Madeleine Buess: ‹Gross werden›

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GROSS WERDEN Madeleine Buess

Roman



MADELEINE BUESS GROSS WERDEN

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© 2019 Zytglogge Verlag Alle Rechte vorbehalten Coverfoto: Private Aufnahme Layout/Satz: Zytglogge Verlag Druck: Finidr, Tschechische Republik ISBN: 978-3-7296-5013-8 www.zytglogge.ch

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Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen. Gabriel Garcia Mårquez

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Ich gehe die hohe Treppe zur Kirche hinauf, betrete den Kirchhof. Weiter, der Kirchhofmauer entlang, komme ich zur Friedhofsanlage. Sehe die Gräber in Reihen, von Buchshecken gesäumt. Die einzelnen Gräber mit Rosen, Stiefmütterchen, Begonien, Erika. Mit Steinen, Engeln und Schalen geschmückt. Einige Gräber sind verwildert. Auf den Grabsteinen lese ich die Namen der Verstorbenen mit Geburts- und Todesjahr. Hier liegen sie. Die Bäuerinnen und Bauern, die Knechte, Handwerker, Handwerkersfrauen, die Angestellten, ledigen Fräulein und Junggesellen, die Eigenbrötler, Dorforiginale, Lehrer und Pfarrer. Sie, die einst die Welt des Kindes bevölkert haben. In ihrer Mitte ist Paula aufgewachsen. Im grossen Haus jenseits des Friedhofs.

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Von hüben nach drüben

Die Fahrt ging los: vorne der Austin, hinten der Zügelwagen. Durch Zofingen Richtung Olten. Paulas Mutter warf einen letzten Blick auf das Städtchen. Ihr Mann sass am Steuer, in sich versunken. Hinter Olten erhoben sich die Juraberge. Aui die Höger! Warfen sich auf wie wilde Baselbieter Bauern. Hinüber mussten sie, der kleine graue Austin und der mächtige Zügelwagen, über den Hauenstein ins Baselbiet. Auf der Passhöhe verliess der kleine Austin den Zügelwagen und die grosse Strasse und suchte den Weg nach Wenslingen. Weislige war die Oberbaselbieter Heimat von Paulas Vater. Dort, in Tschinggeli Ottis Huus, einem grossen Bauernhaus mit mächtigem Scheunentor, gleich am Dorfeingang, wurde Halt gemacht. Hier wohnten die ledigen Onkel und Tanten, die so schwarze Haare hatten wie sonst nur die Italiener. Paulas Vater stieg aus. Die Mutter schnäuzte sich, raffte sich auf. Das hinten im Auto schreiende Eveli wurde von Lili, dem Meitschi, aufgenommen und ausgeladen. Dr Gottlieb, dr Johannes, s Lini und s Miggi, alle die Onkel und Tanten, die zusammen den Bauernhof bewirtschafteten und Bändel für die Basler Herren woben, fanden sich zur Begrüssung ein. Paulas Mutter zog sich mit Eveli in Dante Miggis Schlafkammer zurück, stillte das Kind und legte es ins grosse Bett. Ihr Mann blieb mit den Onkeln vor dem Haus stehen, Hände in den Hosensäcken. Die Frauen verschwanden in der Küche, Lili ging Lini und Miggi beim Kochen zur Hand. 9

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Paulas Mutter kam nach und machte sich ans Tischdecken, wischte Teller und Besteck an ihrer Schürze ab. Es gruusete ihr hier. Zum Mittagessen gab’s Suurchrut mit Späck. Ihr Mann langte zu, obwohl er bei ihr gesagt hätte, er vertrage so schweres Essen nicht, es mache ihm Durchfall. Sie brachte kaum einen Bissen hinunter. Nachdem man sich verabschiedet hatte, ging’s weiter durch die blühenden Täler des Baselbiets. Paulas Vater freute sich. Für seine Frau dauerte die Fahrt eine Ewigkeit. Hinunter nach Tecknau, dann durch Liestal, Lilis Heimat, nach Basel. Von dort ins Leimental. Binningen, Bottmingen, Oberwil. Die Dörfer von blühenden Kirschbäumen umgeben. Hinter Oberwil den Hügel hinan und durch den dunklen Löliwald. Bis as Änd vo dr Wäut! Sie näherten sich der Landesgrenze. Zuerst Biel, dann Benken. Zwischen den Dörfern explodierte die Blütenpracht. Gsehjed’er, Frau Pfaarer, wie doll das doo isch!, rief Lili, die die Not der Pfarrfrau spürte. In Benken die Kirchgasse hinauf, Miststöcke zu beiden Seiten. Em hinterschte Winkchu zue, do e Gränze, dört e Gränze!, seufzte die Frau Pfarrer. Auf dem Schulhausplatz vor dem letzten Miststock wurde kurz Halt gemacht. Dann bog das Auto ab, fuhr durch ein grosses Tor in den gegenüberliegenden Pfarrhof hinein. Die Auffahrt war steil. 10

