Beat HĂźppin
Donetta, der Lichtmaler
Roman
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© 2018 Zytglogge Verlag Alle Rechte vorbehalten Coverfoto: Vier Mädchen im Blätterwald, v. l.: Alma Bozzini, Fernanda De Bartolomei, Nice Bozzini, Anita De Bartolomei. Layout/Satz: Melanie Beugger Druck: CPI books GmbH, Leck Alle Fotos stammen von Roberto Donetta. Reproduziert mit freundlicher Unterstützung der Fondazione Archivio Fotografico Roberto Donetta. www.zytglogge.ch ISBN: 978-3-7296-0992-1
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Malen mit Licht (1932)
Der verfluchte Hunger und diese jämmerliche Armut! Roberto hat in jüngeren Jahren auf seinen Reisen auch an dere Verhältnisse gesehen und den einen oder anderen Fran ken, Lira, Pfund, Shilling und Penny, aber jetzt ist es ein verfluchtes Elend. Kein Wunder, will seine Teodolinda nicht mehr länger mit ihm leben. So sehr hat er sich angestrengt, die Familie wieder zusammenzuführen. Längst sind sie in alle Winde zerstreut, seine Frau und seine Kinder. Er war nicht imstande, eine Familie zu ernähren mit dem, was er seine Kunst nennt, die anderen aber eine Spielerei oder Lieb haberei, wenn sie es gut meinen, im schlechteren Fall Unfug und kindische Dummheit. Er solle seine Familie mit ehr licher Arbeit ernähren wie alle im Tal, sagte Teodolinda immer. Das sagen auch die anderen, bis heute. Und da er in ihren Augen keine richtige Arbeit verrichtet, nennen sie ihn Vagabund oder Schlimmeres. Aber sollte eine Liebhaberei nur solchen gestattet sein, die Geld haben? Arm ist er, mausarm. Aber er braucht nicht viel, ein paar Löffel Polenta und ein Stück Käse oder eine Handvoll Kas tanien. Ein einfaches Quartier für die Nacht findet sich immer, und etwas anderes haben auch die anderen im Tal nicht. Wenn man es sich so überlegt, geht es ihm trotz aller Armut gar nicht schlecht. Nur wenn er ernstlich krank würde, würde das seinen Tod bedeuten. Er könnte sich kei nen Arzt und keine Medizin leisten. So kann er nur hoffen, dass er gesund bleibt. Bei jedem Zwicken in den Gelenken, bei jedem Kratzen im Hals, bei jedem Stechen in der Brust 5
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die Furcht, eine Krankheit könnte im Anzug sein. Diese Furcht ist nicht unbegründet, wenn er an die russische Grippe denkt, die ihn damals in Asti befallen hat und dann auch Teodolinda und den kleinen Celestino. Zurück im Tessin hat er seine Mutter angesteckt, die daran gestorben ist. Roberto denkt auch an jenes Jahr, in dem Isidoro die dop pelte Lungenentzündung hatte und, wie Celestino in seinem Brief schrieb, schon die Letzte Ölung erhalten hatte. Wenn nur das Material für seine Arbeit nicht so verflucht teuer wäre! Sobald er wieder Einnahmen verbuchen kann, ist bestimmt wieder eine neue Zahlung fällig, denn er bestellt häufig, dafür in kleinen Mengen. In den letzten vier Jahren hat er allein an Perrot & Cie. in Biel einunddreissig Bestel lungen gerichtet. Soeben hat er auf dem Postbüro von Acqua rossa den Betrag für die Lieferung vom 15. August überwie sen, 100 Postkarten Blue-star K8 zu Fr. 4.50, 100 Postkarten Ridax K10V zu Fr. 4.50 und ein Dutzend Glasplatten Hauff Ortho A. H. zu Fr. 8.30. Noch unbezahlt ist die letzte Liefe rung von Perrot & Cie., nur wenige Tage später, vom 20. Au gust, 200 weitere Postkarten Ridax K10V. Seine Lieferanten sind im Allgemeinen geduldig und haben ihn bis jetzt immer beliefert, aber er darf ihre Ge duld nicht überstrapazieren. Schon einmal hat man ihm alle Kameras weggenommen. Sie sind das Wertvollste, was er besitzt. Das darf er nicht wieder riskieren. Wenn er mit Pinsel und Farbe malen würde, gäbe es ge nug Arbeit, da gäbe es Bildstöcke, Kapellen und Kirchen anzumalen, allein im Tessin sicher Myriaden davon, wie Sterne am Nachthimmel. Die Kirche würde ihn fürstlich entlöhnen, und er könnte daneben noch zu seinem eigenen Vergnügen malen, den Lago Maggiore oder die Berge hoch über dem Val Blenio, oder auch eine Herde Ziegen oder ein 6
