Steffen Klatt: ‹Blind im Wandel›

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Steffen Klatt, geb. 1966 in Ostberlin, studierte ­Geschichte, Philosophie und Literatur in Berlin, Basel und Odense/Dänemark sowie Politische Ökonomie in L ­ eipzig, 1995–2005 Redaktor ­‹St. Galler Tagblatt›, u.a. als Korres­pondent bei EU und NATO in Brüssel, als Korrespondent in der Westschweiz sowie als Redaktor Inland­ redaktion, seit 2005 Geschäftsführer der von ihm gegründeten Nachrichtenagentur Café Europe in Winterthur.

Steffen Klatt   BLIND IM WANDEL

«Die Schweiz ist kein scheiternder Staat und schon gar kein gescheiterter. Aber das nach aussen so sta­bile Land ist satt und zufrieden geworden – und unbeweglich. Damit steht die Schweiz beispielhaft für diejenigen Staaten in Europa, die sich nicht an wandelnde Umstände an­passen wollen oder können. Und davon gibt es mehrere. Europa kann insofern schon von der Schweiz l­ ernen: Wenn selbst das Land mit der stärksten Bürgerbe­­tei­l igung in einer parlamentarischen Demokratie sich sehenden Auges und über einen langen Zeitraum in eine Sackgasse manövriert, dann lohnt es sich, die Gründe genauer anzuschauen.»

Steffen Klatt

BLIND IM WANDEL Ein Nationalstaat in der Sackgasse



STEFFEN KLATT BLIND IM WANDEL – EIN NATIONALSTAAT IN DER SACKGASSE


Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2018 Zytglogge Verlag AG, Basel Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Thomas Gierl Gesetzt aus: Frutiger LT Std, Garamond Premier Pro, Palatino LT Std Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel ISBN: 978-3-7296-0986-0 www.zytglogge.ch


Steffen Klatt

BLIND IM WANDEL Ein Nationalstaat in der Sackgasse



Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Von der Schweiz lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I

Krise mit Vorankündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Auf dem Weg in die Sackgasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die gewollte Kollision der Verfassungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Die Angst der Besserverdienenden .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Vom willkommenen Partner zum Aussenseiter . . . . . . . . . . . . . . 33 Kein Ausweg in Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

II Die Wirtschaft erstickt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Mit Volldampf ins Verlustgeschäft .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Mit ‹Swiss Made› in die Bedeutungslosigkeit .. . . . . . . . . . . . . . . 68 Im Monopol den Anschluss verpasst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Frankenstärke selbstgemacht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 In guten Zeiten den Wandel verpasst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Pharma hat sich verabschiedet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 III Die Politik steckt im Leerlauf fest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Die Kreislaufwirtschaft der Schweizer Politik .. . . . . . . . . . . . . . 103 Die unbemerkte Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV Die Last der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Der Bundesstaat der Industriellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Die konservative Wende.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Mit Kartellen gegen den Protektionismus der anderen . . . . . 137


V Das System versagt seinen Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Direkte Demokratie – mehr Mythos als Wirklichkeit .. . . . 143 Die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies . . . . . . . . . . . . . . . 150 Von der Nostalgie gelähmt.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Gemeinsam das Land abschotten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Der politische Mantel wird zu eng . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Die Schweiz lebt vom ererbten Wohlstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Geist geht vor Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Hopp Schwiiz! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200




