Franziska Streun
unlebbarRoman
Franziska Streun unlebbar
Der Zytglogge Verlag wird vomBundesamt fürKultur mit einemStrukturbeitrag fürdie Jahre 2021 2024 unterstützt. Autorin undVerlag danken fürden Druckkostenbeitrag www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC® C083411 ® © 2022 ZytgloggeVerlag, Schwabe VerlagsgruppeAG, Basel Alle Rechtevorbehalten Lektorat :Thomas Gierl Umschlaggestaltung :MichaelStreun Layout/Satz :3w+p, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck ISBN :978-3-7296-5101-2 www.zytglogge.ch
Franziska Streun unlebbar Roman
Inhalt Einleitende Worte ........ ............ ...... ......... ........ 11 Prolog ........... ......... ............. .... .......... ...... ..... 13 Fügung ...... ........ ........ ............ ...... ......... ........ 17 Beichte ........... ......... ............. .... .......... ...... .... 63 Läuterung ......... ............. .... .......... ...... ........ ... 141 Nachwort der Autorin ...... ......... ............. .... ..... 187 Darüber reden ist ein Anfang ...... ... ....... .... ..... ... 195 Dank ............ ...... ............. .......... ...... ........ ..... 197
Sähe unser Auge die Seele des Menschen so sichtbar wie einen physischen Körper, wäre vieles anders. Sähe das Herz, dann erst recht. Franziska Streun
für Nicole, für Beat und alle
Im Roman habe ich meine Recherchen und Nachrecherchen im Fall Gyger sowie die Geschichte und die Erinnerungen der Frau an ihre Vergangenheit teilweise verarbeitet und miteinander verbunden;trotzdem sind Personen und Handlung in «unlebbar»fiktional gestaltet. Zwar haben sich die Geschehnisse ereignet, doch die Geschichte könnte in jeder beliebigen Stadt oder Gemeinde und in jedem Land stattgefunden haben und wiederholt sich so oder ähnlich jeden Tag rund um den Globus. Das zu wissen macht ohnmächtig und schmerzt. Doch zu schweigen, weder davon hören noch darüber sprechen oder schreiben zu wollen, verharmlost Gewalt und deckt, stützt und stärkt jene, die diese ausüben. Das ist der Grund, weshalb ich «unlebbar»geschriebenhabe.
Einleitende Worte Der Roman «unlebbar»basiert auf zwei wahren Begebenheiten:zum einen auf dem Tötungsdelikt an Beat Gyger, das ich in meinem Buch «Mordfall Gyger eine Spurensuche» recherchiert und verarbeitet habe, zum anderen auf einem Missbrauchsfall, in dem ein Mädchen (imBuch nenne ich sie «Nicole») von ihrer Familie gegen Geld Männern angeboten wurde.
11
Prolog In der Ferne heulen Sirenen. Irritiert schreckt Nicole vom Sofa hoch. Der schrille Ton wird lauter und eindringlicher. Sie eilt ans Fenster. Stella, ihre alte Schäferhündin, die bis vorhin auf dem kühlen Parkett im Flur gedöst hat, springt sofort auf und rennt zu ihr hin. Warnend knurrt sie ein paar Mal und setzt sich hechelnd neben sie.
