CORNELIAZAHNER
DASMÄDCHENVOMBLAUENSEE
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Druck:CPIbooksGmbH,Leck
ISBN:978-3-7296-5125-8
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DASMÄDCHEN VOMBLAUENSEE Roman
SeufzendstellteCleradenschwerenKorbabundbeganndie Wäschestückezusortieren.WarmeSonnenstrahlenfielen durchdaskleineFensterundmachtenselbstdenfeinsten StaubaufderScheibesichtbar.Leisesingendfaltetesiedie Kleiderundlegtesieordentlichaufeinander.Lieder,dieihre Grossmutterihrvorgesungenhatte,alssienochkleingewesen war,gingenihrdurchdenKopf,währendsiebeinahemechanischihreArbeiterledigte,alserforderekeinHandgriffKonzentration.
SiesanggernebeiderArbeit,jedochnur,wennsiesicher war,dassniemandsiehörte.Heutewürdesieniemandhören. IhreFamiliewarfrühzumHeuenaufgebrochenundwürde nichtvorEinbruchderDämmerungzurücksein.
SehnsüchtigblicktesieausdemFenster.Wieofthattesie schondarumgebeten,mitgehenzudürfen.Sieliebtees,die sonnigenSommertagedraussenaufdenBerghängenzuverbringenunddenDuftvonfrischemHeueinzuatmen.Aber irgendwannhattesieesaufgegeben.
«WirbrauchennichtsovieleLeute»,hatteihrVaterstets gesagt.«JemandmussdochdaheimaufdemHofbleiben.»
DiesefadenscheinigeErklärunghatteCleraimerstenMomentwütendgemacht,dochsiewusste,dasseskeinenSinn hatte,weiterzubetteln.IhreMutterhattezudieserFragegeschwiegen.Früher,vordemTodihrerGrossmutter,hatte CleraVerständnisgehabt,dassjemandbeiihrbleibenmusste, unddashatteihrnichtsausgemacht.ManchmalhatteGrossmutterChatrinasiemittenamNachmittagzusichinihre Stubegerufen,ihrKräuterteegekochtundGeschichtenerzählt.
«Wennsiedichmeinetwegenschonnichtmitgehenlassen,dannsollstdueswenigstenshierguthaben»,hattesie immergesagt.
ClerahattedieseTeepausengeliebt,dochseitChatrinas TodvordreiJahrenverstrichendieTageohnedieseglücklichenStunden.DreiJahre,indenenClerasAlltagimSommer mehrundmehreintöniggewordenwar.EinTagglichdem anderen:OftwarsiemitihrerArbeitbereitsamfrühen NachmittagfertigunderledigtedanachDingewieFensterputzenoderAbstauben.Nichtzuletztlagdasdaran,dasssie sehrgeschicktwarundsichgutaufdas,wassietat,konzentrierenkonnte.
AufdemWegzurScheunefielihrBlickaufdiekleine WeidenebendemStall,diesievorzweiJahrengebauthatten, alssieeinZickleinvonHandaufziehenmussten.DieZiege warinzwischenausgewachsenundbrauchtesienichtmehr. AuchdieHüttedesHofhundsFlocwarleer,ihreFamiliehatteihnzumHeuenmitgenommen.
InderScheunestelltesiedenWäschekorbaufseinenPlatz undwischtedieHändeanihrerSchürzeab.AmHimmel zeigtesichkeineWolke,demStandderSonnenachkonnte esnochnichtweitnachzweiUhrsein.Cleraüberlegte,obsie insDörfchenhinuntersteigensollte,umnachzusehen,obPost gekommenwar.MitholzwardaseinzigeDorf,dassiekannte. JedesMal,wennsieandemkleinenSchulhausvorbeiging, überlegtesie,wassiedavonabgehaltenhatte,längerzurSchulezugehen.IhreBrüderwarenallelängerzurSchulegegangenalssie,ihraberhattendieElternnurdasabsoluteMinimumzugestanden.Seitsiealtgenugwar,musstesiedaheim aufdemHofhelfen.SpäterhatteihreGrossmutterihrnoch einpaarDingebeigebracht,abermitderSchulewardasnicht zuvergleichengewesen.
Damals,alsihreElternvorüberzehnJahrenausdemEngadinhierhereingewandertwaren,warihreGrossmutternur widerwilligmitgekommen,siehattedenHofinGraubünden nichtverlassenwollen.GleichzeitighattesiedasBernerOberlanddie«alteHeimatderFamilie»genannt,wasCleranie verstandenhatte.Heutebereutesiees,dasssienienachgefragt hatte.
GrossmutterChatrinawardieEinzigegewesen,mitder CleranochVallader,dasrätoromanischeIdiomdesUnterengadins,gesprochenhatte.AlsihreBrüderzurSchulegingen,hatteaberdasDeutschenachundnachEinganginihre FamiliegefundenunddasRätoromanischeverdrängt.