Einleitung Von der Schweiz lernen Die Schweiz wirkt zuweilen wie eine Insel im unruhigen euro­ päischen Meer. Das kleine Land zwischen Bodensee und Gen­ fersee bleibt sich selbst gleich, während alles um es herum sich ständig zu ändern scheint und immer wieder in Frage gestellt wird. Es hält sich aus den grossen Welthändeln heraus, bleibt in allen Kriegen und Krisen neutral, schliesst sich nicht einmal der grossen Europäischen Union an, pocht stattdessen auf seine Selbstbestimmung. Der Erfolg gibt der Schweiz recht. Sie ist wirtschaftlich erfolgreich, eines der wohlhabendsten Länder Europas, soziale Probleme kennt sie kaum, auch keinen Streit mit ihren Nachbarn in Europa. Dabei ist sie selbst ein Europa im Kleinen: Föderal aufgebaut aus 26 Kantonen, drei der gros­ sen Sprachen und Kulturen Europas sind hier heimisch, alle anderen europäischen Sprachen hier längst durch die starke Einwanderung vertreten. Ein Drittel der Einwohner sind Aus­ länder oder im Ausland geboren, umgekehrt leben Hundert­ tausende Schweizer im europäischen Ausland. Jeden Tag pen­ deln Zehntausende aus den Nachbarländern zur Arbeit in die Schweiz. Kaum ein Land ist so eng in Europa eingebunden wie dieses, das doch offiziell gar nicht dazugehört. Wenn es die Schweiz in die Schlagzeilen schafft, was selten genug der Fall ist, dann hat das meist mit der direkten Demo­ kratie zu tun. Diese Sonderform der Demokratie ist ein Unikum und hat nur wenige entfernte Verwandte in Europa und in der Welt. Alle drei Monate stimmen die Eidgenossen über irgend­ welche Fragen ab, die anderswo den Parlamenten vorbehalten sind und die dort selten die Öffentlichkeit erregen würden. Nur hin und wieder erlangt daher eine Schweizer Abstimmung

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jenseits der Grenzen Aufmerksamkeit. Und so ist es auch mehr die Institution der direkten Demokratie selbst als das einzelne Abstimmungsthema, das im Ausland mehr als nur die Spezia­ listen exotischen Verfassungsrechts beschäftigt. Vor dem Hin­ tergrund der Diskussionen über die mangelnde Bürgernähe der Europäischen Union stellt sich die Frage, ob Europa hier nicht von der Schweiz lernen könnte. Können Volksabstimmungen oder ihre Vorformen wie die Petition oder die Bürgerbefragung die Kluft zwischen Brüssel und den Bürgern überwinden? Die Frage ist nicht von der Hand zu weisen, und die Europäi­ sche Union muss einen Weg finden, näher an ihre Bürger zu rü­ cken. Doch die Schweiz ist vermutlich ein ungeeignetes Vorbild. Denn seit gut einem Vierteljahrhundert reihen sich politische wie auch politisch ausgelöste wirtschaftliche Krisen beinahe nahtlos aneinander. Die meisten von ihnen wurden nur kurzzei­ tig im Ausland wahrgenommen – wenn überhaupt. So war auch für die Schweiz 1989 ein Schicksalsjahr. Im Frühling jenes Jah­ res wurde die sogenannte Fichenaffäre aufgedeckt: Eine Unter­ suchungskommission des Parlaments stellte fest, dass die Schwei­ zer Sicherheitsbehörden Geheimdossiers über Hunderttausende Schweizer angelegt hatten, die sie als Linke verdächtigten. Im November 1989 sprach sich mehr als ein Drittel der Stimmbür­ ger für die Abschaffung der Armee aus – ein Erdbeben in einem Land, das so stolz auf seine Milizarmee ist. Wenig später platzte eine Immobilienblase, die mehrere Banken wegfegte und das Land in eine mehrjährige Stagnation warf. Im Dezember 1992 lehnte eine Mehrheit der Stimmbürger den Beitritt zum Europä­ ischen Wirtschaftsraum ab. 1996 brach die Affäre rund um die nachrichtenlosen Vermögen ermordeter Juden aus, 2001 kolla­ bierte mit der Swissair eines der Symbole der wohlhabenden und effizienten Schweiz. 2008 stand mit der UBS die grösste Bank des Landes vor dem Zusammenbruch. 2010/11 und dann wieder