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Tessiner Bauernmädchen. Aber diese Kunst hat er niemals erlernt. Dionigi Sorgesa, der Bildhauer, hat ihm vor vielen Jahren die Grundlagen einer anderen Kunst gezeigt. Seit her gibt es für ihn nur noch eines, das Malen mit Licht. Es hat etwas von Zauberei an sich, dieses Malen mit Licht. Man beginnt mit der unscheinbaren Glasplatte, die aber keine gewöhnliche Glasplatte ist. Würde man sie dem Licht aussetzen, wäre gleich die ganze Mühe umsonst. Nur im Dunkeln darf man mit ihr hantieren. Man legt sie sorg fältig in die Kamera ein und arrangiert sein Motiv. Erst dann darf die Glasplatte dem Licht ausgesetzt werden. Man hält mit der Kamera den Moment fest, die Erinnerung wird auf der Glasplatte eingebrannt. Aber selbst nachdem man nur für einen kurzen Augenblick das Licht hat auf die Glas platte scheinen lassen, muss man weiter vorsichtig sein, um seine Arbeit nicht zu ruinieren. In der Dunkelkammer, wenn er die Glasplatten ent wickelt: rotes Licht, nur rotes Licht, hat ihm sein Freund Dionigi damals eingeschärft, das schadet der Glasplatte nicht. Man schiebt eine rote Glasscheibe, die kein weisses Licht eindringen lässt, vor die Fenster im Zimmer. Erst wenn die Beleuchtung im Raum stimmt, wird die Glas platte mit Fotochemikalien behandelt, die er von weit her kommen lassen muss. Mit den Chemikalien muss er spar sam sein, weil sie so teuer sind. So kann er immer erst dann entwickeln, wenn er einen hübschen Stapel belichtete Glas platten beisammen hat. Und dann, während man die Glasplatte mit den Chemi kalien behandelt, erscheint darauf auf einmal das auf ihr ein gebrannte Bild, die auf ihr eingebrannte Erinnerung, aber als spiegelverkehrtes Negativ. Wenn das keine Zauberei ist! Schon als er diese Verwandlung zum ersten Mal sah, war er 7
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vollkommen davon fasziniert. Er wollte diesen Zauber immer wieder erleben, wohl ähnlich einem, der in den Ber gen einen Bergkristall findet und von da an immer wieder auszieht, um weitere Kristalle aufzuspüren. Es gibt bis heute nichts, was in ihm eine solche Freude auslöst wie das Ent wickeln von Glasplatten und das Wiederentdecken der Mo mente, die er mit seiner Kamera eingefangen hat, obwohl er schon viele tausend Glasplattenfotografien angefertigt hat. Genau diese Faszination kann Teodolinda bis heute nicht verstehen. Sie sieht wohl seine Freude und Begeisterung, aber sie sieht nicht, wozu diese Tätigkeit nützlich sein soll. Sie nennt es eine kindische Spielerei, und von Freude und Begeisterung könne man schliesslich nicht leben. Die paar Centesimi, die er mit dem Verkauf von Abzügen verdient habe, gebe er immer gleich wieder für neue Glasplatten und Chemikalien aus. Das leugnet er gar nicht. Mit dem Erscheinen des Negativbildes auf der Glas platte ist der Zauber noch nicht vorbei, sondern das Beste kommt noch. Man spannt die Glasplatte zusammen mit einem lichtempfindlichen Fotopapier in einen hölzernen Rahmen. Dann macht man sich die Wirkung des roten und weissen Lichts in umgekehrter Richtung zunutze, indem man die rote Glasscheibe für einen genau berechneten Augenblick vom Fenster zieht und danach wieder davor schiebt. In diesem kurzen Zeitraum, in dem das weisse Tages licht in den Raum eindringen kann, wird das Fotopapier belichtet. Da, wo das Glasplattennegativ mehr schwarze Farbe angenommen hat, lässt es weniger Tageslicht durch, da bleibt das Fotopapier weniger verfärbt. Genau umge kehrt da, wo das Glasplattennegativ keine oder nur wenig schwarze Farbe angenommen hat, da verfärbt es sich stark. So erscheint auf dem Fotopapier wie von Geisterhand das 8
