Katharina Zimmermann: ‹Nicht allein›

Page 1

Katharina Zimmermann

NICHT ALLEIN Erzählung



KATHARINA ZIMMERMANN NICHT ALLEIN

IH_Zimmermann_Nicht_allein_2-Aufl.indd 1

26.04.18 09:04


Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

2. Auflage 2018 © 2018 Zytglogge Verlag Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Angela Fessler Cover: Malvina Lubec Bild: Annual catalogue and price list of the Royal Palm Nurseries, 1888 Gestaltung/Satz: Schwabe AG, Muttenz/Basel Druck: CPI books GmbH, Leck ISBN: 978-3-7296-0983-9 www.zytglogge.ch

IH_Zimmermann_Nicht_allein_2-Aufl.indd 2

26.04.18 09:04


Katharina Zimmermann

NICHT ALLEIN Erzählung

IH_Zimmermann_Nicht_allein_2-Aufl.indd 3

26.04.18 09:04


IH_Zimmermann_Nicht_allein_2-Aufl.indd 4

26.04.18 09:04


Für Maja

IH_Zimmermann_Nicht_allein_2-Aufl.indd 5

26.04.18 09:04


IH_Zimmermann_Nicht_allein_2-Aufl.indd 6

26.04.18 09:04


1

Sie steht am Grab. Die kleine Hagrose, die sie im Frühling gepflanzt hat, trägt jetzt Butten. Hübsch, die orangen Beeren vor dem grauen Stein. Unbehauen, aus dem Valser Steinbruch. Sie und ihre Geschwister hatten etwas Rechtes gewollt für den Ätti. Traurig ist sie nicht, eher erleichtert. Nie mehr die Angst, ihn auf dem Boden zu finden, zusammengekrümmt im Bad, in der Küche, im Gang, wenn sie von der Arbeit heimkommt. Nie mehr die Nummer der Ambulanz wählen, nie mehr nachts mit ihm zum NotfallEingang des Spitals fahren, nie mehr einen Nachmittag drangeben für Arztbesuche, zu denen sie ihn begleiten muss. Nie mehr den Groll gegen die verheirateten Geschwister, die es mit ihren Teenager-Kindern selbstverständlich fanden, dass die ledige Schwester sich um den Vater kümmert, ihn zu sich in die Wohnung nimmt. Und sich auch jetzt nicht um das Grab kümmern. Doch da gibt es kaum etwas zu tun. Die Hagebutten sind einstweilen Schmuck genug. Der Ätti hätte es nicht anders gewollt. Und für den Winter wird sie bald Tannäste bestellen. Wohltuend die Stille. Von den Birken lösen sich Blättchen, segeln goldzittrig vor dem dunkeln Nadelholz durch. Es riecht nach feuchtem Moder.

7

IH_Zimmermann_Nicht_allein_2-Aufl.indd 7

26.04.18 09:04


Kein Mensch auf dem Friedhof. Zumindest kein lebender. Wie sie sich vom Grab abwendet, entdeckt sie hinter der Trauerweide in der Reihe der vorletzten Jahrgänger etwas, das sich bewegt. Ein Mann kniet vor einem Grab, steht jetzt, mit Hilfe der Hacke, mühsam auf. Ein grosser Mann. Neugierig geht sie näher, möchte wissen, wer es ist. Man kennt sich eigentlich, hier im Tal. Erfreut schaut er ihr entgegen, zeigt stolz auf das Grab. Es leuchtet kräftig und bunt. –  Was?, sagt sie, blühende Astern, noch so spät im Jahr? –  Wir haben noch keinen Frost gehabt, sagt er. Seine Frau sei eine Blüemlere gewesen, gestorben vor zwei Jahren. Das Grab mache er, von den Jungen habe halt niemand Zeit. Sie kennen einander nicht, haben sich noch nie gesehen. Das Tal ist lang, er kommt aus dem oberen Teil, sie von weiter unten, der Friedhof liegt in der Mitte. Er stellt sich vor als der Ruedi von der Hofmatt, dem Bauernhof, von dem er kommt, wie es so üblich ist auf dem Land. Sie sei die Eichenberger Linette, Lehrerin, schaue zum Grab des Vaters. –  Weisst du etwa, wo ich Tannäste kaufen könnte? –  Kaufen? Die kann ich dir bringen, so viel du willst. Vielleicht so in zwei Wochen, meine Astern machen es auch nicht mehr lang.

8

IH_Zimmermann_Nicht_allein_2-Aufl.indd 8

26.04.18 09:04


2

Monica eilt zum Bahnhof. Die Verbindungen nach Bern sind gut. Im Zug die Reden abhören und Notizen machen über die Vernissage im Gertsch-Museum. Der Artikel muss vor acht Uhr auf der Redaktion sein. Es sollte reichen. Patrik holt die Kinder aus der Kita und hütet. Es ist sein Tag. Die Frau, die ihr auf dem Bahnsteig mit Reiseköfferchen entgegenkommt, sollte sie kennen. Weiss nicht woher, noch wie sie heisst. Hat sie nicht etwas mit Schule oder der Kirche zu tun? Ja doch, die Lina, sie hat sie vor Jahren an einem Kirchenbazar interviewt. Ein Brunnen vor der Kirche, Stände mit Gebäck, Gestricktem und Genähtem, Lina, die Lehrerin, hatte ihn organisiert. –  Hallo, Lina. –  Linette heisse ich jetzt, lacht sie. –  Bist schon pensioniert, dass du so gut aussiehst? –  Seit April. –  Und jetzt machst Reisen, mit einer Gruppe oder allein? –  Mit mym Ruedi. Wir treffen uns in Zürich und fahren dann nach Vals. Sie wartet auf den Zug nach Zürich, ist offenbar viel zu früh da. Der Berner kommt eher, Monica verabschiedet sich. Im Zug schützt sie sich vor Gesprächen mit den Stöpseln im Ohr, stellt das Gerät aber nicht an. Mag nicht arbeiten,

9

IH_Zimmermann_Nicht_allein_2-Aufl.indd 9

26.04.18 09:04


träumt lieber Linettes glücklichem Gesicht, ihren Worten – mit mym Ruedi – nach. Hat sie jetzt doch noch einen Partner gefunden? Bei jenem Interview hatte sie gesagt, ihr Schicksal sei halt das Ledigsein, natürlich hätte sie gern einen Mann und Kinder gehabt, aber das habe sich nicht ergeben, dafür habe sie jetzt ihren Ätti zu sich nehmen können, er wäre so ungern ins Altersheim gegangen. Der ist wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Die Linette wird frei sein und mit ihrem Freund in die Ferien fahren, wann es ihr beliebt. Neid? Ja, vielleicht ein wenig. Pädu und sie gingen auch gern mal zu zweit in die Ferien, ohne Kinderwagen und Trottinett, ohne Pampers, Teddybär und Bilderbücher, ohne einen Berg Holle-Gläschen. Einfach Arm in Arm.

10

IH_Zimmermann_Nicht_allein_2-Aufl.indd 10

26.04.18 09:04


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.