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Oben, vor dem Pfarrhaus, stand schon das Zügelauto. Die Zügelmänner tranken ihr Bier. Frauen in Baselbieter Trachten streckten den Ankommenden Hände und Sträusse entgegen. Griessi midenander! Herr und Frau Pfaarer, willkomme i eusere Döörfer, z Bängge und z Biel, willkomme im schööne Baaselbiet! Wie die gspässig rede, sagte die Frau Pfarrer abends zu Lili, und so brejt, dass me mejnt, es chiem es ganzes Fueder! I reed au deerewääg, heit’er s nooni gmeerkt, be au e Baaselbietere!, sagte Lili und lachte. Als die Möbel ausgeladen und das grosse Haus eingerichtet war, liess die Mutter die vier grösseren Kinder aus ihren Ferienplätzen kommen. Paula war in Basel beim Götti und seiner Familie untergebracht. Die vier Gusäng kümmerten sich um ihre Gusiine. Sie wollten ihr Velofahren beibringen. Sie nahmen ein kleines Zweiradvelo, setzten Paula auf den Sattel und hielten das Velo fest, während Paula in die Pedale trat, das lief fast von allein auf dem Trottuar. Wie du das kaasch! Druggsch s Pedaal aabe, zeersch mit eim Fuess, denn mit em andere und so witter! Verstohsch? Paula verstand gerade nicht viel, sie redeten so komisch. Der Götti war der Bruder von Paulas Vater. Die beiden Brüder hatten eine Mutter, nämlich Grossmueti, in Allschwil. Dort war Paula schon in den Ferien gewesen und hatte vor Längiziit immer in die Hosen gemacht. Hier mit den vielen 11

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Gusäng und dem Velo hatte sie weniger Längiziit. Komisch, dass die Grossen auch einen Bruder und eine Mutter haben! Paulas Bruder war klein und ihr Mueti war blond und nicht grau wie Grossmueti. Einmal hatte Gusäng Andi Geburtstag, da gab’s eine Paarti. Der Gusäng bekam einen Haufen Gschänggli. Die Tante machte Spiele mit den Kindern. Jedes Kind durfte mit verbundenen Augen einer Sau an der Wand ein Schwänzli malen. Das eine Schwänzli kam auf den Rüssel, das andere ans Ohr, das dritte in die Luft, nur eins kam dorthin, wo es hingehört, nämlich ans Hinterteil. Paulas Götti hat einen dicken Bauch und lustige Augen, nicht so tiefe, dunkle wie ihr Vati. Aber beide haben rabenschwarze Haare. Ihr Götti sagt immer nid. Hesch guet gschloofe, nid? Er redet anders als Paulas Vati, der ein wenig wie ihr Mueti tönt. Die Gusäng sagen Mutti, Paula sagt Mueti und wenn sie Mutti hört, hat sie Längiziit. Sie versteckt sich am liebsten im Bett und rollt sich zu einem Knäuel zusammen. Manchmal geht die Türe auf und die Tante holt sie heraus, dann ist sie ganz durcheinander. Doch manchmal schlüpft sie selbst heraus, läuft zu den Gusäng. Nachts ist es im Knäuel am schlimmsten. Paula liegt ganz starr darin. Denkt, dass sie Mueti nie mehr sieht, weil sie jetzt tot ist. Dann bekommt sie furchtbare Angst. Hat heiss und kalt und wagt nicht, einen Mucks zu machen. Am anderen Tag rufen ihr die Gusäng und Paula macht wieder einen Mucks. Springt auf.

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Am Aug hatte Paula ein Urseli, das ist wie eine Träne. Einmal kam der Götti, der eigentlich Dokter ist, von hinten und knipste das Urseli ab. Weg war’s. Aber die Zange und das Knipsen und das Erschrecken hängen noch immer am Aug. Endlich durfte Paula zu Mueti. Ihr Götti nahm sein grosses Auto hervor, liess sie hineinklettern, setzte sich ans Steuer. Jetz fahre mer heim, nid!, sagte er. Wo isch das? Paula streckte den Hals, güggselte aus dem Fenster hinaus. Sie fuhren an vielen Häusern vorbei. Noch mehr Häuser. Das hörte nicht auf mit den Häusern. Dann einen Hügel hinauf und durch einen dunklen Wald. Dann wieder Häuser. Aber andere. Mit Miststöcken und Brunnen an der Strasse. Jetz sii mir grad döört, nid. Sie fuhren eine Auffahrt hinauf und standen vor einem riesigen Haus mit vielen Fenstern, die waren rot eingerahmt und hatten grüne Läden. Da steht Mueti mit Paulas älteren Schwestern vor der Tür. Ist das Mueti? Paula steigt aus. Sind das ihre Schwestern Doris und Heidi? Sie weiss nicht. Vielleicht geht Mueti auch wieder weg. Wie das Urseli an ihrem Aug. Einfach weggeknipst. Vielleicht kommt plötzlich der Götti und nimmt sie wieder mit. Sie will weglaufen und kann nicht. Die Schwestern schauen sie an. Nehmen sie an der Hand und alle drei laufen ins Haus. Drinnen ist es dunkel. Paula sieht nichts. Sie kann keinen Mucks machen. Sie ist tot.

