Miriam Veya: ‹Tod im Cabaret Voltaire›

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CABARET IM TOD VOLTAIRE

JOSEPHINE WYSS ERMITTELT ROMAN MiriamVeya TodimCabaretVoltaire

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Lektorat:ThomasGierl

Korrektorat:AnnaKatharinaMüller

Coverbild:Spiegelgasse1,StadtZürich,BaugeschichtlichesArchiv, SchweizerischeLichtbildanstalt

Umschlaggestaltung:Hug&Eberlein,Leipzig

Layout/Satz:3w + p,Rimpar

Druck:CPIbooksGmbH,Leck

ISBN:978-3-7296-5122-7

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MiriamVeya TodimCabaret Voltaire JosephineWyssermittelt Roman

JosephinebliebwieangewurzelthinterderTürstehen,die miteinemlautenKnallinsSchlossgefallenwar.Ausdem TreppenhausklangdasPolternderMänner,diedenSarghinuntertrugen,undvonderStraßedrangenGesprächsfetzender wartendenLeutenachoben.

Siefühltesichverkleidet.DerungewohntlangeRock,dessenschwererStoffsieindenBodenzuziehenschien,alsob ermitWasservollgesogenwäre,diehochgeschlosseneBluse mitdenaltmodischenRüschenaufderBrust,daskratzige Jäckchen,allesinschwarz.DieseunmöglicheVorkriegsmode. SiezogamBlusenkragenundversuchte,denStoffetwasweicherzumachen.Warummussteersoengsein?AuchdieStäbedesKorsettsschienensichinihreRippenzubohren,und dieHutnadelkratzteaufihrerKopfhaut.Sieseufzteundwarf einenletztenprüfendenBlickindenSpiegel.Sosollteesgehen.

SiestreiftedieHandschuheüberundgriffnachihrerTasche.NachkurzemZögernöffnetesiedieobersteSchublade derKommode,nahmeinzusätzlichesTaschentuchheraus undstopfteesinihreJackentasche.

NebenihrwarteteAlmaundsahmiterwartungsvollem Blickzuihrhoch.

«Nein,heutedarfstdunichtmitkommen»,sagteJosephineundschobdenBobtailzurSeite,«Friedhöfesindnichts fürHunde,daliegenvielzuvieleKnochenherum.»SiequältesichzueinemLächeln.Dasssieüberhauptfähigwar,einen solchenSpruchzumachen.

AlmazogdenKopfein.

«Ichweiß,duvermisstihnauch»,flüsterteJosephine,ließ sichaufeinKniehinunterunddrücktedenHundansich.

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Almawinselteleise.

IndiesemMomentschrilltedieTürklingel,undsiezucktenbeidezusammen.

JosephinewischtesichdiewässrigenAugenundstreichelte AlmanocheinmalüberdenKopf.Dannerhobsiesich,zog ihrenMantelüberundnahmdenSchirm.IndenletztenTagenwaresmerklichkühlergeworden,undeinbeißender HerbstwindzogumdieHäuser.Gesternhattesieschrecklich gefroren.AuchheutehattensichdunkleWolkenüberZürich zusammengeballt.

SieatmetetiefeinundöffnetedieTürzumTreppenhaus. IhreBeinefühltensichbleischweran,alssielangsamdieStufenhinunterstieg.SieöffnetedieHaustür,undsofortverstummtendieGespräche,amliebstenwäreJosephineimErdbodenversunken.GleichnebenderTürstandKlara, zuvorderstinderMenschenmenge.Siewarebenfallsschwarz gekleidet,jedochnachderneuestenMode,mitwadenlangem Kleid,gesticktemUmhangundGlockenhut.InderHand hieltsieeinenkleinenStraußweißerNelken,densieihrin dieHanddrückte.Dannumarmtesiesieundsagteleise: «Wirschaffendas,Josy!»

JosephinelehntefüreinpaarSekundenihrenKopfandie SchulterihrerFreundin.KlarasParfumstiegihrindieNase, undderSchleieranihremHütchenkitzeltesieamOhr. Könntesiedochnurfürimmersostehenbleiben,indieser tröstendenUmarmung.DochKlaraschobsiesanftwieder vonsich.

EinigeLeutetratenzuihnenheran,FredsFamilie,Freunde undBekannte.SiegabenihrdieHandundmurmeltenihr Beileid,mancheumarmtensie.Josephinestandda,unfähig, etwaszusagenodersichzubewegen.

FredsMutterdrücktesiefestansichundJosephinespürte, wiederKörperderArbeiterfrauzitterte.ÜberdieSchulter

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vonFredsMuttersahsiedessenVater.ErschienumJahre gealtert,seitsieihnvoreinerWoche,alsdieNachrichtvom UnfallseinesSohneseingetroffenwar,gesehenhatte.Seine StirnwarintiefeFaltengelegt,undersahsiemitgeröteten Augenan.SiekonntedieVerzweiflunginseinemBlicknicht ertragenundwandtesichraschwiederFredsMutterzu.Diese löstesichlangsamausihrerUmarmungundstrichihrmit beidenHändenüberdieOberarme.Siewollteetwassagen, schluchzteabernurleiseauf.

«Josy»,sagteKlaraundzupfteJosephineamÄrmel,«wir solltenlos.»

KlaraführtesiezumPferdewagen,aufdendieTrägerden geschlossenenSarggehobenhatten.Josephineließsichmitziehenundversuchte,aufdemgrobenKopfsteinpflasternicht dasGleichgewichtzuverlieren.HättesiedochwenigstensbequemeSchuheanundnichtdieseDamenschühchenmitden Absätzen.

DieMenschengruppe,diedieStraßeübereinehalbeHäuserzeileentlangblockierthatte,setztesichlangsaminBewegung.Allewarengekommen,FredhattevieleLeutegekannt, warüberallbeliebtgewesenundgeschätztworden.Josephine freutesichdarüberundgleichzeitigmachteessienochtrauriger.Diemeistenkanntesie,docheswarenaucheinigedabei, vondenensienichtwusste,wersiewaren.

AusdenAugenwinkelnsahsieeinenMann,deretwasabseitsderGruppeging.ErüberragtedieanderenMenschen umeiniges,obwohlerdenKopfgesenkthielt.ErkamJosephinebekanntvor,dochsiewusstenicht,woher.Jetztsaher auf,undihreBlickebegegnetensich.SeinestruppigenHaare unddieGrübcheninseinenWangenverliehenihmtrotzseinerGrößeeinjungenhaftesAussehen.Siesenkteraschden Blick.