Der Nachbar. Bis vor einer Viertelstunde saß sie noch neben ihm. Sie dreht sich um und eilt durch den Flur, Stella läuft ihr nach. Sie presst ihr Ohr an die Haustür und hört die Männer durchs Treppenhaus hochrennen. Tritte hallen im Sekundentakt lauter zu ihr hin. Durch den Türspion späht sie zur gegenüberliegenden Wohnung ihres Nachbarn. Die beiden Sanitäter tauchen auf und klingeln ungeduldig. Zweimal, dreimal. Ohne noch länger zu warten, stoßen sie die angelehnte Tür auf und rennen hinein. Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr am Handgelenk. Viertel vor vier. Sie lässt sich mit dem Rücken am Türblatt entlang zu Boden sinken. Die Arme zwischen Brust und Oberschenkel eingeklemmt, das Gesicht in den Händen vergraben, zählt 13
Die Sonne drückt die Hitze an die Scheiben und ins Wohnzimmer. Durch die Blumenornamente im Vorhangstoff und die heruntergefahrenen Lamellen beobachtet sie, wie die Ambulanz vor dem Mehrfamilienhaus auf dem Bürgersteig mit einer Vollbremsung zum Stehen kommt. Die Sirenen verstummen. Endlich Stille. Zwei Sanitäter springen aus dem Wagen, reißen die Hecktüren auf und schultern rote Notfallrucksäcke mit gelben Streifen. Sie hasten an hellbraunen, ausgedörrten Rasenflächen vorbei und über die Steinplatten voller Unkraut zur Haustür.
Zurück im Wohnzimmer lässt sich Nicole wieder aufs Sofa fallen. Sie winkelt die Beine an, senkt die Lider und wünscht sich Stille im Kopf. Der Doktor darf unter keinen Umständen wie der Notarzt bei ihr klingeln. Keinesfalls darf er fragen, wie es dem Nachbarn in den vergangenen drei Stunden ergangen ist. Ob er ins Krankenhaus muss oder in seinem Bett in diesem Augenblick stirbt, spielt für sie keine Rolle.
sie bis zehn und zurück, wieder bis zehn und zurück. Stella weicht keine Sekunde von ihrer Seite. Sie sitzt neben ihr und legt die feuchte Schnauze auf ihre nackten Knie. Die warme Luft, die ihre Hündin mit jedem Hecheln aus ihren Nasenlöchern stößt und die ihre verschwitzt-feuchte Haut streift, kitzelt sie.
Ich musste gehen, sagt sie sich. Der Schweiß rinnt ihr in die Augen, der dünne Stoff ihres Kleides haftet an ihrer Haut. Mit steifen Gliedern steht sie auf. Stella erhebt sich mit ihr. Sie setzt einen Fuß vor den anderen. Vorbei am Badezimmer, das sie sonst verführerisch zu sich hineinzieht.
14
Es ist alles gut, dich belastet keine Sünde, es ist seine Schuld, du bist unschuldig, redet sie sich zu. VomTreppenhaus her dringen keine Geräusche mehr zu ihr hinein. Langsam nimmt sie die Hände vom Gesicht. Sie richtet ihren Rücken auf und dehnt ihre Arme an der Haustür entlang nach oben. Dann streichelt sie Stella über den Kopf, die sich niedergelassen hat und ein wenig entfernt von ihr liegt. Sie streckt die Beine aus und schiebt sie zu ihrer Schäferhündin hinüber, bis ihre Haut das Fell berührt. Mit dem lebendigen Körperkontakt zu ihrem Liebling kann sie sich selbst wieder ganz spüren. Sie lächelt.
Der Hausarzt hat nun doch die Ambulanz gerufen. Vielleicht sind die Sanitäter ja noch rechtzeitig eingetroffen.
Sie dreht sich zur Seite und nimmt die Fernbedienung zur Hand. 15
Und das erst recht an Tagen wie heute, wo sie am liebsten im Bett geblieben wäre. Weil es ein endloser Kampf ist, sich überhaupt aufzuraffen. Weil der heutige 16. Juli 2022 ein weiterer unerträglich heißer Sommertag ist. Weil der Krieg in der Ukraine viel Leid verursacht. Weil die Coronapandemie unheilvoll stumm ist. Weil ihr Sohn in den Urlaub fahren möchte. Weil sie sich vor der Zukunft fürchtet. Heute ist einer jener Tage, an denen sie die Angst vor Panikattacken bereits beim Aufwachen lähmt.