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2015 erlebte der Franken massive Aufwertungen und setzte da­ mit die Exportindustrie unter Druck. Die nach aussen so erfolgreiche Schweiz ist im Innern blo­ ckiert. Wie sehr, das machte der 9. Februar 2014 klar: Mit der Annahme der Zuwanderungsinitiative verstiess das Land ge­ gen den Geist der Abkommen mit der Europäischen Union, zu denen auch das Abkommen über die Personenfreizügigkeit ge­ hörte. Sechs Jahrzehnte einer hilflosen Europapolitik hatten ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Schweiz ist kein scheiternder Staat und schon gar kein gescheiterter. Aber das nach aussen so stabile Land ist satt und zufrieden geworden – und unbeweglich. Damit steht die Schweiz beispielhaft für diejenigen Staaten in Europa, die sich nicht an wandelnde Umstände anpassen wollen oder können. Und davon gibt es mehrere. Europa kann insofern schon von der Schweiz lernen: Wenn selbst das Land mit der stärksten Bürgerbeteiligung in einer parlamentarischen Demokratie sich sehenden Auges und über einen langen Zeitraum in eine Sackgasse manövriert, dann lohnt es sich, die Gründe genauer anzuschauen.

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I  Krise mit Vorankündigung Auf dem Weg in die Sackgasse Wenn in der Schweiz abgestimmt wird, dann ist das oft nur ­etwas für politische Feinschmecker. Ob die Schweiz die Prä­ implantationsdiagnostik zulässt, den Mehrwertsteuersatz für das Gastgewerbe senkt oder Jugendmusik fördert, das interes­ siert ausser den unmittelbar Betroffenen nur wenige. Und doch sind die Schweizer Bürgerinnen und Bürger alle drei Monate aufgerufen, über solche und unzählige andere Fragen auf natio­ naler, kantonaler oder kommunaler Ebene zu entscheiden. Jen­ seits der Schweizer Grenzen interessiert das selten. Am 9. Februar 2014 war das anders. Die ausländischen Me­ dien hatten bereits im Voraus massiv über die bevorstehende Abstimmung berichtet. Die Schweiz wurde auf einmal Stamm­ tischthema in ihren Nachbarländern. Und am Montag nach der Abstimmung überlegten sich so manche Grenzgänger, ob sie noch zu ihrem Arbeitsplatz in der Schweiz fahren sollten. Und viele Ausländer in der Schweiz fragten sich, ob sie noch willkommen seien in diesem Land. Oberflächlich gesehen ging es um eine ziemlich abstrakte Frage, gehüllt in klare Paragraphen, mit einigen dazugehörigen Ausführungs- und Übergangsbestimmungen, wie es sich für eine angehende Verfassungsbestimmung gehört: Soll der Schwei­ zer Staat den Zuzug von Ausländern ins Land regeln dürfen? Er soll, befand eine knappe Mehrheit von 50,3 Prozent der Stim­ menden und eine deutlichere Mehrheit von 16,5 der 26 Kantone und Halbkantone. Die Abstimmungsfrage betraf also nur die Aufgaben des Staa­ tes. Dahinter freilich verbarg sich die Forderung nach einer Be­ grenzung der Zahl der Ausländer, wie schon der Titel der Volks­

