Fumi Matsuda: ‹Ausgewandert – eingetanzt›

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Fumi Matsuda, geb. in 1943 in Sapporo, lebt und arbeitet seit 1973 in Zürich. 1986 erhält sie den Kulturpreis der Stadt Zürich, 2003 den Schweizer Tanz- und Choreografiepreis für ihr Lebenswerk als Tänzerin, Choreografin und Pädagogin. 2004 wird ihr von der Zürcher Fachhochschule als erster Tanzschaffenden der Schweiz der Professorentitel zuerkannt.

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‹One Way Passport: 36 years in Switzerland› (Katmichi dake no pasupooto: suisu no sanjuuroku nen), Hokkaido Publication Project, 2009

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Wenn ich heute zurückdenke, bin ich nicht nur nach Europa gekommen, weil ich einfach tanzen wollte, sondern ich war auch auf der Suche nach Leichtigkeit.

ISBN 978-3-7296-0982-2

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In ihrer autobiographischen Erzählung beschreibt Fumi Masuda, wie sie als junge Tänzerin Anfang der 1970er-Jahre eine Reise von Yokohama über Moskau und Wien nach Bochum antritt, um sich im zeitgenössischen Modern Dance weiterzubilden. Ihre Reise führt sie bald nach Zürich, wo sie sich dauerhaft niederlässt. Fumi Matsuda erzählt von ihren ersten Jahren in Europa, der Zürcher Frauenbewegung und ihrer Entwicklung als Gelegenheitsarbeiterin und alleinerziehende Frau zur Tänzerin, Tanzlehrerin, Choreografin und später zur Professorin für Bewegung an der Zürcher Hochschule der Künste. Dabei ist ein aussergewöhnliches Zeitporträt des Schweizer Kulturlebens entstanden. Die Tänzerin beeindruckt mit einem Text, der Zeugnis von einer lebenslangen Passion ablegt.



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— Als ich ins Pensionsalter kam, nahm ich mir vor, zuallererst Dokumente zu entsorgen, die zu Hause herumlagen. Als ich das endlich tat, fand ich in einer schon ziemlich in Mitleidenschaft gezogenen Süssigkeitenschachtel, die ich seit Jahrzehnten nicht geöffnet hatte, die Unterlagen meiner Reise von Yokohama nach Moskau. Ich nahm meinen Pass in die Hand, den ich hatte erstellen lassen, um Japan zum ersten Mal in meinem Leben zu verlassen. Ich erinnerte mich wieder, das war am 4. April 1972 gewesen. Die bis dahin streng geregelte Ausfuhrmöglichkeit japanischer Yen war erst wenige Jahre vor meiner Abreise erleichtert worden. Neue Reisetouren entstanden, weshalb viele junge Japaner zu dieser Zeit ins Ausland strömten. Ich war allerdings keine von diesen schicken jungen Leuten, deren Abenteuerlust von Romanzeilen wie „Junger Mann, mit dem Ziel Wildnis“ oder „Lasset uns die Erde zu Fuss

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entdecken“ geweckt wurde und die, nur mit einem Rucksack ausgerüstet, ins Ausland reisten. Zu dieser Zeit war ich mit meinen 29 Jahren bereits nicht mehr ganz so jung und hatte eine feste Anstellung als Oberschullehrerin. Etwas wagemutig wollte ich mich der Herausforderung stellen und gab mir drei Jahre Zeit, um Tänzerin zu werden, auch wenn es eigentlich schon längst zu spät für ein solches Unterfangen war. Wenn ich daran zurückdenke, wie starrsinnig ich diesen Entschluss gefasst und darauf beharrt habe, erkenne ich, wie naiv, unwissend und planlos ich gewesen bin. Noch heute läuft mir der Schweiss kalt herunter, wenn ich daran denke.