Fügung «Beeil dich, Mama. Komm endlich. Musst du denn immer trödeln!» Nicole hört Leorufen.Die verzweifelte Stimme ihresSohneshallt ihrdurch dasTreppenhaus entgegen.Außergewöhnlich verunsichert,beinahe panisch wo ihrvierzehneinhalb jähriger,pubertierend-halbstarkerSohndochsonst peinlich darauf achtet,sichlockerzugeben,und lieber schweigt,als sich mitzuteilen. SogarStella, ihre treueSchäferhündin,ist ihm trotzHitze undwackeligenBeinennachgerannt.Die drei StoffbeutelvollerEinkäufehängenschweranihren Armen. Strähnen kleben an ihrerschweißnassenStirn. «Jaaaaa, Leo, ich bin gleich bei dir.» Während sie nach Atem ringt, quält sie sich Schritt für Schritt nach oben. Bei ihrer Größe von nur knapp einem Meter fünfzig sind die Abstände zwischen den Stufen viel zu groß. Ein Glück wenigstens, dass sie eher untergewichtig ist und neben den Einkäufen keine überflüssigen Pfunde mit sich herumschleppen muss.
17
Während sie Stufe um Stufe erklimmt, hört sie Leo oben auf dem Treppenabsatz ungeduldig mit den Füßen stampfen. Er ruft:«Mam, wie lange brauchst du denn noch?»
Gerät ihr Sohn etwa in Panik?Das macht ihr Angst. «Ich bin gleich da, Leo.» Den Schmerz durch das Gewicht der Taschen an ihren Fingern ignorierend packt sie die Schlaufen. Noch ein Stockwerk. «Ist seine Haustür offen?», japst sie ihm keuchend entgegen. Ihr ist, als würde ihr Herz gleich platzen. «Nein, das Schloss ist verriegelt», antwortet Leo, nun fast verzweifelnd schreiend.
Sie möchte sich augenblicklich hinsetzen. Nie mehr aufstehen, nie mehr einkaufen, nie mehr erwachen. Leo ist auf mich angewiesen, spornt sie sich an. Nun auch noch dieser Nachbar?Hätte ihr Sohn nur ihr Verbot, diesen 18
Erst hat er sich vorhin geweigert, dir beim Tragen zu helfen, jetzt drängt er dich auch noch zur Eile, empört sich ihre innere Stimme. Dem Frieden zuliebe zwingt sie sich zu verständnisvoller Sanftmut:Immerhin ist er trotz der Hitze mit mir zum Einkaufen mitgegangen, tröstet sie sich. Bestimmt will er so rasch wie möglich essen, damit er sich im nur drei Fußminuten entfernten See abkühlen oder zu seinen Schulkameradinnen und -kameraden zum Flussbad inmitten der Stadt oder ins Schwimmbad am Stadtrand radeln oder was sie allerdings verwünscht – sofort wieder am Computer spielen kann. «Ma. Maaaamaaaaa!» Leos Stimme klingt noch drängender als zuvor. «Unser Nachbar ruft in seiner Wohnung die ganze Zeit um Hilfe!Immer wieder!» Sie stellt die Tüten auf dem Zwischenboden für eine kurze Verschnaufpause ab. Ihr Herz pocht, ihr Puls rast. Ein hektischer Blick auf die Uhr lässt sie rechnen. Es ist gleich 12.30 Uhr. Die Nachrichten während des Kochens sind ihr heilig. Zittrig fährt sie sich durch die dünnen Strähnen. «Hörst du ihn nicht?Mama, bist du nun obendrein noch taub, oder was?Jetzt beeil dich endlich!»
SiebenötigterneuteineVerschnaufpause undstelltdie Taschenauf der letztenTreppenstufeab.
Sie findet diesen Fred von Gantern unausstehlich und abstoßend. Nie suchte sie den Kontakt mit ihm und ärgert sich jetzt darüber, dass Leo sich ihr widersetzt und sich trotz ihres Verbotes mit diesem Mann angefreundet hat und es ihr misslungen ist, sich bei ihrem Sohn durchzusetzen.
