25 minute read
1. Theater braucht Konflikte
from Dominique Högger, Murielle Jenni, Andreas Hausheer, Regina Wurster: ‹Konflikte eine Bühne geben›
by Zytglogge
1. Kapitel
Auf der Bühne sind Konflikte und ihre Entwicklung bis hin zu Eskalation unbedingt notwendig, damit sich überhaupt bedeutungsvolle Geschichten entfalten. Im Schulalltag aber sind die Spannungen, die von Konflikten ausgehen, schwierig auszuhalten. Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler sind in der Regel entsprechend zurückhaltend, Konflikte auf der Bühne zu entwickeln, zu verschärfen und eskalieren zu lassen. Sie brauchen dafür meist etwas Übung. Diese zielt auf die Suche nach ästhetisch überzeugenden Möglichkeiten, ein konfliktreiches Geschehen darzustellen, die Vielschichtigkeit der Welt zu verhandeln und die Sehgewohnheiten des Alltags zu erweitern. Schülerinnen und Schüler machen dabei Erfahrungen in neuen Rollen, sie lernen Selbst- und Sozialkompetenz und entwickeln Körperwahrnehmung, -steuerung und -ausdruck.
Advertisement
Theater zeigt Ausschnitte aus unserem Leben, aus zwischenmenschlichen Welten. Im besseren Fall stellt Theater diese Welten nicht nur dar, sondern behandelt, ja verhandelt sie. «Verhandeln» deshalb, weil unsere Welt komplex und mehrdeutig ist, unsicher und vergänglich. Es gibt nicht nur eine Sicht auf die Dinge, nicht nur eine mögliche Entwicklung, und für viele Situationen auch keine allseitig befriedigenden Lösungen. «Verhandeln» heisst, dass unterschiedliche Perspektiven und Kräfte, ihre Widersprüche, ihre Reibung, letztendlich Konflikte gezeigt werden. Oder anders gesagt, eine Anhäufung und Variation ineinander verwobener, sich bedingender, sich aufschaukelnder oder sich ablösender Spannungen und Auseinandersetzungen.
Konflikte sind damit das Gerüst jeder Dramatik. Sie sind ein szenisches Mittel, um Spannung zwischen den Figuren und damit auch Spannung im Sinne von Unterhaltungswert zu erzeugen, und sie sind gleichzeitig inhaltlich bedeutungsvoll, um die Welt auf der Bühne und/oder zwischen Bühne und Publikum zu verhandeln.
Äussere und innere Konflikte, Konflikte mit dem Publikum
Es gibt verschiedene Arten von Konflikten. Erstens die äusseren, zwischen widerstreitenden Figuren oder Parteien. Am banalsten entfalten sie sich zwischen Gut und Böse, differenzierter und komplexer zwischen gegenläufigen Perspektiven, Erfahrungswelten, Einstellungen, Interessenlagen, Wertepositionen, Bedürfnissen, Ansprüchen, Realitätsverständnissen, gesellschaftlichen Kräften oder Weltanschauungen. Aus der Erfahrungswelt von Schülerinnen und Schülern stammen zum Beispiel Reibungen zwischen Mädchen und Knaben, Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern oder der Aussenseiter in Spannung zum Rest der Klasse. Auch wenn hier vordergründig «nur» aktuelle Ausschnitte aus der Welt der beteiligten Schülerinnen und Schüler gezeigt werden: Hintergründig werden die Themen der grossen Welt verhandelt, etwa der Gender oder Generationenkonflikt, Fragen von Macht und Ohnmacht etc.
Konflikte
sind das Gerüst jeder Dramatik.
Zum Beispiel: Genderkonflikt im Mikrokosmos einer Schulklasse
Kapitel 8 beschreibt die Theaterproduktion, die die Primarlehrerin Monika Wildi gemeinsam mit ihrer 6. Klasse realisiert hat. Die Eingangsszenen machen mit verschiedenen Episoden deutlich, dass sich die Gruppenzugehörigkeit in dieser Klasse – wie gesellschaftlich weit verbreitet – entlang der Grenze zwischen Mädchen und Knaben ergibt und dazwischen latente Spannungen auftreten. Dieser Grundkonflikt erfährt eine Zuspitzung, als die Klasse ins Klassenlager fährt, das Zusammensein noch enger wird und weitere konfliktreiche Episoden folgen. Eine weitere Zuspitzung mit noch mehr Nähe ist eine gemeinsame Gletscherwanderung. Nur durch die Struktur, die der Bergführer und die Lehrerin vorgeben, bleiben die Spannungen in dieser Situation unter der Oberfläche. Durch den tragischen Sturz zuerst der Lehrerin, dann auch des Bergführers in eine Gletscherspalte ist die Klasse plötzlich auf sich alleine gestellt. Die Notlage macht Mädchen wie Knaben deutlich, dass sie ihren Grundkonflikt überwinden und sich zusammenraufen müssen, um die Situation zu bewältigen. Diese Erfahrung verändert zum Ende des Stückes die latenten Spannungen grundlegend.