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initiative ‹Gegen Masseneinwanderung› nahelegte. Der Staat sollte die Möglichkeit erhalten, das Tor für Einwanderer zu schliessen. Genauer noch: Er sollte die Einwanderung senken. Damit traf die Initiative den Nerv der Zeit. Die Schweiz hatte in den Jahren zuvor einen Einwanderungsschub erlebt wie zu­ letzt in den Jahren des schnellen Wachstums in den 1950er- und vor allem den 1960er-Jahren. Der rasche Zuzug so vieler Aus­ länder – bis zu 100 000 kamen netto pro Jahr – beunruhigte viele Schweizerinnen und Schweizer. Damit standen sie nicht allein in Westeuropa. Auch andere Länder wie Grossbritannien und Irland hatten einen solchen Einwanderungsschub erlebt. Und nicht nur in der Schweiz warben politische Kräfte für eine Begrenzung der Zuwande­ rung. Das tat die United Kingdom Independence Party von Nigel Farage ebenso wie die Partij Voor de Vrijheid von Geert Wilders, der Front National von Marine Le Pen, die Freiheit­ liche Partei Österreichs von Heinz-Christian Strache, die Dansk Folkeparti von Kristian Thulesen Dahl. Die Zuwanderung war 2014 eines der heissesten politischen Eisen in Europa, das erklärt auch das grosse Interesse an dieser Schweizer Abstim­ mung. Und als die Schweiz die Initiative angenommen hatte, wurde das Land kurzzeitig zum Liebling von Rechtspopulisten quer durch den Kontinent. Der italienische Europaabgeord­ nete Mario Borghezio hüllte sich im Europaparlament sogar demonstrativ in eine Schweizer Fahne. Doch wenn irgendwer angenommen hatte, dass mit der An­ nahme der Initiative tatsächlich die Zuwanderung begrenzt würde, dann hatte er – oder sie – sich getäuscht. Rein juristisch gesehen änderte der neue Verfassungsartikel zunächst gar nichts. Die gleichen Gesetze wie vorher regelten den Zuzug von Aus­ ländern in die Schweiz und ihre Rechte auf dem Arbeitsmarkt. Niemand musste die Schweiz verlassen, zumindest europäische Ausländer konnten wie bisher in der Schweiz Arbeit suchen,

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sich anstellen lassen, eine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Die Schweiz glich in dieser Hinsicht den übrigen Ländern in Europa, soweit sie der Europäischen Union angehörten. Tatsächlich ka­ men auch im Jahr 2014 netto 78 902 Ausländer neu ins Land – 2013 waren es 81 084 gewesen. Der neue Verfassungstext gab der Regierung lediglich den Auftrag, in einer nahen Zukunft – bis 2017 – einen neuen Mechanismus zur Steuerung der Zu­ wanderung einzuführen. Dieser neue Mechanismus sollte Höchstgrenzen und Kontingente für den Zuzug aus dem Aus­ land umfassen. Das klang einfach und hatte doch einen Haken: Mit dieser Forderung widersprach der neue Verfassungsartikel den beste­ henden Abkommen mit der Europäischen Union. Die Schweiz hatte sich im Freizügigkeitsabkommen von 1999 dazu ver­ pflichtet, ihren Arbeitsmarkt und damit faktisch ihre Grenzen schrittweise für den Zuzug von EU-Bürgern zu öffnen. Für die Bürger der 15 ‹alten› Mitgliedsländer der Union wurde dies 2007 Wirklichkeit, für die Bürger der zehn 2004 beigetrete­ nen Länder Ost- und Südeuropas ausgerechnet 2014. Nur die später beigetretenen Länder müssen länger warten. Der neue Artikel 121a der Bundesverfassung stand also in offenem Wi­ derspruch zu geltendem internationalen Recht, das längst in Schweizer Gesetze und Verordnungen umgesetzt war. Zwar verlangte er nicht ausdrücklich eine Kündigung dieses Freizü­ gigkeitsabkommens. Aber er verlangte, innerhalb von drei Jah­ ren, also bis Februar 2017, umgesetzt zu werden. Er sagte nichts darüber, wie mit den bestehenden Abkommen umgegangen werden sollte. Genau das Ungesagte beschäftigte fortan die Schweizer Poli­ tik. Entweder setzte die Schweiz den Verfassungstext wort­ wörtlich um, mit Höchstgrenzen und Kontingenten für Bürger der Staaten der Europäischen Union. Das würde das bestehende Freizügigkeitsabkommen verletzen. Die Europäische Union