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Gäu, jetz sind mer weder zäme, Poula, sagt Mueti von irgendwo. Langsam sieht Paula ein klein bisschen. Sieht viele Türen. Lueg, do isch d Chuchi, sagt Mueti und öffnet eine Tür. Da drinnen ist es hell. Paula erkennt den Küchentisch mit der Bank und den Stühlen ringsum. Zuoberst Vatis Stuhl mit dem Chüssi. Und do isch d Stube. Sie gehen von Zimmer zu Zimmer. Von der Stube zum Stübli zu einem grossen Saal. Alles fremd. Das Mädchen, das da hindurchgeht, bin nicht ich, denkt Paula. Es muss ein anderes Mädchen sein. Weiter geht’s in den oberen Stock, über eine grosse, dunkle Treppe mit dicken Pfosten auf der Seite. Oben ein riesiger Gang und wieder viele Türen. Sie gehen durch Schlafzimmer mit Betten und nochmals Betten, die Paula irgendwie bekannt vorkommen. Pst, sagt Mueti, do isch s Studierzimmer. Sie öffnet einen Spaltbreit die Tür. Paula güggslet hinein, da liegt Vati auf dem Ruhebett, sie sieht die schwarzen, buschigen Augenbrauen, sonst nichts. Mueti zieht die Tür wieder zu. Zuletzt zeigt ihr Mueti das Badzimmer. Da gibt es ein richtiges Bad, einen Abe und ein Brünneli. Sogar einen Spiegel hat es da. Zum Glück schläft Paula im gleichen Zimmer wie ihre grossen Schwestern. Sie gigele nach dem Gutenachtsagen und flüstern miteinander, plötzlich schweigt jede und kehrt sich zur Wand. Dann kommt wieder der dunkle Knäuel, Paula erstarrt. 14

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Langsam gewöhnt sich Paula an das fremde Haus. Am schönsten ist es zuoberst im Estrich, weit weg von den Grossen. Da hängt ein Brett an zwei Ketten. Mit ihrer älteren Schwester setzt sich Paula drauf, die beiden bambeln zusammen hin und her, es knarrt in den Balken, die Kette knirscht. Es ist schampar unheimlich da oben, allein geht Paula nie hinauf. Es gibt dort viele Kammern mit Gerümpel. Manchmal öffnet die Schwester eine Tür, schaut kurz hinein und schreit auf, dann laufen die beiden schnell hinunter, sie sind sicher, da ist ein Gespenst. Wenn sie ganz mutig sind, klettern sie über eine schmale Treppe zum zweiten Estrich hinauf. Da sind sie direkt unter dem Dach. Sie schauen aus dem Fenster über den Garten und den dahinterliegenden Friedhof weit, weit in den Himmel hinein. Auch unten im Garten gibt es viel zu entdecken. Mueti hat schon mit Hacken und Beetlimachen angefangen. Wie dä Bode brättig isch und dr Härd vou Stej. Sie hackt drauflos, bis sie einen roten Kopf bekommt und ihr der Schweiss über das Gesicht rinnt. Dann setzt sie Salot und Zebele, sät Rüebli und Schnittlouch und Peterli. Paula streicht um sie herum und hilft ihr, liest aus einem Blätz alle Steinchen heraus, dann läuft sie zu den Geschwistern auf die Wiese nebenan. Es gibt im neuen Garten auch viele Bäume, ein ganzes Wäldli voll. Kinder vom Dorf kommen und schauen die Pfarrerskinder an. Erst müssen die Dorfkinder lachen, dann reden sie einfach drauflos und die Pfarrerskinder auch. Noldi und Käthi wohnen etwas unterhalb, Maja etwas weiter oben im Dorf. Schliesslich kommt auch Majas grosser Bruder auf langen 15

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Stelzen, die sind so hoch wie Bohnenstangen. Der grosse Bruder heisst Rolf. Er stelzt die Einfahrt auf und ab und fällt nicht hinunter. Speele der Versteggis?, fragt er von den Stelzen herab. Doo hets jo soumeessig vill Bäum. Paula und ihre Geschwister wundern sich ein wenig über das Soumeessig. Mueti sagt nachhher, Settigi Usdrükch sind mir frömd. Versteckis im Wäldli muss lustig sein. Der grosse Bruder kommt von den Stelzen herunter. Los geht’s. Versteckis im Wäldli ist wunderbar. Aber es hat noch viel mehr Verstecke ringsum, die probiert Paula später mit ihren Geschwistern aus. Es hat einen Schopf und das Wöschhüsli und viele andere Bäume und eine grosse Mauer, die den ganzen Garten umgibt. Vom Kirchturm hinter der Mauer schlagen manchmal die Glocken, erst in fröhlichen Sprüngen eine kleine, dann mit harten Schlägen die grosse. Viertustunde und ganzi Stunde schlönd si, sagt Mueti. Paula weiss nicht so recht, was das ist. Manchmal läutet die grosse Glocke ganz lang, am ëufi am Morge oder am sebni z Oobe lütet si so. Am Sonntagmorgen läuten alle Glocken, das tönt mächtig und feierlich. Vati läuft im langen schwarzen Rock mit dem weissen Chrägli durch den Gang, der Rock schwingt hin und her wie die grosse Glocke hoch oben im Turm. Mueti sucht Portmenee, Nastuech und Täschli zusammen, schlüpft us dr Sunntigsscheube, steht plötzlich wie blutt da, denn eine Scheube hat sie daheim immer an. Sie winkt den Kindern und Lili und hüpft zur Türe hinaus. 16

