Michael Düblin
Die Geschichte nach der Geschichte Roman
Michael Düblin Die Geschichte nach der Geschichte
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Michael Düblin
Die Geschichte nach der Geschichte Roman
Mittwoch, 4. März 2020 Alle Geschichten sind erzählt, dachte Lukas, alle außer der letzten, die außerhalb des Erzählens liegt. Er blätterte lustlos in der Zeitung und trank Kaffee. Die Waffenexporte hatten um 43 Prozent zugenommen, las er, und die Zahl der Ansteckungen mit dem neuen Virus hatte sich um 37 Personen erhöht. Draußen auf den Gassen war es ungewöhnlich ruhig. Wo sonst getrommelt und gepfiffen wurde, herrsche Tristesse, schrieb die Zeitung. Für Lukas war es lediglich ein ruhiger Morgen ohne die Hektik der Fasnachtszeit. Die Nachricht Nicco è morto kam von einer Nummer mit italienischer Vorwahl, die er nicht kannte. Er wählte die Nummer, aber niemand nahm ab. Er speicherte sie als Unbekannt in Italien. Nachdem er die Zeitung geblättert hatte, schickte er eine SMS mit drei Fragezeichen nach Unbekannt in Italien. Ob die Nachricht wohl einen Adressaten fand? Nicco è morto. Wie jeden Morgen warf er einen Blick auf die Zierkirsche vor seinem Fenster. Sie stand in Blüte, so früh wie noch nie. Die Natur spinnt, dachte Lukas. Elena sagte immer, der leichte und spielerische Blütenduft sei kaum wahrnehmbar. Ein spielerischer Duft, was für ein Unsinn. Er sah sich unten auf dem Vorplatz stehen, in den Jahren, als er und der Baum noch jung waren. Aber im Unterschied zu ihm war die Pflanze damals schon groß. Ein hochstämmiger Baum in der Altstadt, was für ein Unfug. Er dachte sich sein Leben im Schatten dieser Äste.
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Weil dieser Gedanke so absurd war wie ein spielerischer Duft, stellte er sich sein Leben als aufgespannten japanischen Blütenfächer vor. Auch dieses Bild überzeugte ihn nicht. Er nahm die Zeitung, rollte sie zusammen und schlug damit nach einer Fliege. Nicco è morto. Er konnte jetzt nichts unternehmen, er musste zur Arbeit. Ein-Franken-Zwanzig für ungenießbaren Kaffee, notierte Lukas am Abend ins Haushaltsbuch. Es lag nicht an der neuen Espressomaschine, dass der Kaffee rasch kalt geworden war. Er hatte ihn auf seinem Büropult stehen lassen, während er Zahlenkolonnen studierte und Anmerkungen dazu verfasste. Nicco è morto. Bis zu den Abendnachrichten kam keine Antwort auf seine drei Fragezeichen. Unbekannt in Italien schwieg. Er schaltete das Smartphone aus. Drei Tage, dachte er, drei Tage lasse ich das Gerät im Wandschrank, dann werden sie Nicco wohl beerdigt haben. Er war Nicco nichts schuldig. Lukas machte sich Tee und ließ ihn kalt werden. Am Fernsehen lief ein Dokumentarfilm über Lurche. Er öffnete eine Flasche Bier, goss sich ein Glas ein und ließ es warm werden. Er schüttete zuerst den Tee, dann das Bier in den Ausguss. Wer würde sich jetzt um das Haus kümmern? Mieteinnahmen = 0, notierte er am Rande des Haushaltsbuchs. Dann starrte er auf den Bildschirm. Der Sensor des Geräts registrierte keine Bewegung mehr und schaltete sich von selber aus. Lukas ging zu Bett.