Als sie von den letzten Stufen her zu Leo hochschaut, blickt er abwechselnd vorwurfsvoll zu ihr hin, dann wieder zur Haustür des Nachbarn, der auf derselben Etage ihnen gegenüber im dritten Stockwerk wohnt. Leos schulterlange Haare sind durcheinandergeraten. Die Haut im Gesicht ist gerötet und zeichnet sich von den hellbraunen Wellen ab, sein Arm zeigt auf die Klinke. Stella wedelt aufgeregt und weicht nicht von seiner Seite. Plötzlich bellt sie sogar, was außergewöhnlich ist.
19
Mann zu besuchen, befolgt. Dann wäre dieser Stress bestimmt jetzt anders, und ihm wäre dieser Herr von Gantern piepegal. Plötzlich droht das volle Gewicht des Augenblicks auf sie herabzustürzen. Die Mauern, das Licht, die Erwartungen. Der freie Fall. Das schwarze Loch.
Nun hört auch sie die Rufe des Nachbarn. «Hilfe!Leo, lieber Junge, bist du es, der da draußen steht? Hol deine Mutter. Bitte, rasch!»
Jetzt soll sie diesem eigenartigen Mann, mit dem Leo gestern Nachmittag auf dessen Geburtstag angestoßen hat, leibhaftig noch helfen. Diesem versnobten, überparfümierten und übertrieben charmanten Angeber, der für sich allein eine Viereinhalbzimmerwohnung bewohnt, wo doch viele Familien mit Kindern froh um ein größeres Zuhause wären. Sollen sich doch andere um den schreienden Nachbarn kümmern! Was soll sie nur tun?
Leo schüttelt den Kopf. Er hebt die Stirn und verdreht die Augen. «Was machst du jetzt?» «Gib mir eine Sekunde, Leo.» Innerlich versucht sie, sich auf den Nachbarn vorzubereiten. Normalerweise, wenn sie sich zufällig beim Briefkasten oder im Treppenhaus begegnen, hebt sie vielleicht gerade einmal den Kopf zum Gruß. Dann reagiert er stets mit beleidigtem Gesicht und zugleich augenzwinkernd und sagt in betont belehrendem Ton:«Mein Name ist auch heute von Gantern.» Sie bringt als Antwort jeweils ein besonders leises «Schönen Tag»über die Lippen und eilt davon. Und jedes Mal ist ihr danach übel. Was für sie alles verschlimmert, ist, dass Leo seit einigen Monaten an diesem nach Alkohol und Rauch riechenden, aufdringlichen Nachbarn einen Narren gefressen hat. Das Wissen um die gelegentlichen Treffen der beiden zieht sie noch tiefer in den Abgrund. Das Mädchen presst die Augen zu. Wieder zwingt dieser Mann es an der Tür zur Großmutter, eine scheußliche Flüssigkeit zu trinken. Schläfrig steigt es neben ihm die Treppen zum Auto hinunter. Die Hand des Mädchens verliert sich in der seinen. Er legt es auf die Rückbank und bedeckt es mit der modrigen und kratzigen Decke. Mit jeder Kurve wird es müder. Es lauscht dem Pfeifen des Chauffeurs. Das Mädchen denkt an Großmutters Worte:«Du musst tapfer und artig sein!» «Ist denn da niemand?», jammert der Nachbar. Leo schreit sie an:«Auf was wartest du noch!» Wortlos hebt sie die Einkäufe auf und redet sich zu. Nein, dir wird jetzt weder übel noch schwindlig. Alles ist gut. 20
Stella dreht sich nervös um die eigene Achse. Dann stößt sie ihre Nase an die Tür. Durch die eingeengten Nasenflügel wird jeder ihrer Atemzüge zu einem gepressten Schnauben. «Doch, doch, Sie schaffen es. Versuchen Sie es noch einmal!» Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, wird endlich das Schloss geöffnet.
