Ada Marra: ‹Ab wann ist man von hier?›

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EIN DENKZETTEL

AB WANN IST MAN VON HIER? Ada Marra

Über die 8 484 100 Möglich­keiten, Schweizer/in zu sein



ADA MARRA AB WANN IST MAN VON HIER?

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Identität aus institutioneller Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Kriterien für das Einbürgerungsgesuch . . . . . . . . . . . . 21 Was ist Integration? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Ab wann ist man von hier? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Die Kinder tragen keine Verantwortung für die Migrationsgeschichte ihrer Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Von der Freiheit zu lieben und seine Liebe zu verkünden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Möge der Bessere gewinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Der Bund und das Gefühl, Schweizer/in zu sein

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Pluriidentität und der Facettenreichtum der Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Nachwort Anerkennung als Vorbedingung von Integration . . . . 65 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Chronologie der jüngsten Abstimmungen über die Einbürgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

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FĂźr meine Familie in der Schweiz, fĂźr meine Familie in Italien.

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Vorwort Jeder Mensch, der in der Schweiz geboren oder aufgewachsen ist, kennt das. Man ist im Ausland in den Ferien oder auf einer Geschäftsreise und stolpert in irgendeiner Einkaufspassage über ein «Swiss House» oder einen «Swiss Corner» oder so ähnlich. Diese Dinger sehen im Wesentlichen immer gleich aus: Chalet, Käse, Alpen, Schokolade, Heidi und Alphorn. Ich zumindest reagiere meist leicht betreten und etwas unsicher. Natürlich freut man sich ja, wenn die Menschen überall auf der Welt offenbar positive Emotionen mit seinem Heimatland verbinden. Andererseits schwingt immer auch die Gewissheit mit, dass diese Bilder wenig mit dem real existierenden Land zu tun haben, in dem ich aufgewachsen bin. Natürlich gehört diese ganze Inszenierung zu einer völlig legitimen Verkaufsstrategie des Schweizer Tourismus. Sie spiegelt aber, so scheint mir, auch eine fundamentale Identitätskrise unseres Landes wider. Eine Krise, die spätestens in den 1990er-Jahren beginnt. Bis dahin gab es hierzulande bei allen Differenzen eine geteilte Gewissheit: Mit dem Rest der Welt hat die Insel der Glückseligen zwischen Genfer See und Konstanz nichts zu tun. Dann bricht die Wirtschaftskrise und mit ihr die Massenarbeitslosigkeit über das Land herein, das EWRNein 1992 reisst neue Gräben auf, und der undenkbare

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Untergang der Swissair erschüttert das Selbstverständnis einer ganzen Generation. Anstatt das eigene Selbstbild der neuen, europäischen und globalisierten Realität anzupassen, passiert in der Schweiz aber das Gegenteil: Das manchmal hysterisch anmutende Festklammern an Identitätsvorstellungen einer untergegangenen Schweiz, in der alles noch in Ordnung war. Einer Schweiz, wie sie nie war. Dieser Konflikt wird nicht zuletzt immer und immer wieder über die Frage des Bürgerinnen- und Bürgerrechts ausgetragen. Zunehmend, so scheint es, projizieren Politik, Medien und Teile der Bevölkerung die Vorstellung des idealen Schweizers, der idealen Schweizerin, auf die Neuankommenden. Sie sollen noch im Metzger im Dorf einkaufen, wenn wir es schon nicht mehr tun. Sie sollen auf der Alp Ferien machen, wenn wir schon Pauschalreisen buchen. Sie sollen die Vereine aus der Personalnot retten, um zu beweisen, dass sie integriert sind, wenn wir es schon nicht tun. Sie sollen gefälligst alle fünfzehn Regional­dialekte akzentfrei sprechen, wenn wir schon zwischen Romands und Deutschschweizern Englisch sprechen. Die Revision des Bürgerrechts reisst das Paradox weiter auf: Während sich die Gesellschaft immer stärker pluralisiert und die multiplen Zugehörigkeiten längst zur Alltagsrealität geworden sind, wird der rote Pass zum neuen heiligen Gral. Bis vor Kurzem galt die Debatte um das Bürgerrecht für die Linke als verloren. Als Ada Marra