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Bild, das Roberto mit der Kamera eingefangen hat, genau so, wie es in Wirklichkeit war. Mit dem einzigen Unterschied, dass die Farben verloren gegangen sind, als ob ein böser Dä mon alle Farben aus der Welt verbannt hätte. Davon abge sehen bleibt der Moment unabänderlich auf dem Fotopapier konserviert, er kann ihn sogar vervielfältigen, indem er wei tere Abzüge von der Glasplatte macht. Die Glasplatte lei det nicht darunter, ob er einen oder tausend Abzüge davon macht. So kann er, wenn er eine verstorbene Person auf dem Totenbett fotografiert hat – worum er oft gebeten wird –, so viele Abzüge des Bildes machen, wie die Trauerfamilie für alle Verwandten und Bekannten braucht. Das sind interes sante Aufträge für einen Fotografen, er verwendet nur eine Glasplatte, bekommt aber für jeden einzelnen Abzug einige Centesimi. Je mehr Abzüge von einem Motiv, desto mehr verdient er daran. Aber viel bleibt trotzdem nicht übrig, denn für jeden einzelnen Abzug braucht er ein Blatt licht empfindliches Papier, das ihn ebenfalls etwas kostet. Ja, und dann ist es so weit, dass er die Abzüge an die Auftraggeber ausliefern kann. Das ist immer ein Staunen und Sichwundern, wenn sie die fertigen Fotos nach langer Wartezeit zu sehen bekommen. Wenn eine Familie ein Er innerungsbild eines Verstorbenen bestellt hat und der Tote bei der Auslieferung der Fotos schon längst unter dem Boden ist, da fliessen oft Tränen der Rührung, wenn die Angehö rigen ihren lieben verstorbenen Nonno oder die verstor bene Nonna unverhofft wiedersehen. So ist das mit der Fotografie. Für ihn selbst ist sie natür lich längst kein Hexenwerk mehr, er weiss inzwischen recht genau, was er da tut und wie er die Resultate bekommt, die er sich vorgestellt hat. Aber die Faszination stellt sich immer wieder aufs Neue ein. 9
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Er seufzt und steht auf, um Reisig zu holen, mit dem er den Herd anfeuern will. Er hält das Bündel Reisig in der Hand, als ihn eine merkwürdige Übelkeit befällt. Ihm wird schwarz vor den Augen. Er setzt sich für einen Moment auf sein Bett, auf das schmiedeiserne Gestell mit dem zerlump ten Laubsack. Salute o sposa (1886)1 Salute o sposa, un canto Accetta in oggi ancor, Sarà meschin, ma intanto Ei parte dal mio cuor. Salute o sposa, grato Riesca il dono a tè Il dono dell’amato Che diedeti sua fè. Salute o sposa, iddio Alfin ci esaudì Del tuo bel cor, del mio I lai d’amor sentì. Salute o sposa, insieme Alfine uniti siam, Di nostra lunga speme Il frutto ora godiam. Salute o sposa, o bella Speranza del mio cuor 10
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Ci arrise alfin la stella, O dolce mio tesor. Salute o sposa, adesso Saremo sempre insiem: D’amarci ognor lo stesso Noi due cercherem. Salute o sposa, il fido Tuo sposo, oggi ti dà D’esserti mai infido, La piena sicurtà. Salute o sposa, avvenga, Che il ben che ci vogliam Non mai, non mai si spenga E eterno lo serbiam. Salute o sposa, ognora Il cielo pregherem, Che nella vita ancora Ci tenga a lungo insiem. Salute o sposa, i giorni Insiem potrem goder Di gaudio e pace, adorni Uniti in un pensier. Eccoti, o sposa, il dono Il don del tuo fedel Compagno indivisibile Qui sulla terra, e in ciel. 11
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Auf dein Wohl, meine Braut Auf dein Wohl, meine Braut, nimm Ein Lied auf diesen Tag noch an. Es mag kläglich sein, aber dennoch Stammt es aus meinem Herzen. Auf dein Wohl, meine Braut, willkommen Soll das Geschenk dir sein, Das Geschenk des Geliebten, Der dir seine Treue gibt. Auf dein Wohl, meine Braut, vom Herrgott Wurden wir endlich erhört. Aus deinem schönen Herzen und aus meinem Vernahm er die Klagen der Liebe. Auf dein Wohl, meine Braut, zusammen Bleiben wir nun vereint. Die Frucht unserer langen Hoffnung Wollen wir nun geniessen. Auf dein Wohl, meine Braut, du schöne Hoffnung meines Herzens. Das Glück war uns endlich hold, O mein süsser Schatz. Auf dein Wohl, meine Braut, von jetzt an Werden immer beisammen wir sein. Jederzeit denselben zu lieben, Streben wir beide an.