Zweitens gibt es die inneren Konflikte. Auch bei ihnen stehen unterschiedliche Bedürfnisse und Werte in Konkurrenz zueinander. Diese werden aber von einer einzigen Person verkörpert. Aus der offensichtlichen Entscheidungsschwierigkeit entstehen Spannungen sowie Such und Entwicklungsprozesse. Auch hierfür bietet das Jugendalter reichlich Stoff: Für welchen der beiden Jungen, die beide ihre Liebe offenbart haben, wird sich das Mädchen entscheiden? Will es ein anstössiges Filmchen weiterleiten, weil es damit in der Peergruppe Anerkennung, Bewunderung und Freundschaften gewinnen kann? Will es das gefundene Portemonnaie plündern oder besser aufs Fundbüro bringen? Die Figuren verhalten sich durch innere Konflikte manchmal ganz anders, als es das Publikum zunächst erwarten würde. Sie werden vielschichtiger, tiefgründiger, menschlicher, nicht selten auch sympathischer oder bemitleidenswerter.
Drittens inszeniert Theater Konflikte, die ins Publikum getragen werden – beginnend damit, dass die Zuschauenden durch das Geschehen auf der Bühne berührt und betroffen sind, Gefühle erleben und entwickeln. Sie leiden und fiebern mit den Suchenden mit. Sie hoffen und bangen, dass die begonnenen Entwicklungen ihre Identifikationsfigur zur Entfaltung und die Schurken zur Läuterung oder zur gerechten Strafe bringen. Sind Gut und Böse nicht eindeutig bestimmbar, entsteht daraus eine Spannung, weil das Publikum Sympathien und Antipathien zu denselben Figuren gleichzeitig erlebt. Es spürt selbst die Ambivalenzen der widerstreitenden Positionen und Entscheidungsoptionen. Manchmal fühlt es sich auch zum Widerspruch provoziert oder dazu herausgefordert, Position zu beziehen.
Sind äussere und innere Konflikte auf der Bühne überzeugend gespielt, wird der Konflikt in der Regel auch ins Publikum getragen, was überhaupt die Qualität des Bühnengeschehens ausmacht. Eine Spannung zwischen Bühnengeschehen und Publikum ist aber nicht zwingend darauf angewiesen, dass Konflikte zur Aufführung kommen. Auch ungewohnte, überraschende oder provozierende Themen und Darstellungsformen vermögen es, den Widerspruch des Publikums zu wecken. Performative Theaterformen erheben dies gezielt zu ihrem Anspruch.
Performatives Theater
Performative Theaterformen erzählen keine durchgehende Geschichte, sondern inszenieren mehr oder weniger zusammenhängende, mehr oder weniger alltägliche bzw. ungewohnte Handlungen mit dem Ziel, das Publikum zum Widerspruch, zur eigenen Positionierung oder zum Hinterfragen eigener Handlungsroutinen und Werte zu veranlassen.
Ein weiteres Merkmal des performativen Theaters ist, dass die Künstlerinnen und Künstler keine Figuren verkörpern, keine Rolle spielen (to act). Sie sind eher sie selbst und/oder spielen nach bestimmten Regeln (to play). Sie stellen sich damit einer bestimmten Aufgabe oder inszenieren eine Handlung, die mithin vollständig ihrem eigenen Leben entstammt.
Schulische Theaterproduktionen, die den Alltag der Schülerinnen und Schüler aufgreifen, haben damit mehr oder weniger immer performative Anteile. Dies auch deshalb, weil die Schülerinnen und Schüler von ihrem schauspielerischen Können her in der Regel kaum in der Lage sind, sich umfassend in völlig fremde Rollen hineinzugeben. Laien füllen Theaterrollen immer (auch) mit ihrem Leben und ihren Erfahrungen, also performativ. Theater mit Schülerinnen und Schülern hat gar nicht die Absicht, dies zu überwinden und aus ihnen Profis zu machen.
Konflikte entwickeln und verschärfen
Spannend und faszinierend ist es nicht primär, wenn Konflikte sich auflösen, sondern wie sich die Figuren innerhalb eines Konfliktes verhalten und verändern. Sie verlieren ihre vordergründige Coolness oder aktivieren ungeahnte Energien. Sie geraten in Widersprüche mit eigenen Idealen oder lieb gewonnenen Haltungen. Sie müssen erfinderisch werden oder über ihren Schatten springen. Sie müssen eine Entwicklung durchmachen, um Lösungen und ein neues Gleichgewicht zu finden. Derweil zögert sich die Konfliktlösung hinaus, neue Konflikte können auftauchen und Spannungen sich verschärfen. Nur die schnelle Entspannung ist nicht das, was das Publikum sehen will.
Der Konflikt auf dem Gletscher hält an
Die erwähnte Theaterproduktion von Monika Wildi zeigt insgesamt eine laufende Steigerung des Grundkonflikts zwischen Mädchen und Knaben bis hin zum Höhepunkt und zu einer Lösung. Allerdings lassen sich durchaus weitere Elemente erfinden, die die Konfliktsituation noch grösser und weitläufiger machen würden, wie zum Beispiel: Will der Bergführer etwa die Mädchen und Knaben in seiner Klassen-Seilschaft abwechslungsweise einreihen, stösst dies bei allen auf spürbaren Widerwillen. Daraus entsteht eine zusätzliche Spannung zwischen Jugendlichen und Bergführer, der wiederum ungehalten reagiert, auf seine Autorität pocht und auch Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Jugendlichen vermissen lässt. Oder wenn er deutlich macht, dass er den Mädchen die Gletscherwanderung gar nicht zutraut, was nicht nur die Spannung zwischen Bergführer und Mädchen, sondern auch zwischen ihm und dem Publikum vergrössert. Dieses sieht die zunächst ausschliesslich positiv besetzte Figur des Bergführers plötzlich ambivalent oder beginnt sie gar zu verabscheuen, während es sich mit den Mädchen solidarisiert. Die heimlich gezeigte Freude der Knaben über die Herabsetzung der Mädchen lässt den Grundkonflikt nochmals aufblitzen.