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Der Zufall wollte es schliesslich, dass ich mich in Zürich niederliess und hier sogar die Gelegenheit erhielt, auf der Bühne aufzutreten. Mein Traum ging wie in einem Märchen in Erfüllung. Nicht nur das, ich konnte hier auch den Modernen Tanz praktizieren, den ich in Japan gelernt hatte. Nun, nach all diesen Jahren fand ich also meine alten Reiseunterlagen wieder und in mir wuchs das Bedürfnis, den alten Schulfreunden in Japan von meiner Zeit in der Schweiz zu erzählen. Über dieses für Japaner immer noch mysteriöse und unbekannte Land, das zu meiner zweiten Heimat geworden war. So schrieb ich 2009 in aller Eile anlässlich eines Schultreffens auf Japanisch das Buch “One Way Passport“. In diesem Buch schilderte ich meine persönlichen Erlebnisse als Einwanderin und stellte die sich ständig entwickelnde Schweiz vor. Das vorliegende Buch in deutscher Sprache unterscheidet sich in vielen Punkten. Die Zürcher


Hochschule der Künste gab mir die Gelegenheit, das japanische Buch zu übersetzen und zu überarbeiten. Und so nutzte ich die Gelegenheit, auch von meinen Erfahrungen mit meinem japanischen Tanzlehrer und meiner japanischen Tanzlehrerin, die mich schon in Japan durch ihre Ideen vom neuen europäischen Tanz beeinflusst hatten und die zeitlebens eine wichtige Rolle für mich spielen sollten, zu erzählen. Es war auch ein Glück für mich, dass ich damals in eine Aufbruchs- und Pionierzeit des zeitgenössischen Tanzes in die Schweiz einwanderte, und ich empfinde eine grosse Dankbarkeit für die Möglichkeit, nun meine Erinnerungen einer Nachwelt hinterlassen zu dürfen. Während des Schreibens tauchte oft die Frage auf, welcher Zusammenhang zwischen meinem persönlichen Alltagsleben und meinem choreografischen Schaffen bestand. Das Alltägliche und das Künstlerische liegen scheinbar weit auseinander und gehören zwei unterschiedlichen Welten an. Und dennoch konnte ich im Schreibprozess erkennen, dass alle Inspirationen oder Empfindungen, die zum choreografischen Schaffen führten, aus den Impressionen meines Alltagslebens entstammten. Doch wenn dieses Schaffen einmal eine bestimmte Form erreicht hatte und in einen Darstellungsprozess übergegangen war, konnten Tänzer diese ihnen fremde Welt selbständig und lebendig neu interpretieren und in Szene setzen. Das war ein Privileg. Ich konnte alle Aktivitäten – den persönlichen Alltag, das künstlerische Schaffen und die Darstellung – ausüben und geniessen. Wie weit auseinander oder nah beieinander all diese Aktivitäten sich befinden, blieb mir allerdings ein Rätsel.

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Das riesige sowjetische Schiff mit dem Namen „Baikal“ legte langsam, aber bestimmt vom Hafen in Yokohama ab und begann seine Reise nach Nachodka. Die bunten Bänder, die zum Abschied vom Deck herabgeworfen worden waren, verloren ihre Fröhlichkeit sehr schnell und verwandelten sich in durchweichten Papiermüll, der auf der Wasseroberfläche nachgeschleppt wurde. Die Dampfpfeife ertönte einige Male und verklang sofort wieder, als würde sie nur aus purer Pflichterfüllung überhaupt benutzt. Ich sah mir das Ablegen des Schiffes an, aber noch während der Hafen von Yokohama in Sichtweite war, verkroch ich mich bereits in das Vierbettzimmer, das mir zugeteilt worden war. Ich legte mich hin, weil ich seekrank wurde. Ausgerechnet jetzt, wo ich Japan verliess, konnte ich nicht einmal die Silhouette von Hokkaido, der Insel, auf der ich geboren war, in der Ferne sehen. Ich fühlte mich elend und vermochte kaum den Kopf vom Kissen zu heben.