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Auf dein Wohl, meine Braut, dein treuer Bräutigam gibt dir heute Niemals untreu dir zu werden, Die volle Sicherheit. Auf dein Wohl, meine Braut, möge es so kommen, Dass die Liebe, die uns vereint, Niemals, niemals soll erlöschen Und wir sie bewahren in Ewigkeit. Auf dein Wohl, meine Braut, jederzeit Werden wir zum Himmel beten, Dass wir im Leben beide Noch lange bleiben vereint. Auf dein Wohl, meine Braut, gemeinsam Können wir geniessen jeden Tag, Geschmückt mit Freude und Frieden, In einem Gedanken vereint. Hier ist, meine Braut, das Geschenk, Das Geschenk deines getreuen Gefährten, unzertrennlich, Hier auf Erden und im Himmel.
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Gebratene Marroni (1888)
Einundzwanzig Jahre alt war Roberto, als sie ihn geheira tet hat, sie drei Jahre älter. Das ist jetzt zwei Jahre her. Wie viel von dieser Zeit haben sie tatsächlich zusammen hier in ihrer Wohnung gelebt? Auch jetzt ist er wieder, wie jeden Herbst, nach Italien abgereist und hat sie mit der kleinen Giuseppina allein zurückgelassen, Giuseppina, die in der Kammer nebenan schläft, nachdem sie ihr Suppe mit Speck und dazu etwas Milchkaffee gegeben hat. Dass er nach Italien abgereist ist, ist nicht ungewöhn lich, es gibt einen guten Grund dafür, er kann dort für sie und das Kind Geld verdienen. Das tun viele, nicht nur Män ner von hier aus dem Val Blenio, sondern Männer aus dem ganzen Tessin. Was treibt er denn in Italien, ihr Mann? Er brät in ver schiedenen Städten Marroni, in Como, in Varese, in Mai land, in Bergamo, in Brescia. Irgendwie muss man sein Geld verdienen, als marronajo in Italien kann man das sicher besser als mit irgendeiner Beschäftigung zu Hause im Val Blenio, besonders er, der umgängliche Roberto. Sie stellt sich vor, wie er die Marroni laut singend in den Kessel schüttet und sie über dem Feuer wendet, wie er gut gelaunt die frierenden Leute in den Strassen anredet und seine gebratenen Marroni rühmt. Sie stellt sich vor, wie sich die Leute von Robertos guter Stimmung anstecken lassen, während er die Marroni in Zeitungspapier abfüllt, jetzt eine fröhliche Melodie pfeifend. Jedem Käufer gibt er noch ein paar nette Worte mit auf den Weg: «Ecco, 14
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hier Ihre Marroni, Signorina. Schöne Marroni für eine schöne Frau. Grazie e buona giornata.» Dazu zwinkert er und verbeugt sich andeutungsweise mit seinem hoch gewachsenen Oberkörper. Ja, so muss sich das Ganze ab spielen. So ist er, ihr Mann. Er kann reden mit den Leuten. Er kann reden wie ein Buch, er kann lustige Geschichten er zählen und die Leute zum Lachen bringen. Einer seiner Lieblingswitze, den er in sein Notizbuch eingetragen hat und den er immer wieder erzählt, lautet so: «Ein Student wird vom Präfekten zu einem Teller Ravioli eingeladen. Da fragt der Präfekt, was die Abkürzung S.P.Q.R., die in Rom überall zu finden ist, bedeute. – Die Antwort des Stu denten: «Sono pochi questi ravioli.» Er bringt ein wenig Humor und Freude nach Como, Varese, Bergamo und wo er sonst noch überall verkauft. Darum, weiss sie, kaufen die Leute ihre Marroni besonders gerne bei ihm. Das Geld, das er nicht direkt für sich zum Leben braucht – und er braucht ja wenig –, legt er getreu lich zur Seite und bringt es ihr im Frühling nach Hause. Er ist zuverlässig, er versäuft sein Geld nicht, auch wenn er sich gelegentlich einen Wermut gönnt. Dafür hat sie Ver ständnis. Man muss sich in den kalten Städten Nordita liens doch irgendwie aufwärmen können, oddio, wenn man sein Geld wie Roberto auf der Strasse verdient. An die Hände friert er gewiss nicht, bei der Arbeit am heissen Marroniofen, aber drinnen im Herzen, wie sieht es da wohl aus? Sie vermisst ihn, sein Singen, sein Lachen. Sie sieht ihn, wie er am frühen Abend in der Küche sitzt, an dem roh ge zimmerten Holztisch, an dem sie gerade sitzt, wie er das Kind im Arm hält und ihm lustige Verse vorsingt. Das kann 15
