Theater braucht Konflikte
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1. Kapitel Auf der Bühne sind Konflikte und ihre Entwicklung bis hin zu Eskalation unbedingt notwendig, damit sich überhaupt bedeutungsvolle Geschichten entfalten. Im Schulalltag aber sind die Spannungen, die von Konflikten ausgehen, schwierig auszuhalten. Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler sind in der Regel entsprechend zurückhaltend, Konflikte auf der Bühne zu entwickeln, zu verschärfen und eskalieren zu lassen. Sie brauchen dafür meist etwas Übung. Diese zielt auf die Suche nach ästhetisch überzeugenden Möglichkeiten, ein konfliktreiches Geschehen darzustellen, die Vielschichtigkeit der Welt zu verhandeln und die Sehgewohnheiten des Alltags zu erweitern. Schülerinnen und Schüler machen dabei Erfahrungen in neuen Rollen, sie lernen Selbst- und Sozialkompetenz und entwickeln Körperwahrnehmung, -steuerung und -ausdruck. Theater zeigt Ausschnitte aus unserem Leben, aus zwischenmenschlichen Welten. Im bes seren Fall stellt Theater diese Welten nicht nur dar, sondern behandelt, ja verhandelt sie. «Verhandeln» deshalb, weil unsere Welt komplex und mehrdeutig ist, unsicher und ver gänglich. Es gibt nicht nur eine Sicht auf die Dinge, nicht nur eine mögliche Entwicklung, und für viele Situationen auch keine allseitig befriedigenden Lösungen. «Verhandeln» heisst, dass unterschiedliche Perspektiven und Kräfte, ihre Widersprüche, ihre Reibung, letztend lich Konflikte gezeigt werden. Oder anders gesagt, eine Anhäufung und Variation inein ander verwobener, sich bedingender, sich aufschaukelnder oder sich ablösender Spannun gen und Auseinandersetzungen. Konflikte sind damit das Gerüst jeder Dramatik. Sie sind ein szenisches Mittel, um Span nung zwischen den Figuren und damit auch Spannung im Sinne von Unterhaltungswert zu erzeugen, und sie sind gleichzeitig inhaltlich bedeutungsvoll, um die Welt auf der Bühne und/oder zwischen Bühne und Publikum zu verhandeln. Äussere und innere Konflikte, Konflikte mit dem Publikum Es gibt verschiedene Arten von Konflikten. Erstens die äusseren, zwischen widerstreitenden Figuren oder Parteien. Am banalsten entfalten sie sich zwischen Gut und Böse, differenzier ter und komplexer zwischen gegenläufigen Perspektiven, Erfahrungswelten, Einstellungen, Interessenlagen, Wertepositionen, Bedürfnissen, Ansprüchen, Realitätsverständnissen, ge sellschaftlichen Kräften oder Weltanschauungen. Aus der Erfahrungswelt von Schülerinnen und Schülern stammen zum Beispiel Reibungen zwischen Mädchen und Knaben, Auseinan dersetzungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern oder der Aussenseiter in Spannung zum Rest der Klasse. Auch wenn hier vordergründig «nur» aktuelle Ausschnitte aus der Welt der beteiligten Schülerinnen und Schüler gezeigt werden: Hintergründig werden die Themen der grossen Welt verhandelt, etwa der Gender- oder Generationenkonflikt, Fragen von Macht und Ohnmacht etc.
Konflikte sind das Gerüst jeder Dramatik.
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12.04.22 07:38