«Wennihreshierzuetwasbringenwollt,müsstihr Deutschbeherrschen»,hatteihrVatereinmalgesagt.«Das RätoromanischebrandmarktunsalsFremde.»
Clerahattedasniesoempfunden,siesprachbeideSprachenfliessendundwarauchinderSchulenieihrerHerkunft wegengehänseltworden.WederihreSchulkameradennoch ihreLehrerhattenumihreSprachkenntnissegewusst,abersie warauchmeistsehrschweigsamgewesenimUnterricht.
AlldiesgingihrdurchdenKopf,alssiedenschmalenPfad RichtungDorfeinschlug.DerWegwarzwarsteilundsteinig, abervielkürzeralsdasSträsschen,dassichingrossenWindungendurchdenWaldunddieWiesenschlängelte.
DerGangerwiessichalsumsonst,wieClerafeststellte,alssie dasPostamtbetratundeinenBlickindiekleineHolzkistean derWandwarf,überderihrFamiliennameinsHolzgeritzt war.SienicktedemälterenHerrnhinterdemgrossen SchreibtischzuundstiessdieTürauf.IndemRaumhattesie sichnochniewohlgefühlt.SiemochtedieneugierigenBlicke desPöstlersamSchreibtischebensowenigwiediederanderenBauern,dieihrePostselbstabholenmussten,daihre
Höfezuabgelegenwaren,alsdassderPostbotetäglichhinging.SeitdreiMonatenwartetesienunaufeineAntwortihrerbestenFreundinVrena,mitderzusammensiedieSchulbankgedrückthatte.SiewareinJahrälteralsCleraundauf einemHofnurwenigeKilometerentferntaufgewachsen.In ihrerSchulzeitwarendiebeidenunzertrennlichgewesen, dochvoreinemJahrhatteVrenageheiratetundwarweggezogen.SeitdemschriebensiesichBriefe,sahensichabernur noch,wennVrenaihreElternbesuchte,wasäusserstselten vorkam.Clerawundertesichdarüber.IhreFreundinwohnte nuninderNähevonBern,nichtsoweitentferntalso,dass sienichtzuBesuchkommenkönnte.
DieSchatten,dievorihraufdenWegfielen,wurdenimmer länger.ClerawarderartmitihrenGedankenbeschäftigt,dass siedaserstbemerkte,alssiezufröstelnbegannundfeststellte, dassderWaldzuihrerRechtendieSonnenstrahlenverschlang.DerWald … WennsieanderletztenVerzweigung nichtabgebogenwäre,hättesiederWeg,denkaumjemand zubenutzenschien,durchdendichtenWaldgeführt.Nachdenklichdrehtesiesichumundfragtesich,warumsieden WegamWaldrandentlanggewählthatte.InihrerSchulzeit hattesiedasimmergetanundihreGewohnheitenniegeändert.IhrBlickwanderteüberdiegrünenBlätter,irgendwo klopfteeinSpechtaneinenBaum.EntschlossenkehrteClera um,gingdiewenigenhundertMeterzurückzurAbzweigung undeilteaufdemanderenWegdemWaldzu.
DieletztenSonnenstrahlenfielendurchdasBlätterdach undzaubertengoldeneFleckenaufdenwildgemusterten Waldboden.MückentanzteninSchwärmenimwarmen Licht.GemächlichspazierteCleradurchdieunberührtscheinendeWildnis.Ohnedasssieesbemerkte,wurdesielangsamer,beinaheandächtigschrittsiedurchdengrünenBogen
ausÄstenundBlätternüberihr.DerWindrauschtesachtein denBlättern,alswollteersiedaranerinnern,dasserauch nochdawarunddemWaldLebeneinhauchte.
PlötzlichhuschteeinRehvorCleraüberdenWegund verschwandimDickicht.WieeinSchatten,dachteClera, währendsienochaufdieStellestarrte,wodasTierverschwundenwar.«NächstesMal»,flüstertesie,«geheich mitdirquerdurchdenWald.»
AlsCleradenHoferreichte,drehtesiesichnochmalsumund liessdenBlicküberdasweiteGrünschweifen.VonihremZuhauseaussahsiedenWaldvonoben,sah,wieweitersich erstreckte,biszuranderenTalseite.DieKanderverschwand imdunklenGrün,kamaufderanderenSeitewiederzum VorscheinundschlängeltesichweiterdurchdasTal.
LangsamdrehteClerasichzumHausum.Bevorsiedie TürzudemkleinenRaumunterderLaubeaufstiess,nahm siesichvor,innächsterZeitöfterindenWaldzugehen,solangeergrünwar.
DieBildertanztenihrimmernochdurchdenKopf,währendsiedasAbendessenzubereitete.Vielgabesnichtzutun, alleHandgriffegingenihrgeschmeidigvonderHand.