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Donnerstag, 5. März 2020 Der Kaffee schmeckte ihm auch am nächsten Morgen nicht. Und die Zeitung war nicht aktueller als die Ausgabe von gestern. Firmen streichen reihenweise Veranstaltungen, erklärte die Headline. So war das doch schon vor hundert Jahren, dachte Lukas. Keine Fasnacht, keine Tanzveranstaltungen, geschlossene Kneipen. Die Ereignisse wiederholten sich bloß. Dann fuhr er zur Arbeit. Um 9.15 Uhr, direkt nach der Morgenpause, stürmte Gubser in sein Büro und stellte sich vor seinem Pult auf. «Hast du die Monatszahlen fertig?», fragte er. Seine Augenbrauen fuhren in die Höhe, als Lukas den Kopf schüttelte. «Ich habe dir gestern eine Nachricht geschickt», sagte Gubser. «Mein Handy liegt im Schrank», antwortete Lukas. «Bis Nicco unter der Erde ist», ergänzte er. «Wer zum Teufel ist Nicco?» Aber Lukas wusste, dass es Gubser nicht interessierte, wer Nicco war. Ihn interessierten bloß die konsolidierten Konzernzahlen, die er jeweils bis zum sechsten Tag des Folgemonats bereitzustellen hatte. Heute war der fünfte. «Warum will Howald die Zahlen schon jetzt? Die Buchhaltung hat den Monat noch nicht fertig erfasst.» Aber Gubser interessierte sich auch nicht für die Buchhaltung, diese war sein, Lukas’, Problem. Gubsers Problem war Howald. «Howald braucht die Zahlen für ein Meeting mit dem Vorstand. Besser du lieferst. Du kennst ja Howald.» «Wir schaffen das nicht bis zum Abend, Jaqueline und Renate brauchen mindestens noch diesen Tag, bis sie mit den
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Belegen durch sind. Und anschließend muss ich die Konsolidierung und Bewertungen nachtragen.» Gubser neigte sich vor, sodass sein Kinn knapp über dem Rand des Bildschirms schwebte. Gubser ist ein Gnom, dachte Lukas, aber dieser Gedanke erheiterte ihn heute nicht. «Dann schieb eine Nachtschicht ein», sagte Gubser. Lukas sah Gubsers Kinn mit dunklen Bartstoppeln. Er hatte es wohl eilig gehabt heute Morgen. «Natürlich», antwortete Lukas, «ist ja nicht die erste.» «Und es wird nicht die letzte sein», sagte Gubsers Stoppelkinn. «Du kennst ja Howald.» Lukas kannte Howald nicht. Er kannte nur Gubser, und der brauchte ständig alles vor dem vereinbarten Abgabetermin.
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Freitag, 6. März 2020 In der Nacht dachte Lukas nicht an Nicco. Er hatte nur Zahlen im Kopf. Gubsers Zahlen, Howalds Zahlen. Fünf Franken für ein Stück Pizza bei Giovanni, dem Italiener ums Eck. Alle Italiener heißen Giovanni. Außer Nicco, dachte Lukas beim Morgenkaffee. Er hatte die Tasse mit den braunen aufgedruckten Kleeblättern vor sich, links von ihm die Papierstapel mit den Zahlen fürs Büro, rechts das Haushaltsbuch. EinFranken-Fünfzig für Papier, notierte er. Druckeramortisation nicht berücksichtigt, fügte er hinzu. Dann kritzelte er an den Rand des Heftes: 85 weitere infiziert in CH, 778 in I. Gubser gluckste zufrieden, als Lukas ihm den Stapel aufs Pult legte. «Geht also doch», sagte er und legte eine Hand auf den Papierstoß. Lukas nickte, etwas anderes als Zustimmung wurde von ihm nicht erwartet. Gubser brauchte immer einen Print der Zahlen, und in diesem Fall wäre es Lukas tatsächlich nicht recht gewesen, sie zu vermailen. Es war ja bekannt, dass Mails so leicht wie Postkarten zu lesen waren. Die aktuellen Konzernzahlen waren schwere Kost. «Howald wird stolz auf dich sein», sagte Gubser. «Zuverlässig wie immer, der gute Berger.» Lukas Berger wusste, dass Howald vor allem stolz auf Gubser sein würde. Das war schon immer so gewesen. Während Lukas stets lieferte, machte sich Gubser bei Howald beliebt. «Ein Schwafler», sagte Jaqueline, eine der zwei Buchhalterinnen. «Ein Emporkömmling», ergänzte Renate flüsternd. «Ach, er macht doch nur seine Arbeit», erwiderte Lukas.