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hätte damit eine Handhabe, dieses Abkommen zu kündigen. Oder aber die Schweiz hielte sich an das Freizügigkeitsabkom­ men, dem das Volk ebenfalls in einer Abstimmung im Mai 2000 zugestimmt hatte, damals mit einer Mehrheit von 67,2 Prozent der Stimmenden und 24 der 26 Kantone und Halbkantone. Dann würden die Bürger der Europäischen Union von dem neuen Artikel 121a der Bundesverfassung nicht erfasst – ein klarer Bruch dieser neuen Verfassungsbestimmung. Bundesrat und Parlament befanden sich also seit dem 9. Fe­ bruar 2014 in einem Dilemma: Entweder sie setzten die Verfas­ sung um und verletzten das geltende Abkommen. Oder sie hielten sich an das Abkommen und verletzten die Verfassung. Erschwert wurde dieses Dilemma durch die sogenannte ‹Guil­ lotineklausel›: Das Freizügigkeitsabkommen von 1999 war Teil eines Pakets von sieben Abkommen, die den Zugang der Schweizer Wirtschaft zum Europäischen Binnenmarkt regel­ ten. Teil dieses Pakets war eine Bestimmung, dass alle Abkom­ men annulliert werden könnten, wenn ein einzelnes gekündigt würde. Mit anderen Worten: Wenn die Schweiz den Artikel 121a wortwörtlich umsetzen würde, verlöre die Schweizer Wirtschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit den Zugang zum Europäischen Binnenmarkt. Zumindest theoretisch hätte die Europäische Union der Schweiz aus dieser selbstgewählten Sackgasse helfen können. Es hätte ihr freigestanden, das Abkommen über die Freizügig­ keit neu zu verhandeln. Der Schweizer Bundesrat klopfte denn auch in den Monaten nach der Abstimmung immer wieder bei der Europäischen Kommission als ihrer Ansprechpartnerin in Brüssel an. Doch die Antwort war immer die gleiche: Gespräche gern, aber keine Verhandlungen. An der Freizügigkeit werde nicht gerüttelt. Brüssel machte also keine Anstalten, der Schweiz aus ihrem hausgemachten Dilemma zu helfen. Im Gegenteil: Die Europä­

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ische Kommission zeigte sofort deutlich, dass sie nicht leicht­ herzig über die neue Verfassungsbestimmung und ihre Folgen hinwegsehen würde. Sie setzte die Beteiligung der Schweiz an ihrem Forschungsrahmenprogramm ‹Horizon 2020› aus. Aus Brüsseler Sicht war das wohl eher ein symbolischer Fingerzeig, ein Verweis auf den Kasten mit den politischen Folterwerkzeu­ gen. Doch aus Schweizer Sicht war es mehr: angesichts der in­ ternationalen Verflechtung der heutigen Forschung ein harter Schlag für die Schweizer Hochschulen und Forschungseinrich­ tungen. Sie mussten fürchten, ihren Platz in der obersten Liga der globalen Wissenschaftswelt zu verlieren. Der Widerstand der Europäischen Union gegen das Aufwei­ chen der Personenfreizügigkeit durch die Schweiz hatte seinen guten Grund: Sie konnte dem Nichtmitglied Schweiz nicht ge­ währen, was sie den eigenen Mitgliedsstaaten versagte. Wenn sie Grossbritannien das Recht absprach, die Zuwanderung zu begrenzen, dann konnte sie der Schweiz dieses Recht nicht zu­ sprechen. Jedes Entgegenkommen und selbst jeder Anschein, entgegenkommen zu wollen, würde die Position der Europäi­ schen Kommission als Hüterin der Verträge gegenüber den Re­ gierungen der eigenen Mitgliedsstaaten schwächen. Damit brachte der gleiche starke öffentliche Unmut über die hohe ­Zuwanderung, die in der Schweiz am 9. Februar 2014 zur An­ nahme der Initiative geführt hatte, im Anschluss daran Brüssel dazu, jede Verhandlung über die Freizügigkeit abzulehnen. Folglich war die Schweizer Politik auf sich allein gestellt. Sie musste selbst einen Ausweg aus der selbstgemachten Sackgasse finden. Fast drei Jahre ging es hin und her, wurden verschiedene Möglichkeiten erwogen und wieder verworfen. Der Bundesrat kam mit dem einen Vorschlag, das Parlament machte daraus etwas ganz anderes. Was am Ende der langen Debatten heraus­ kam, hatte wenig mit dem zu tun, was die Verfassungsbestim­ mung eigentlich verlangte. Statt Höchstgrenzen und Kontin­