Neben der Tür des Nachbarn lässt sie die prall gefüllten Beutel endgültig los. Die Finger sind vom Gewicht blutleer und steif gekrümmt. Stella bellt und trippelt von einem Vorderbein aufs andere. «Sohelft mir doch endlich.» Wieder der Nachbar. Heftiger als beabsichtigt, schiebt sie Leo beiseite. Sie drückt ein Ohr an das Türblatt. Sie lauscht und fixiert dazu mit aufgesperrten Augen ihren Sohn. «Herr von Gantern, was ist los?», fragt sie mit zittriger Stimme durch die Tür. «Hallo?Was sollen wir tun?» «Einfach endlich irgendetwas!», hört sie den Nachbarn reklamieren. In ihren Ohren ein klägliches Winseln. «Ich habe Sie verstanden. Doch Sie müssen schon den Schlüssel drehen, damit ich eintreten kann.» Ein dumpfer Aufprall lässt sie aufhorchen. Irritiert zuckt sie zurück. Leo zwängt sich aufgeschreckt neben sie und poltert mit den Fäusten auf die geschlossene Tür. Sie verscheucht ihren Sohn. «Geh ein paar Schritte zurück.» Sie hört ein Keuchen. Dann ein paar Fluchwörter. Offenbar versucht der Mann, sich an der Klinke hochzuziehen. «Esgeht unmöglich, den Schlüssel zu drehen. Viel zu anstrengend.» Er stöhnt. Bald darauf hört sie, wie Schlüssel zu Boden fallen. «Mir fehlt die Kraft.»
Schroff stößt Leo seine Mutter beiseite. Doch erst unter Einsatz seines ganzen Körpergewichts gelingt es ihm, die Tür 21
Mit halbem Ohr hört sie ihn erklären:«Wir feierten gestern bis in die frühen Morgenstunden hinein meinen Geburtstag, und ich erwachte spät, noch beduselt, und war auf dem Weg ins Wohnzimmer, um das Handy zu holen. Doch im Korridor wurde mir schwindlig. Im Kopf drehte sich alles, und ich bekam Brechreiz. Dann bin ich wohl ohnmächtig geworden und irgendwann später hier am Boden aufgewacht.»
zu bewegen. Als sie einen Spaltbreit offen ist, drängt sich Stella an ihrem Sohn vorbei und dringt in die Wohnung. Leo eilt gleich hinterher.
Stella rennt um alle herum, hechelt und bellt. Sie stolpert sogar über die Beine des Nachbarn, knurrt und jault. Als sich Nicole nervös dazwischenzwängt, stolpert auch sie fast über ihre eigene Hündin. Stella hört nicht auf zu bellen. «Stella, sitz!Ist ja gut!»
22
Dabei hätte sie doch als Erste reingehen wollen. Wer weiß, was sie drinnen erwartet. Sofort folgt sie den beiden in Herrn von Ganterns Wohnung. Was Nicole sieht, ekelt sie an. Nur knapp kann sie den Impuls zu erbrechen unterdrücken. Zusammengekrümmt wimmertder Nachbar seitwärts liegend aufden glänzenden Marmorplatten. DieKnieangewin kelt. DemWeinennahe. Aus denAugenwinkelnschielt er zu ihrhoch. DasGesicht istgerötet.Das bunte Kurzarmhemd undder pastellgrüne Seidenschal um den Hals haften zerknittert an ihm. «Endlich!», murmelt er. «Mir ist so übel und es wird mir sofort schwarz vor den Augen, mein Herz rast.» Er schnappt nach Luft. «Was war denn los?Ich rufe gleich den Hausarztnotdienst an. Oder vielleicht im Krankenhaus.»
Trotzdem istsie verunsichert.Ein Hitzestau? Haterein fach zu weniggetrunken undist nunverwirrtzuBoden gefallen? Oder hatereinen Schwächeanfall gehabt? IstseinKreislauf zusammengebrochen?War es einHerzinfarkt?Ein leichter Schlaganfall?Was soll ichtun?Sofortden Notdienst rufen, richtig! Oder seinen Hausarzt?Wer wäre dasüberhaupt? Ihre Gedankenrasen,dochihreinnereStimmebegehrt auf: Lass ihnliegen! Er istsicherselbstschuldanseinerKrise. Dasist eine Strafe. Reiß dich zusammen, maßregelt sie sich. Mit betont verständnisvollem Ton versucht sie, den Mann zu beruhigen:«Bleiben Sie am besten vorerst liegen, Herr von Gantern. Leo, hol doch bitte ein Kissen vom Sofa im Wohnzimmer und lege seinen Kopf darauf. Ich gehe telefonieren.»