DasWohnhauswarfüreinesogrosseFamilieeigentlich nichtgrossgenug,besonderswennihrältesterBruderTeodor zuBesuchwar.SeiterinThunimMetallwerkSelvearbeitete, besuchteerdieFamilienurnochallepaarWochen.Vonallen ihrenBrüdernstanderihrfastamnächsten.
VorsichtigstelltesiediedampfendeSchüsselaufdenTisch undwarfeinenBlickausdemFenster.Nochwarniemandzu sehen.SeufzendstiessCleradieTürzuihremZimmerauf. ÜberzuwenigPlatzkonntesiealsEinzigenichtklagen.Die übrigenKammern,dieihreBrüdersichteilenmussten,lagen imoberenStock,dochsiehattenachdemTodihrerGross-
mutterderengeräumigeStubeimErdgeschossbekommen. NiewürdesiedieDiskussionenunddiemürrischenBlicke ihrerBrüdervergessen,alsihreGrossmutterihrenVatergebetenhatte,ihrdenRaumzuüberlassen.Clerawardamalsgeradeachtzehngeworden,einejungeDame,wieGrossmutter Chatrinagesagthatte.IndendreiJahren,dieseithervergangenwaren,wardieStubefürsiezu«ihremZimmer»geworden.
IhrBlickschweifteüberdasBücherregal,dassiesobelassen hatte,wieihreGrossmuttereseingerichtethatte.Siewollte geradenachihremMärchenbuchgreifen,alssiedraussenden Hofhundbellenhörte.RaschgingsiezurückindieKüche. ImVorbeigehenliesssieihreHandüberdieSchüsselgleiten, umfestzustellen,obdieSuppenochheissgenugwar,und stelltesichindenTürrahmen.
«SalüClera!»Michel,derJüngste,winkteihrvonder ScheuneherzuundhängteseinenRechenandieWand.
MiteinemliebevollenLächelnwinktesiezurück.
«IstdasAbendessenfertig?»,erkundigtesichihreMutter ohneGrussundstrichsicheineSträhneihresgraumelierten HaaresausdemGesicht.
«StehtaufdemTisch.»
MitgesenktemBlicksassCleraamTisch,wiesieesimmer tat,wennderRestderFamiliesichüberdenvergangenenTag unterhielt.SelbstnachdemTischgebet,wennsichalleüber dieSuppehermachten,bliebsieteilnahmslossitzenundstarrtevorsichhin,bisderSchöpflöffelfreiwurde.DerReihe nachblicktesieihreBrüderan.Ihrwarbishernichtaufgefallen,dassBengiaminundMattiu,dieZwillinge,diefastdrei Jahreälterwarenalssie,sichnichtmehrsoähnlichsahenwie früher.AlsKinderhattemansiekaumauseinanderhalten können.Clauwarinzwischenfastzwanzigundwortwörtlich
dasschwarzeSchafderFamilie.SeinHaarwartiefschwarzgeworden,fastsodunkelwieseineAugen.
«Clera!»,jemandstiesssiegegendieSchulter.
«HastduschonmalvondemDinggehört,dasSalz heisst?»PeidersahsiemitvorwurfsvollemBlickanunddeuteteaufseinenTeller.Stille.AlleschienenaufihreAntwort zuwarten.
«Duhastmichschonoftgenugdaranerinnert,ichweiss, wasSalzist»,knurrtesie,«aberwennesdirnichtpasst, kochinZukunftselbst.»WiederdieseunangenehmeStille. Cleraducktesichkaummerklich,alserwartesieeineBestrafung,dochnichtsrührtesich.EntwederwarihreMutterzu müdeodersiestimmteClerazu.WortlosstandPeiderauf undholtedasSalz.
DanngingdasGesprächweiter,alswärenichtsgewesen. WennCleraeinenihrerBrüdernichtleidenkonnte,wares der14-jährigePeider.ErsuchtenurzugernStreitundbeschwertesichüberalles.
«Clera»,hörtesienunihrenVater,ausdessenTonfall nichtherauszuhörenwar,obersietadelnwollteodernurein anderesThemaanschnitt,«wirwerdenmorgenzuden höchstgelegenenWiesenhinaufsteigenundbisspätabends wegsein.»ErlegteseinenLöffelindenleerenTeller.
«KönntestduunseinMittagessenvorbereitenundeinpacken?»
«Natürlich»,murmeltesietonlos.IhrBlickwandertezu Michel,derihraufmunterndzulächelte.Wieofthattesiesich eineSchwestergewünscht,diemitihrdieHausarbeiterledigt hätte.MitihrerMutterhattesiesichalsKindgutverstanden, dochindenletztenJahrenhattesiedenEindruck,dasssie immeröfteraneinandergerieten.GrossmutterChatrinahatte Barlaoftdafürgetadelt,dasssieihrerTochtersowenigBeachtungschenkte.