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BeiderSchmiedeWiedikondrängtesichderTrauerzug zwischenStraßenbahnenundAutoshindurchaufdieandere StraßenseiteundbewegtesichdannaufderAemtlerstraße RichtungFriedhofSihlfeld.

DerHufschlagderPferde,dasRatternderHolzräderund dasgelegentlicheMurmelnderMengeplätschertenalsHintergrundgeräuschzuihrenGedanken.

Nunwaresalsosoweit.IhrEhemannwurdebegraben.

SchonvonWeitemsahJosephinediezweischwarzgekleidetenGestaltenvordemschmiedeeisernenFriedhofstorstehen. IhreEltern.DerKragenihrerBlusewurdenochenger.

«DeineEltern»,sagteKlaraleiseunddrückteJosephine, «auchdasnoch.»

«Ichhabeschongedacht,dasssiekommenwerden»,antwortetesieebensoleise.

«Hastdusiebenachrichtigt?»

«Ja,ichhabeihneneineKartegeschickt.Anrufenmochte ichnicht.Ichhättegarnichtgewusst,wassagen. ‹ Hallo,wie gehteseuch?MeinMannistgeradegestorben.› Nachzehn Jahren,indenenwirnichtmiteinandergesprochenhaben. Unmöglich.»

Klaranicktezustimmend.

«NunmussichalsoheutenichtnurmeinenMannbeerdigen,sondernauchnochmeinenElterngegenübertreten.»

«Denkensiewohlimmernoch,dassFreddichihnendamalsweggenommenhat?»

«Wennichdaswüsste.»

DieSpitzedesTrauerzugswarjetztamEingangdesFriedhofsangekommen,undderPferdewagenstoppte.Weitund breitwarkeinPfarrerinSicht,derhättesiehierdochin Empfangnehmensollen.

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Josephinebliebalsonichtsanderesübrig,alszuihrenElternzugehen,diewieangewurzeltbeimTorstehengeblieben waren.

«He,dudrückstmirjadasBlutab»,beschwertesichKlara.

SielösteJosephinesHandvonihremArmundschobsie nachvorne.

«GutenMorgen»,sagteJosephineundstreckteihrer MutterdieHandhin.

DieseschautesieprüfendvonobenbisuntenanundergriffihreHanddannmitfestemGriff.

«GutenTag,Josephine.UnserherzlichesBeileid.»

«Danke»,antwortetesieundzogihreHandzurück.

«Ja,unserherzlichesBeileid»,wiederholteihrVaterund nickteihrförmlichzu.

WieimmersahenihreElternwieausdemEigepelltaus. Altmodischzwar,abersehrelegantundgepflegt.IhrVater trugeinenmaßgeschneidertenschwarzenAnzugmitWeste, goldenenManschettenknöpfen,blütenweißemKragenund schwarzerFliege.SeinSchnauzwarperfektgestutzt,undauf seinemKopfthronteeinZylinder.AnseinenFüßenglänzten frischpolierteschwarzeSchuhe.

AuchdieSchnallenschuhe,dieunterdemlangenRockihrerMutterhervorblitzten,warenmakellos,dieOberflächen ohneeinenKratzeroderFleck.DieStoffeihrerKleidungwarenvonhöchsterQualität,undjedesDetailwaraufeinander abgestimmt,derSchmuckteuerundgeschmackvoll.AufihrenperfekteingedrehtenundhochgestecktenHaarentrugsie einengroßenHutmitbreiterKrempe,derihrtrotzderetwas veraltetenFormeinmondänesAussehenverlieh.

IhrVaterräuspertesich.«Wennwiretwashelfenkönnen … »

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«DieserSarg»,unterbrachihnJosephinesMutter,«der siehtnichtsehr … wiesollichesausdrücken … professionell hergestelltaus.Geschweigedennstabil.Werhatihngezimmert?»

«Louise»,warfihrVaterein,«dasgehtunsdochnichts an.»

IhreMutterschauteihnmithochgezogenenAugenbrauen an.«Mandarfdochwohlnochfragen?»IhrVaterzoges anscheinendvor,nichtsmehrzusagen,undauchJosephine ließdieFrageunbeantwortet.

«MeineLiebe,duverstehst,dasswirnichtmitdemTrauerzugmitlaufenkonnten»,wechselteihreMutterdasThema,«das,nun,dashättesichnichtgeziemt.»

«Natürlichnicht.Eshättejajemanddenkenkönnen,dass ihrBekannteausdemArbeitermilieuhabt.»

IhreMuttersahsienunebenfallsentrüstetanundschütteltemissbilligenddenKopf,sodassihrHuthinundher schwankte.«Wieauchimmer»,bemühtesiesichumFassung,«deineSchwesterundEmilsolltenauchgleicheintreffen.UndwobleibteigentlichderPfarrer?Solltedernicht schonlangehiersein?Heinrich,ichbittedich,fragdocheinmalnach.»

«Louise,esistdochbestimmtnichtanuns,nachdem Pfarrerzufragen.»

«Mama,erwirdsichergleichhiersein.»

IndemMomentspürteJosephine,dasssichhinterihretwasbewegte.SiedrehtesichumundsahFredsEltern,die schüchternnäherkamen.Anscheinendwolltensiesichihren Elternvorstellenlassen.SielächeltedasEhepaarWyssanund sagtedann:

«Mama,Papa,dassindHerrundFrauWyss,FredsEltern. UnddassindmeineEltern,HerrundFrauVonarburg.»

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LouiseVonarburglächeltesäuerlichundHeinrichVonarburgtipptesichandenHut.DieausgestrecktenHändevon FredsElternignoriertensie.DiesebliebenunentschlossenstehenundFredsVaterzogdenKopfeinwieeingeschlagener Hund.

Josephinereichtees.EswarjadasEine,wennihreEltern sonstalleskritisierten,abersichdenElternihresMannesgegenübersoherablassendzubenehmen,gingzuweit.VorallemandiesemTag.

SiehakteHerrnundFrauWyssunterundzogsiewegvon ihrenEltern.

«Estutmirleid»,flüstertesie.