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Mit Noldi, der in der Nachbarschaft wohnt, geht Paula in den Kindergarten. Sie gehen das kleine Wägli hinter den Bauernhäusern hinunter, kommen zum Brüggli über den Birsigbach. Hinter dem Brüggli nehmen sie die Strasse Richtung Biel. Der Kindergarten ist zwischen Benken und Biel, dort, wo auch das Milchhüsli steht. Das heisst d Hääfelischuel, sagt Noldi, und s Frölein Vogel isch eusi Hääfelidante. Fräulein Vogel ist gross und dick und hat eine Brille und sie hat nicht wie Mueti ein Wienerli mit den Haaren gemacht, sondern eine dicke Wurst. Sie hat weisse Haut im Gesicht, die glänzt immer und manchmal nimmt sie das Nastuch aus ihrer Scheube und wischt sich über die Stirn. Paula hat auch eine Scheube an mit einem Nastuch drin, aber Fräulein Vogel sagt dem Schuurz. Alle Kinder sitzen auf ihren Stühlen mit Fräulein Vogel im Kreis und hören zu. Fräulein Vogel redet so gspässig, sie sagt, die Kinder dürften nit laafere und ummepfuure und eifach uuseloo. Sie müssten uf s Muul hogge und guet zueloose, sie erzähle nun eine Geschichte. Uf s Muul hogge tönt wieder so gspässig, Paula sitzt doch uf em Stuel und nid uf em Muul, und wenn sie sich das vorstellt, muss sie lachen, aber sie beisst lieber die Zähne zusammen, drum gluckst es unten im Bauch und sie bekommt den Hitzgi. Hesch dr Gluggsi?, sagt Fräulein Vogel und schaut sie streng an. Paula bekommt einen ganz heissen Kopf und weiss gar nichts von der Geschichte, doch zum Glück fragt die Kindergärtnerin nicht danach. Dann spielen die Kinder ein wenig Bääbi und Isebahn. Zum Schluss singen sie S Elfiglöggli lütet scho. 17

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Als Paula mit Noldi heimgeht, purzeln in ihrem Kopf die Wörter durcheinander. E Scheube isch kche Scheube, isch e Schuurz. Und laafere oder ummepfuure isch so öppis wie dumm tue. Und was dr Gluggsi isch – daran denkt sie lieber gar nicht. Es gibt noch viel mehr neue Wörter: händle, ummeseggle, hee mache, o jeere, bigoscht. Die neuen Wörter machen sie richtig sturm. Das hejsst do d Hääfelischuel, erzählt Paula der Mutter daheim, und laafere dörfe mer nid. Wie redsch ou du?, sagt Mutter und schüttelt den Kopf. So rede mer be eus nid. Nach ein paar Wochen im Kindergarten sagt Mutter zu Paula, Fräulein Vogel habe bei ihr reklamiert, sie schwatze zu viel. Paula probierte nämlich die neuen Wörter aus: Jä und ein breites Nei probierte sie, E chlei probierte sie, E chlei weeni, Jo dernoo probierte sie, Hösch!, sagte sie zu Noldi. Hesch e Voogel!, sagte sie sogar, und Halt dr Schnaabel!, wagte sie auch noch zu sagen. Nach der Ermahnung probierte sie nicht mehr. Nur noch unter den Kindern, manchmal, und für sich allein unter der Bettdecke.