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Wann wird Nicco begraben werden? Finden katholische Bestattungen auch am Wochenende statt? Und gilt das auch für Italien? Lukas hatte keine Ahnung von Beerdigungsritualen. Simons Asche war an einem Montag beigesetzt worden, zu Hause in der Schweiz. Er verscheuchte eine Fliege, die um seinen Kopf surrte, dann seine Gedanken. Er gähnte und schaute auf seine Uhr. Die Monatszahlen waren abgeliefert, warum sich nicht nach der durchgearbeiteten Nacht einen freien Nachmittag gönnen? Das hatte er schon Jahre nicht mehr gemacht. Nicht mehr, seit Elena ausgezogen war. Lukas verließ sein Büro und betrat das von Jaqueline und Renate. Er mache einen halben Tag frei, sagte er. Beide sahen ihn mit großen Augen an. Ob er krank sei, fragte Renate. Es gehe ihm gut, er mache bloß einen halben Tag frei. Das habe er noch nie gemacht, seit sie hier sei, meinte Jaqueline, die jüngere der beiden. Lukas ging zurück in sein Büro, um den Regenschirm zu holen. Der Wetterdienst hatte Regen gemeldet. In den Bergen solle es sogar schneien. Eine Kaltfront schiebe sich aufs Wochenende von Norden über das Land und vertreibe den zarten Frühlingsbeginn. Schnee in den Bergen sei nicht ausgeschlossen. Zarter Frühlingsbeginn, so ein Schwachsinn, als wäre die Jahreszeit ein Sonntagsbraten. Die Wetterprognosen rechtfertigten die Ausgaben für die Zeitung, wenn auch nicht die dafür gewählte Formulierung. Wie das Wetter in Italien wohl war? Vor seiner Wohnung klappte er den Schirm zu. Tropfen fielen von den Blättern des Kirschbaums auf sein Gesicht, als er nach
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oben zu den dichten grauen Wolken blickte. Im Wohnzimmer strich er die Zeitung glatt. Ausgehtipps fürs Wochenende: Kino, Theater, Konzerte. Aber was machte man an einem nassen Freitagnachmittag? Er setzte Wasser auf, um keine Entscheidung fällen zu müssen. Tee passt zu einem trüben Tag, dachte er. Wo lag Nicco wohl in diesem Moment? Beim Leichenbestatter, in einem Sarg aus Mahagoni? Aufgebahrt im Haus? Lukas widerstand dem Drang, das Handy aus dem Schrank zu nehmen. Stattdessen holte er die Autoschlüssel aus der Kommode. Er kramte ein paar Kleider zusammen, auch den weinroten Pullover, denn wenn der zarte Frühlingsbeginn so abrupt endete, wie die Zeitung schrieb, wäre dieser angemessen. Wo hatte er die Schlüssel für das Haus nur hingetan? Nicht in die Kommode, wo alle anderen Schlüssel lagen, für die Wohnung, das Büro, den Briefkasten, das Fahrrad und die Tiefgarage beim Rosshof. Nachdem er auch im Küchenschrank nicht fündig wurde, stieg er hinauf auf den Dachboden, wo er die Sachen, die Elena gehörten, verstaut hatte. In der Papiertüte befand sich ein Kamm aus Elfenbein aus Mali, ein besticktes Taschentuch aus dem Engadin, eine blaue Wollmütze vom Weihnachtsmarkt in Colmar, ein dazu passender Schal und eine kleine Holzschatulle aus Casablanca, in der sie früher Ausweise und Visitenkarten im Kreditkartenformat aufbewahrt hatte. Mehr hatte sie nicht zurückgelassen. In der Schatulle fand Lukas, was er suchte. Wieder in seiner Wohnung, holte er das Handy vom oberen Regalbrett. Es wäre nicht vernünftig, den Weg ohne Telefon anzutreten. Sono Mica, la figlia de Nicco, stand auf dem Display, als er das Gerät wieder aktiviert hatte. Lukas wusste, wer Mica war. Er änderte Unbekannt in Italien in Mica in Italien, obwohl er keine andere Mica kannte. Wer hieß schon Mica und lebte
