dumpfes K nacken verriet ihm, dass sein Spaten das unterirdische Begrenzungskabel getroffen und sauber durchtrennt hatte. Die Anlage war fürs Erste zerstört. Das Unwetter war schuld.
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Danksagung Mein Dank gebührt dem Zytglogge-Verlag, insbesondere Angela Fessler und Thomas Gierl, für die Ermutigung stets weiterzuschreiben bzw. überhaupt ein literarisches Experiment zu wagen. Und schliesslich Silvan Aeschlimann für die Unterstützung und Leihgabe seines Namens.
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Ebenfalls bei Zytglogge erschienen
Benedikt Meyer
Nach Ohio Auf den Spuren der Wäscherin Stephanie Cordelier Roman ISBN 978-3-7296-5006-0 1891 wandert die erst 19-jährige Stephanie Cordelier aus der Region Basel in die USA aus. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend – die Mutter ernährt als Wäscherin die Familie, der Vater ist Alkoholiker – erhofft sie sich in der Neuen Welt ein besseres Leben. In Ohio lernt sie in der aufstrebenden Kleinstadt Defiance den amerikanischen Alltag kennen. Sie wird Dienstmädchen bei einer Ärztefamilie, beginnt, sich heimisch zu fühlen, und ist stolz, ihrer Mutter regelmässig Geld schicken zu können. Dann wendet sich das Schicksal gegen sie. Doch Stephanie hat gelernt zu kämpfen. 125 Jahre später beschliesst ihr in Bern lebender Urenkel, ihrer Geschichte nachzugehen. Mit einem Containerschiff reist er über den Atlantik und mit dem Fahrrad nach Ohio, um vor Ort herauszufinden, was Stephanie Cordelier wirklich erlebt hat. Auf zwei Zeitebenen erzählt Benedikt Meyer spannend wie ein Detektivroman von der Suche nach den Lebensspuren der Urgrossmutter und anschaulich wie ein historischer Roman von den Erlebnissen einer mutigen jungen Frau, die in ein neues Leben aufbricht.
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Ebenfalls bei Zytglogge erschienen
Patrick Tschan
Der kubanische Käser Das wunderbarliche Leben und Lieben des Noldi Abderhalden Roman ISBN 978-3-7296-5005-3 In einer bitterkalten Winternacht im Frühmärz 1620 treiben Liebeskummer und Branntwein den jungen Toggenburger Noldi Abderhalden in die Fänge eines Anwerbers der spanischen Armee. Als Reisläufer für die katholische Sache lernt der Sechzehnjährige das raue Soldatenleben kennen. Das Kriegshandwerk scheint ihm zu liegen, und die Kameradschaft sagt ihm zu. Als er den Heereskommandanten Gómez Suárez de Figueroa, den Duque de Feria, vor einer protestantischen Kanonenkugel rettet, wird er als Kriegsheld an den spanischen Hof beordert. Dort liesse es sich aushalten, doch das Leben hat andere Pläne. Noldi entgeht nur knapp der Inquisition und wird nach Kuba verbannt, wo er eine Horde Rindviecher zu beaufsichtigen hat. Kein Problem für Noldi – denn Noldi Abderhalden wäre nicht Noldi Abderhalden, wenn er aus dieser Situation nicht machte, was nur er daraus machen kann. Patrick Tschan lässt einen geradlinigen Toggenburger quer durch die Wirren des Dreissigjährigen Kriegs marschieren und bitterem Ernst mit heiliger Einfalt die Stirn bieten.
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