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ihre parlamentarische Initiative für eine erleichterte Einbürgerung der dritten Generation einreichte, hielten das eigentlich alle für einen weitgehend symbolischen Akt. Acht Jahre später sagt das Volk so deutlich Ja zur erleichterten Einbürgerung, dass klar wird: Die Menschen haben die parlamentarische Bubble in Bern längst überholt. Wir lagen alle falsch, Ada nicht. Mit dieser Volksabstimmung beginnt – hoffentlich – ein neuer Zyklus in der Debatte zur Frage, was die Schweiz eigentlich ausmacht. Ada Marra leistet mit der vorliegenden Schrift einen Anstoss dazu. Einen Anstoss dazu, die hysterischen Debatten hinter sich zu lassen und die Institutionen und Gesetze dieses Landes den Realitäten der Menschen, die hier leben, anzupassen. Bleibt nur zu hoffen, dass sie wieder recht behalten wird. Cédric Wermuth, Nationalrat, im Dezember 2018

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Die Identität aus institutioneller Sicht In der Schweiz ist es eine Prüfung, die den Institutionen und der Gesellschaft bescheinigt, dass man Schweizerin oder Schweizer geworden ist. Diese Prüfung ist das Einbürgerungverfahren. Und dieses Verfahren wird durch das Bundesgesetz zum Schweizer Bürgerrecht geregelt. Beim Schweizer Einbürgerungsverfahren gibt es zwei Dimensionen. Einerseits die Dimension der Kriterien, die man erfüllen muss, um ein Einbürgerungsgesuch stellen zu können. Andererseits die der Integrationskriterien, die man erfüllen muss, um eingebürgert zu werden. Kriterien für das Einbürgerungsgesuch Die 2018 in Kraft getretene Verschärfungen des Bürgerrechtsgesetzes betreffen im Besonderen die Zugangsbedingungen zum Einbürgerungsverfahren. Einbürgerungsberechtigt sind danach jene, die – seit zehn Jahren den Wohnsitz in der Schweiz haben3; – über eine Niederlassungsbewilligung (Bewilligung C) zum Zeitpunkt des Gesuchs verfügen4;

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Davor waren es zwölf. Die Bewilligungen B und F berechtigen nicht mehr dazu, ein Einbürgerungsgesuch zu stellen, wie es früher der Fall war. 4

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– in den drei Jahren vor dem Gesuch keine Sozialhilfe bezogen haben5; – einen schriftlichen und mündlichen Sprachtest ablegen 6 . Diese Änderungen haben Implikationen auf das sozioökonomische Profil der Einbürgerungsberechtigten. Zunächst in materieller Hinsicht, denn mittellose Menschen haben kein Anrecht mehr darauf, ein Gesuch zu stellen, werden des Schweizerpasses nicht als würdig erachtet. Ferner in psychologischer Hinsicht: Es ist undenkbar, dass Menschen, die mit ihrer eigenen Muttersprache Mühe haben, ein Gesuch stellen, das sie zu einer mündlichen und schriftlichen Prüfung zwingt. Damit betreiben sie Selbstverzicht. Oder Selbstzensur. Es stimmt, dass das Gesetz eine gesonderte Behandlung von Menschen mit Analphabetismus7 vorsieht. Den Betroffenen nützt dies aber herzlich wenig. Die Kantone entscheiden selbst, ob eine Person von der Sonderregelung profitieren kann, wofür es wiederum einen Test braucht, der für die Betroffenen eine genauso hohe Hürde darstellt. Die psychologische Wirkung ist bei der Gesetzesrevision nicht be-

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Diese verbindliche Einschränkung gab es bisher nicht. Bis jetzt kannten einige Kantone keine schriftlichen Prüfungen. 7 Die Kantone haben grosse Mühe, diese Prüfungen einzuführen. Einerseits ist es aufwendig, andererseits stehen noch viele Fragen offen: was für ein Test? Wer hat die nötige Kompetenz, Analphabetismus zu bescheinigen? Und so weiter und so fort. 6