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Geschlecht

In der Pause spielten die Mädchen Taler, Taler, du musst wandern. Manchmal spielten sie auch mit den Buben Brennball. Das Frauenstimmrecht war begraben. Aber das mit dem Geschlecht blieb an Paula hängen und beschäftigte sie. Was ist Geschlecht? Es tönt ein wenig wie Schlacht. Es hat etwas mit Buben und Mädchen, mit Frauen und Männern zu tun. Die Buben hatten ein Pfiffli und die Mädchen nichts. Das war einfach so. Wenn sie in der Schule Ich armes welsches Teufle bin müde vom Marschieren sangen, grinsten die Buben, griffen tief in ihre Hosensäcke. Ich hab verlorn mein Pfeifle aus meinem Hosensa-a-a-a-ack, sa-a-a-a-ack, sangen sie, aber es heisst richtig: aus meinem Mantelsa-a-a-a-ack, wusste Paula. Zum Glück bemerkte der Lehrer die Frechheit der Buben nicht. Auch die Männer hatten ein Pfiffli. Es war grösser als das der Buben. Paula hatte es beim Burschen, der sie zum Bach hinuntergezogen hatte, gesehen. Gross und rot wie eine Blutwurst sah es aus. Ein Pfiffli hatten die Frauen nicht. Aber sie hatten Brüste. Paulas Mutter zeigte sie manchmal, wenn sie sich in der Stube auszog. Zwischen den Beinen hatte sie ein blondes Bärtchen. Da blutet es manchmal heraus. Jeden Monat, sagte Mutter. Dafür hatte sie Stoffbinden, die sie nach dem Waschen unter der aufgehängten Wäsche versteckte. Mutter sagte dem Periode. Hesch au Periode?, fragte Paula Lineli. Das Glump haan i zum Glügg nümmi!, sagte sie.

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Als Paula und ihre Geschwister in den Zirkus gingen, bekam die älteste Schwester d Periode. Sie band die Jacke um ihren Bauch, damit das Blut an ihrem Kleid nicht zu sehen war. Auch hatte sie schon kleine Brüstchen, die wollte sie aber nicht zeigen und schloss sich beim Baden im Badzimmer ein. Paula spürte ganz fein in ihrer Brust ebenfalls zwei Knöpfchen hervordrücken. Das beunruhigte sie. Ihre Mutter hatte von ihrer Freundin Helen erzählt, sie habe im Wallis Brustkrebs bekommen. Das musste etwas Schlimmes sein. Bekommt man das nur im Wallis? Habe ich auch Brustkrebs?, fragte sich Paula. Das alles war ein Geheimnis. Darüber konnte Paula nicht mit Martin reden. Das versteht er nicht. Das Geschlecht waren wohl all diese Anhängsel wie Pfiffli und Brüscht. Und bei den Mädchen nichts. Doch nachts im Bett langte Paula zwischen die Beine und streichelte ihre Lippen, zupfte die Zunge tief innen, da kamen Wellen und nahmen sie mit. Und plötzlich taucht die Klavierlehrerin vor ihr auf. Ihr leuchtender Mund. Sie ist so schön und geheimnisvoll wie die Königin von Saba. Sie wohnt in Binningen auf dem Berg. Paula kommt aus dem Tal hinter dem dunklen Löli. Sie öffnet Paula die Tür und sie lacht. Sie führt sie hinauf unter das Dach. Dort steht ihr Flügel, schwarz und glänzend. Sie macht ihn auf. Paula setzt sich neben sie, vor die weissen und schwarzen Tasten, die aussehen wie zwei Leitern, hinauf und hinab. Paula stellt ihre heissen Finger darauf. Sie kleben am Weiss und am Schwarz der Tasten. Doch die Klavierlehrerin redet Paula zu, sie macht ihr Mut. Paula sieht ihre roten Lippen, sieht die Zahnlücke zwischen den weis184

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sen Zähnen, durch sie pfeift der Wind. Sie bekommt Kraft in die Finger. Los geht’s, hinauf und hinunter im Takt, immer schneller, die Finger laufen, sie hüpfen, sie tanzen. Doch manchmal werden die Finger schwach, knicken ein, vergreifen, verirren sich, machen Fehler. Paula selber verirrt sich, verliert sich, weiss nicht mehr weiter. Sie schaut die Klavierlehrerin an. Macht nüt. Die Klavierlehrerin schüttelt den Kopf. Ihr Haarturm schwankt, sieht aus wie ein Vogelnest, Vögel fliegen ein und aus. Ihre Augen lachen. Paula geht nun jeden Dienstagnachmittag zur Klavierstunde ins Haus der Klavierlehrerin. Das ist ein weiter Weg mit dem Bus und der Birsigtalbahn, dann in Binningen zu Fuss den Berg hinauf. Oben steht das Haus aus Holz und Glas. In Paulas Dorf ist so etwas ein Stall. Aber hier auf dem Berg ist es ein vornehmes Haus. Der Mann der Klavierlehrerin, der manchmal die Türe auftut, sagt Paula Aadie! beim Begrüssen. Wenn die Klavierlehrerin vor Paula die Wendeltreppe im Kreis hinaufhüpft, möchte Paula ihre Spinnbuppelestrümpf berühren. Sie sehen so zart aus, so durchsichtig fein, doch berühren darf Paula sie nicht, so lässt sie die Augen darüberspazieren. Sie ist das schöne Geschlecht. Aber sind damit nicht alle Frauen gemeint? Sind alle Frauen schön? Ist Lineli schön? Oder Mutter? Sie sind, wie sie sind. Aber die Klavierlehrerin ist schön wie sonst keine. Ganz besonders gefällt Paula die Zahnlücke in ihrem Äbbeerimuul, durch die ein Geheimnis güggslet. Auch Paula hat eine Zahnlücke gehabt und sie hat sie stolz gemacht. Paula streckte die Zungenspitze hindurch, züngelte mit ihr vor dem Spiegel hin und her. Das sah lustig aus: Ein rotes Männchen tauchte auf 185