Die Lehrerin ihrerseits versucht, die Mädchen in Schutz zu nehmen, was zusätzlich zwischen ihr und dem Bergführer zu Spannungen führt. Die Knaben ärgern sich über die Parteinahme der Lehrerin, was diese zu ungehaltenen Worten gegenüber den Knaben verleitet. Der Bergführer ärgert sich derweil darüber, dass die Lehrerin ihre Klasse nicht im Griff habe. Kurz: Was als latenter Konflikt zwischen Mädchen und Knaben begonnen hat, entwickelt sich zu einer Vielfalt an Spannungen zwischen vier verschiedenen Polen. Der hintergründig verhandelte Genderkonflikt als Grundthema der Geschichte erhält zusätzliche Dimensionen.
Schliesslich führt das autoritäre Wort des Bergführers dazu, die Spannungen vorerst unter dem Deckel zu halten und die Gletscherwanderung endlich zu beginnen, auch wenn alle nur noch missmutig sind und dies deutlich zur Schau tragen. Dass die Wanderung unter diesen Umständen unter einem denkbar schlechten Stern steht, ist für das Publikum sonnenklar, und es fragt sich: An welcher Stelle wird der Konflikt als Nächstes zutage treten? Wie werden sich diese Spannungen rächen? Denn dass sie sich irgendwie rächen werden, scheint nichts als offensichtlich – es ist bloss die Fortsetzung des bisherigen Spannungsaufbaus auf einer neuen Eskalationsstufe.
Der Doppelsturz in die Gletscherspalte ist die erwartete Eskalation. Dadurch, dass der Bergführer bisher nicht primär als integre und sympathische Figur erlebt worden ist, ist sein Sturz nicht nur in die Spalte, sondern auch als Figur umso tiefer. Selbst an dieser Stelle liesse sich der Konflikt – dank der vorher aufgebauten Spannung – noch einmal vergrössern, etwa wenn die Mädchen zunächst ihre Rachegefühle befriedigt sehen und finden würden, der Bergführer sei für sein Machogehabe bestraft worden. Ein bisschen dürfte sich wohl auch das Publikum über den bestraften Hochmut des Bergführers freuen, gleichzeitig aber in Konflikt mit der radikalen und letztendlich unmenschlichen Haltung der Mädchen kommen. Die Knaben ihrerseits, noch besetzt vom Groll gegenüber der Lehrerin, freuen sich derweil über deren Schicksal.
Allmählich dämmert es einigen, dass sie sich durch den Unfall auch selbst in einer misslichen Lage befinden und durchaus keinen Grund zur Freude haben, was zu gegenseitigen Zurechtweisungen und Beschuldigungen führt, die Konfliktsituation also fortsetzt, gleichzeitig aber die bisher starren Fronten zwischen Mädchen und Knaben zu verschieben beginnt. Nun steht eine Fraktion der Vernünftigen den Rachedurstigen gegenüber. Gleichzeitig schwelt ein zweiter Konflikt weiter, nämlich der, dass Hilfe für die Verunfallten zwar notwendig wäre, aber auf sich warten lässt, weil die Jugendlichen noch mit sich selbst beschäftigt sind. Das Publikum wird also nach wie vor in Atem gehalten und muss weiter auf eine Lösung warten. Der Sturz als Höhepunkt der Geschichte würde auf diese Weise zunächst dramatisch ausgekostet, bevor er dann zur Umkehr und Lösung führen würde.
Den üblichen Alltag überbieten
Ein Teil der schulischen Theaterproduktionen stützt sich auf fertige Drehbücher. Damit kommen auch die dargestellten Konflikte, deren Entwicklung und Eskalation aus der Schublade und müssen «nur» noch umgesetzt werden. Anders sieht es aus, wenn Schulklassen ein Stück selbst entwickeln. Wie Konflikte hier zu einem vielschichtigen Geschehen und zur «Verhandlung von Welt» entfaltet werden, ist meist eine beträchtliche Herausforderung.
Die langjährige Erfahrung in der Begleitung von schulischen Theaterprojekten zeigt: Bei vielen selbstentwickelten Theaterproduktionen von Schulklassen werden Konflikte nicht wirklich sichtbar, im Gegenteil: Sie werden richtiggehend gescheut. Regieführende Lehrpersonen scheinen Konflikte nur schwer aushalten zu können – sie verfolgen eher Konfliktvermeidungsstrategien. Das zeigt sich etwa darin, dass beginnende Konflikte in keine mögliche Richtung verschärft werden. Sie tauchen zwar auf, aber sie werden häufig nicht weiter entfaltet. Vielmehr wird möglichst rasch eine Entspannung, eine Lösung angestrebt. Für die Qualität von Bühnenproduktionen ist das fatal.
Es ist zwar immer begrüssenswert, wenn Schulklassen für eine Theaterproduktion Geschichten aus dem eigenen Leben wählen und auch im eigenen kulturellen Stil erzählen. Dies erlaubt dem Publikum einen Einblick in die Kultur der jungen Generation, der Schulklasse selbst eine Art Standortbestimmung und Reflexion. Es zeigt die aktuellen Haltungen, Absichten und Moralvorstellungen der Beteiligten und ist eine Art Seismograf der Jugendund der Schulkultur, ja im weitesten Sinne ein Seismograf der Gesellschaft. Hier werden wiederum die performativen Anteile des Laientheaters deutlich. Orientieren sich Schulklassen jedoch zu sehr an den Alltagsmustern der Beteiligten, bleibt die Konfliktentwicklung tendenziell zu flach.