«DasindCharlotteundEmil»,riefKlara.

JosephinesSchwesterundihrMannkamenüberdieStraße,auchsiesehrelegantgekleidet.IhreältereSchwesterumarmtesieundEmildrückteihrdieHand.Sieentschuldigten sichfürdieVerspätungunderklärten,dasssiedieKinder nichthattenmitnehmenwollenunddiesedannaberprompt kurzvorihrerAbfahrteinenungeheuerlichenTumultveranstaltethätten.

AuchVonarburgskamennunheranundbegrüßtenCharlotteundEmilherzlich,dannherrschteStille.Josephinekam esvorwieeineEwigkeit.

EndlichtratderPfarrerausdemSteingebäudeaufderlinkenSeiteunderlöstesie.

DerPfarrerführteJosephinehinterdemPferdewagendurch dasTorundgingdannnebenihrdiebreiteKastanienallee hoch.DichthinterihnenfolgtenFredsElternundKlara,danachdierestlicheTrauergemeinde.IhreSchritteknirschten aufdemKies,niemandsprachmehr.AmEndederAllee throntedasKrematorium,einimposanterBaumitgroßem Portal,Säulengang,SteinfigurenundEckpavillons.Normaler-

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weisehättesichJosephineanderaußergewöhnlichenArchitekturerfreut,dochheutesahsiedasGebäudenurwiedurch einenSchleier.VordemEmpfangshofmitdemWasserbecken berührtederPfarrersiebehutsamamArmundzeigtenach links.

«Hierdurch,bitte»,sagteer,undmechanischbogJosephineaufdenkleinenWegab.AndessenEndekonntesiein derGrabreihe,dieihnenamnächstenwar,einedunkleGrube erkennen.AmErdhaufendanebenlehnteeinschlichtesHolzkreuz.GenaudaraufführtesiederPfarrerzu.DieMänner ludendenSargvomWagenundstelltenihnnebendieGrube.DerPfarrerbedeuteteJosephine,näherheranzutreten.Die anderenLeuterücktennachundversammeltensichrundum dasGrabvonAlfredWyss.

DerPfarrerbegannzuerzählen,vonGott,denMenschen, vonFred,nurallgemeine,unpersönlicheDinge,erhatteihn nichtgekannt.JosephinesGedankenschweiftenabzuFred, alsernochlebteundnichtindieserHolzkistelag.SeineAugen,seineHände,seineFröhlichkeit,seinlautesLachen.DamithatteereinenganzenRaumfüllenundalleanwesenden Leuteansteckenkönnen.Daswaresauchgewesen,wassie vomerstenAugenblickaninihrenBanngezogenhatte.Seine charismatischeArt,derkaumjemandhattewiderstehenkönnen.SeineBegeisterungfürdiekleinenDinge,aberauchfür diegroßen,fürGerechtigkeit,fürFrieden,fürFreiheit.Wieer sichhatteeinsetzenkönnenfürandere,wieergekämpfthatte fürMenschen,deneneswenigergutgingalsihm.Undtrotzdemwarerimmeroptimistischgeblieben,hattevielundgernegelacht,auchübersichselbst.SielächeltebeiderErinnerungdaranundsenkteraschdenBlick.Hoffentlichhattees niemandgesehen.WaswürdendieLeutedenken,wenndie WitweamGrablächelte?

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SiebemühtesichumeineernsteMieneundhobvorsichtig denKopf.IhrBlickfielerneutaufdengroßenMann,der jetztrechtsvomSargamRandderMenschengruppestand.Er hieltdenKopfgesenkt,betrachteteseineHände,mitdenen ersichanseinerMützefestklammerte.Jetztsaheraufund schauteihrdirektindieAugen.

Schnellblicktesiewegundversuchte,sichaufdieRededes Pfarrerszukonzentrieren.DochdessenMundbewegtesich nur,wasersagte,drangnichtbiszuihrdurch.Sieließden BlicküberdieMenschenmengeschweifenunddannhochin dengrauenHimmel.Könntesiedocheinfachwegfliegen. FloskelhafteSatzfetzenerreichtenihrOhr:«tragisch»,«in sojungenJahren»,«fürdieHinterbliebenenschwerzuverstehen».

DieeineFrage,dieinihremKopfkreiste,seitsiedieNachrichtvonFredsToderhaltenhatte,bohrtesichwieder schmerzhaftinihrBewusstsein:WelchenSinnhattees,dass einjunger,gesunderMann,derniemandemetwasBösesgewollthatte,beieinemAutounfallumsLebenkam?Undsie alsWitweimAltervonneunundzwanzigJahrenzurückließ? Witwe,wiedasklang.

SiesahwiederdasAutovorsich,wieesvonderQuaibrückehing,dasEisengeländerdurchbrochen.DieMotorhaube ragteüberdenFlusshinausunddasFahrzeugschienjeden AugenblickdieBalancezuverlierenundinsWasserzukippen.DerFahrerhatteanscheinenddieKontrolleverloren undFredaufdemTrottoirerfasstundüberrollt.Erseisofort totgewesen.DanachwardasAutoinsBrückengeländergekracht;auchderFahrerwarnochanderUnfallstelleverstorben.BisJosephinebenachrichtigtwordenwarundaufder Brückeankam,warschonallesgeräumtundderVerkehrrolltewieder,wiewennnichtsgeschehenwäre.NurdasAuto hingüberdemFlusswieeinegroteskeKunstinstallation.

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Eswarstill,verdächtigstill.KlarastupsteihrindieSeite. VerwirrtschautesieaufundsahalleBlickeaufsichgerichtet.

«Josy,dubistdran»,flüsterteKlara. WasmeinteihreFreundin?

«DieBlumen,dumusstdieBlumenaufdenSarglegen.»

DerPfarrerstreckteseineHandnachihrausundwinkte siezusichheran.Siestolpertenachvorneundfühltesichwie früherinderSchule,wennsieandieWandtafelmussteund nichtwusste,wiedieLösunglautete.

VordemSargbliebsiestehen.DerPfarrerdeuteteaufden StraußinihrerHand.MitzitterndenHändenlegtesiedie weißenNelkenaufdenSarg.Tränenstiegeninihrhochund siekramtenachdemTaschentuch.Alssieesherauszog,blieb dieSpitzenbortedesTuchesamGriffihrerTaschehängen unddasStoffstückfielzuBoden.WieeinSchneeflecklages aufdemdunklenBodennebenihrenFüßen.Siekonntesich nichtbewegen,dasTaschentuchnichtaufheben.