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und verschwand. Das konnten die Geschwister nicht. Das konnte nur Paula. Und beim Sss pfiff ihr der Wind durch die Lücke. Ihre Mutter hat gemeint, das gehöre sich nicht, das heisse Lispeln, richtig reden sei das nicht. Wer lispelt, wirke ein wenig dumm. Auch die Klavierlehrerin lispelt, glaubt Paula. Wer sagt, dass sie dumm ist? Paula wurde zu einem besonderen Zahnarzt in eine grosse Klinik geschickt, der schnitt ihr das Lippenbändchen durch. Das hat geblutet wie bei der geschlachteten Sau. Erst als der Zahnarzt den Schnitt zugenäht hat, hat es aufgehört mit Bluten. Doch manchmal spürt Paula das Blut noch im Mund, dann muss sie schnell Wasser trinken. Nach dem Zahnarzt schickte Mutter sie noch zur Sprachlehrerin. Bei ihr musste Paula die Zunge auf- und abrollen wie eine Speckscheibe oder sie rund und tief machen wie einen Suppenlöffel. Nach langem Üben wurde Paula vom Lispeln geheilt. Die Zähne wuchsen zusammen, die Zahnlücke verschwand. Kein Wind pfeift mehr durch die Zähne. Sie stehen nun schön in einer Reihe. Aber ihr fehlt die Lücke. Ihr fehlt die Fremde, die da duuregüggslet wie bei der Klavierlehrerin. Sie spürt über den Zähnen nur noch die Narbe. Auch pfeifen wie Vater mag sie nicht mehr, den Wind zwischen den Lippen durchblasen, um Töne zu machen. Flöte spielt sie noch manchmal, aber lieber Klavier. Dann stellt sie sich vor, dass die Klavierlehrerin neben ihr sitzt und lacht und es durch ihre Zahnlücke pfeift und lispelt. Wohäär chömme Si?, fragt Paula die Klavierlehrerin. Ganz vertieft ist sie in ihre Lücke.

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Us Dütschland, aber meine Eltern haben mich in die Schweiz geschickt, bevor sie deportiert worden sind. Deportiert? Das muss etwas Schlimmes sein. So schlimm, dass Paula nicht wagt, weiterzufragen. Und sie sieht hinter der Zahnlücke der Klavierlehrerin plötzlich ein dunkles Loch, einen Abgrund. Sie ist Jüdin, hat Mutter einmal gesagt, aber konvertiert. Auch wieder so ein Wort. Vielleicht war es doch besser, eine schöne Zahnreihe ohne Lücke zu haben. Si reede aber Baaseldütsch, sagt Paula. Natüürlig, ich be jo z Baasel ufgwachse und jetz wohn i z Binnige. Das tönt wieder ganz vertraut und selbstverständlich. In Basel ist sie aufgewachsen und lebt jetzt in Binnige, wie Paula in Bängge. Und doch nicht ganz, da ist dieses Deportiert, da ist die Lücke und das Geheimnis. Das alles macht sie noch schöner für Paula. Die Klavierlehrerin hat ein Geheimnis und sie macht Töne. Manchmal spielt sie ihr etwas vor. Paula staunt: Ihre Hände mit den roten Fingernägeln laufen wie rote Gluggerli über die Tasten und sie lassen Bäche und Ströme von Tönen erklingen. Wo hei Si Klavier speele glehrt?, fragt Paula. Dängg z Baasel be dääne Lüt, woon i ufgwachse be, sagt sie. Das het mi fröhlig gmacht und mi drööschtet. Mich tröstet das Klavier auch, sagt Paula. Zum Beispiel, als mir der Lehrer einen Chlapf gegeben hat, da habe ich auf dem Heimweg geflucht, dann ist mir übel geworden und ich musste ins Bett. Als ich wieder aufstehen konnte, habe ich Klavier gespielt, Blitz und Donner habe ich gespielt und Sturm und die Blätter wirbeln herum und fallen zur