Konfliktlösung nach Regeln? Oder durch Entwicklung?
Was wäre etwa gewesen, wenn im oben beschriebenen Beispiel die Spannungen zu Beginn der Gletscherwanderung nach den Erwartungen oder Wunschvorstellungen des Alltags angegangen worden wären? Es hätten sich alle entschuldigt und Besserung gelobt; die Wanderung wäre anschliessend in Harmonie verlaufen. Die Wendung hätte sich nicht aus einer Entwicklung der Figuren ergeben, sondern aufgrund der gesellschaftlichen oder schulkulturellen Erwartungen im Umgang mit Konflikten. Das Publikum wäre um einen weiteren Spannungsaufbau und einen dramatischen Höhepunkt gebracht worden.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer merken nicht unbedingt, woran es liegt, wenn ein Stück an flachen Konflikten krankt. Für sie macht schon ein Teil der Grundspannung aus, das eigene Kind und seine Kolleginnen und Kollegen sowie allenfalls noch deren kulturellen Alltag auf der Bühne zu sehen (selbst wenn ein Stück nicht als Performance konzipiert ist). Aber auch ein wohlwollendes Publikum hat mehr verdient als das. Auch für dieses ist es spannender, wenn Mehrdeutigkeiten sichtbar werden und ein Raum zum Hinschauen und Nachdenken entsteht, wenn die Sehgewohnheiten des Alltags mit einem ästhetischen Erlebnis überboten und die Spannungen über das gewohnte Mass hinaus verschärft werden. Die Kultur der Kinder und Jugendlichen bzw. der Schule soll nicht einfach abgebildet werden. Sie ist der Ausgangspunkt, um etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen – um der gewachsenen Kultur mindestens ein gutes Stück geschaffene Kultur hinzuzufügen.
Konflikteskalation ist ungewohnt und muss geübt werden
Eigentlich ist es wenig erstaunlich, dass Konflikte in selbst entwickelten Theaterproduktionen mehrheitlich nicht andauern und schon gar nicht eskalieren – im Alltag ist das ja auch nicht erwünscht und zugelassen. Was auf der Bühne zu wunderbar spannenden, tragischen, vielleicht sogar absurden und gerade deswegen äusserst unterhaltsamen Geschichten beiträgt, führt im Alltag zu Verletzungen, Kränkungen und andauernden Machtkämpfen.
Kinder, Jugendliche und Lehrpersonen sind die absichtliche Konflikteskalation in aller Regel nicht gewohnt – warum sollten sie in der Entwicklung eines Bühnengeschehens einen beginnenden Konflikt entfalten und verschärfen können? Und selbst wer sich mit absichtlicher Provokation ganz gut auskennt, weiss in der Regel: Solches Verhalten ist nicht erwünscht. Schon nur auf der Bühne zu fluchen – also ein im Alltag unerwünschtes Verhalten ganz absichtsvoll einzusetzen –, dafür ist die Hemmschwelle beträchtlich. Sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrpersonen sind in ihren alltäglichen Gewohnheiten tendenziell gefangen. Sie trauen sich nicht oder kommen von sich aus gar nicht auf die Idee, eine Grundspannung zu entwickeln und zu vergrössern.
Wer Konflikte austragen will, muss Spannung aushalten können. Das machen wir nicht gerne, es ist uns fremd. Unser natürlicher Impuls ist es, Spannung aufzulösen. Für Lehrpersonen kommt dazu, dass sie häufig in fremden Konflikten vermitteln müssen; sie können gar nicht am eigenen Leib nachvollziehen, woher die Spannung eigentlich rührt. Im Theater aber muss man Spannung aushalten und erzeugen können. Und gerade weil man auf der Bühne machen darf, was im Alltag sonst eher im Versteckten oder in der Fantasie abläuft, kann die Konflikteskalation ausgesprochen faszinierend und lustvoll werden. Gerade renitente, arrogante oder rechthaberische Figuren spielen viele Schülerinnen und Schüler in der
Regel sehr gerne. Dazu müssen sowohl sie als auch Lehrpersonen meist eine gewisse Hemmschwelle überwinden. Sie müssen den unbefangenen Umgang mit Grenzüberschreitungen, Regelbrüchen und Konflikteskalationen erst einmal üben (vgl. Kapitel 4 und 5). Haben Lehrpersonen und ihre Klassen das Potenzial und den Lustfaktor der theatralen Konflikteskalation dagegen erst einmal entdeckt, kann die Arbeit damit zum Selbstläufer werden.
Theater zielt auf Ästhetik
Auf der Bühne wird also ein anderes Verhalten gezeigt als im Alltag gewohnt und üblich ist. Vielleicht auch ein anderes als im Alltag erwünscht und erlaubt ist. Damit taugen auch die pädagogischen Grundsätze und sozialen Erwartungen nicht (mehr), die das Verhalten der Schülerinnen und Schüler im Alltag begleiten und steuern – zum Beispiel, was Fluchen, Provozieren, Ausgrenzen oder Schlagen angeht. An ihre Stelle treten ästhetische Gesichtspunkte. Die Lehrperson fragt nicht in erster Linie: Wie wirkt unser Tun (pädagogisch) auf die Schülerinnen und Schüler? Sondern sie fragt gemeinsam mit diesen: Welche Wirkung erzielen wir in der Wahrnehmungs und Erlebniswelt des Publikums?