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Die drei jungen japanischen Frauen, die mit mir das Zimmer teilten, konnten irgendwann meinen Anblick nicht mehr ertragen. Sie brachten mir das Abendessen, das Frühstück und versorgten mich immer wieder mit Wasser, Brot und Äpfeln. Ich glaube, es war am letzten Tag der Überfahrt, an dem ich es, von ihnen gestützt, endlich zum Abendessen in den Speisesaal schaffte. Dort herrschte eine andere Welt. Männer und Frauen, in prächtige Volkstrachten gehüllt, spielten auf der Balalaika und sangen russische Volkslieder. Irgendwie erinnerten sie mich an fröhliche Bären. In der Mitte des Raumes war ein üppiges Buffet angerichtet. Die drei jungen Frauen aus meinem Zimmer erzählten mir, dass sie von Skandinavien aus weiter in den Süden reisen wollten und danach in die Türkei und den Nahen Osten. Ihre Reisepläne waren ausserordentlich detailliert. Sie zogen ihre Hosen ein wenig herunter und zeigten mir, sich auf den Bauch klopfend, wo sie ihr Geld und ihre Pässe sicher verstaut hatten. Ich frage mich, ob sie wohl wieder sicher und unbeschadet nach Japan zurückgekehrt sind. Unser Schiff legte im Hafen von Nachodka an. Dort sah ich unzählige schwarze Militärschiffe, welche mit beängstigender Präzision und Geräuschlosigkeit aneinandergedrängt im Wasser lagen. Dies ist das Tor zur Sowjetunion, dachte ich mir. Die stille Düsterkeit liess mich meine Seekrankheit vergessen, und ich zitterte am ganzen Körper. Vielleicht zitterte ich vor Aufregung; vielleicht war es auch einfach nur die Kälte, die sich durch meinen Körper zu schneiden schien. Mit dem Zug reiste ich nach Chabarowsk. Das Einzige, was ich in der Dunkelheit sehen konnte, wa-

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ren die etwa zwanzig Watt schwachen Lichter an den Strommasten, die in regelmässigen Abständen am Zugfenster vorbeizogen. In einem Abstand von genau zwölf langsamen Atemzügen zog jeweils der nächste Mast vorbei. Es war eine scheinbar unendliche Wiederholung; das Geräusch des Zuges, der über die unebenen Bahnschwellen ratterte, und das dürftige Licht, das die Härte und die unermessliche Weitläufigkeit des Landes nur unterstrich.

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Auf einmal durchfuhr mich der Gedanke, dass meine Lehrer, die vor mehr als vierzig Jahren nach Europa gereist waren, um neue Tanzbewegungen zu studieren, eine noch viel grössere Entscheidung getroffen haben mussten als ich. Sie mussten eine viel längere und beschwerlichere Reise auf sich nehmen. Ich fragte mich, ob die Orte, an denen mein Lehrer Eguchi getanzt hatte, immer noch die gleichen waren. Wie alt mochte meine Lehrerin Amano damals gewesen sein? Wie viele junge Japaner hatten sich nach dem Krieg ins Ausland begeben, um dort ihren Traum zu erfüllen? Vielleicht würde ich irgendwo Japaner treffen, die auch tanzten! Diese und ähnliche Gedanken weckten Hoffnung und Vorfreude in mir. Aber alles, was ich im Moment tun konnte, war, tief und regelmässig zu atmen und geduldig auf das nächste vorbeiziehende Licht zu warten. Irgendwann würde diese schlichte Wiederholung vielleicht zu Musik, zu einem Tanz werden. Und so versuchte ich im Dunkeln die unsichtbare Landschaft zu erkennen, die an mir vorbeizog, und verweigerte den Schlaf. Am Morgen erreichte ich Chabarowsk. Die meisten meiner Mitreisenden fuhren mit der sibirischen Eisenbahn weiter. Ich aber flog mit einer Maschine der Aeroflot nach Moskau.


Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Stewardessen im Flugzeug Dienst hatten, aber die beiden, die meinem Bereich zugeteilt waren, waren zwei über vierzigjährige dicke Tantchen. Die Art, wie sie ihre Arbeit verrichteten, war etwas grob, aber sie vermittelten mir ein Gefühl von Sicherheit. Draussen vor dem Fenster war es unbeschreiblich hell, und die Sonne schien endlos vom Himmel. Eine Landschaft, bedeckt mit Schnee und Wäldern, erstreckte sich weit unter unseren Füssen, unterbrochen von weiss glitzernden Flüssen. Die Ansicht erinnerte mich an ein Batikmuster, und ich wurde nicht müde, sie mir anzusehen. In der Ferne sah man eine scheinbar von Menschen geschaffene schnurgerade Linie, die durch die endlosen Bögen der Flüsse schnitt. Es war wohl eine Strasse. Aber auch sie schien sich einfach nur in beide Richtungen immer weiter auszudehnen.

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Als ich versuchte, mit meiner kleinen Canon ein Foto zu machen, kam eines der Tantchen mit einer Heftigkeit herangedonnert, die das Flugzeug vibrieren liess. Es sei verboten, Aufnahmen zu machen, hiess es. Wenn man es sich überlegt, dann wäre es wohl ohnehin unmöglich gewesen, diesen Anblick mit einer winzigen Kamera durch ein dreckiges Flugzeugfenster festzuhalten. — Im Ticket nach Moskau, das ich gebucht hatte, war eine Stadtrundfahrt mit dem Bus inbegriffen. Eine junge Studentin war unsere Führerin. Ich sah den Kreml, die Universität und viele weitere Orte. Ich kannte Moskau bereits von Fotos, aber in der Realität waren die Strassen und Plätze viel weitläufiger.

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Die Rolltreppen, die zur Moskauer Metro hinunterführten, waren so lang und führten so tief hinunter, dass einem bei ihrer Benutzung ganz anders wurde. Endlich jedoch erreichten wir eine hohe Halle, die mit Wandbildern aus Marmor ausgestattet war. Der Bahnhof, den wir besuchten, war einer, an dem sich mehrere Linien kreuzten, und die grosszügige Verwendung des Raumes liess ihn wie aus einem Science-Fiction-Film erscheinen. Die Einwohner Moskaus, dick eingepackt in schwarze Mäntel und grosse Mützen, fanden lautlos und ohne zu zögern ihren Weg von einer Metrolinie zur nächsten.

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Der Fleiss, die Beharrlichkeit und die Stärke des russischen Volkes, das hier im Norden so etwas schwindelerregend Riesiges so tief im Untergrund gebaut hatte, beeindruckten mich. Auch die strenge Kälte, die hier herrschte, hinterliess einen bleibenden Eindruck. Als wir mit dem Bus zum Hotel kamen, wurde ich von einer Gestalt in einem dunklen Mantel angesprochen. Es war ein Japaner, etwas über dreissig, mit einem schönen Gesicht und einer attraktiven Figur. Er sagte, er sei ein Doktorand und wohne in einem Haus gleich neben dem Hotel. Er gab mir seine Visitenkarte und lud mich zum Abendessen ein. Zur vereinbarten Zeit holte er mich im Hotel ab. Das Restaurant, in das er mich führte, befand sich in einer riesigen Halle mit hoher Decke, die mit einer Fabrikhalle hätte verwechselt werden können, wären nicht etwa dreissig Tische darin platziert gewesen, alle mit sauberen weissen Tischtüchern bedeckt. Kleine Töpfe mit Kunstblumen standen auf den Tischen, was den Raum ein klein wenig erhellte. Das schmackhafte Essen bestand aus Fleisch und Kohl.