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Erde – alles wird still. Ich schlug nur noch einen einzigen Ton an, einen hohen und dann einen tiefen. Oder wenn ich an die toten Geschwister denke. An Meieli, das ich nie sehen durfte, weil es tot geboren worden ist, oder an Martin, der gar nicht geboren ist, weil wir geschwatzt haben und Mutter gestürzt ist. Dann spiele ich für sie. Aber Martin ist nicht ganz tot, er kommt manchmal zu mir. Das ist mein ganz kleiner Bruder, er beschützt mich. Paula ist ganz aufgeregt, ihr all das zu erzählen. Die Klavierlehrerin hat mir von ihrem Geheimnis erzählt und ich erzähle ihr von meinem, denkt sie. Ja, sie ist das schöne Geschlecht, gerade auch wegen dem Geheimnis. Ein Geheimnis haben die schönen Frauen in den Heftchen nicht, die Paula manchmal im Rössli ansieht, wenn sie bei Susi ist. Die sind nur glatt wie Faasnachtslaarfe, suscht nüt. Der Lehrer hatte nicht nur vom schönen, er hatte auch vom starken und schwachen Geschlecht geredet. Mit dem starken Geschlecht sind die Buben und Männer gemeint, das merkte Paula, aber warum, weiss sie nicht. Noldi sagt: Wir sind die Stammhalter, wir haben mehr Kraft, darum machen wir auch die schwere Arbeit, und wir müssen ins Militär, da gibt es keine Frauen. Was Stammhalter ist, weiss Noldi auch nicht recht, halt eben die Buben. Aber bei uns, sagt Paula, macht Mutter alle schwere Arbeit, Vater liest oben auf dem Ruhebett seine Bücher oder geht auf Hausbesuch. Das ist nicht normal, sagt Noldi. Doch, bei uns daheim ist das normal, bei uns daheim ist Mutter das starke Geschlecht, sie bestimmt alles, regelt alles, macht alles! Nur wenn Vater redet, schweigt Mutter und senkt den Kopf, aber das sagt Paula Noldi nicht. Das versteht sie selber nicht.

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So will sie nicht werden. Paula will reden wie die Klavierlehrerin aus ihrem Äbbeerimuul. Wenn Paula von der Klavierlehrerin heimfährt, purzeln ihr viele Gedanken durch den Kopf. Das ist alles so kompliziert mit dem Geschlecht. Das ist viel schwieriger als Prozent. Beim Prozent ist alles in einem Verhältnis. Aber da ist kein Verhältnis, oder vielleicht doch eines, aber eines, das immer wieder durcheinanderkommt und Streit gibt. Auch Paula streitet viel mit ihrem Bruder. Weil er darf, was sie nicht darf, zum Beispiel Geige spielen, zum Beispiel Auto fahren, zum Beispiel zur Pfadi. Auch muss er beim Putzen und Bücherabstauben nicht helfen. Aber Paula ist stärker als er und grösser. Ich muss Martin fragen, ob die Buben mehr als die Mädchen sind, denkt sie. Weiss er das? Die Klavierlehrerin weiss es bestimmt. Aber sie kann ich nicht fragen. Sie lacht mich nur aus und sagt: Was du nid dänggsch! Sie hat zwei Mädchen, die sind viel kleiner als Paula. Manchmal erzählt sie von ihnen. Dann ist Paula niidisch. Daheim trifft Paula Lineli. Sie steht vor der Pfarrhaustür, das gemusterte Tuch um den Kopf und den Korb am Arm, mit ein paar Eiern drin. Bisch weeder in dr Klavierstund gsee, bisch boll e Frölein und willsch nüt me vo Bängge wüsse! Und vo diine Ruuni au nümm, sagt Paula trocken. Äbbä, weersch mer fehle, sagt Lineli. Paula will wie die Klavierlehrerin werden. Sie will sich einen Lippenstift kaufen und die Schönheit probieren. Sie geht in den Konsum und fragt, ob sie Lippenstift haben.

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Warum bruuchsch das?, fragt die Verkäuferin misstrauisch. Meine älteste Schwester hat ein Klassenfest und braucht einen, sagt Paula verlegen. Isch si komfermiert?, fragt die Verkäuferin. Paula schüttelt den Kopf. Dann gibt es sowieso keinen und wir haben auch keinen, sagt die Verkäuferin streng. Wo chauft me Parfüm?, fragt Paula ihre Mutter daheim. Sie sucht zwar einen Lippenstift, aber Mutter danach zu fragen, wagt sie nicht. Paula weiss, dass es in Basel in der EPA viele Lippenstifte gibt, sie hat sie ja gesehen. Aber sie hat sich dort auch furchtbar verlaufen. Nein, dorthin will sie nicht. Warum?, will die Mutter wissen. Eifach. In der Drogerie in Oberwil haben sie sicher Parfüm. Dann muss es dort auch Lippenstift geben. Wenn Paula wieder in die Klavierstunde geht, will sie dort fragen. Tatsächlich, es gab in der Drogerie in Oberwil Lippenstifte, eine ganze Menge und in allen möglichen Farben, und niemand fragte Paula, warum sie einen wolle. Hauptsache, sie konnte zahlen. Sie nahm unter den leuchtend roten den billigsten. Er kostete einen Franken fünfundneunzig. Zwei Franken hatte sie heimlich vom Milchgeld aus ihrem Kässeli herausgenommen. Daheim schloss sich Paula im Badzimmer ein und stellte sich vor den Spiegel. Sie versuchte es mit dem Lippenstift. Bis sie ihn überhaupt herausbekam, musste sie lange probieren. Mit Drehen kam er schliesslich heraus wie ein leuch190