Theaterästhetische Mittel geben Inhalten, die auf der Bühne gezeigt werden sollen, eine Form (vgl. Kapitel 7). Sie tragen gleichzeitig dazu bei, die Spielenden über ihr privates Verhalten hinauszuheben und sie davor zu schützen, sich auf der Bühne persönlich zu sehr zu exponieren. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, theaterästhetische Mittel selber zu erkennen und anzuwenden. Sie haben diese Gelegenheit erstens dann, wenn die Spielleitung solche Mittel einführt und erlebbar macht. Sie lernen die Wirkung von theaterästhetischen Mitteln zweitens dann kennen, wenn sie darüber nachdenken, weshalb eine Szene funktioniert oder nicht. So können sie viel intensiver mitdenken und mitgestalten, um Szenen zu entwickeln und auszuarbeiten.
Ästhetik
Der Begriff Ästhetik stammt vom Griechischen aisthesis, was Wahrnehmung oder Empfindung bedeutet. Ästhetik ist demnach die Lehre von der Wahrnehmung und bezieht sich auf alles Wahrnehmbare, also neben dem Schönen auch auf das Hässliche, neben dem Angenehmen auch auf das Unangenehme, neben dem Harmonischen auch auf das Furchterregende und Provokative.
Nun ist Ästhetik kein genau umrissener Begriff. Ästhetische Vorstellungen sind über Zeiten und Kulturen hinweg sehr vielfältig. Auch gibt es Unterschiede zwischen den ästhetischen Kategorien, an denen sich Lehrpersonen orientieren, und denen für professionell Theaterschaffende. Woran also sollen sich Lehrpersonen mit ihren Klassen halten?
Am besten halten sie sich gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern an ihre eigenen, ganz subjektiven ästhetischen Vorstellungen. Auch wenn sie diese vielleicht nicht beschreiben können: Sie können beim Betrachten einer selbst entwickelten Szene – einer Erzählweise, einer Darstellungsform, eines Kostüms oder eines Bühnenbilds – mit Sicherheit etwas dazu sagen, ob dies die Art der Darstellung ist, die sie überzeugend finden und dem Publikum zeigen wollen. Sie können wahrnehmen und benennen, was sie selbst als spannend oder langweilig erleben, was sie verstehen und was ihnen unklar bleibt. Sie können sich Gedanken darüber machen, wie das Publikum reagieren könnte und ob sie das so anstreben wollen. Sie müssen bloss solche Fragen immer wieder stellen und so lange mit Gestaltung und Ausdruck experimentieren, bis sie ein Spektrum an Möglichkeiten erprobt und eine bewusste Wahl getroffen haben. Wenn sie sich nicht mit schnellen Antworten zufriedengeben, sind sie in einem doppelten Prozess der ästhetischen Entwicklung: Sie entwickeln erstens eine ästhetische Darstellung, zweitens ihre ästhetischen Vorstellungen, ihr ästhetisches Können und ihren ästhetischen Stil.
Ein ästhetischer Prozess ermöglicht, den üblichen Alltag zu überbieten, zu verfremden, zu kontrastieren, zu persiflieren etc.
Ästhetische Prozesse mit Kraftausdrücken
Ein Beispiel aus der Erfahrungswelt einer Theaterpädagogin: Bei ihrem Besuch einer Übungsstunde lässt sie die Klasse frei improvisieren, um Elemente der angestrebten Geschichte zu entwickeln. Dabei benutzen die Spielenden immer wieder einen bestimmten, sehr markanten Kraftausdruck. Die Theaterpädagogin lässt die Sache laufen, die ebenfalls anwesende Lehrerin wird hingegen zunehmend nervös und gibt der Theaterpädagogin zu verstehen, dass das so nicht geht. Die Besucherin fragt dann in einem Moment der Auswertung und Standortbestimmung sinngemäss: Ihr benutzt immer wieder diesen Kraftausdruck. Was bedeutet er für das Stück? Wollt ihr ihn dem Publikum zumuten? Wollt ihr diese Wirkung erzielen? Die Schülerinnen und Schüler sind sich sofort einig, den Kraftausdruck in der fertigen Fassung des Stücks nicht verwenden zu wollen. Sie denken dabei ausdrücklich ans Publikum. Eine frühere Intervention der Lehrerin hätte zwar zum selben Resultat geführt, aber die Spiellust beschnitten sowie die Schülerinnen und Schüler um einen selbstverantworteten ästhetischen Prozess gebracht.