«Allesgut,Josy.»Klarawarzuihrhingetreten.Siehob dasSpitzentuchauf,schüttelteesausundreichteesJosephine.DannlegtesiedenArmumsieundJosephinelehntesich dankbaranihreFreundin.

KlaraumfassteihreHandundsagteleise:«Estutmirso leid.»

DannzogsiesievomSargwegwiederanihrenPlatzzurück.JosephinezitterteamganzenKörperundTränenliefen ihrüberdasGesicht.Verschwommensahsie,wiedieanderen LeutezumSargtraten,BlumenhinlegtenundsichvonFred verabschiedeten.

DannsprachderPfarrerdenSegenundkündigtean,dass sienunzurAbdankungindieKapellegehenwürden.Der SargwerdespätervonFriedhofsangestellteninsGrabhinuntergelassenunddasKreuzaufgestellt.

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DiePredigtimRaumderFriedhofskapellebekamJosephine nurwiedurcheinendickenVorhangmit.DieOrgelmusik, dasSingenderTrauergemeinde,dasgelegentlicheHüsteln undRäuspern,allesschienweitwegzusein.Siebetrachtete ihregefaltetenHändeimSchoss.Wennnurschonallesvorbeiwäre.

EndlicherhobensichallezumSchlussgebet.Josephine wurdeeskurzschwarzvorAugen,alssieaufstandundsie hieltsichanKlarafest,dienebenihrdieWortedesVaterunsermurmelte.

AlssiekurzdaraufausderKapelletraten,atmeteJosephine tiefein,diefrischeHerbstlufttatgut.JetztnurnochdieVerabschiedungdurchstehenunddannkonntesieendlichweg vonhier.

DraußenbeimTorschütteltesiedieihrhingestreckten Hände,ließsichüberdieSchulternstreichelnundhörtesich dietröstendenWortean,vondenendieLeutewohldachten, dasssieihrhalfen.Aberwassollteihrdennhelfen?

EigentlichwäreesTraditiongewesen,dasssiealsWitwe zumLeichenmahleingeladenhätte.Dochsiehatteihre Schwiegerelternangefleht,dasssiedaraufverzichtensollten. DieKostenseiensoschonenormhoch.Dafürhattendiese sofortVerständnisgehabt;auchsiehattensichalleinnurfür dieTrauerkleidungbereitsverschuldenmüssen.

JosephinewaresjedochnichtnurumdasGeldgegangen, sondernsiehattegewusst,dasssienachderAbdankungnur nochalleinseinwollte.AlleinmitihrenGedanken,alleinmit Fred.

SoverabschiedetensichdieschwarzgekleidetenMenschen einernachdemanderenvonihrundverließenmitgesenkten KöpfendenFriedhof.AufderanderenSeitedesToressah JosephinedenhochgewachsenenMannstehen.Ernickteihr

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zu,setztedannseineMützeaufundgingmitlangenSchrittenRichtungAlbisriederplatz.

AlsLetztetratenihreElternzuihrhin.

Josephinewolltesichauchvonihnenzügigverabschieden, siesehntesichnachRuhe.Zudemfühltesiesichnichtinder Lage,sichnochmalsmitihnenzuunterhalten,wennsiesich ohnehinnurKritikanhörenmusste.JedesfalscheWort konntejetztdasFasszumÜberlaufenbringenunddiealten Streitereienwiederauflebenlassen.

SiedrücktebeidendieHand,bedanktesich,dasssiegekommenwarenundwollteschongehen,alsihreMuttermit gepressterStimmefragte:«Sehenwirdichwieder?»

JosephinezupfteanihremKragenherum.«Ichmelde mich»,antwortetesie,«lasstmireinbisschenZeit.»

«Nun,duweißt,woduunsfindest.FallsduHilfe brauchst.DeinVaterwürdesichfreuen,dichzuunterstützen. Dasweißtdu.»

«Ja,selbstverständlich.Jederzeit»,bekräftigteHeinrich Vonarburg.

«Danke»,sagteJosephine,«aberichmussjetztgehen.»

SiewandtesichumundließihreElternstehen.AufeigenartigeWeisetatensieihrleid.

Fasthättesievergessen,KlaraAdieuzusagen,dochdiese hattesieschoneingeholt.

«Wowillstdudennhin?NachHause?»

«Nein,ganzbestimmtnicht,dafälltmirnurdieDecke aufdenKopf.IchgeheinsBüro,dortgibteseinigeszutun.»

«InsBüro,jetzt?EsistjaschonfastAbend.»

Josephinenickte.

«Sollichmitkommen?»,botKlaraan.

«Nein,ichmussjetzterstmalfürmichsein»,antwortete Josephineundfühltesichschuldig,dasssieihreFreundin,die ihrsogeholfenhatteseitFredsTod,zurückwies.

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SieumarmteKlarazumAbschied.Dannmachtesiesich aufdenWeginRichtungInnenstadt.

BereitsamStauffachertatenihrdieFüßeweh,undamrechtenkleinenZehbegannsicheineschmerzhafteBlasezubilden.DassteifeLederderSchuheunddieungewohntenAbsätzequältensieundsiesehntesichnachihrengroben, abgetragenenAlltagsschuhen,indenensiestundenlanggehen konnte,ohnesieanihrenFüßenzuspüren.Siewarschon immergernezuFußunterwegsgewesenoderdannmitdem Fahrrad.Sieliebtees,denFahrtwindimGesichtzuspüren undsichimStraßenverkehrdurchzuschlängeln.Geschlossene Fahrzeugeengtensieein,undseitFredsUnfallwardiesesGefühlnochvielstärkergeworden.