Sein Geruch nach Angst, Parfum und Rauch widert sie an. Sie rollt die Augen und kniet sich widerwillig neben ihn hin. Sie sucht den Blick des Nachbarn, sein Körper zittert. «Ich friere», hört sie ihn flüstern.
Leo tigert hinter ihr unruhig hin und her. «Jetzt mach doch was!», herrscht er sie an und fährt sich ein paar Mal hintereinander durch die gewellten Haare.
Mit der Fingerspitze berührt sie die Halsschlagader des Nachbarn. Sein Puls schlägt schwach. Die dünne runzlige Haut ist heiß. Er wirkt auf sie verloren und hilflos. Trotzdem findet sie, dass er maßlos übertreibt. Schließlich liegt er weder im Sterben, noch ist er überfallen worden. Er hat zu viel gefeiert und gesoffen, das ist alles. Was soll das Gejammer, geht ihr durch den Kopf.
Der Nachbar nickt und verzieht dazu das Gesicht, da er etwas von der Tür wegrobbt und versucht, sich entgegen ihres Ratschlags aufzusetzen. 23
Aus den Zimmern wirft die Sonne gleißende Rechtecke in den Flur, von draußen dringt Kinderkreischen in das Wohnungsinnere. Sie bildet sich ein, dass das Geschehen in diesem Korridor lediglich eine absurde Theaterszene ist. Dass der Nachbar vom Boden aus ihren Sohn umarmt, weil er die Decke geholt hat. Dass er, während Leo ihn damit bedeckt, seine Arme fest um ihn schlingt und ihn zu sich hinunterzieht. «Danke, Leo», hört sie ihn raunen. Seine Stimme holt Nicole in die Realität zurück. Irritiert beobachtet sie, wie er ihrem Sohn zublinzelt.
Leo schämt sich für seine Mutter. Nie geht sie unter Leute, stets prägt Angst alles, was sie tut oder sagt. Wer sonst auf der ganzen Welt hat eine Mutter, deren Lieblingsort das Badezimmer ist und die sich ständig übergibt?Die ewig zu Ärztinnen und Therapeuten rennt. Sie allein ist schuld an seinem gestörten Verhältnis zu Mädchen, protestieren seine Gedanken trotzig, während er es lächerlich findet, wie verkrampft 24
Leo spurtet ins Wohnzimmer und kommt mit einem seidenen Kissen zu ihnen zurück. Neben ihr lässt er sich hastig auf die Knie fallen und stammelt:«Herr Fred, geht’ s? Geht’ sschon besser?Können Sie aufstehen?» Unbeholfen stützt ihr Sohn den Nachbarn bei dessen Versuch, sich aufzurichten. «Ach herrje,meinJunge,ich schaffeesnicht.Wie peinlich.» Miteinem Seufzer gibt er aufund läsststattdessensei nenKopfauf dieweicheUnterlage fallen. «Mich friert», hört Nicole ihn wiederholen. Sie beobachtet, wie Leo sofort aufsteht, die erstbeste Jacke an der Garderobe schnappt und damit von Ganterns Oberkörper bedeckt. Feiner Leinenstoff, braun meliert mit weißen Farbmischungen, für die lauen Sommerabende, wenn die Nacht die Luft abkühlt.
Leos weit aufgesperrte Augen werfen ihr Fragezeichen entgegen. Er starrt zu ihr hoch und wirft ihr einen erbosten Blick zu. Sie starrt zurück. Das Mädchen kennt die Villa. Sie befindet sich am See, umgeben von einem parkähnlichen Garten mit hohen Bäumen 25
sie neben dem Nachbarn am Boden kauert. Ohnehin ist allein sie schuld, dass er sich lieber in seinem Zimmer hinter dem Computer versteckt, statt mit seinen Schulkameraden unterwegs zu sein. Und natürlich genauso daran, dass er ihre Bitten ignoriert und so laut Musik hört, dass er sich zwangsläufig selbst Kopfhörer als Gehörschutz anziehen muss.