Ein solcher Perspektivenwechsel weg von den Gewohnheiten und Regeln des Alltags hin zu gemeinsamen ästhetischen Prozessen und Entscheidungen verlangt nicht selten eine Portion Mut. Lehrpersonen sind es gewohnt, Ziele zu setzen, Prozesse zu planen, Ereignisse zu bewerten und ihren Schülerinnen und Schülern gewisse Eigenschaften zuzuschreiben. Das kann ihnen im Weg stehen, wenn es im Rahmen von Theaterproduktionen erst einmal gilt, die Wirkung von Szenen geduldig zu erkunden. Ästhetische Prozesse orientieren sich an Projektarbeit, partizipativer Entwicklung, ergebnisoffenem Unterricht und nicht immer ganz einfach fassbaren Lernzielen, was gemessen an einem herkömmlichen Verständnis von Schule hier und da Stirnrunzeln auslösen kann. Ästhetische Prozesse sind ein Schritt ins Ungewohnte – zu ungewohnten Bewertungsmassstäben, zu ungewohnten Interaktionen mit den Schülerinnen und Schülern sowie unter Umständen zum ungewissen Umgang mit den Erwartungen von Schule und Eltern. Eine ästhetische Orientierung ist aber auch eine unerschöpfliche Ressource: Sie ermöglicht Lehrpersonen und Schulklassen, den üblichen Alltag zu überbieten, zu verfremden, zu kontrastieren, zu persiflieren etc. und die Bühne damit zu einem Verhandlungsraum zu machen. Je deutlicher die Verfremdung, desto klarer ist auch für alle, dass hier nicht der Alltag gezeigt wird, sondern ein Kunstprodukt.
Findet der Konflikt nur auf der Bühne statt?
Konfliktinszenierung auf der Bühne – besteht da nicht die Gefahr, dass reale Konflikte aus dem Alltag auf die Bühne getragen werden oder umgekehrt, von der Bühne in den Alltag? Also dass das Leiden an den realen Spannungen noch vergrössert wird oder neue Konflikte entstehen? Ausschliessen lässt sich das natürlich nie. Ist aber die Klassendynamik einigermassen im Lot, bleibt die Wahrscheinlichkeit dafür gering. Die ästhetische Verfremdung des Alltags vergrössert zudem die Distanz zwischen diesem und dem Bühnengeschehen. Dies hilft gleichzeitig zu verhindern, dass Alltag und Bühne zu nahe aneinanderrücken und sich Dynamiken von der Bühne ins echte Leben übertragen oder umgekehrt. Der Konflikt findet, zumindest in der gezeigten Form, nur auf der Bühne statt.
Neben und hinter der Bühne gibt es dagegen andere Konflikte – und zwar unabhängig davon, wie konfliktbeladen es auf der Bühne zu und hergeht. Offene Theaterprojekte lösen laufend Diskussionen aus und erfordern Entscheidungen: über Szenenauswahl, Kostüme, Licht, Musik, Choreografien, die Verteilung der Aufgaben, die Umsetzung dieser oder jener Idee etc.
Darüber hinaus deponiert eine Klasse ihre Gruppendynamik des Alltags, die Rivalitäten, Machtkämpfe, Ausschlussprozesse etc. selbstverständlich nicht ausserhalb des Theaterraumes. Die bestehenden Rollen innerhalb der Gruppe, die individuellen Empfindlichkeiten und alle weiteren Treiber von Konflikten setzen sich in jedes offene Projekt hinein fort. Das ist einerseits mühsam, andererseits eine Chance: Jede freie Projektform bietet Gelegenheit, Konfliktdynamiken, die ohnehin bestehen, sichtbar zu machen und ihnen neue Erfahrungen entgegenzusetzen.
Ist allerdings eine Klassendynamik allzu konfliktbeladen, ist eine Theaterproduktion von Beginn weg infrage gestellt. Ein Bühnenprojekt klappt nur mit einem Ensemble, also nur mit einem gewissen Zusammenhalt und einer Grundbereitschaft, gemeinsam in einen Spielund Entwicklungsprozess einzusteigen (vgl. Kapitel 3). Ohne Ensemble fällt es schwer, aufeinander zu achten, aufeinander einzugehen, gemeinsam Ideen zu entwickeln und alle dort einzusetzen, wo sie ein Maximum an Wirkung erzielen können. In einer Klasse mit Mobbingstrukturen ist das nicht möglich. Wenn ständig andere Themen verhandelt werden oder wenn es eine Rolle spielt, ob A neben B oder C steht, kann nur schwer eine Spielatmo
Wenn die Muse doppelt küsst
Wen die Muse küsst, der oder die ist nicht gleichzeitig offen für andere Ideen. Und küsst die Muse gleich zwei Beteiligte, scheint der Konflikt geradezu vorprogrammiert. In der theaterpädagogischen Begleitung eines gesamtschulischen Projektes war zum Beispiel einmal zu erleben, wie sich zwei Lehrpersonen über die Gestaltung des Lichts gestritten haben. In der späteren Auswertung gaben sie diesen Moment als absoluten Tiefpunkt an – wohl gemessen an ihrer Alltagskultur, die ungezügelte Auseinandersetzungen mit Scham belegt. Aus theaterpädagogischer Sicht dagegen muss man solche Momente als Höhepunkte bezeichnen – gemessen am Engagement, das die Beteiligten an den Tag legen. Die Sache war beiden derart wichtig, dass sie zu keinerlei Kompromiss bereit waren. Und in der Regel sind Kompromisse auch nicht ratsam. Wenn zwei Möglichkeiten grundsätzlich sinnvoll sind, sind halbe Lösungen, ästhetisch betrachtet, meist unbefriedigend.
Entsprechend sollte sich eine Lehrperson – wenn bei einem Theaterprojekt Konflikte um Ideen auftreten – erst einmal über das Engagement der Beteiligten freuen und es loben. Danach geht es um die Frage: Welche Idee macht für uns mehr Sinn? Über die absehbare Enttäuschung hinweg hilft nur die Einstellung: Nicht die andere Idee hat gewonnen, sondern unser Projekt als Ganzes. In Theaterprojekten ist dies einerseits Voraussetzung, andererseits lernbar, und es gelingt nur dann, wenn das gemeinsame Projekt wichtiger ist als das Prestige der Einzelnen.