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in Italien. Maria wäre angemessen. Oder Anna. Giovanni und Maria, Francesco und Anna. Er schaltete das Smartphone wieder aus. Lukas fuhr den Camry aus der Tiefgarage. 200 Franken im Monat für die Aufbewahrung von Altmetall, hatte er in sein Haushaltsbuch notiert. Die scharfen Kurven vom fünften Untergeschoss ins Erdgeschoss machten ihm zu schaffen. Der Einschlag dieses Modells war nicht ideal für Kleinwagengaragen in der Innenstadt. Mehrfach touchierte er mit den Pneus die Fahrbahnumrandung. Dann war er mitten im Stadtverkehr. Mein Wagen kennt die Strecke, dachte Lukas, fand diese Idee aber albern, weil das Auto mit Jahrgang 1990 über keine Intelligenz verfügte, auch nicht über künstliche. Er lenkte den Camry aus der Stadt. Wie auf Eiern, dachte er, ich bin kein geübter Autofahrer. Auf der Autobahn beschleunigte er auf 120 Stundenkilometer, es war keine besonders schwierige Strecke, die A3 Richtung Luzern, bei Augst nicht auf der linken Spur bleiben und versehentlich in die A2 einbiegen, sonst landet man in Zürich, und beim Autobahnkreuz Härkingen muss man sich konzentrieren und nicht auf die A1 einspuren, sonst ist man schon wieder Richtung Zürich unterwegs. Hinter dem Belchentunnel veränderte sich die Gegend. Der Jura lag hinter ihm, durch die Frontscheibe und den Nieselregen betrachtete Lukas die blasse Landschaft des Mittellandes. Als grauer Streifen fraß sich die Autobahn durch braunes Ackerland. Wie oft war er wohl schon hier entlanggefahren? Vier bis sechs Mal pro Jahr, fast zwölf Jahre lang. Seit das Haus ihnen gehörte, ein paar Monate bevor Simon geboren wurde. Die
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Baustellen vor Luzern waren bestimmt nicht dieselben, unterschieden sich aber auch nicht wirklich von denen vor zwanzig Jahren. Bald nach Luzern der Gotthardtunnel, kein Stau zum Glück, das Wetter im Süden animierte nicht zu einem Kurzurlaub. Die Leventina hinab durchs Tessin, dann zur Grenze bei Chiasso, der Zollübergang ohne Kontrolle. Bald schon war er am Comer See und umfuhr ihn westwärts, wie früher, nie war er abgebogen, um die Gegend zu erkunden. Nach einer Dreiviertelstunde erreichte er die trostlose Mailandumfahrung, eine weitere Stunde später erinnerte ihn das Hinweisschild Autogrill Arda daran, dass er tanken sollte. Voller Tank, pieno, das wusste er noch. Das machte vierzig Euro. Was das wohl damals gekostet hatte? Er öffnete das Handschuhfach. Eine Packung Tempo fiel ihm entgegen. Eine CD von Eros Ramazotti lag auf den Wagenpapieren. Tutte storie. Darunter fand er das schwarze Heft im Format A5. Er blätterte durch die karierten, zerfledderten Seiten, bis er auf die Stelle traf: Tanken in Arda 62’000 Lire. Ohne Kenntnis über den Stand der Tankfüllung vor Abfahrt half das nicht weiter. Lukas versuchte, sich an die letzte gemeinsame Fahrt mit Elena und Simon zu erinnern, aber statt der Szenerie von damals fluteten Bilder seines letzten Arbeitstags als leitender Buchhalter sein Gedächtnis. Zwei Wochen nach Simons Beerdigung, an einem grauen Tag Anfang November, hatte er das Büro mit einem flauen Gefühl im Magen betreten. Schon zwei Tage zuvor hätte er die Quartalszahlen abliefern müssen, aber noch fehlte Gubsers Konsolidierung. «Die kommt noch, Lukas, nur keine Hektik, mir fehlen noch die letzten Belege. Nach den Herbstferien brauchen die Buchhalterinnen eine Anlaufzeit, bis sie auf Touren kommen.»
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Dabei wusste Lukas genau, dass die Buchhaltung längst fertig war. Lukas schaute bei Renate rein, er musste gar nicht erst fragen, sie schüttelte nur den Kopf. Die Buchhaltung hatte die Zahlen wie erwartet abgeliefert. Als er seinen Rechner hochfuhr, sah er zuerst die Mail von Howald, dem neuen CEO, den er noch nie zu Gesicht bekommen hatte: «Sie sind seit dem Vorfall nicht mehr bei der Sache, irgendwie zerstreut, nehmen Sie sich eine Auszeit.» Vorfall, so nannten sie es. Simons Tod, ein Vorfall. «Ich brauche keine Auszeit», schrieb er Howald zurück. Auszeit, was für ein Unsinn, als ob sich die Arbeit von selber erledigen würde. «Das war keine Frage», antwortete Howald, «Sie sind mit sofortiger Wirkung freigestellt.» Geht das?, dachte Lukas, eine Freistellung per E-Mail? Muss da nicht auch die HR-Abteilung involviert werden? Lukas wollte ihm antworten: «Ich will nicht zuhause sein», aber das würde Howald erstens nicht interessieren und zweitens wohl weitere Fragen aufwerfen. Also packte er eine Kartonkiste mit den persönlichen Gegenständen, ein Bild von Elena, eines von Elena mit Simon im Arm, das er in der Schublade eingeschlossen hatte, eine Tube Zahnpasta und eine abgenutzte Zahnbürste, zwei Fünfliber für den Fall, sollte er sein Portemonnaie einmal vergessen, ein Unterhemd, sollte die Heizung streiken, ein graues Jackett, sollte er vor dem Vorstand erscheinen müssen, eine dunkelrote Krawatte mit schwarzen Punkten für ebendiesen Zweck. Fünfzehn Jahre in einer Kiste mit dem Format 24 cm x 54 cm x 39 cm. Er verabschiedete sich von Renate, die ihn mit offenem Mund ansah, aber gleich zu einem Redeschwall ansetzen wür-