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er. Wenn er im Frühling zurückkehrt, kann Giuseppina vielleicht schon gehen und einige Worte sprechen. Sie seufzt und schenkt sich Rotwein ein. Es ist traurig, den ganzen Winter hindurch vom Ehemann getrennt zu sein, aber sie ist nicht die Einzige, es geht vielen Frauen gleich. Sie hat das Glück, dass sie erst ein Kind hat und sich damit die Arbeit im Rahmen hält, nicht wie bei manchen anderen Frauen, die sich im Winter komplett aufreiben, die neben einer Kinderschar auch noch Vieh zu besorgen haben. Die zwei, drei Ziegen und Hühner, die sie und Roberto in einem kleinen Anbau halten, geben nicht viel zu tun und recht fertigen genau genommen nicht, dass Roberto bei ihrer Heirat als contadino, als Bauer, ins Zivilstandsregister ein getragen wurde. Aber wenn er nicht contadino ist, ja, was ist er dann? In Italien marronajo, zu Hause Gelegenheitsarbeiter. Was heisst das? Er wartet auf seine Gelegenheiten. Was auch immer das ist. Sie erhebt sich vom Stuhl und öffnet sachte die Tür zur Kammer. Der Atem des Mädchens geht leicht und regel mässig. Hat sie warm genug? Ihre Kammer ist eiskalt. Viel leicht wird sie diese Nacht durchschlafen, vielleicht wird sie irgendwann mitten in der Nacht nach der Mutter ver langen. Teodolinda gähnt. Sie beschliesst, ebenfalls schla fen zu gehen, nimmt die Petrollampe, geht in die Kammer und schlüpft unter die Decke, dann löscht sie das Licht. Die Nächte im Blenio sind kühl. Man nennt das Blenio zwar auch «Valle del Sole», aber in der Nacht, da scheint die Sonne ja nicht. Mitten in der Nacht schreit Giuseppina. Als sie sich nach einer Weile nicht von selbst beruhigt hat, steht Teodolinda 16
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seufzend auf und sieht nach dem Kind. Sie gibt Giuseppina nochmals etwas Milchkaffee und etwas kalte Polenta und wiegt sie auf den Armen, bis ihr die Augen zufallen. Sie sel ber aber kann nicht mehr einschlafen, die Gedanken kreisen in ihrem Geist. Sie öffnet den Fensterladen und schaut in den Nacht himmel. Die Mondsichel ist inzwischen viel weiter gegen Westen vorgerückt, aber die Fledermäuse flattern noch immer umher. In der Ferne hört sie den Ruf eines Uhus, und ebenfalls weit weg, aber gut zu hören, rauscht der Fluss, der Brenno, der durch das ganze Tal bis hinunter nach Biasca fliesst, wo er sich mit dem Ticino vereinigt, und der wird später in den Po münden. Hier im Tal ist es so, dass die Männer den Winter über auswärts Geld verdienen müssen. Das weiss sie, sie macht ihrem Roberto deswegen keinen Vorwurf. Sie ist ihm sogar dankbar dafür, dass er das alles auf sich nimmt. Es ist be stimmt nicht einfach, sich in den Städten auf der Strasse als Marronibrater durchzuschlagen. Sie macht Roberto keinen Vorwurf, aber es beschäftigt sie, warum das so sein muss. Warum kann es nicht zu Hause im Tal Möglichkeiten geben, Geld zu verdienen? Warum muss ausgerechnet das gesamte Val Blenio so arm sein? Wäre es nicht möglich, dass Roberto hier irgendetwas fände, mit dem er das ganze Jahr über genug Geld verdienen könnte? Er müsste sich eben etwas einfallen lassen, sie beide müssten sich gemeinsam etwas einfallen lassen. Aber ob das so ein fach ist? Andere Familien, andere Männer haben sich wohl auch schon viele Male darüber den Kopf zerbrochen, ohne eine Lösung zu finden. Es ist im Val Blenio nun einmal so wie in den anderen Tessiner Tälern: Wer genug Geld haben will, um seine Fami 17
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lie zu ernähren, muss sich auswärts um Arbeit bemühen. Und wer wirklich Geld verdienen will, der wandert in die USA aus, oder nach Südamerika. Aber das werden sie be stimmt nicht tun, dazu hängt Roberto viel zu sehr an der Heimat.