AufderHöhederSihlbeganneszuregnen.Siespannte denSchirmaufundversuchte,diedurchdenWindschräg einprasselndenTropfenabzuwehren.BeimSpeiselokalSihlhofüberquertesiedenFlussundkurzdaraufdenSchanzengraben.FastjedenMorgenwarsiediesenWegmitFredzusammengegangen.DiehalbeStundevonihrerWohnungin WiedikonzumBüroimNiederdorfwarihnenheiliggewesen, siehattenurihnengehört.Manchmalwarensiedenganzen WegineinGesprächvertieftgewesen,manchmalhattensie aucheinfachgeschwiegen.UndauchwennsiedieUmgebung in-undauswendigkannten,hattensiejedesMaletwasNeues entdeckt.JenachWetterundJahreszeitsahdieStadtimmer wiederandersaus,dasLicht,dieBäume,dieFarbedesWassers.DochheutehatteJosephinekeineAugenfürdieUmgebung.NiewiederwürdesiediesenWegmitFredgehenkönnen.

WindböenpeitschtenplötzlichdurchdenRegenundlenktensievonihrendüsterenGedankenab.Sieumfassteden GriffdesSchirmesfesterundbereute,dasssiebeidiesem

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WetterundindiesenunpraktischenKleiderndurchhalbZürichwanderte.TrotzderKälteschwitztesie.DerengeSpitzenkragenihrerBlusekratztewieverrückt,undderlange RockschleifteamBodenentlang.Siewünschte,siewärenach derBeerdigungzuerstnachHausegegangenundhättebequemereKleidungangezogen.

Gleichzeitigwarsiefroh,dieseäußerenDingezuspüren, diekalteLuftunddieNässe,dielangsamdurchdenStoffbis aufihreHautdrang.SielenktenvomSchmerzinihrerBrust abunderlaubtenihr,füreinigeMinutenetwasandereszu empfinden.SeitFredsTodfühltesiesich,alsobihrKörper vorneinderMitteaufgeschnittenwordenwäreundihrInneresschutzlosdaliegenwürde.WiesollteeinesolcheWunde jemalsheilen?

DerStraßenlärmwurdelauter,jenähersiedemStadtzentrumkam.DieBahnhofstraßemitihremregenVerkehrund denvielenLeutenlagnunquervorihr.TrotzderschmerzendenFüßeschrittsieaus,schlüpftezwischendenMenschen undFahrzeugenhindurchunderreichteendlichdieLimmat. Jetztwaresnichtmehrweit.ÜberdieRudolf-Brun-Brücke gelangtesiezumLimmatquaiunddannhochinsNiederdorf.

AufdieserSeitederStadtherrschtejahrein,jahrausemsiges Treiben.AuchjetzthörteJosephine,schonbevorsieindie Hauptgasseeinbog,dasHämmernundSchleifenderHandwerker.HändlerbotenihreWarenfeilundversuchtendie PassantenmitlautstarkemRufenanzulocken.Waschfrauen schrubbtenmitrotenGesichternundHändenKleidungsstückeingroßenZubern.EinRosskarrenpoltertedurchdie Straße,JosephinekonntesichgeradenochaneineHäuserwanddrücken,dieHolzräderdesWagenskämpftenmitdem Kopfsteinpflaster.KinderranntenindemganzenGetümmel freiherumundspieltenFangen.IhrstiegendieunterschiedlichstenGerücheindieNase,anjederHauseckeeinanderer.

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DabeigehörtenverbranntesFett,verfaulteKüchenabfälleund Pferdeschweißnochzudenangenehmeren.

WasihreMutterwohldenkenwürde,wennsiediesen Rummelsähe?IhreMutter.ObsieinihremLebenjemalseinenFußinsNiederdorfgesetzthatte?

«HoiJosephine»,riefjemandlautüberdieGasse,«was machstdudennnochsospäthieraneinemFreitagnachmittag?»

DieStimmeholtesiezurückindieRealität.Siegehörtezu HansSchmid,demWirtdesGasthauses,dasgegenübervon FredsBürolagundindemJosephineundFredmindestens einmalproMonatzuMittaggegessenhatten.

Siemurmelteetwasundeilteweiter.ObwohlHanseine guteSeelewar,hattesiekeineLust,mitihmzusprechen.OffensichtlichhatteernochnichtsvonFredsUnfallgehört. UnddasLetzte,wassieimAugenblickwollte,war,nocheinerPersonzuerzählen,dassihrManntotwar.Siebogum dieHauseckeindenkleinenVorhofundeilteaufdieTürdes zweistöckigenGebäudeszu,indemFredsBürountergebracht war.DasHauslagetwaszurückversetztvonderStraßeund sahaus,alsseieszwischendieanderenAltstadthäuserhineingezwängtworden.

AlfredWyss,AuskunftsstellefürvermisstePersonen,FlüchtlingeundKriegsgefangene standdichtgedrängtaufeinemkleinenSchildnebenderKlingel.

JosephineschlossdieschwereHolztürauf,stemmtesich dagegenundschobsiemühsamauf.ÜberdieschiefeTreppe gelangtesienachobenindenerstenStock.Sieschlossdie TürmitdemMilchglaseinsatzaufundöffnetesie.DieLeere, diesichvorihrauftat,schnürteihrfüreinpaarSekundendie Luftab.ZwarsahdasBüroauswieimmer,alleswaransei-

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nemPlatzbeziehungsweiseinFredscherManierunordentlich verteilt.Docherselbstfehlte.

ErschöpftließsiesichaufeinenderBesucherstühlevordem großenSchreibtischfallen.HutundHandschuhewarfsieauf denStuhlnebensichundzogdiedurchnässtenSchuheaus. IhrAtemgingschnell,unddieHitzestiegihrinsGesicht.Sie warzuhastiggelaufen.ÄchzendschältesiesichausdemengenJäckchenundöffnetedieoberstenKnöpfeihresBlusenkragens.Sielehntesichzurückundwartete,bissichihrHerzschlagberuhigthatte.

EswardunkelimRaum.EswarimmerdunkelinderAuskunftsstelle,besondersjetztimWinterhalbjahr.Diekleinen FensterunddiehohenHäuserrundherumließennichtviel Lichtherein.SieschaltetedieSchreibtischlampeanundein hellerStrahlfielaufdieHolzplatte.DiebraunenMöbel –Schreibtisch,Stühle,Regale,Aktenschränke – schienendie wenigenLichtstrahlenaufzusaugen.JosephinehattedieBüroausstattungniesonderlichgefallen,siehättegernehellere, leichtereStückegehabt.DochFredsVaterhattebeiderEröffnungderAuskunftsstellevorvierJahrendaraufbestanden, dasserdieEinrichtungbeisteuerte.SeinSchreinerstolzhatte esnichtzugelassen,dassseinSohnunddessenFrauMöbel kauften.NureinkleinerweißerTischmitpassendemStuhl inderEckefielausdemRahmen.DieswarihrArbeitsplatz, andemsiejedenTagFredsPapierkramerledigthatte.