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de, also verließ er schnell und ohne weiteren Kommentar das Gebäude. Die ersten Wochen seiner Freistellung waren … – Lukas versuchte, sich die Zeit wieder vor Augen zu führen – … irgendwie schwierig gewesen. Schwierig war das richtige Wort. Nicht wirklich unangenehm, etwas langweilig vielleicht, aber dann doch schwierig. Unter keinen Umständen hätte er Elena erzählt, dass er nicht mehr zur Arbeit ging, nicht jetzt, wo sie tagein tagaus in der Wohnung herumwuselte und nach staubigen Stellen suchte, um sie mit einem feuchten Lappen zu entfernen. Dabei, und davon war Lukas überzeugt, suchte sie nach Spuren von Simon. Tote hinterlassen keine neuen Spuren, nicht wenn die alten zwanghaft weggewischt werden. Also ging Lukas ins Café und las Zeitung. Den Tagesanzeiger, die NZZ und sogar die BaZ und die BZ. Um zwölf ging er für die erste Vorstellung ins Kino. Nach zwei Wochen hatte er das Kinoprogramm beinahe durch. Also besuchte er Museen. Das Kunstmuseum, das Naturhistorische und das Historische in der Barfüsserkirche, das Jüdische, das Anatomische als Anregung vor einem Thriller im Kino, das Feuerwehrmuseum, Antiken, Pharmazie, Papiermühle, Cartoon, Hosenknopf, Tinguely, Beyeler, verbunden mit einer Tramfahrt nach Riehen und Mittagessen im Berower Park, das Puppenhausmuseum, das nicht uninteressant war, obwohl ihn Puppen wie alles Spielerische kalt ließen. In weiser Voraussicht hatte er sich einen Museumspass besorgt, ein Kinoabo gelöst und eines bei der GGG-Stadtbibliothek, wo er Bücher über die Theorie des Projektmanagements lesen konnte, wenn er gar nicht mehr wusste wohin. Wenn es das Wetter zuließ, fuhr er mit dem Fahrrad zur Schleuseninsel und las die ausgeliehenen Bücher auf einer Parkbank, einfach weil es Ab-
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wechslung bedeutete und ihn von Elena fernhielt, die entweder von Simon oder dem Schmutz in der gemeinsamen Wohnung sprach. Über beides wollte er nicht sprechen. Über Simon nicht einmal nachdenken. Er wollte nur seiner Arbeit nachgehen, das durfte er aber nicht mehr. Weil er es nicht geschafft hatte, Gubser die Quartalszahlen zu entlocken. Er hätte etwas bestimmter sein sollen. Hätte Elena gesagt, hätte er es ihr erzählt. Hätte Renate gesagt, hätte er sich gebührend von ihr verabschiedet oder zumindest eine ihrer Mails beantwortet. Das ging bis kurz vor Weihnachten so. Dann meldete sich Gubser. Nicht Howald, wie er erwartet hätte. Er habe gute Neuigkeiten, sagte Gubser. Lukas saß auf einer klammen Parkbank am Petersplatz, wo sich bis vor Kurzem noch die Stände des Häfelimärtes befunden hatten, die jetzt auf dem Barfüsserplatz für den Weihnachtsmarkt benötigt wurden. «Du kannst am 2.1. wieder anfangen», gluckste Gubser vergnügt. «Natürlich hat es in dieser Zeit gewisse Veränderungen gegeben», sagte er nun mit einem tieferen und bemüht ernsteren Tonfall. Als er nicht mehr weiterredete, fragte Lukas: «Was meinst du mit Veränderungen?» «Wir haben uns das gut überlegt», meinte Gubser, «wir sollten nach diesem Vorfall nicht einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen.» «Der Vorfall, ja, klar», antwortete er. Gubser schien sichtlich erleichtert, dass ihm Lukas Hand bot, und redete mit hellerer Stimme weiter. «Wir denken, es ist besser, wenn du vorerst die Leitung der Buchhaltung abgibst, damit nicht die ganze Last der Verantwortung bei dir liegt.»