«UndkönntestdumalzurPostgehen?»DieseFrage kamvonMattiu.«IchwarteaufeinenBriefund … »
«Ichwarheutedort»,unterbrachsieihn.«Eswarnichts da.»MattiuwandtesichohneeinweiteresWortwiederseinemTellerzu.Clerafragtesich,worumessichindemBrief handelnmochte,dochihrbliebkeineZeit,darübernachzudenken.
«WirbrechenmorgenumsechsUhrauf»,verkündete ihrVater,alsihreBrüderbegannen,dieTellerzusammenzustellen.
«WeristmorgenfrühdranmitStalldienst?»
«Clauundich!»,riefPeiderundstupsteseinenälteren Bruderan.
«BengiaminundMattiu,könntetihrnochkurzhinübergehenundnachdenSchweinensehen?»,riefihreMutter überdenLärmhinweg.
DieZwillingenicktenundverschwandenausderKüche.
CleratrugdasGeschirrhinüberzurAnrichteundschütteteheissesWasserausdemTopfinsAbwaschbecken.Alssie sichumdrehte,stiesssiebeinahemitMichelzusammen,der ihrnochimmerzulächelteunddierestlichenTellernebendie anderenstellte.SanftstrichCleraihmüberseinkurzesblondesHaar.ErstelltesichimmeraufihreSeite,fürihnwarsie injederSituationeineHeldin.ErhattesienieamTischbeschimpft,weildieSuppefürseinenGeschmackzuwenigSalz enthielt.
«Danke,Clera»,hörtesieMichelsagen,«dasEssenhat gutgeschmeckt.»
Sielächeltegerührt.ObwohlMichelschonfastzehnJahre altwar,warernochimmereinkleinerJunge,dachtesieund wünschtesichinsgeheim,dasmögeimmersobleiben.
Clerawusstebereitsnichtmehr,wielangesiedurchdendichtenWaldgewandertwar.AuchheutewarihrGangzum Postamtvergeblichgewesen.IndenvergangenenzweiWochenwarsieöfterdennjeinsTalhinuntergestiegen,nurum aufdemHeimwegdenWalderkundenzukönnen.DankihremgutenOrientierungssinnhattesiesichnichteineinziges Malverirrt,selbstwennsiedenWegverlassenhatte.Mithilfe vonauffälligenFelsbrocken,umgestürztenBäumenund Sträuchernfandsieimmerwiederzurück.Häuserdagegen versuchtesiestetsingrossemBogenzuumgehen.
MitleuchtendenAugenbetrachtetesieihreUmgebung undliessalleSorgendesAlltagshintersich.ZweiSchmetterlingeflattertenumsieherum,alswürdensiesichmitfreuen undmitihrtanzenwollen.Übermütigsprangsieübereinen Baumstamm,landeteaufderanderenSeiteimweichenMoos undhuschteweiter,lautlos,alswäreauchsienureinSchatten.NichteinmalderWindrauschteindenBlätternüber ihr,nurdieVögelzwitschertenindenÄsten.
EinmerkwürdigesGeräuschliesssiezusammenzucken, undihrGesangverstummteabrupt.Regungslosstandsieda undlauschte,dochdasGeräusch,daswieaufeinanderschlagendeSteinegeklungenhatte,warverhallt.Langsamgingsie weiter,bemüht,keinenLärmzumachen.Solltejemandinder Nähesein,bevorzugtesiees,unbemerktzubleiben.Vorihr zwischendenBäumenerblicktesieetwasHelles,alswürdedie SonnesievomWaldbodenheranstrahlen.VorsichtigklettertesieaufdenflachenFelsenvorihrundlehntesichseitlich gegeneinendickenBaum.VorihrfieldasGeländeetwas mehralseinenMetersenkrechtab,untenklatschtenWellen gegendenStein.WietausendDiamantenfunkeltedasWas-
ser,aufdessenOberflächesichinscheinbarregelmässigenAbständenRingebildeten.ClerabliebvorErstaunenmitoffenemMundstehen.TäglichhattesievonihremZuhauseaus denBlicküberdiesenWaldschweifenlassen,aberdenSee konntesievondortobennichtsehen.Eigentlichwusstesie vondemGewässer,dasalsbesondersblaugalt.IhrLehrer hattedenkleinenSeemehrmalserwähnt,aberfürsiewarer immeretwasgewesen,waszumTalgehörte,währendsiein denBergenlebte.EinFischspranghochundverschwandim nächstenAugenblickwiederimblauenWasser.
PlötzlicherschienCleradieUmgebungnochidyllischer undmärchenhafter.DastiefblaueWasserunddasdunkle GründerBäumezusammenmitdenunzähligenDiamanten, diedasSonnenlichtaufdieOberflächezauberte – eswarwie einTraum.
OhnedenBlickvondemleuchtendenBlauzulösen,setzte sieeinenFussvordenanderen.EinStückweiteramUfer entlangwurdedasGeländeflacher.GernhättesieihreFüsse inskühleNassgehaltenundversucht,dieWellendurchBewegungenbisansandereUferzuschicken.
