Anna Hitz: ‹Der Schwindel›

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Anna Hitz

DER SCHWINDEL Roman



ANNA HITZ DER SCHWINDEL

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© 2018 Zytglogge Verlag AG, Basel Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Daniela Gassner Covergestaltung: Malvina Lubec Layout/Satz: Melanie Beugger, Zytglogge Verlag Druck: CPI books GmbH, Leck Gesetzt aus: Frutiger LT Std, Garamond Premier Pro, Palatino LT Std ISBN: 978-3-7296-0984-6 www.zytglogge.ch

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Für Lukas

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You may think he’s a sleepy-type guy Always takes his time Soon I know you’ ll be changing your mind When you’ve seen him use a gun, boy When you’ve seen him use a gun Text von Franco Micalizzi aus dem Song ‹Trinity›

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«Liebling, ich sterbe … Jeden Augenblick … Er hat jemanden geschickt … Er ist fort … Es ist so schön, deine Stimme zu hören … Wie die eines Engels.»

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Im Zug «Ich hab’s satt!» «Was?» Jan richtete das iPhone auf sich. Klick. Seine grünen Augen leuchteten vor den tiefweißen Berggipfeln, die in den Himmel stachen, den weißen Hängen und Tannenwäldern, den ver­ schneiten Häusern, dem zugefrorenen Fluss. Er drückte auf ‹Senden›. Die Antwort erschien sofort auf dem Display: «Wo?» «Vor St. Moritz.» «Bank ausgeraubt?» «Bewerbungsgespräch.» «Geschmissen worden?» «Schluss mit Langstraße, Love Hotel und Dreckwäsche.» «Und was jetzt?» «Grand Hotel Kulm .» «Die nehmen keine Loser.» «Ich hab’s satt, immer von einem anderen Leben zu träu­ men. Jetzt mache ich es.» «Aber im Love Hotel hattest du einen Job.» «Pariser von der Wand kratzen gegen miese Bezahlung. In der Hotelfachschule haben sie von Erfolg geredet, von Chan­ cen.» Seine Finger flogen über den Touchscreen. «Aber die liegen nicht vor der Haustür und warten. Dafür muss man auf­ stehen und was tun.» Ein Handy klingelte im Wagon. Eine Frauenstimme wie ­Satin antwortete in Jans Rücken: «Hallo.» Sein iPhone leuchtete auf. «Verrückter polnischer Wind­ hund. Du hattest schon immer Eier.» «Janusz! Sag was!», flüsterte die Satinstimme. Jan neigte den Kopf, um besser zu hören:

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«Janusz! Sprich mit mir. Janusz! Verlass mich nicht.» «Was für eine Stimme», dachte Jan. «Sie klingt so nach … Schiffbruch. Aber was geht mich das an? Nur weil sie auch ­Polin …» «Janusz. Bitte.» Wieder sah er auf sein Smartphone und las: «Du hattest schon immer Eier.» Er stand auf. Die Frau war blass. Eine große Sonnenbrille verdeckte ihre Augen. Ihre schmalen Finger, mit üppigen Rin­ gen geschmückt, waren zu Fäusten geballt. «Alles in Ordnung?» Sie griff nach ihrer Sonnenbrille, wobei ihre Hand so heftig zitterte, dass die Brille zu Boden fiel. Die rot geschminkten Lippen zuckten: «Wie ist das möglich?» Sie schüttelte die dunklen Locken: «Alles in … Kurwa.» «O. k., o. k. Kein Grund zu fluchen.» Jan bückte sich und reichte ihr die Sonnenbrille. Für einen Moment musterte sie die Gläser wie eine falsche Requisite, dann griff sie danach. Nervös fuhr er sich durch die dunklen Haare: «Wenn doch etwas ist … Ich sitze gleich nebenan.» Sie sah aus dem Fenster. Jan ging zu seinem Platz und griff nach dem blinkenden iPhone. «Wieso St. Moritz?» «Hier gibt es Arbeit, Chancen und», er hielt inne und lauschte, doch er hörte nichts als das Rattern der Räder, dann tippte er: «Hübsche Frauen.» «Tönt nur halb seriös.» «Wenn es sein muss, küss ich dem Papst die Pantoffeln. Ich will was erleben.» «Logo … Grand Hotel Kulm! Wohnen sollte man dort.» «Reich sollte man sein.» «Fette Partys.»

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«Frauen.» «Champagner.» «Wir wüssten, was mit dem ganzen Geld anfangen.» «Terrasse! Jacuzzi! Forever!» «Yeah.» «Muss los. Viel Glück.» Vor dem Fenster standen die Häuser dichter. Der Zug wurde langsamer. Jan sah auf seine Uhr, zupfte sein Jackett zurecht. Suchend wandte er sich um. Sein Blick blieb am gegenüber­ liegenden Viererabteil hängen, wo ein faltiges Männlein ein­ gehüllt in einen dunklen Wollmantel saß. «Entschuldigen Sie.» Der Ältere musterte ihn mit hellen Augen: «Ja bitte?» «Wo sind wir?» «Das ist Samedan.» «Habe ich St. Moritz verpasst?» «Sie können es nicht verpassen. St. Moritz ist die End­ station.» «Endstation», sagte Jan, «seltsames Wort.» Der Zug kam ruckend zum Stillstand. Rasch wechselte Jan den Sitz, um den Gang zu überblicken. Der Zug fuhr wie­ der an. Der alte Mann schmunzelte: «Vieles im Leben ist seltsam. Aber vielleicht sehe ich es so, weil ich schon eine Weile gelebt habe. Wissen Sie, mein junger Freund, im Vergleich zu Ihnen empfinde ich mich als Fossil. So vieles, was Sie vollkommen normal finden, ist für mich absolut unnatürlich.» «Ach ja?» Wieder sah Jan den Gang hinab. «In Celerina steigen meist nur wenige Gäste aus», erklärte der Mann. «Kennen Sie die Gegend gut?» «Gut genug, um mich nicht zu verirren. Das allein kann schon von großem Vorteil sein.»