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Weisse Elfen
Roberto kommt von einer Hochzeit in Olivone. Dort hat er ein Porträt des Brautpaars aufnehmen dürfen. Das sind immer gute Aufträge, für eine Hochzeit geben die Leute gerne Geld aus. Es werden Abzüge und Vergrösserungen bestellt. Er ist gut gelaunt zu Fuss unterwegs nach Hause, nur seine Fotoausrüstung wiegt heute ein wenig schwer. Bei einem Bachlauf, unterhalb eines Steingemäuers kurz vor den ersten Häusern von Aquila, sieht er vier kleine Mäd chen. Sie sind so in ihr Spiel vertieft, dass sie Roberto gar nicht bemerken. So possierlich spielen sie, so zierlich sehen sie in ihren Kleidchen aus, dass Roberto ihnen wie gebannt minutenlang zusieht. Als er am Ufer die riesigen Blätter einer blackenartigen Pflanze entdeckt, hat er eine Idee für eine Fotografie. «Hört mal, ragazze!», ruft er ihnen zu. Die Mädchen fahren erschrocken zusammen, sie haben sich unbeobachtet gewähnt. Gleich nach dem ersten Schre cken erkennen sie ihn und beruhigen sich. Sie wissen wohl, dass vom Fotografen keine Gefahr ausgeht. «Ich würde von euch gerne eine Fotografie anfertigen», verkündet Roberto. Sie blicken verlegen und wissen nicht, was sie sagen sollen. «Erlaubt das Mama wohl?», getraut sich eines der Mäd chen zu fragen. «Muss man dafür die Mama um Erlaubnis fragen? Die Sache kostet euch nichts. Stellt euch nur vor, ihr bekommt nachher ein schönes Foto, auf dem ihr alle vier abgebildet 19
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seid. Eine wunderbare Erinnerung an den heutigen Tag. Seid ihr etwa Schwestern? Ihr gleicht einander.» Es stellt sich heraus, dass es zwei Schwesternpaare sind. Drei von ihnen tragen fast identische weisse Kleidchen. Ihnen gibt er die Anweisung, sich mitten in die Pflanzen zu stellen. Die Kinder verschwinden beinahe in den enormen Blättern, ihr Durchmesser beträgt das Drei- oder sogar Vier fache der Kinderköpfe. Eines der Mädchen hat sehr helle blonde Haare. Zu ihr sagt Roberto: «Du, stell dich hier zu oberst hin.» Das zweite Mädchen sucht sich einen Platz ungefähr einen Meter seitlich davon entfernt, und das dritte steht einen Meter weiter vorne, näher beim Fotografen. So ergibt sich ein Dreieck aus drei weissen Elfen, die sich im Blätter wald verstecken. Nur der oberste Teil ihrer Kleidchen, ober halb der Brust, leuchtet mit den Mädchenköpfen aus den Pflanzen hervor. Das vierte Mädchen, das ein dunkel ge mustertes Kleid trägt, stellt sich an den Rand des wilden Blätterdickichts. Damit sie für das Bild am richtigen Ort steht, schickt Roberto sie sogar auf die andere Seite des Bachs. Mit dem an Blätter erinnernden Muster ihres Kleids scheint das Mädchen ein Teil der Vegetation zu sein. Die Grenzen zwischen den Mädchen und der Natur verschwimmen in Robertos Inszenierung. Eine märchenhafte Szene. Spielen die Mädchen in den Pflanzen Verstecken? Suchen sie Schat ten unter den Riesenblättern? Die Mädchen trauen der Sache immer noch nicht ganz, nur eines lässt sich von Rober tos Humor anstecken und grinst schelmisch in die Kamera, während Roberto seine Glasplatte belichtet.
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Gestellte Szene mit Strassenbauarbeitern
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Bau des campanile in Leontica
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