Nicole schmerzen die Knie. Sie rappelt sich auf die Beine hoch. Stella stellt sich sofort neben sie. Sie versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Während sie sich überlegt, was sie tun soll, haftet ihr Blick am Nachbar. Er liegt nach wie vor seitwärts im Korridor und nahe der Tür, den Kopf auf dem Kissen hochgelagert. Döst er?Fahrig rückt sie ihr Kleid zurecht. Mit dem Handrücken fährt sie sich über ihre verschwitzte Stirn.
Ihr bleibt nichts anderes übrig, als ihren Sohn in der Zwischenzeit bei diesem Mann zu lassen. Er muss über ihn wachen in diesem Zustand, obwohl er protestiert und in sein Zimmer möchte. «Mach schon, ich bin doch keine Krankenschwester!»
Auch jetzt benimmt sie sich wieder unmöglich, ärgert er sich und versucht, sie und die ganze Situation zu verstehen. Nie erzählt sie ihm, warum sie regelmäßig zu diesen Psychoheinis geht.
«Sobald ich den Hausarzt oder Notdienst erreicht habe, komme ich zurück.»
Allzu bekannt sind dem Mädchen die Einfahrt, der gepflasterte Holperweg, die große Hand des Chauffeurs.
Sicherheitshalber lässt sie die Haustür des Nachbarn weit geöffnet. «Sodringt ein wenig kühle Luft aus dem Treppenhaus zu euch hinein», erklärt sie ihrem Sohn über die Schulter. Den wahren Beweggrund behält sie für sich. Sie will von ihrer Wohnung durch den Türspion jederzeit freie Sicht auf die beiden haben. Sie hebt die drei Beutel auf, stellt sie vor ihrer Tür wieder hin und lauscht, ob sie Stimmen aus dem Flur des Nachbarn hört. Stille. Vorsichtig steckt sie den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn langsam um und öffnet ihre Wohnung. Stella eilt ihr voraus in den Korridor. Mit den Taschen in den Händen tritt sie ein und stößt die Tür mit dem Ellbogen zu. In der Küche lässt sie die Taschen erschöpft auf den Boden sinken. Neben dem Spülbecken türmt sich das schmutzige Geschirr. Rechts und links davon liegen Tüten mit Chips und Abfallresten, auf einem Teller daneben noch zwei Scheiben Brot mit Butter und Konfitüre vom Frühstück. 26
und buschigen Sträuchern. Sie verhindern die Sicht auf das Anwesen. Eine hohe Mauer schirmt das riesige Gebäude von der Straße her ab. In einem der Nebengebäude steigen sie jeweils in das Untergeschoss.
Leo sitzt unverändert am Boden. Sein Rücken ist an die dunkelgrüne Tapete voller goldener Ornamente gelehnt. Der Nachbar döst mit angewinkelten Beinen neben ihm, ein Arm unter dem Kissen, den anderen unter der Jacke. Die Vertrautheit zwischen den beiden irritiert Nicole. Sie dreht sich ab. «Komm, Stella», sagt sie, streichelt ihrer Schäferhündin über den Kopf und setzt sich in Bewegung. «Ich rufe jetzt einen Notarzt herbei, und sobald ich die Einkäufe eingeräumt habe, komme ich wieder.»