SiegriffnachdemBilderrahmen,dermitderRückseitezu ihraufdemSchreibtischstand.IhrHochzeitsfoto.Fred schauteernstindieKameraundhieltsiefestimArm,sie selbstlachteübersganzeGesichtundlehnteihrenKopfan seineSchulter.Erhattesichimmerlustiggemachtübersie, dasssieesnichteinmalschaffte,aufeinemFotoernstzu

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schauen.SanftstrichsiemitdemZeigefingerüberseinGesichtunterderkühlenGlasplatte.

Wassolltesienuranfangen?Ohneihnhattedochalles keinenSinnmehr.SeinTodbedeuteteauch,dasssiekeine finanzielleSicherheitundkeineArbeitmehrhatte.DieAuskunftsstellewürdesieniemalsalleinführenkönnen.Diese warFredsIdeegewesen,seineLeidenschaft.Undsowieso: DerKriegwarvorbeiunddieAufträgehattenschonseitLängeremimmerweiterabgenommen.VermisstePersonengabes zwarauchohneKrieg,aberohnedieFlüchtlinge,dieFamilienzusammenführungenunddieKriegsgefangenenwäreihnen dieArbeitwohlohnehinbaldausgegangen.AuchdieZentralstelleinGenf,mitderFredseitseinemEinsatzdortweiterhin zusammengearbeitethatte,würdeesvielleichtnichtmehrlangegeben.SiemusstedieAuskunftsstelleauflösen,denMietvertragkündigenunddasMobiliarverkaufen.Unddann? Vonwassolltesieleben?IhreAussichtenaufeineAnstellung warengering.ZwarhattesienachihremUniversitätsstudium biszurHeiratalsNachhilfelehreringearbeitet,aberdaswar alsWitwesichernichtmehrmöglichundauchzulangeher. UndobwohlsieinderAuskunftsstellediekompletteAdministrationerledigthatte,würdesieniemandalsSekretärin einstellen,daihrdieberuflichenQualifikationenfehlten. Wasbliebdanochübrig?Putzhilfe,Kinderfrau,Näherin?

DasHochzeitsfotoverschwammvorihrenAugenundTränenliefenihrüberdieWangen.Sieunterdrückteein Schluchzen.DieWändewarendünnwiePapier,niemand solltesieweinenhören.

IndiesemMomentklopfteesanderTür.

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JosephinesBlickwandertezuraltenStanduhrinderEcke,ein weitereswuchtigesPrachtstückausdemHauseWyss.AchtzehnUhrfünfzehn,aneinemFreitagabend.Werwollteum dieseZeitnochetwashier?

Siehorchteangestrengt,abernichtsrührtesichimHaus. NurderLärmvonderHauptgassewarausderFernezuhörenundausdemInnenhofdrangdasSchepperneinesKessels.

Wiederklopfteesenergisch.Warumhattesienurdie Schreibtischlampeangeknipst?DasLichtfieldurchdie MilchglasscheibeaufdenKorridorhinausundverrietdem Besucherdadurch,dassnochjemandimBürowar.Beiden hohenStromkostenließniemandausVersehendasLicht brennen.SchongarnichtnachArbeitsschlussvordemWochenende.Siebücktesich,zwängtesichinihrenassenSchuhe undschlichaufZehenspitzenzurTür.IhrHerzpochtebis zumHals.ManchmaltriebensichunheimlicheGestaltenin denHinterhöfenderAltstadtherum,undwomöglichhatte jemandvergessen,dieHaustüruntenabzuschließen.Aber vielleichthattesichauchnurjemandinderAdressegeirrt.Sie atmetetiefeinundsagtelautundbestimmt:

«Weristda?»

«Hallo?»,antworteteeinetiefeFrauenstimme,«ich möchtezuHerrnAlfredWyss.»

«Eristnichtda.»

«Bitte,ichmussihndringendsprechen.»

«Estutmirleid,HerrWyssistnichthier.KommenSie einanderesMalwieder.»DerFrauzusagen,dassFredtot war,brachtesienichtüberdieLippen.

IhrGegenüberhinterderTürschwiegeinpaarSekunden undklopftedannnochmalsansMilchglasfenster,dasinder

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Fassungklirrte.«IchbitteSie,hörenSiemichdochwenigstensan.SiesinddocheineAuskunftsstellefürvermisstePersonen,undichmöchtejemandenalsvermisstmelden»,insistiertedieFremdeundrütteltejetztauchnochander Türklinke.

WaserlaubtesichdieseFraueigentlich?Miteinem SchnaubendrehteJosephinedenSchlüsselumundöffnete dieTür.

MitoffenemMundstarrtesiedieGestaltan,dievomTürrahmenwieeinBildeingefasstwurde.Waswardenndasfür eineAufmachung?

AufdemKopftrugdieFraueineArtTurbanausglänzendemgrünemStoff,geschmücktmitFedernundglitzernden Steinen.DarunterschauteeinkantigerschwarzerPagenschnitthervor,dieseitlichenSträhnenwarenunterschiedlich langgeschnitten.LinksreichtensiebiszurSchulter,rechts endetensiekurzüberdemOhrläppchen.VondiesembaumelteeinriesigerOhrringherunter,derandenWeihnachtsschmuckvonJosephinesElternerinnerte.AuchderHals,die ArmeunddieFingerwarenüppigdekoriertmitauffälligen Klunkern.Nichtsdavonschienechtzusein,essahalleseher auswievonungeschicktenKinderhändengebastelt.DenKörperderBesucherinkonnteJosephinenurerahnen,weite Stoffbahnenfielenandiesemherab,mehrereSchichten,Farben,Materialien.WiewardiesesKleidungsstückdennzusammengenäht?OderwarenesmehrereKleiderübereinander?

DerSaumendetekurzoberhalbderKnöchelundgabden BlickfreiaufeineArtPantöffelchen,gefertigtaushellemLederundmitgoldenenStickereiengeschmückt.