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genten für den Zuzug beschloss das Parlament Ende 2016 im Wesentlichen eine Meldeklausel: Wenn ein Arbeitgeber Arbeits­ kräfte sucht, dann muss er die offenen Stellen künftig den staatlichen Regionalen Arbeitsvermittlungen melden. Wenn diese Arbeitsvermittlungen Kandidaten für die Stellen melden, dann müssen einige von ihnen auch zum Bewerbungsgespräch geladen werden. Doch damit erschöpft sich das Arsenal bereits im Wesentlichen. Zudem gilt diese Bestimmung nur für die­ jenigen Wirtschaftszweige und Regionen, die eine überdurch­ schnittliche Arbeitslosigkeit aufweisen. Das kann immer nur eine Minderheit der Branchen sein, egal wie hoch die durch­ schnittliche Arbeitslosigkeit ist. Über dem Durchschnitt kön­ nen immer nur wenige liegen. Ein wirksames Mittel zur Be­ grenzung der Zuwanderung kann das kaum sein. Brüssel war zufrieden. Ob die Schweiz mit den neuen Bestim­ mungen das Freizügigkeitsabkommen kratzt, können später ­Juristen herausfinden. Politisch ist das Schweizer Signal ein­ deutig: Am Abkommen wird nicht gerüttelt. Und das ist, was Brüssel für die Auseinandersetzungen innerhalb der Europäi­ schen Union brauchte, insbesondere für die Verhandlungen mit Grossbritannien, das inzwischen seinen Austritt aus der Union beschlossen hatte. Und so liess die Europäische Kom­ mission die Schweiz wieder zu ‹Horizon 2020› zu, der Kasten mit den Folterwerkzeugen wurde im Arsenal der politischen Spezialwaffen verstaut. Innenpolitisch dagegen war die Schweiz mitnichten aus der Sackgasse heraus, in die sie 2014 freiwillig hineingeraten war. Im Gegenteil, sie steckte nun noch tiefer drin. Zu offensicht­ lich war das Versagen des Parlaments, einen Verfassungsauftrag umzusetzen. Unabhängig davon, ob man das Ziel des Artikels 121a gutheisst oder nicht – die Ende 2016 vom Parlament be­ schlossene Änderung des Ausländergesetzes setzte ihn nicht um. Eine Meldepflicht auf dem Arbeitsmarkt bedeutet keine Steu­

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erung der Zuwanderung. Die Abgeordneten der Schweizerischen Volkspartei, die in der direkt übertragenen Debatte des Natio­ nalrats immer wieder darauf hinwiesen, dass der Volkswille nicht umgesetzt würde, hatten ganz offensichtlich recht mit ihren Argumenten. Das Parlament hatte einen Bubentrick ge­ wählt, um die Dreijahresfrist zur Umsetzung der Verfassungs­ bestimmung zu umgehen. Es hatte sich Zeit erkauft, aber zu ­einem hohen Preis. Dieses Versagen des Parlaments war absehbar gewesen. In dem Augenblick, in dem sich die Schweiz gegen einen offenen Bruch des Freizügigkeitsabkommens entschieden hatte, musste sie die Vorgabe der Verfassung verletzen. Doch den Abgeord­ neten der Mehrheit des Parlaments ging es wie den Helden der griechischen Tragödie: Sie konnten gar nicht anders. Zwischen zwei Übeln wählten sie das aus ihrer Sicht kleinere.

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