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Aha, die Last der Verantwortung. Lukas stellte sich vor, wer dieses wir waren, Howald und Gubser und Renate? Nein, nicht Renate, die war ihm gegenüber loyal. «Das hat auch Vorteile», sagte Gubser, als Lukas nicht antwortete, «du hast dann mehr Zeit und kannst neben der Beurteilung auch gleich die Konsolidierung der Zahlen übernehmen.» Lukas hatte sich geräuspert, aber bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, fuhr Gubser fort: «Einen kleinen Nachteil hat die Sache allerdings. Wenn du keine Leitungsfunktion mehr ausübst, wird sich dein Gehalt entsprechend reduzieren.» Lukas musste scharf bremsen, das Auto vor ihm war ins Schlingern geraten. Er hatte gar nicht bemerkt, dass es zu regnen begonnen hatte. Seit er Parma passiert hatte, hingen tiefschwarze Wolken über dem vor ihm aufragenden Gebirgszug des Apennins. Im Rückspiegel war das Land flach. Er hatte bei seinem Blick auf die hinter ihm liegende Poebene nicht auf die Straße geachtet. Das war knapp. Der Scheibenwischer quietschte und verschmierte Schlieren von Dreck auf der Frontscheibe. Lukas atmete tief durch. Die Kurven waren scharf und er drosselte die Geschwindigkeit. Er hatte diese engen Radien nie gemocht, diesen Versuch einer Autobahn über den Pass. Zum Glück schneite es nicht. Als er die Cisa-Passhöhe erreicht hatte, führte die Straße weniger kurvenreich abwärts in Richtung La Spezia und der tyrrhenischen Küste. Er nahm die Ausfahrt bei Pontremoli, überquerte den Fluss Magra über die hohe Brücke vor der Stadt und bog in Richtung Aulla auf die Staatsstraße, die parallel zur Autobahn das Val di Magra hinunter zum Meer
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führte. Vor der Bahnstation bei Scorcetoli überquerte er die maroden Bahngeleise in die Via Cantiere, an der das Haus lag. Er warf einen Blick auf die Bar gegenüber dem Bahnhofgebäude. Kein Mensch war zu sehen. Es dunkelte schon ein, als er den Camry langsam zwischen zwei Bäumen der dichten Platanenallee vor das Haus steuerte. Als er den Motor abgeschaltet hatte und durch die Frontscheibe zum Haus emporsah, bemerkte er, dass sich der Fadenvorhang im ersten Stock des Nachbargebäudes bewegte, und als er ausstieg, um das Garagentor aufzuschließen, hörte er ein Fenster zuschlagen. Wie früher, dachte er. Er glaubte schon, Nicco zu erkennen, der aus dem Haus gegenüber aus der Tür trat, um ihn dann überschwänglich zu begrüßen, wie er es immer getan hatte, wenn die Familie in ihrem Feriendomizil eintraf. Aber Nicco war tot. Und aus dem Haus gegenüber trat niemand, es war nur ein Schatten, der von der Straßenlaterne auf die Fassade fiel. Er machte Licht in der Garage und im ersten Moment erschrak er. Der Raum war vollgestopft mit Ästen und Baumstämmen, es sah aus wie Treibgut aus der Magra. Hier hatte der Camry keinen Platz. Früher hatte dieser Raum nicht nur als Garage, sondern auch als Spielzimmer für Simon gedient, wenn es draußen regnete oder die Hitze im Haus nicht zu ertragen war. Lukas hatte einen Pingpong-Tisch gekauft, mit dem sie Turniere veranstaltet hatten, um sich die Zeit während eines der unzähligen Gewitter zu vertreiben. Es roch nach Gas und vergorenem Obst. Lukas bahnte sich seinen Weg durch die Holzbeigen bis in den hinter der Garage liegenden Kellerraum, der früher als
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Vorratskammer und Veloabstellplatz gedient hatte. Jetzt waren hier große Standflaschen in selbstgezimmerten Holzverschlägen untergebracht, gefüllt mit Wein oder Most, so genau konnte er das durch das dunkelgrüne Glas nicht erkennen. Auch dieser Raum war vollgestopft mit allerlei Geräten, einem mannshohen verrosteten Häcksler, verschiedenen Schaufeln, Spaten, Rechen, einem Handbeil und einer Spitzhacke. Wie mochte es im Haus aussehen, wenn hier ein solches Durcheinander herrschte? Hinter einer Holzbeige erkannte er die himmelblaue Vespa, mit der Elena und er durch Italien gereist waren, bevor sie dieses Haus für sich entdeckt hatten. Der Roller glänzte, als wäre er erst kürzlich frisch poliert worden. Lukas widerstand dem Drang, gleich nach oben zu gehen, sondern schloss die Tür zum