SielegtedieHandandieStirn,umdieblendendenSonnenstrahlenvonihrenAugenabzuhalten.DerSeewarnicht sogross,wiesieimerstenMomentvermutethatte.ClerahörtenichteinmalmehrdieVögelsingen,ihreganzeAufmerksamkeitgaltdiesemkleinenidyllischenSee.Spielteihrdas LichteinenStreichoderwareswahr,wasmansichvondiesemSeeerzählte?SeineFarbewartatsächlichandersalsjedes andereGewässer,dasClerajegesehenhatte.Aufseinem GrunderkanntesieganzdeutlichdieUmrissevonBaumstämmenundFelsen.CleraerinnertesichandengrossenSee, densiegesehenhatte,alssieeinmalindieStadtgefahrenwaren,dochjenesBlaukamnichtimEntferntestenandasjenige dieseskleinenGewässersheran.EinenMomentlangüberlegte
sie,wannsiedasletzteMalnachThungefahrenwar.Sie wussteesnichtmehr.
AmanderenUfererblicktesieeinHaus,dassichimklaren Wasserspiegelte.Essahnichtbewohntaus,dieTerrassewar leer,dieFensterlädengeschlossen.FüreinenAugenblicküberlegtesie,obsiehinübergehenundessichausderNäheansehensollte,verwarfdieIdeejedochwieder.Wenndochjemanddawar,hättederallenGrundwütendzusein,weilsie unbefugtseinLandbetretenhatte.SobliebsieanOrtund StellestehenundliessdenBlicküberdasWasserundden Waldschweifen.
WielangesiedagestandenundaufdenSeehinausgeblickt hatte,wusstesiespäternichtmehr.InGedankenversunken lehntesiedenKopfgegendenBaumstamm.
«He,duda!»
Erschrockenzucktesiezusammen.InderHoffnung,die mürrischeStimme,diedieStillestörte,habenichtsieangesprochen,verharrtesieregungslos.
«Hörstduschlecht?»
ClerabisssichaufdieUnterlippeunddrehtelangsamden Kopf.
VordemFelsen,einigeMetervonihrentfernt,standein Pferd,dessenReitersiemitgrimmigerMienemusterte.
«Washastduhierverloren?»
ClerabrachtekeinenTonheraus.
DerGesichtsausdruckdesManneswurdevonSekundezu Sekundefinsterer.SeinschwarzesPferdspielteunruhigmit denOhrenundtänzeltenervöshinundher,sodasserununterbrochendamitbeschäftigtwar,esruhigzuhalten.
NochniehatteCleraeinsoschönesPferdgesehen.Der weisseFleckaufseinerStirnbildeteeinenbemerkenswerten KontrastzuseinemschwarzenFell.SeineBeinewarenschlan-
keralsdiederArbeitspferdeaufdemHofihrerNachbarn undseineMähneordentlichgekämmtundgeschnitten.
«Waswillstduhier?»DieStimmedesReiterswurdelauter.
«Ich … »,stammeltesie,« …binaufdemHeimweg … » Sieunterbrachsich,alssiemerkte,dassihreStimmeallesanderealsüberzeugendklang.
«LebstduetwaimWald?»
«Nein»,entgegnetesiemitfesterStimme,«aberder WegnachHauseführtdurchdiesenWald.»
DerReitermustertesievonKopfbisFuss.«Dannhastdu dichabereinbisschenverlaufen,hierinderNäheführtkein Wegvorbei!»
«Querfeldeinist’ skürzer»,entgegnetesieschlagfertigund hobdasKinneinwenig.
«Wasdunichtsagst»,murmeltederReiterundstiegvom Pferd,dasnochimmernichtstillstand.
Clerafragtesich,obernichtgutreitenkonnteunddeshalbabstieg,damitsiedasnichtbemerkte.Alseraufsiezukam,machtesieinstinktiveinenSchrittrückwärtsundlehnte sichgegendendickenBaumstamm.LangsamkamderUnbekanntenäher.Clerastellteerstauntfest,dassdiesefinsteren AugeneinemjungenManngehörten,dernichtvielältersein konntealssie.SeinkurzesbraunesHaarglänzteimgoldenen LichtderSpätnachmittagssonne,seineAugenschienendieselbeFarbezuhabenwiedieblau-graueWeste,dieertrug.Clerawusste,dasssienichtfliehenkonnte,alsosetztesieeine entschlosseneMieneaufundbliebaufrechtstehen,denRückengegendenBaumgepresst.SiespürtedieraueRindein ihrenHandflächenundstarrtefurchtlosindiekaltenAugen, diesieunentwegtmusterten.EinigeSchrittevorihrblieber stehen.
«Werbistdu?»,knurrteer.