Haben Lehrpersonen Angst vor Konflikten, erwägen sie besser doppelt, ob Theater die für sie passende Arbeitsweise ist. Oder aber sie beginnen mit szenischen Konfliktexperimenten (vgl. Kapitel 4 und 5), um so, gemeinsam mit der Klasse, im Umgang mit Konflikten unbefangener zu werden und noch offen zu lassen, was darüber hinaus entsteht.
sphäre entstehen. Selbst in sehr braven Klassen kann es vorkommen, dass sich die Schülerinnen und Schüler nicht voreinander exponieren wollen und sich dem Spielen letztendlich verweigern.
Ohne einen gesunden gruppendynamischen Kern finden Schulklassen also gar nie richtig ins Theaterspielen hinein. Entsprechend sollte man auch nicht darauf hoffen, mit einem Theaterprojekt eine delikate Klassendynamik ins Lot bringen oder gar reale Konflikte bearbeiten geschweige denn klären zu können.
Wie theaterpädagogische Formen dennoch zur Bearbeitung realer Konflikte genutzt werden können, beschreibt Kapitel 6.
Theater und Lernen
Wie erwähnt, entwickeln Schülerinnen und Schüler durch den ästhetischen Prozess ihre ästhetischen Vorstellungen, ihre ästhetischen Kompetenzen und ihren ästhetischen Stil. Die Ästhetik im Zentrum des Theaterspielens ist zudem in der Regel Ausgangspunkt, um auch in anderen Bereichen ganz viel zu lernen: Die Schülerinnen und Schüler lernen neue Rollen kennen, indem sie sich nachahmend (mimetisch) in sie hineinversetzen. Sie sind mit sich selbst konfrontiert und haben die Gelegenheit, ihre Selbstkompetenz zu entwickeln. Und sie werden mit der Gruppe konfrontiert, was das soziale Lernen unterstützt. Diese drei Aspekte werden nachfolgend noch ausführlicher beleuchtet. Darüber hinaus entsteht mit jeder wahrnehmenden und körperlichen Beteiligung auch ein wahrnehmendes und körperliches Lernen. Einige Hinweise dazu wurden in die folgenden Abschnitte eingeflochten.
Theater ist Lernen in neuen Rollen
Das «Lernen in neuen Rollen» entsteht, weil das Verhalten bei der Darstellung auf der Bühne ein anderes ist, als es Kinder und Jugendliche aus ihrem Alltag kennen. Schon nur die Einnahme von ungewohnten Körperhaltungen, die Gestaltung der Stimme oder das Setzen von effektvollen Sprechpausen lässt Schülerinnen und Schüler Erfahrungen jenseits ihrer alltäglichen Gewohnheiten machen. Die Spielenden müssen von sich selbst mehr oder weniger Abstand nehmen und sich neuen Verhaltensmustern zuwenden. In der Interaktion mit anderen geraten sie in ungewohnte soziale Situationen. In der Summe erproben sie so neue Verhaltensweisen und haben die nicht geringe Chance, bisherige Gewohnheiten zu erweitern.
Das Lernen in neuen Rollen ist vergleichbar mit dem nachahmenden Lernen eines Kindes, das andere Menschen, Tiere oder Fantasiewesen wahrnimmt, sich vorstellt und imitiert. Es entsteht ein Abbild, das mehr ist als eine Kopie. Denn die innere Beteiligung des imitierenden Kindes bzw. des schauspielenden Menschen lädt das Tun mit eigenen Gefühlen, Persönlichkeitsfacetten und Interpretationen auf, sodass daraus ein neues Original entsteht.
Diese innere Beteiligung ermöglicht, sich in die übernommene Rolle einzufühlen, deren Tun handelnd, fühlend und erlebend nachzuvollziehen und gleichzeitig zu gestalten. Damit geht auch ein – zumindest intuitives – Verstehen dieser gespielten Figur und Situation einher. Gleichzeitig schützt das Spiel die Schülerinnen und Schüler davor, sich selbst persönlich zu sehr involviert zu fühlen – es sind ja nicht sie selbst, die beispielsweise ein verwerfliches Verhalten zeigen, sondern es ist ihre Rolle. Dabei ist diese Auseinandersetzung spielerischleicht angelegt, denn ihr Treiber ist das konkrete, entdeckende und kreative Tun. Man darf vermuten, dass solch handelndes Verstehen leichter fällt und weiter reicht als eine primär denkende Auseinandersetzung, die in Bezug auf ungewohnte oder fremde Verhaltensweisen und Situationen weitgehend abstrakt bleibt.
Theaterproduktionen fordern und fördern die Selbstkompetenz
Das Gelingen der Ästhetik hat des Weiteren eine enorme Wirkung auf Spielende und Zuschauende. Man denke dabei schon nur an das Staunen über die eigene Leistung. Darüber, was möglich wird, wenn man eine Sache ernsthaft anpackt, am selben Strick zieht, Varianten aushandeln muss, sich und einander vertraut, in Flow gerät, über den eigenen Schatten springt, Durststrecken übersteht, sich von ungewohnter Seite zeigt, das eigene Lampenfieber überwindet und schliesslich im Applaus baden darf. Blickt man auf das Geschehen zurück, lässt sich das mit Begriffen wie Selbstvertrauen, Durchhaltevermögen oder Auftrittskompetenz beschreiben.