Du solltest die Küche aufräumen und die Jalousien nach unten kurbeln, du bist schlampig!Die fremde Stimme in ihr meldet sich wieder. Sie steht auf, schließt das Fenster, nimmt das Smartphone in die Hand und überlegt, wen sie anrufen soll. Den Hausarztpikett?Sie wählt den Notdienst. 27
Fahrig sucht sie in ihrer Handtasche nach dem Smartphone. Sie legt es auf den Tisch und reißt das Fenster auf. Heiße Luft drückt ihr entgegen. Sie gießt sich ein Glas Wasser ein und setzt sich mit einem tiefen Seufzer hin. Draußen quietschen und planschen die Kinder auf dem Spielplatz in aufblasbaren Becken, welche die Mütter mit Wasser gefüllt haben. Einer Sphinx ähnlich lässt sich Stella auf dem Küchenboden nieder. Hechelnd schaut sie zu ihr hoch. Dazu schlägt sie mit ihrem kräftigen Schwanz ein paar Mal auf den Boden. «Bei dieser Hitze würdest du deine Pfoten lieber im Wasser abkühlen, statt mit mir beim Nachbarn zu wachen, da bin ich sicher.» Nicole hadert. Ich sollte endlich den Notdienst anrufen, mahnt sie sich. Oder einfach einen Arzt, der gerade erreichbar ist. Was ist, wenn der Nachbar in der Zwischenzeit stirbt?Einen erneuten Zusammenbruch erleidet?Gar einen zweiten Infarkt oder Schlaganfall?Und das auch noch mit ihrem Sohn als Zeugen!Sie schafft es kaum, die Arme zu heben und das Handy in die Hand zu nehmen. Ihr surrender Kopf verweigert ihr den Befehl. Gedankenkarussell. Freier Fall. Ins Bett kriechen. Der Wunsch, Albträume auszuradieren. Wozu bin ich noch hier?Die Todessehnsucht brüllt ihr zu. Sie würde zwar schon gerne leben. Aber anders. Sich unbeschwert fühlen. Angstfrei sein.
Foto:Patric Spahni Franziska Streun Geb. 1963, lebt in Thun, ist Buchautorin und Coach, leitet Schreib-Workshops und arbeitet als Journalistin und Redaktorin beim ‹ Thuner Tagblatt ›;«unlebbar»ist ihr sechstes Buch im Zytglogge Verlag. Zuletzt erschien von ihr 2020 die Romanbiografie «Die Baronin im Tresor», die zum Zeitpunkt des Erscheinens von «unlebbar»inder sechsten Auflage vorliegt. 2021 hat die Stadt Thun sie mit dem Literaturpreis ausgezeichnet.
Der 75-jährige Fred bricht in seiner Wohnung zusammen. Seine Nachbarin Nicole und ihr Sohn Leo finden ihn und alarmieren den Notarzt. Dieser verordnet dem Alleinstehenden Bettruhe, und Nicole übernimmt widerwillig die Aufgabe, regelmäßig nach ihm zu schauen. Fred nutzt die Gelegenheit, sein Gewissen zu erleichtern. Doch Nicole hat mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen. Nach und nach realisiert sie, dass ihre traumatische Kindheit auf verhängnisvolle Weise mit Freds Vergangenheit verknüpft ist. Mit ihrem fesselnden Kammerspiel gibt die Autorin all jenen eine Stimme, die Opfer schwerster Gewalt wurden und werden, ohne darüber reden zu können. Der Roman basiert auf wahren Begebenheiten. Die daraus konstruierte Handlung ist jedoch frei erfunden. Franziska Streun verbindet in «unlebbar» Nachrecherchen zu ihrem 2 13 erschienenen Buch « Mordfall Gyger – eine Spurensuche» über das Tötungsdelikt von 1973 am 14-jährigen Beat Gyger mit dem Schicksal einer Frau, die als Kind wenige Jahre davor von Männern aus demselben Kreis miss braucht wurde und ihr ihre Geschichte erzählt hat. «Für‹Mordfall Gyger› hat Franziska Streun akribisch die Fakten hinter einem ungelösten Kriminalfall recherchiert, der die Schweiz einst bewegte. Im Roman ‹unlebbar› liefert sie jetzt die Fiktion, was damals mit Beat geschah: packend,aufwühlend und erschreckend plausibel.Sehr lesenswert!» Luzia Stettler, Literaturjournalistin