Heizungsraum auf, um den Ölstand zu kontrollieren. Der Zeiger befand sich im roten Bereich, er würde dringend eine Lieferung organisieren müssen. Aber wozu? Das Haus wurde nicht mehr bewohnt. Und er würde die nächsten Tage schon nicht erfrieren. Als Lukas dann doch die gewundene Steintreppe ins Obergeschoss hochstieg, war ihm flau im Magen. Zwanzig Jahre hatte er das Haus nicht mehr betreten, und währenddessen war es Niccos Haus gewesen. In den ersten Monaten hatte er ihnen noch mitgeteilt, wenn er kleine Reparaturen vorgenommen hatte, wenn er die Fugen der Schiebetür vor der Dusche schmierte, weil sie quietschte, den Fensterladen fixierte, weil er klapperte, Hartkäse unter die Wurzeln grub, weil der Buchsbaumzünsler zugeschlagen hatte. Aber es hatte weder ihn noch Elena interessiert. Lukas hatte das Haus verkaufen wollen, so rasch als möglich, er konnte sich nicht vorstellen, diesen Ort jemals wieder unbeschwert zu betreten, geschweige denn, sich für längere
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Zeit in der Umgebung aufzuhalten; weder an den von Brennnesseln gesäumten steinigen Uferwegen entlang der Magra zu spazieren, noch auf den kargen Schafweiden von Logarghena, weder in den Wäldern bei Zeri nach Steinpilzen zu suchen, noch in Gesellschaft von Wildschweinen in den Hainen von Rocca Sigillina Kastanien zu sammeln. Kurz nach Simons Beerdigung hatte er den Makler angeheuert, mit dem sie schon den Kauf des Hauses abgewickelt hatten, aber wenige Tage später machte dieser einen Rückzieher: «Die Wirtschaft, Sie verstehen, in dieser Gegend kauft niemand mehr ein Haus, Sie müssen den Preis senken.» Aber Lukas wollte kein Verlustgeschäft. Einen Monat nach der Trauerfeier hatte sich ihr Nachbar Gianfranco für das Grundstück interessiert. Für seinen Sohn und dessen Familie, schrieb er in einem Brief, er würde das Haus abreißen lassen und eine neue, der Zeit entsprechend ausgestattete Liegenschaft auf dem Anwesen, das an das ihre grenzte, erstellen. Ohne den Agenti immobiliari, schrieb er, wir teilen uns die Provision. «Das geht nicht», hatte Elena gesagt, als er ihr den Brief zeigte, «ich bin noch nicht bereit dafür. Ich muss vorher Abschied nehmen können.» «Abschied vom Haus oder von Simon?», fragte Lukas. Aber sie zuckte nur mit den Schultern. Elena war auch in den kommenden Tagen nicht dazu zu bewegen, das Haus zu verkaufen. «Gianfranco wird sein Angebot nicht auf ewig aufrechterhalten», argumentierte er. «Ich rede mit Gianfranco», war Elenas Kommentar. Und das tat sie auch, mit dem Ergebnis, dass nach ihrem Telefonat weder Gianfranco noch sonst jemand aus dem Dorf oder der Umgebung die Liegenschaft erwerben wollte.
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Lukas nahm es zwar wunder, was Elena ihm erzählt hatte, ihm fehlte aber die Energie, sie danach zu fragen. Zwei Monate später meldete sich Nicco bei Lukas. «Ich muss aus meiner Wohnung ausziehen», sagte er in gebrochenem Deutsch, «der Vermieter will sie für seine Mutter umbauen. Ich werde wegziehen müssen und mich nicht mehr um das Haus kümmern können.» Die Verbindung war schlecht, und Lukas brauchte einen Moment, um das Gesagte zu verstehen. Doch nach ein paar Sekunden, in denen nur ein Rauschen zu hören war, kam ihm der rettende Gedanke: «Und wenn du in unser Haus ziehst?» «Das kann ich mir nicht leisten», antwortete Nicco. «Ich überlasse es dir – umsonst», sagte Lukas, und traf damit eine Entscheidung, die nicht mit Elena besprochen war. «Du kümmerst dich um den Unterhalt. Die Kosten dafür gehen zu deinen Lasten. Dafür zahlst du keine Miete.» Nicco schwieg am anderen Ende der Leitung. «Und Elena?», fragte er schließlich. «Elena wird sich freuen!», rief Lukas in den Hörer. «D’accordo!» Und damit war der Deal perfekt. Eine Win-Win-Situation wie aus dem Lehrbuch. Aber Elena freute sich nicht. «Nicht Nicco!», hatte sie ihn beim Abendessen angeschrien. «Ohne diesen unzuverlässigen Taglöhner würde Simon noch leben! Wäre er im Haus geblieben, wäre das nie passiert.» Als Lukas im Treppenhaus die Türklinke drückte, war er erstaunt, dass diese sich problemlos öffnen ließ. Er hatte sich schon darauf eingestellt, wieder zurück zum Garagentor und