Cleraatmetetiefein.«Werwilldaswissen?»,fragtesie gefasstundhoffte,dassernichtsah,wiesehrihreKniezitterten.
DerFremdeverlagertedasGewichtvomeinenBeinauf dasandereundverzogdasGesicht.«BalthasaristmeinName»,sagteerlangsamundmachteeinenSchrittzurSeite,als wollteersieeinkreisen.
Clerasahein,dassersiedamiteinschüchternwollte,verzogjedochkeineMiene.
«Sagtdirdasnichts?»
SiezogeineAugenbrauehoch.DerNameBalthasarwar ihrwährendihrerSchulzeitoftzuOhrengekommen,ergehörteeinemreichenGrossgrundbesitzerhierimTal.Viel wusstesienichtüberdieFamilie,nurdasssiePferdezüchtetenundnichtweitentferntlebten.KonradBalthasarhatte einigewichtigeÄmterimTalinne,aberClerawusstenicht, wieerseinGeldverdiente.DerjungeMannhiermusstewohl seinSohnsein.Alssienichtssagte,knifferdieAugenzusammen.
«Undwerbistdu?»,fragteerungeduldig.
«Clera»,sagtesieruhig.
DerFremdeschnaubte.«Sogenauwollteichesgarnicht wissen»,murrteer.«Hörzu,Fräulein,ichhabenichtewig Zeit!DerWaldistPrivatbesitz,duhasthiernichtsverloren, alsoverschwinde.»
NervösfuhrCleramitihrerschweissnassenHandüberdie RindedesBaumeshinterihr,bemüht,ihreNervositätzuverbergen.«WenndasGebietnichtbetretenwerdendarf», entgegnetesie,«warumführendannWegedurchden Wald?»OhnesichvonderStellezurühren,beobachtetesie, wiederjungeMannsichlangsamumdrehte,seineAugenaber nachwievoraufsiegerichtethielt.
«AndieserStellehierführtkeinWegdurchdenWald, unddasHotelistgeschlossen,Clara.»
«Clera!»,berichtigtesie.Siewaresgewohnt,dieLeute korrigierenzumüssen,daniemandinderGegenddenrätoromanischenNamenkannte.TrotzderSchattensahsie,wieer dieAugenverdrehte.
«Clera»,wiederholteerlangsam,alswürdeihndasAussprechendieseskleinenWortesanekeln.«Wiekommtman dennzusoeinemNamen?»Esschiennicht,alserwarteer eineAntwortdarauf.
«ImGegensatzzudirhabeichwenigstenseinenVornamen!»,riefsiehinterihmher,alsersichwiederseinemPferd zuwandte.
«Verschwinde!»,brüllteernurundschwangsichaufsein Pferd.«Undlassdichhierjanichtwiederblicken!MeinVatersiehtesnichtgern,wennsichLandstreicheraufunserem Landeherumtreiben.»Demonstrativblieberstehenund wartete,bissiesichvondemBaumentfernte.
CleraverharrtenocheinenMomentinderselbenHaltung undmusterteihnebensokühlwieersie.DanngingsielangsamüberdenFelsen,wobeisieihnimmerimAugebehielt, bissiehinterdenBlätternverschwundenwar.Dannbegann siezulaufen,bissiedenWegerreichte,wosievölligausser Atemstehenblieb.IhreKniezittertennochimmer.
SoschnellihreFüssesietrugen,ranntesieüberdensteinigenWegausdemWaldundhangaufwärts.ImLichtderletztenSonnenstrahlensahsieschliesslichihrElternhausvorsich auftauchenundbetete,ihreFamiliemögenochnichtdaheim sein.AlssieausserAtemdieTreppezurLaubeerreichte,hörtesiebereitsdieStimmenihrerBrüder,undihreGedanken begannenzurasen.WiesolltesieihrerMuttererklären,wo siegewesenwarundwarumsiedasAbendessennichtzubereitethatte?Sieatmetetiefdurchundstrichsicheinelose
SträhneausdemGesicht.LeisestiegsieaufdieLaubeund gingumdasHausherumzurHaustür.
IhreMutterstandmitdemRückenzuihramHerd,als Cleraeintrat.IhrAtemginginzwischenwiedernormal,doch ihreKleiderklebtenihramKörper.
«Mutter?»,sagtesieunsicherundschlossdieTürhinter sich.«Ich … ihrseidheutefrüherzurückgekommen … »
«Wokommstdudennjetzther?»Barlaschienäusserst gereizt,alssiesichzuihrerTochterumdrehte.Imspärlichen LichtdereinzigenKerze,dieimRaumbrannte,huschten furchterregendeSchattenüberihrfaltigesGesicht.
«AufdemPostamt.»Clerahattesichwiedereinwenig gefasst.
OhneeinweiteresWortwandteBarlasichwiederdem grossenTopfzu,deraufdemHerdstand.«Undwiesogehst dunicht,solangeeshellist?»