Mein Begleiter erzählte, dass er nach dem Universitätsabschluss in Japan hierhergekommen sei, um seine Forschung in Physik weiterzuführen. Er werde wohl noch einige Jahre hier sein. Aber hier alleine zu leben, sei unermesslich einsam. Er wünsche sich eine Partnerin. Seine Familie suche zwar eine Partnerin für ein Omiai, eine traditionelle Heirat, aber es wolle wohl niemand seine Tochter in ein kommunistisches Land schicken. „Ich habe dich gesehen, als du vor dem Hotel auf den Bus gewartet hast“, sagte er. Tatsächlich war ich etwa eine Viertelstunde vor der Abfahrt zu unserem Stadtrundgang vor dem Hotel herumgelungert und hatte Fotos gemacht. „Ich dachte mir, wie selten es ist, dass jemand in deinem Alter alleine reist. Du bist bezaubernd und ich habe sofort den Ruf des Schicksals gehört. Also habe ich gewartet, bis dein Bus wieder zurückkam. Warum du auch immer nach Europa gekommen bist, ich warte gerne ein Jahr auf dich. Bitte, komm nach Moskau zurück.“ Dies und weitere Dinge erzählte er mir. „Warum möchtest du keine Russin heiraten?“, fragte ich. „Wenn ich nach Japan zurückkehre, werde ich bestimmt sehr beschäftigt sein und der Unterschied zwischen unseren Kulturen ist doch sehr gross. Es würde sehr schwierig, sie in dieser Zeit zu unterstützen. Ich mache mir Sorgen, dass sich eine Russin nicht in meine Familie integrieren könnte“, antwortete er. War das ein Heiratsantrag? Einen solch freimütigen und aufrichtigen Japaner hatte ich bisher nicht getroffen. Ich war beeindruckt von seinen ungeschönten, aber menschlichen Worten, die von Einsamkeit und einem harten Leben sprachen. Aber natürlich

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liessen seine Umstände und die begrenzte Zeit, die ihm zur Verfügung stand, nicht anderes zu. Es hätte auch jemand anderes als ich sein können. Zudem deutete die Art, wie er sprach, darauf hin, dass er in einer traditionellen, guten Familie aufgewachsen war, in der Verwandtschaft und Familie eine grosse Rolle spielten. Bloss eine Japanerin und keine Russin zu sein, war keine Garantie, dass eine Beziehung funktionieren würde. Es wäre gut möglich, dass jemand wie ich noch viel grössere Schwierigkeiten haben würde.

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Wenn ich die geringste Versuchung verspürt hätte, einen Universitätsprofessor als Mann zu haben oder die Frau eines Mannes zu sein, der an einem angesehenen Institut arbeitet, dann wäre ich wohl nach meinem Aufenthalt in Deutschland sofort zurückgekehrt, und es wäre mir gleich gewesen, zwei oder drei Jahre in Moskau zu leben. Aber zu jener Zeit war mir das Leben, von dem er sprach, zuwider und ich wurde an den Grund erinnert, warum ich Japan verlassen hatte. Mein Ziel, Tänzerin zu werden, gab mir Mut. Noch ein kleines bisschen, und ich würde Europa erreichen. Und dann würde ich vielleicht irgendwo tanzen können.

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Seine Visitenkarte hatte trotzdem noch lange einen Platz in meinem Portemonnaie. Jedes Mal, wenn ich sie wieder ansah, schwebte sein Gesicht vor meinem inneren Auge, stellte ich mir vor, wie er aus dem Fenster seiner Wohnung die japanischen Touristen auf der Strasse beobachtete.

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— Die jungen Europareisenden, mit denen ich zusammen in Moskau war, entschieden sich alle, die nördliche Route über Helsinki zu nehmen, kaum ein

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Japaner ging direkt nach Süden. So kam es, dass ich schliesslich ganz auf mich alleine gestellt war. Mit einem damals in Japan gerade erst in den Handel gekommenen Rollkoffer, dessen Räder laut ratterten, fand ich meinen Weg vom Hotel zu einem langen Bahnsteig. Unzählige Male versicherte ich mich, dass der Zug auch tatsächlich nach Wien fahren würde. Trotzdem war ich beunruhigt. Ich hatte Schweissausbrüche und mein Herz pochte in den Ohren. Nicht weit vor mir auf dem Bahnsteig sah ich eine europäische Familie, immer wieder verschwand sie aus meinem Sichtfeld, dann tauchte sie wieder auf. Der lockere Gang des sehr grossen Elternpaares beruhigte mich. Die Kinder, zwei Schwestern mit langen blonden Haaren, umflatterten ihre Eltern elegant wie ein Schmetterlingspaar. Die Familie beabsichtigte ohne Zweifel, den gleichen Zug zu nehmen wie ich. Ohne sie aus den Augen zu lassen, folgte ich ihnen, schob andere Reisende aus dem Weg und stieg unmittelbar hinter ihnen in den Zug ein. Ich musste instinktiv gespürt haben, dass ich in ihrer Nähe sicher war. Ich setzte mich neben sie. Zu meinem Erstaunen wurde ich von der Familie sofort auf Japanisch begrüsst. Der Vater war Austauschprofessor für Geografie an der Universität Kyoto, und nun war die Familie, nach einem einjährigen Aufenthalt in Japan, gerade auf dem Weg nach Zürich. Ich hatte zwar durch das Radio ein wenig Deutsch gelernt, aber was die Familie unter sich sprach, verstand ich kein bisschen. Dass das „Schweizerdeutsch“ gewesen war, erfuhr ich erst sehr viel später. Im Ge-