GehülltwardieFraunichtnurinvielStoff,sondernauch ineineschwereParfümwolke.DerDuftstieginJosephines NaseundlösteeinfeinesPocheninihrenSchläfenaus.Auch beiderSchminkehattedieseltsamePersonnichtgespart:Die

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Augenwarenschwarzumrandet,derMundmitkräftigem RotinHerzformgeschminkt,wasihrdasAusseheneiner Puppeverlieh.

Nichtsanihrschienzusammenzupassen,siewirkte,wie wennsieauseineranderenWeltgefallenwäre.IhrAlter konnteJosephinenurschwereinschätzen,vielleichtetwas jüngeralssieselbst.

«Darfichhereinkommen?»,fragtedieFremdejetzt.

Josephinewarsoverblüfft,dasssiewortloszurSeitetrat undsiehereinließ.SchweigenddeutetesieaufeinenderStühleundzwangsich,dieBesucherinnichtweiteranzuglotzen. SiegingumdenSchreibtischherumundsetztesichihrgegenüberaufFredsStuhl.

«Estutmirleid,Siezustören»,dunkleKnopfaugen schautenJosephineflehendan,«aberichweißnicht,anwen ichmichsonstwendensoll.»

«Siemöchtenalsojemandenalsvermisstmelden?»

«Jagenau.»

«WarenSieschonbeiderPolizei?»,fragteJosephineund versuchtesichdaranzuerinnern,welcheFragenFredbeieinemneuenKundenjeweilsgestellthatte.

«ZurPolizei?Dasistunmöglich.DieseHalsabschneider würdenunsniehelfen.Nurkassierenwollensie,sonst nichts.»DieFrauverzogdasGesicht.

Oje,dasschieneinschwierigerFallzusein.

«Werist ‹ uns ›?»,hakteJosephinenachundbereutedie Frageaugenblicklich.PromptergosssicheinRedeschwall übersie.

«Uns,dasistdieKünstlergruppeDADA.Wirhabenein kleinesTheater,dasCabaretVoltaire,vielleichthabenSie schondavongehört,istgarnichtweitvonhier.DiePolizeiist leidernichtsogutaufunszusprechen,wirsind … nunja, eherlautundungewöhnlich.MeinNameistübrigensEdda

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Kurz,undicharbeitealsKünstlerinundPianistinimCabaret.WirmachenTheater,Tanz,Musik,Literatur,einebunte Mischung.»

Josephineerinnertesichvage,dasssieirgendwoetwasvon diesereigenartigenKunstrichtunggehörthatte.

«Nun,ichwillSienichtmitDetailsüberunserTheater langweilen.DieSacheistdie,dasseinemeinerFreundinnen, dieauchimCabaretauftritt,spurlosverschwundenist.NiemandhatsieseitihremAuftrittamletztenSonntagabendgesehen,zudenProbendieseWocheistsienichterschienen undübermorgenistdienächsteAufführung.Niemandweiß, wosiesteckt.IchmachemirsolcheSorgen.»

Eddastoppte,umLuftzuholenundsahJosephineerwartungsvollan.Alssienichtserwiderte,fuhrsiefort:«Undja, diePolizei.DiekommtnichtinFrage.Wirsinddenenein DornimAuge.WirzahlenregelmäßigBußen,damitsieuns denLadennichtschließen.Diewürdeesnichtmalinteressieren,wenn ʼsMordundTotschlaggäbebeiuns.»

JosephineriebsichdieSchläfen.WarumhattesiedieFrau nurhereingelassen?OhneFredkonntesiejaohnehinkeine Aufträgemehrannehmen.Hättesiesiedochnurabgewimmelt!EddasolltesieeinfachinRuhelassenundwiedergehen.

DieseließsichvonJosephinesSchweigenjedochnichtirritierenundredetemunterweiter:«SindSieHerrnWyss’ Sekretärin?KönnenSiemirsagen,wannerwiederhierist?Am Montag?Esistwirklichdringend,undichwäresehrfroh, wennichihnsoschnellwiemöglichsprechenkönnte.Erist dochspezialisiertaufvermisstePersonen,oder?EinBekannterhatmichanihnverwiesen.DessenBruderwurdenach demKriegvermisst,undHerrWysskonnteihmdamalsweiterhelfen.MeinBekannterhatindenhöchstenTönenvon ihmgesprochen.»

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«IchbinnichtseineSekretärin»,unterbrachJosephine dasGeplapper,«ichbinseineFrau.Ich … warseineFrau.»

«War?Wieso?HaterSieverlassen?»

JosephinewolltedieserFremdennichtsübersichoderFred erzählen,aberesschiendieeinzigeMöglichkeitzusein,sie loszuwerden.

«Nein,er … eristgestorben,voreinerWoche.»

EddasahsiemitoffenemMundan.«MeinBeileid.Wenn ichdasgewussthätte … »

«KonntenSiejanicht.Aberwiegesagt,ichkannIhnen wirklichnichtweiterhelfen,soleidesmirtut.Sieverstehen.»

«Selbstverständlich.»

NunwürdeEddabestimmtendlichgehen,dochsiemachte keineAnstaltenaufzustehen.IhrefastschwarzenAugen blicktenJosephinenachdenklichan.«ArbeitenSieauch hier?»,fragtesiedann.

«Ja,ichhabebeiderAdministrationgeholfen,Botengänge erledigt,dasTelefonbedient,solcheDinge.»Wasspieltedas füreineRolle?

«Nun,ichmöchteSiewirklichnichtlängerbelästigen,in IhrerSituationhabenSiebestimmtandereszutun.AbervielleichtkönntenSieversuchen,etwasherauszufinden?Eventuellwäreessowiesobesser,wenndasGanzeunterunsFrauen bliebe.UndichwürdeSienatürlichdementsprechendbezahlenfürIhreAufwände.VielleichthilftIhnendasjagerade jetzt,esistschließlichkeineeinfacheZeit,alsFraualleinfür sichsorgenzumüssen.Ichhabenichtviel,aberichbinbereit, Ihnenalleszugeben,wasichnurkann.Hauptsache,meine Freundintauchtwiederauf.»

«FrauKurz … »

«Edda,bittenennenSiemichEdda.»

«Edda.Esgehtnicht.Ichkannnicht.Wirklichnicht.»