CleraseufzteundliesssichaufeinenStuhlfallen.«Das habeichgetan,aber … ichbinaufgehaltenwordenundhabe dasZeitgefühlverloren»,antwortetesie.
IhreMutterreagiertenicht.
EineWeilesassCleradaundstarrteinsLeere,währendsie aufeineReaktionwartete.
«Hörmalzu,Clera!»JustindemMoment,alssieden Raumverlassenwollte,drehteihreMuttersichwiederzuihr um.«InZukunftwirstdudasganzeinfachseinlassen»,sagtesieundwischtedieHändeanihrerSchürzeab.IhrTon schiennichteineSpurfreundlichergewordenzusein.«Du erledigsthierdeinePflichten,understwenndieallebeendet sind,kannstduvonmirauszurPostgehen!»Siefingmit demFingereinenTropfenab,dervondemgrossenSchöpflöffel,densieinderHandhielt,zufallendrohte.«DasLebenisthartundwirallemüssenunserenTeildazubeitragen. Dasgiltauchfürdich,hastduverstanden?»
CleranickteundverschwanddurchdieTürinihreStube. Erleichtertatmetesieauf,alsdieTürhinterihrinsSchloss fiel.
«Hätteschlimmerkommenkönnen … »,murmeltesie undliesssichindenSesselfallen,derfrüherebenfallsihrer Grossmuttergehörthatte.AberdamitwardieSachenoch längstnichtabgehakt:IhreBrüderwusstensicherlichschon BescheidundwürdensichihreeigenenGeschichtenausdenken,wosiegewesenwar.IchmüssemeinenTeildazubeitragen,überlegtesie.MeinenTeil … Ichkümmeremichumdas HausundgehezurPost.«Mehrhabensiemirgarnichtaufgetragen … »,murmeltesievorsichhin.
SeufzendschlosssiedieAugenundliessihreGedankenzurückschweifenzudemidyllischenblauenSeeuntenimWald.
Siemusstelachen,alssieandasGesprächmitdemunfreundlichenjungenManndachte,undempfandbeinaheetwaswie Stolz,dasssiesichnichthatteeinschüchternlassen.
DieSonneschicktebereitsihreerstenStrahlenüberdieBerge,alsCleraeinigeTagespätervomStallzumWohnhauszurückkehrte.SiestellteihreschmutzigenSchuhevorderTür abundhuschtedurchdieKücheinihrZimmer.Langsamzog siediealteTruheunterdemTischhervorundstrichvorsichtigüberdenDeckel.IhreFingerhinterliessenschmaleStreifeninderStaubschicht.SeitdemTodihrerGrossmutterhattesiedieTruhefastniegeöffnet,dasiekaumetwasvonihren eigenenHabseligkeitendarinverstauthatte,alssiedasZimmerübernommenhatte.HauptsächlichdiekleinenDinge, dieihreGrossmutterjahrelangaufgehobenhatte,hattesiein dieseTruhegepackt,einerseitsumPlatzfürsichzuschaffen, andererseitsdamitkeinerihrerBrüderdarinherumschnüffeln konnte.AberderRestderFamiliebetratihreStubeohnehin nie.
AufderSuchenacheinemBeutelausdickemStoffwühlte ClerainderKiste,schobeinpaarDingebeiseiteundstellte andereaufdenBodennebensich.AufdemBodenderKiste unteralldenanderenGegenständenfandsieschliesslichden dunkelgrünenStoff.AlssiedenBeutelherausziehenwollte, fielihrBlickaufeinvergilbtesStückPapier,dasinderEcke derTruhelag.Erstaunthieltsieinne.IhreGrossmutterhatte alleBriefe,diesieinihremLebenerhaltenhatte,verbrannt.
«DamitduPlatzfürdeineSachenhast,wennduindieses Zimmerziehst»,hattesiegesagtundUmschlagfürUmschlagindenOfengeworfen.DaswareinhalbesJahrvorihremTodgewesen.
CleragriffnachdemUmschlagundbetrachteteihnvon beidenSeiten.EsstandkeineAdressedrauf,nur«Chatrina»,derNameihrerGrossmutter.DerBriefmussteausdem Büchleingerutschtsein,dasdanebenaufdemBodenderKistelag.ClerafischteesherausundbetrachtetedenLedereinband.Erwareinfarbigundschmucklos,aufdemBuchdeckel standnichts.Dasieeseilighatte,legtesiedenBriefzwischen dieSeitenunddasBüchleinaufsBüchergestellnebenihr, dannschlugsiedenDeckelderTruhezuundverliessdas Zimmer.