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tend roter Fingernagel. Paula drehte noch weiter, er wurde so lang wie ein ganzer Finger. Mit Zurückdrehen brachte sie ihn wieder zum Verschwinden. Nach vielen Uuse-iineuuse versuchte Paula sich an den Lippen. Nur ein paar Tupfer. Gseht wie rooti Dolgge us. Paula musste lachen. Dann nahm sie den Wäschlumpe, machte ihn nass und wischte das Geschmier ab. Und begann von neuem. Machte kleine rote Striche auf die Lippen. Das sah aus wie die neue Bemalung auf der Strasse nach Oberwil, nur rot. Auch das musste weg. Paula sah sich im Spiegel an, streckte sich die Zunge heraus. Dann nahm sie wieder den Stift, zog lange Linien über die Lippen, zuerst oben, dann unten, dann über die Lippen hinaus. Wieder putzte sie alles ab, begann von neuem. Schliesslich waren die Lippen so rot wie bei der Klavierlehrerin, aber mit Gschlaargg an den Rändern. Und rundum bis tief in die Wangen war alles rot vom Reiben mit dem Wäschlumpe, der selber ganz rot von Lippenstift war. Das sah aus wie die Kriegsbemalung bei den Indianern. Paula wusste zwar nicht, wie die aussieht, aber sie stellte sie sich so vor, wenn sie Winnetou las. Jetzt sah Paula aus wie ein rotes Suggi. Von der Schönheit war nicht viel zu sehen. Und der gelbe Wäschlumpe erst! Der hatte nur noch Kriegsbemalung. Paula rieb und rieb, bis sie das Gröbste weghatte. Den Lippenstift vergrub sie zuhinterst auf ihrem Tablar im Stubenkasten. Das mit der Schönheit war nicht einfach. Das musste geübt sein und war streng geheim. Paula wusste: Ihre Mutter war dagegen, ihr Vater war dagegen, der Lehrer war dagegen. Ihre Mutter sagte dem hoffäärtig, ihr Vater eifältig und unghöörig. Uufdonnered, sagte der Lehrer oder uufdaggled. Er gab einer Schülerin der Oberstufe sogar eine Ohr191

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feige, als er ihre lackierten Fingernägel bemerkte. Auch Lineli meinte, das ghöört si be eus nid, das mache nur die, wo nüt z due hei als vor em Spiegel stoh, all die Düpfi und Stadthüener und andere Muschter. Einfacher war es, Klavier zu üben. Das durfte Paula, so viel sie wollte. Manchmal gab es bei der Klavierlehrerin ein Klaviervorspiel. Dann kamen ein paar Eltern zum Zuhören. Die Klavierlehrerin nahm alle Instrumente hervor und rückte sie fürs Konzert zurecht: den Flügel, das Cembalo, die Geige, die Flöte. Und noch viel schöner sie selbst: ihre Stimme, ihre roten Lippen mit der Zahnlücke, die leuchtenden Fingernägel und obendrauf der schwarze Haarturm mit den Vögeln. Das spielt alles zusammen in ihrem Konzert. Paula sitzt in der Reihe der Schülerinnen und Schüler und sieht nur sie, merkt kaum, wie sie vom Warten heisse Hände bekommt. Als sie an der Reihe ist, hat sie alles vergessen. Doch die Klavierlehrerin lacht Paula an und es ist wie im Traum: Paula setzt sich neben sie an den Flügel. Sie nickt mit dem Kopf und Paula lässt es spielen. Die Klavierlehrerin spielt neben ihr, vierhändig spielen sie, und Paula sieht die Reihen Gluggerli über die Tasten tanzen, und sie tanzt mit ihnen, sie brennt mit ihr und verglüht am Schluss, als sie hinaus und von ihr weg in den Abend muss. Paula kommt spät heim, schleicht sich ins Haus wie eine vo wiithäär us dr Stadt oder no vo vill, vill witter.

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«Paula gefällt das Prozent. Sie rechnet, sie rechnet und hüpft. Sie schüttelt die Hände und hüpft, sie nimmt die Finger, sie zählt, sie zählt. Sie ist ganz aufgeregt. Eine Zahl steht nicht für sich, auch nicht in einer Reihe, sie steht in einem Verhältnis zu andern. Und das ist das Prozent. Wie mit dem Prozent ist es auch sonst, erzählt sie Martin abends im Bett. Ich bin klein im Verhältnis zu Vater, Vater ist klein im Verhältnis zu den Riesen im Goetheanum, du bist klein im Verhältnis zu mir. Alles steht miteinander im Verhältnis, sagt sie. Das ist das Beste. Nichts ist nur so. Klein ist im Verhältnis, gross ist im Verhältnis. Zahlen sind im Verhältnis, du und ich sind in einem Verhältnis, sagt sie zu Martin. Die Gräser, die Bäume, die Blumen, die Steine sind im Verhältnis. Zu Mutter und Vater bin ich im Verhältnis, zu den Geschwistern auch.»


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