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Wieder blieb der Zug stehen. Ein Skifahrer schob sich zwi­ schen ihnen durch. «Ich fahre zum ersten Mal nach St. Moritz.» «Dann rate ich Ihnen zwei Dinge. Geniessen Sie die Land­ schaft. Ich bin zwar durchaus vertraut mit diesen kleinen Rech­ nern. Den Smartphones, wie Sie es nennen. Trotzdem würde ich diesen Geräten nie den Vorzug geben, wenn ich in einem luxuriösen Panoramawagen durch eine außergewöhnliche Land­ schaft fahre.» Er wies durch die großzügigen Fenster auf die schneebeladenen Äste über sich, die verschwanden, als der Zug über eine Brücke ratterte. Für einen Moment lag das verschneite Tal vor ihnen, dann fuhr der Zug in einen Tunnel. «Sie hingegen, mein junger Freund», fuhr der Mann im Halbdunkel fort, «haben Ihren Blick, seit wir in Zürich einge­ stiegen sind, kaum von Ihrem Smartphone abgewendet.» «Ich habe Zeitung gelesen.» «Sehen Sie, noch so ein Unterschied. Wenn ich eine Zei­ tung nicht in meinen Händen halte, werde ich misstrauisch. Wer weiß bei diesen digitalen Texten, ob das Gelesene in fünf Minuten noch dasselbe ist.» «Gedruckt, digital. Alles ändert sich.» «Ja, das ist wahr. Vielleicht ist es reiner Aberglaube, dass physische Gegenstände mehr Ruhe bringen, während das Digi­ tale die Zeit noch rascher vorantreibt. Nun, ich bin alt. Mich treibt nichts mehr an. Auf mich warten noch ein paar Vergnü­ gen und dann eine letzte kleine Reise.» Der Zug verließ den Tunnel und Jan betrachtete sein Gegen­ über, dessen weinroter Schal aus dem Mantel lugte. «Sie sehen noch ziemlich abenteuerlustig aus.» Der Alte hob die linke Augenbraue: «Wollen Sie auch meinen zweiten Rat hören?» Jan beugte sich vor. «Meiden Sie St. Moritz. Das ist nichts für Anfänger.»

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Die Lautsprecheranlage verkündete: «Meine Damen und Herren, in Kürze treffen wir in St. Moritz ein. Endstation.» Der Fremde knöpfte den Mantelkragen weiter zu und erhob sich. Jan tat es ihm nach, dabei warf er einen Blick in das Abteil hinter ihm. Die Frau war fort. «Da kann man nichts machen», sagte der Mann. Wie zum Trost langte er in seine Manteltasche und zog zwei in Plastik­ folie eingewickelte Bonbons hervor. «Bitte sehr.» Eines da­ von drückte er Jan in die Hand. Das zweite wanderte in seinen Mund. «Frischer Atem, mein Freund, ebnet den Weg zum Erfolg. Da Sie entschlossen sind, meinen Ratschlag zu ignorieren …» Wieder zwinkerte er Jan zu: «Viel Glück.» Jan folgte ihm auf den Bahnhofsplatz. Dampfwolken aus­ stoßend blieb er neben dem Alten stehen: «Kalt hier.» «Höchstens minus 15 Grad. Ich hoffe, die sind winterfest.» Sein Blick wanderte zu Jans Halbschuhen. «Sie sollten ein Taxi nehmen. Es wäre schade um sie.» «Welches ist das Grand Hotel Kulm?» Der Mann hob die Hand und zeigte ins Sonnenlicht: «Schauen Sie hinauf.» Jan blinzelte, als er weit über den Bündner Häusern und modernen Wohnungen einen Palast sah. «Das ist die Primadonna.» «Die was?» «Die einzig wahre Künstlerin zwischen diesen strengen Herrschaften. Sie allein hat alle hier durch ihren Glanz in eine ungeahnte Höhe gehoben. In eine Höhe, in der die Welt als be­ ständiges Spiel zwischen Sein und Schein in einen funkelnden Spiegel entgleitet.» «Ich verstehe kein Wort.» Das Aufheulen eines Motors unterbrach sie. Ein roter Por­ sche 911 Turbo schoss um eine Kurve auf sie zu.

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«Mein junger Freund, da kommt meine Mitfahrgelegen­ heit.» Der Wagen hielt quietschend und eine helle Frauen­ stimme rief: «Felix, endlich!» Das Männlein tippte sich an den Hut und das Auto fuhr davon. Zurück blieb ein kalter Wind, der durch Jans Mantel drang. Er musterte seine Lederschuhe. Auf dem linken hatte sich ein dunkler Fleck gebildet. Suchend wanderte Jans Blick über die verschneite Straße. Kein Taxi in Sicht. Ein königsblauer Rolls-Royce Phantom rollte am Bahnhofsgebäude vorbei und hielt lautlos vor ihm. Jan sah sein verschwommenes Spiegelbild in dem makellosen Lack. Die Fahrertür ging auf und ein dunkelgrün gekleideter Fahrer stieg aus, ging um das Auto herum und blieb in Haltung vor Jan stehen. «Herr Zak? Im Namen des Grand Hotels Kulm heiße ich Sie in St. Moritz herzlich willkommen!»

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