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heimen taufte ich diese Familie „die Engelsfamilie“. Solange sie an meiner Seite war, würde alles gut gehen. Zumindest, bis ich in Wien ankommen würde. Die damals kommunistischen Staaten Polen und Tschechoslowakei verlangten ein Visum für Japaner, auch wenn sie nur mit dem Zug auf der Durchreise waren. In Warschau mussten alle Reisenden ohne ihr Gepäck aus dem Zug aussteigen. Der Schweizer Professor erklärte mir, das sei, damit sie die Lokomotive wechseln konnten. Das beruhigte mich ein wenig, aber es dauerte eine lange Zeit, bis wir endlich wieder einsteigen durften.

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Glücklicherweise waren die ersten Strahlen der Frühlingssonne auf dem europäischen Kontinent sehr angenehm, und ich fand, dass sich der warme Wind und der Duft des Grases in keiner Weise vom japanischen Frühling unterschieden. Es war der erste Sonnenschein, seit ich Yokohama verlassen hatte. Ich öffnete den Reissverschluss meiner Jacke und liess die warmen Sonnenstrahlen des Frühlings in jede Ecke meines Körpers dringen. Das lockerte meinen Körper. Es war ganz so, wie wenn man einen hungrigen Bauch endlich mit Essen füllt. Hunderte Männer und Frauen aus den unterschiedlichsten Ländern bildeten eine lange schwarze Reihe neben dem Bahngleis, schweigend und wartend. Plötzlich fiel mir eine Szene aus einem italienischen Film ein, den ich vor langer Zeit gesehen hatte. „Miracolo a Milano“ war der Titel, wenn ich mich recht erinnere. Die armen Bürger hatten sich alle auf einen von der Sonne beschienenen Platz gedrängt und standen einfach so da. Damals, als ich in einem sonnigen Land wie Japan wohnte, fand ich das ziemlich übertrieben, aber nun fühlte ich die Güte


der Sonnenstrahlen. In meinem Herzen dachte ich: Nun habe ich tatsächlich einen Fuss in diese dunkle Ecke von Europa gesetzt und stehe hier. Ich war ergriffen. Die Passkontrollen an der Grenze der Tschechoslowakei waren streng, und ich wusste nicht, ob der Mann, der da seinen Dienst versah, ein Beamter oder ein Offizier war. In Militäruniform gekleidet und ein Gewehr umgehängt betrat er den Zug und führte eine zeitraubende Kontrolle durch. Draussen vor dem Zug gingen uniformierte Männer mit Schäferhunden an der Leine auf und ab. Ich kam mir vor, als wäre ich in einem Kriegsfilm. Den ganzen Tag lang ass ich nichts ausser billigem Konfekt, das ich aus Japan mitgebracht hatte. Dazu trank ich Wasser. Ich ahnte schon, dass die Fahrt nicht wie eine Reise im Shinkansen sein würde, hatte aber nicht daran gedacht, etwas mitzunehmen. Die Schweizer Familie hatte Proviant dabei, den sie restlos assen. Einmal fragten sie mich, ob ich nicht auch etwas essen möchte, aber ich lehnte ab. Danach wurde ich kein zweites Mal gefragt. Der Vater sah aus dem Fenster, nahm eine Karte heraus und erklärte zuerst seiner Familie und dann auch mir, wo wir uns gerade befanden. Ich hatte keine Ahnung von der Geografie hier, und ich bereute es, keine eigene detaillierte Karte mitgebracht zu haben. Am nächstem Morgen, während es noch dunkel war, überquerten wir die Grenze nach Österreich. Ich spürte, wie die Geräusche des Zuges irgendwie leiser wurden, und als ich aus dem Fenster sah, breitete sich im Zwielicht ein grünes Land aus. Allerdings war es ein spärliches Grün, es brach erst hie und da durch