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dann über die Gartentreppe zum Haupteingang gehen zu müssen. Lukas atmete tief ein. Er trat in den schmalen Flur im hinteren Teil des Hauses. Von hier führte die Treppe weiter ins Obergeschoss, und ging man weiter, gelangte man ins Schlafund Badezimmer. Ein Durchgang führte ins Wohnzimmer und in die Küche. Er schnüffelte wie ein Hund. Was erwartete er? Den Duft der Vergangenheit? In seinem Gedächtnis hatte die Atmosphäre des Hauses in dieser Jahreszeit ein ganz bestimmtes Aroma, eine Mischung aus gegerbtem Leder und zerriebenen Kastanien. Im Frühjahr, wenn die Tage länger und die Sonne intensiver wurde, roch es süßlich nach Zitronenblüten, im Sommer lag ein Hauch von bitterer Schafgarbe in der Luft. Aber jetzt roch er nur erkaltete Asche. Vorsichtig, als sei er ein Einbrecher, machte er einen Schritt ins Wohnzimmer. Nicco war tot, aber hatte noch sonst irgendwer die Schlüssel? «Hallo, ist da jemand?», sagte er. Keine Antwort, kein Geräusch. Er trat ins Wohnzimmer. Im Halbdunkel der Dämmerung konnte er nichts erkennen, aber als er das Licht einschaltete, blieb ihm einen Moment die Luft weg. Alles war genau so, wie sie es vor zwanzig Jahren verlassen hatten. Dieselben drei mit dunkelgelbem Stoff bezogenen Sessel standen im Halbkreis um den Kamin, dasselbe Büchergestell aus Teakholz an der Wand dahinter, der Sekretär, in dem sie die Unterlagen zum Haus aufbewahrt hatten, Kaufbelege, Steuerbescheide. Vorsichtig öffnete er die oberste Schublade.
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Alles war noch da. Zuoberst lag ein Einkaufszettel für Besorgungen im Dorfladen neben der Bar. Lukas rang um Atem, als er die Schreibklappe nach unten zog. Simon blickte ihm von einem Bild entgegen, das auf dem Einschub in der Mitte des Möbels stand. Elena hatte das Foto einen Tag vor dem Unfall gerahmt. Es war auf einem Spaziergang zwischen den Fischerdörfern Riomaggiore und Manarola entstanden. Sie standen nahe einer Klippe, unter sich das Meer. Simon, der lacht und mit der Hand in Richtung einer fleischigen Agave zeigt. Simon, dessen Haar, vom Küstenwind zerzaust, in alle Richtungen zeigt. Simon, der das Leben noch vor sich hat. Simon, der keinen Gedanken an die Zukunft verschwendet. Lukas drehte sich weg. Er hatte sich die letzten Jahre geweigert, sich Bilder aus glücklicheren Tagen anzusehen. Jetzt war es, als hätte ihm jemand mit voller Wucht in den Magen geboxt. Es wurde ihm schlecht, er krümmte sich und musste sich übergeben.
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Foto: Jen Ries
Michael Düblin Geb. 1964 in Basel, wuchs in Oberwil im Kanton BaselLandschaft auf. 1982 gründete er die Zeitschrift «ON THE ROAD» sowie den gleichnamigen Verlag. 1984 erhielt er den Vera-Piller-Lyrikpreis der Schweizer Literaturzeitschrift «Orte». 1985 war er selbständiger Redaktor des Literaturzirkels der Zeitschrift «B wie Basel». 1995 absolvierte er die Technikerschule für Informatik und ist seither als Informatiker tätig. «Die Geschichte nach der Geschichte» ist nach «Analog» sein zweiter Roman im Zytglogge Verlag.
Simon, der lacht und mit der Hand in Richtung einer fleischigen Agave zeigt.
Michael Düblin
«Lukas rang um Atem, als er die Schreibklappe nach unten zog. Simon blickte ihm von einem Bild entgegen, das auf dem Einschub in der Mitte des Möbels stand. Elena hatte das Foto einen Tag vor dem Unfall gerahmt.
Simon, der das Leben noch vor sich hat.»
Zwanzig Jahre nach dem Tod seines Sohnes besucht Lukas erstmals wieder den Ort, an dem der Elfjährige damals verunglückt ist. Seine Ehe ist unter der Last der Trauer zerbrochen, beruflich ist er auf dem Abstellgleis gelandet. Er wird mit Erinnerungen konfrontiert, mit denen er längst abgeschlossen zu haben glaubte und die ihn die Vergangenheit von Neuem erleben lassen. Der Roman erzählt die Geschichte eines unverhofften Neuanfangs, dem schmerzhafte Erkenntnis und späte Selbstwahrnehmung vorangehen. Ein leiser Text, der große Regung veranschaulicht.
Die Geschichte nach der Geschichte
Simon, dessen Haar, vom Küstenwind zerzaust, in alle Richtungen zeigt.
Michael Düblin
Die Geschichte nach der Geschichte Roman