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rücksichtigt worden und somit verfehlt die Regelung komplett ihr Ziel. Die wichtigsten Fragen, die dieses neue Gesetz aufwirft, sind die folgenden: 1. Muss eine Schweizerin und ein Schweizer notwendigerweise wohlhabend und gut ausgebildet sein? Kann jemand, der mittellos und wenig gebildet ist, keine Schwei­zerin/kein Schweizer sein? Und was ist mit Schweizerinnen und Schweizern, die zwar mit dem Schweizerpass zur Welt gekommen sind, aber auf Sozialhilfe angewiesen sind? Sollte man ihnen den Pass wegnehmen? Die gleiche Frage stellt sich für die etwa 400 000 Schweizer, die von Analphabetismus betroffen sind. 2. Widerspricht es nicht dem Verfassungsprinzip der Gleichbehandlung, wenn man im Hinblick auf die Einbürgerung zwischen den Reichen und Gutaus­ gebildeten und den Armen, Schlechtgebildeten unterscheidet? Nach dem Prinzip einer Zensuseinbürgerung, bei der man die Reichen akzeptiert, die Armen aber nicht. Mit diesem Gesetz hat das Parlament eine Definition davon geschaffen, was es bedeutet, Schweizer zu sein. Ich komme zu der Schlussfolgerung, dass das Parlament nicht ausländerfeindlich ist. Es sind nicht Ausländer, die es verachtet, sondern Arme.

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Die Vorzugsbehandlung der Reichen sieht man auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel bei der Vergabe von Aufenthaltsbewilligungen. So ist zum Beispiel die Vergabe der Bewilligung B an eine Anstellung gebunden. Europäer werden Nicht-Europäern vorgezogen: Wenn Erstere eine Arbeitsstelle gefunden haben, können sie ihre Aufenthaltsbewilligung nach fünf Jahren in eine Niederlassungsbewilligung (Bewilligung C) umwandeln. Diese Bewilligung erlaubt es ihnen, für immer in der Schweiz zu bleiben. Für Nicht-Europäer ist es nicht nur viel schwieriger, eine Arbeitsstelle in der Schweiz zu finden (sie kommen stets als Letztes dran), sie haben auch erst nach zehn Jahren ein Anrecht auf eine Bewilligung C. Es sei denn, sie sind reich, in diesem Fall können sie sich eine Bewilligung B kaufen, auch ohne Arbeit in der Schweiz. Möglich wird dies im Falle des Passus «erhebliche[s] öffent­liche[s] Interesse»: Dieses Kriterium ist erfüllt, wenn ein gut gefülltes Bankkonto vorgezeigt werden kann: Für 50 000 Franken erhält man das begehrte Dokument. Ich wiederhole: In der Schweiz hat man nicht vor dem Ausländer Angst, sondern vor den Armen. Was ist Integration? Ich widme mich nun der zweiten Dimension des Schweizer Bürgerrechtsgesetzes: der Integration. Was ist Integration? Wer entscheidet darüber und vor allem, wie? Diese Fragen sind nicht unbedeutend, denn sie implizieren eine Definition der Schweizer Identität. Wir haben

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gesehen, dass zunächst eine Selektion der Kandidaten anhand ihres Bildungsniveaus und ihrer finanziellen Möglichkeiten erfolgt. Im Folgenden werden wir sehen, dass das, was als Schweizer Identität verstanden wird, einem russischen Roulette gleichkommt.

Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht Art. 11  Materielle Voraussetzungen Die Erteilung der Einbürgerungsbewilligung des Bundes erfordert, dass die Bewerberin oder der Bewerber: a. erfolgreich integriert ist; b. mit den schweizerischen Lebensverhältnissen vertraut ist; und c. keine Gefährdung der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz darstellt. Art. 12 Integrationskriterien Eine erfolgreiche Integration zeigt sich insbesondere: a. im Beachten der öffentlichen Sicherheit und Ordnung; b. in der Respektierung der Werte der Bundesverfassung; c. in der Fähigkeit, sich im Alltag in Wort und Schrift in einer Landessprache zu verständigen; 1

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