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die Schneedecke, nun, da der Winter vorüber war. Aber in meinem Herzen rief ich: An der schönen blauen Donau! Ich sah Tiere davonlaufen. Hunde waren es nicht, und auch für Katzen waren sie zu gross. Es waren Wildhasen! Vom ersten vorbeifahrenden Zug aus ihrem Schlaf aufgeschreckt, hoppelten mehrere Dutzend davon. Einer nach dem anderen. Ich presste mein Gesicht an die Scheibe des Zugfensters und sah dem ungewöhnlichen Treiben zu, bis ich schliesslich nichts mehr sehen konnte. Hoffentlich sind die Wildhasen immer noch dort.

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Stürmisch lief der Zug in den riesigen Wiener Hauptbahnhof ein. Als ich mich vom Geografieprofessor und seiner Familie verabschiedete, erhielt ich von ihm eine Visitenkarte mit der Aufforderung, sie irgendwann einmal in Zürich besuchen zu kommen. Diese Visitenkarte sollte später für mein weiteres Schicksal in Europa entscheidend sein.

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— Das Wort „Kulturschock“ habe ich zwar erst später gelernt, aber wenn ich zurückblicke, dann hat mein Kulturschock in den drei Tagen, die ich in Wien verbrachte, begonnen. Egal, wo ich hinging und was ich mir ansah, alles war einfach toll. Ooh, wie schön! Ooh! Ooh! Der Mund stand mir vor Staunen permanent offen. Ich gab es bald auf, Fotos zu machen, und hörte auch auf, die historischen Erklärungen, die ich nur mühsam in Englisch lesen konnte, zu lesen. Ich lief einfach den ganzen Tag herum.

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Irgendwann sprang mich das Wort „Confiserie“ an. Ich konnte meine Augen nicht vom Café, das im Inneren der Confiserie eingerichtet war, abwenden. Auf einer Theke waren unglaublich viele bunte Süssigkeiten aufgereiht, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Durch das Fenster konnte ich ältere Damen in eleganten Kleidern und mit bunten schönen Hüten miteinander plaudern sehen. Es sah ein wenig aus, als würden herausgeputzte Papageien disputieren. Ich war zu eingeschüchtert, um ein solch schönes Café selbst zu betreten, deswegen kaufte ich mir an der Theke am Eingang einen Kuchen mit viel Rahm und ass ihn in der billigen Pension, in der ich für drei Nächte ein Zimmer gefunden hatte. Der Kuchen schmeckte mir unglaublich gut. Ich war nun in Wien, aber das eigentliche Ziel meiner Reise war Westdeutschland. Dort wohnten die einzigen Leute, auf die ich mich in Europa verlassen konnte, die Familie von P. Diese Familie hatte bis vor einem halben Jahr in Sapporo gewohnt, wo ich sie in einem Park in der Nähe meines Wohnortes kennengelernt hatte. Ich traf P., seine Frau und seine vierjährige Tochter gerade zu der Zeit, als ich mir überlegte, an der Sporthochschule Köln unter Maja Lex Tanz zu studieren. P. selbst war Westdeutscher und Sinologe an der Universität Bochum. Er würde mir netterweise helfen, mich vorerst an seiner eigenen Universität einzuschreiben, und im Gegenzug brächte ich seiner Frau Japanisch bei. Zwei Tage später kam ich in Bochum an und traf die Familie P. Bereits am nächsten Tag nahm mich P. in seinem Auto an die Universität mit. Inzwischen war es Mitte April des Jahres 1972.