Ohne hohen ästhetischen Anspruch wären die Hürden auf diesem Weg – und entsprechend auch die Lernmöglichkeiten – nur halb so hoch. Auch wenn Kinder und Lehrpersonen noch nie vor vergleichbaren Herausforderungen gestanden haben, ist es für sie intuitiv spürbar, ob sie wirklich ihr Bestes gegeben haben. Oder ob sie sich mit zu wenig zufriedengeben und der Schlussapplaus einen schalen Beigeschmack zurücklässt – vor allem dann, wenn sie selbst spüren, dass die Herausforderung, der Aufwand und die persönliche Anstrengung eher bescheiden waren.
Eine solche Arbeit an der Darstellung handgreiflicher Konflikte verlangt – und lehrt einen – Selbstwahrnehmung und Konzentration, Beherrschung von Körper und Emotionen, Empathie und Kooperation. Und dies immer ganz konkret – denn wenn es nicht klappt, ist das Resultat ästhetisch nicht zufriedenstellend und wird kaum Eingang in die fertige Produktion finden. Ungereimtheiten sind für Zuschauende sofort sichtbar und werden meist auch unverblümt zurückgemeldet. Gerade für Kinder und Jugendliche, die im Alltag in handgreifliche Auseinandersetzungen verwickelt sind, ist das Nachspielen auf der Bühne zum einen reizvoll, zum anderen auch besonders herausfordernd und nicht zuletzt mit einem besonderen Lernpotenzial verbunden.
Handgreifliche Konflikte darstellen
Besonders interessant punkto Selbstkompetenz sind Konfliktdarstellungen mit körperlichen Auseinandersetzungen. Sie sind gleichzeitig ästhetisch, emotional und körperlich herausfordernd und haben deshalb ein grosses Lernpotenzial. Hier muss man technisch arbeiten, will heissen: Man entwickelt eine Choreografie, vereinbart klare Regeln. Sich dem unterzuordnen, braucht Disziplin. Die Spielenden können nicht einfach das tun, was sie allenfalls aus ihrem Alltag von handgreiflichen Rencontres kennen, nämlich mit maximalem Kraftaufwand dem Angriff des Gegenübers entgegenzustehen. Ganz im Gegenteil: Sie müssen weich sein, mit präzisen Bewegungen und ohne Kraft arbeiten. Sie müssen ihre Bewegungen bis zur Zeitlupe verlangsamen, um sie wahrnehmen und gestalten zu können. Sie müssen die Schläge des Gegenübers nehmen können, also körperlich darstellen, was ein bloss zum Schein ausgeführter Schlag mit ihnen anrichtet. Sie dürfen sich nicht darauf versteifen, siegen zu wollen; sie müssen auch einstecken können. Nur so wirkt ein inszenierter Kampf erst glaubwürdig. Er gleicht eher einem Tanz als einem wirklichen Handgemenge.
Theaterproduktionen sind ein soziales Geschehen und soziales Lernen
Auch auf der sozialen Ebene kann eine Theaterproduktion eindrückliche Entwicklungen mit sich bringen. In der Schule sind die Kinder und Jugendlichen vor allem gewohnt, auf sich selber zu schauen. Sie werden für ihre eigene Leistung und gleichzeitig im Vergleich mit anderen bewertet. Im Theater ist das anders: Ein Bühnenstück entwickelt sich nur so stark, wie die Gruppe als Ensemble mitzieht. Die Einzelleistung fällt natürlich ins Gewicht, weil sie die gemeinsame Wirkung erhöht, aber es geht immer um diese gemeinsame Wirkung. Es ist egal, ob ein Kind etwas besser kann als ein anderes. Wichtig ist: Gemeinsam entsteht etwas, das eine Person alleine nicht entwickeln könnte. Im besten Fall werden jede Schülerin und jeder Schüler dort eingesetzt, wo sie auf der Basis des individuellen Könnens ein Maximum zum Gelingen der Produktion beitragen können. Getragen durch die Gruppe, können sich persönliche Entwicklungen ergeben, die man im normalen Schulalltag nicht für möglich gehalten hätte. Man kann das als praktischen und allseitig gewinnbringenden Umgang mit Unterschieden bezeichnen, als gelungenes Erleben von Diversität und Teamarbeit.
Verstärkt wird dieses Erleben noch, wenn eine Bühnenproduktion nicht von einem fertigen Drehbuch ausgeht, sondern ergebnisoffen startet. Also müssen Ideen entwickelt, Varianten diskutiert, Meinungsverschiedenheiten ausgehandelt und bestimmt auch Konflikte ganz praktischer Art gelöst werden. Natürlich wiederholen sich in solchen Such und Entwicklungsprozessen die alltäglichen Muster der Beteiligten, was bei sehr konfliktträchtigen Gruppendynamiken schon mal dazu führen kann, dass Bühnenvorhaben scheitern. Ist aber der allseitige Wille, ein gemeinsames Ziel zu erreichen, genügend ausgeprägt, und entsteht in diesem Prozess ein gemeinsamer Ehrgeiz für eine bestimmte Ästhetik, sind allfällige Auseinandersetzungen nicht bloss ein Abbild und eine Wiederholung der alltäglichen Konfliktmuster. Denn die Suchprozesse finden unter vielseitiger Beobachtung und geprägt von einer grundsätzlich ergebnisorientierten Haltung statt. Sie eröffnen also auch die Chance, alltägliche Konfliktmuster zu verändern.