WarumzitterteihreStimme?Eddalehntesichüberden

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TischundgriffnachihrerHand.«IchschreibeIhnendie TelefonnummerdesCabaretVoltaireauf.DortkönnenSie micherreichenodereineNachrichthinterlassen.Überlegen SieessichinRuhe.SiesindmeineeinzigeHoffnung.»Sie erhobsichundrückteihreGewänderzurecht.AuseinerkleinenStofftaschenahmsieBleistiftundPapierundschrieb eineZahlenreihedarauf.SiereichteJosephinedieNotizund sagteerneut:«MeinherzlichesBeileid,FrauWyss.»

«Josephine.»

«Josephine»,wiederholteEddaundrauschtezurTür hinaus.EinleichterParfümduftbliebinderLufthängen.

KaumhatteEddadasBüroverlassen,erhobsichJosephine, gingzurTürunddrehtedenSchlüsselzweimalum.Dann lehntesiesichandenTürrahmenundschauteverwundert aufdenStuhl,aufdemEddageradenochgesessenhatte.Was füreineErscheinung!UndobwohlsichJosephinedieganze ZeiteingeschüchtertgefühlthattevonderPräsenz,mitder siedenkleinenRaumausgefüllthatte,warsieihraufeine seltsameArtundWeisegleichvertrautgewesen.Siehatte schonimmereineSchwächefüraußergewöhnlicheMenschen gehabt.UndwennsienichtgeradeihrenMannverlorenhätte,hättesiesichvielleichtwunderbarmitEddaverstanden, undFredundsiehättenbestimmtversucht,ihrzuhelfen.

EtwasfühltesichrauundfeuchtinihrerlinkenHandan. EddasZettel.VorsichtigfaltetesieihnauseinanderundbetrachtetedieZahlen.

EineverschwundeneFrau.DieseWortelöstensoforteine ReihevonFrageninihremKopfaus.SiehatteFrednichtnur mitdemPapierkramgeholfen.SiewarüberjedenFallinformiertgewesenundhattemitverfolgt,wieerbeiseinenFällen vorgegangenwar.MitderZeithatteauchsieeinGespürund

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eineRoutineentwickelt,woundwiemaneinevermisstePersonsuchtundfindet.

SieschütteltedenKopf,siehattewirklichandereszutun imMoment.FredsSachenordnen,siemussteallesregelnmit denÄmternunddannvorallemherausfinden,wassieohne ihnmachensollte,wiesieüberlebenwürde.

EntschlossentratsiezurückandenSchreibtischundwolltedenZettelindenPapierkorbwerfen.Erpralltejedochvom RanddesKorbsabundfielaufdenBoden.Sieseufzteund bücktesich,umdenZettelaufzuheben.DabeifielihrBlick aufeinegroßebrauneLedertasche,dieganzhintenunterdem Schreibtischstand,dort,womanseineBeinezwischenden beidenschwerenSchubladenelementenausstreckenkonnte. WasfüreinOrt,umeineTascheabzustellen.Manstießsich jaimmerdieFüßedaran.DaderSchreibtischandervorderen Frontgeschlossenwar,konntemansieauchnichtwegschieben.Undsichtbarwarsienur,wennmansichweitnachuntenbeugteunddirektunterdenSchreibtischschaute,sowie Josephineesjetztgeradetat.

SiegingindieKnieundzogdieTaschehervor.Schwer warsienicht,auchnichtverstaubt.Langekonntesienicht unterdemTischgestandenhaben.GesehenhattesiedieTaschenochnie,dawarsiesichsicher.Siehobsiehochund stelltesieaufdenSchreibtisch,einleisesKribbelnimBauch. Irgendetwasstimmtehiernicht.Fredundsiewohntenund arbeitetenseitJahrenzusammen,undsiewarüberzeugt,dass sieüberalldieDingeBescheidwusste,dieerbesaß.Auch wenndasbeiseinerUnordentlichkeitnichtganzeinfachgewesenwar.AufjedenFallwusstesie,dasserkeinebraunen, großenTaschengehabthatte.

SiestrichüberdasLederundspürtedasglatte,kühleMaterialunterihrenFingern.EinherberDuftnachTeer,Harz undVanillestiegihrindieNase,dieTascherochneu.Jose-

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phineatmetetiefeinundgriffnachdemsilbernenVerschluss. RaschschautesiesichimZimmerum,zumFenster,riefsich nochmalsinErinnerung,dasssiedieTürabgeschlossenhatte. Alsobdaplötzlichjemandstehenwürde.Siewiderstanddem Drang,dieSchreibtischlampeauszuschalten,undbetätigte denVerschluss.Dochderließsichnichthinunterdrücken.Sie presstestärker.Nichts.SierücktedieTaschenäherandie LampeundentdeckteeinkleinesSchlüssellochinderMitte derMetallleiste.DieTaschewarabgeschlossen.Dahalfalles DrückenundZiehennichts.

Solltesiesieaufschneiden?Nein,dafürsahsievielzuwertvollaus.UndvielleichtgehörtesiejagarnichtFred.VielleichthatteersienurfüreinenKundenaufbewahrt?Trotzdemmerkwürdig,dasserihrnichtsdavonerzählthatte,und derOrtunterdemSchreibtischsahwieeinVersteckaus. HatteFrednichtgewollt,dasssiedieTascheentdeckte?Und wennja,warumnicht?

LangsamstelltesiesiewiederunterdenSchreibtischzurückundschobsieweitnachhinten.SiewürdesicheinanderesMaldarumkümmern.Jetztsolltesiewirklichlangsam nachHausegehen,draußenwaresschonfinster.

AlssiedieHaustürhintersichabschlossundihrBlickauf FredsNamenaufdemkleinenSchildfiel,merktesie,dasssie zumerstenMalseitseinemTodfürkurzeZeitanetwasandereshattedenkenkönnen.

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Sie spähte hinter die Vorhänge auf der rechten Seite. Nichts. Mal schauen, ob sie auf der anderen Seite der Bühne etwas finden würde. Sie ging auf das Klavier zu und hielt inne. Hatte sich da etwas bewegt?

Sie blieb stehen und lauschte. Jetzt hörte sie ein Rascheln aus der Kulisse, und dann hallten laute Knalle über die Bühne. Waren das Schüsse?

Schoss jemand auf sie? Sie bückte sich und hielt sich die Arme schützend über den Kopf. Wo sollte sie sich nur in Deckung bringen? Hier war sie wie ausgestellt, mitten auf der Bühne.

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