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— P. hatte es so eingerichtet, dass ich in der pädagogischen Fakultät eingeschrieben sein würde. Davor war es aber für alle ausländischen Studenten Pflicht, an einem Deutschkurs teilzunehmen. Die Klasse meines Sprachkurses bestand hauptsächlich aus Studenten aus Asien und Afrika, und wir waren ungefähr fünfzehn Teilnehmer. Zwei Lehrerinnen unterrichteten uns.

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Die jüngere Lehrerin schlug sofort vor, sich gegenseitig mit Du anzusprechen und alle Höflichkeitsformen wegzulassen. Heute ist das undenkbar, aber die junge Lehrerin rauchte während des Unterrichts. Sie hatte etwas Liberales, Hippiehaftes an sich, da sie sich immer auf die Pulte der Studierenden setzte, „gut gemacht“ sagte und ihnen auf die Schulter klopfte. Währenddem wir Aufgaben lösten, kam es auch vor, dass sie Äpfel ass. Dadurch waren auch die Studenten ziemlich entspannt und manchmal kam es vor, dass wir unsere Beine auf den benachbarten Stühlen ausstreckten, selber etwas assen und mampfend dem Unterricht folgten. Es gab auch einen sehr offenen afrikanischen Studenten, der der Lehrerin auf die Schulter klopfte und dabei lachte, als würde er mit einem alten Freund aus der Heimat sprechen. Die zweite, ältere Lehrerin war eine Frau mittleren Alters, und sie war, wie man es den Deutschen gerne nachsagt, sehr streng. Natürlich mussten wir bei ihr die Höflichkeitsform verwenden. Sie war überkorrekt und derart von Vorschriften besessen, dass sie uns erwachsene Studenten behandelte, als wären wir im Kindergarten. Zu Beginn verwirrte uns der grosse Unterschied zwischen unseren beiden Lehrerinnen,

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aber wir gewöhnten uns bald daran. Ich denke, dass dieser Unterschied auch ein Ausdruck der damaligen zwiespältigen Mentalität der Deutschen war. Zu dieser Zeit trugen die meisten Studenten braune, graue oder schwarze Jacken, zumeist aus Leder. Das verlieh der Universität, ganz abgesehen vom Gebäude selbst, den etwas düsteren Eindruck einer „Menschenfabrik“. In Wahrheit waren die Studenten aber offen und neugierig, und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl war stark. Das Modell 2CV des französischen Automobilherstellers Citroën war gerade gross in Mode, und viele Autofahrer waren bereit, Leute mitzunehmen, die Autostopp machten. Auch ich liess mich unzählige Male von der Bochumer Innenstadt zu meinem Wohnheim mitnehmen und fand es einfach toll, dass man das konnte. Nach jedem gelungenen Autostopp fühlte ich mich zufrieden und musste innerlich grinsen. D E D

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In der Mensa bemerkte ich manchmal andere japanische Studentinnen, aber meistens waren sie in Begleitung von deutschen Studenten. Die männlichen japanischen Studenten hingegen klebten stets in Gruppen von drei bis vier Leuten zusammen und waren immer nur unter sich. Ich fand den Unterschied zwischen Männern und Frauen äusserst amüsant. — Der erste Spaziergang mit P. und seiner Familie dauerte tatsächlich mehr als drei Stunden, wenn ich mich recht erinnere. Die wunderschöne Landschaft fesselte mich zwar, aber da die fünf- oder sechsjährige Tochter von P. dabei war, konnten wir nicht schnell gehen, und das Gespräch begann mich

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1 — „Kleines Geschehen“ — 1995, Bild: Niklaus Stauss 2 — „Kleines Geschehen“ — 1995, Bild: Bernhard Fuchs 3 — „Probefoto“ — 1982, Bild: Peter Schelling 4 — „K‘s Kilimandjaro“ — 1992, Bild: Bernhard Fuchs

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