DerRestderFamiliewarbereitsaufgebrochenundhatte siemitderArbeitimHauszurückgelassen.ClerasBlickwanderteüberdenHerdunddieAnrichte,aufdersichdieSchälchenvomFrühstückstapelten.DieZwillingewareninzwischenmitdenKühenaufdieAlpgestiegenundwohntenden ganzenSommerüberinderAlphüttenebendemkleinen Bergsee.Clerawaresrecht,wenneinmalwenigstensfüreine WeilezweiPersonenwenigerimHauswaren.Zudemhegte sienachwievordieHoffnung,dasssieirgendwanndochmit derFamiliezumHeuenmitgehendurfte.MitdenZwillingen fehltenimmerhinzweistarkeArbeitskräfte.Hastigbandsie
sichdiewiderspenstigenHaarezueinemhalbwegsordentlichenKnotenzusammenundstellteeinenTopfmitWasser aufdenHerd.
AlssiedasletzteSchälchennebendenSpülsteinstellteund denBlickhob,strahltedieSonnebereitsgrosszügigdurchdas Fenstervorihrundmachtesiedaraufaufmerksam,wie schmutzigdieScheibenwaren.
«Nein»,murmeltesie,wischtesichdieHändeander SchürzeabundräumtedieSchälchenweg.
InallerEileputztesiedieFenster,stelltedenKatzen,die sichdenganzenTagaufdemHeubodenherumtrieben,Milch hin,erledigtedieWäscheundmistetedenStallderwenigen ZiegenundKühe,diederMilchwegendenSommernicht aufderAlpverbrachten,aus.SchliesslichlehntesiesicherschöpftandieHauswand.Wennsiesichderartbeeilte,konntesieum14:30Uhrfertigsein.EinenAugenblickdachtesie nach,obsieauchnichtsvergessenhatte,undhuschtedannin ihrZimmer,umsichumzuziehen.InderVorratskammerholtesieeinwenigKäse,etwasBrotundeinenApfelundverstauteallesinihremBeutel.AlssieaufdenHofhinaustrat, warfsieeinenprüfendenBlickbergaufwärts,obwohlsiewusste,dasssiedieHalde,dieihreFamilieheutebearbeitete,von daausnichtsehenkonnte.Ausserdemkonntesiesichdarauf verlassen,dasssieerstamAbendzurückkehrten.
AufdemWegbergabversuchtesie,dieTagezuzählen,die sieesnichtgewagthatte,denHofzuverlassen,nachdemihre Muttersiebeschimpfthatte,dochheutekonntesienichts undniemanddavonabhalten.DerTagwarvielzuschön,um untätigdaheimzubleiben.Ihrwarbewusst,dassLangeweile hiernichtexistierenkonnte,aufdemHofgabesimmerArbeit.Heuteaberwolltesienichtdanachsuchen.AlledringendenArbeitenwarenerledigt,allesanderekonnteauchbis zumnächstenRegentagwarten.
DerWind,derihraufdemWegdieSträhnenausdem Knotengezupfthatte,liessnach,alsdersteilePfadflacher wurdeundzwischendenBäumenverschwand.Gelegentlich rascheltedasLaubunterihrenFüssen,ansonstenbewegtesie sichwieeinRehdurchdenWald.DieLuftwarangenehm warmunddieSonnezaubertegoldeneFleckenaufdenwild bewachsenenWaldboden.
AlsderSeevorihrauftauchte,durchflutetesieeinGefühl derFreiheit,dassieniezuvorgekannthatte.Diekleinen Wellen,diesichandenFelsenbrachen,glitzertenimSonnenlichtwiedieBergkristalle,diesiefrühermitihrenBrüdern gesammelthatte.SiestandanderselbenStellewiebeiihrem letztenBesuch,alsderfremdeReitersieentdeckthatte,und blickteaufdieblaueFlächehinaus.Heutewarallesstill.
NichtweitentferntsahsieeinenabgeflachtenFelsendirekt nebeneinemStrauch,derihrSichtschutzgebenkonnte,falls nötig.DortsetztesiesichindenSchattenundpackteihrkleinesPicknickaus.SehnsüchtigblicktesieüberdasWasser, dannaufdasgrosseHaus,dessenDachsiehinterdenBäumenundSträucherngeradenocherkennenkonnte.DasGebäudesahrenovierungsbedürftigaus,liessseinursprüngliches Aussehenjedochnocherahnen.Cleraversuchteessichvorzustellenundmaltesichaus,wieeswohlseinmochte,hierzu leben.Dannfielihrein,dassderFremdeeinverlassenesHotelerwähnthatte.WenndiesdasHotelwar,waressichergeschlossenundverlassen.DerKriegderletztenJahrehatteeine grosseKriseausgelöst.
EinKnackenhinterihrliesssiezusammenfahren.InstinktivducktesiesichindenSchattendesStrauchesnebenihr undverharrteregungslos.SieschlossdieAugenundwartete darauf,dieärgerlicheStimme,diesichtiefinihrGedächtnis eingebrannthatte,zuhören.Dochallesbliebstill.Clerahielt denAteman.IndemMomentstiessetwasgegenihrenFuss.
EinenSchreikonntesiegeradenochunterdrücken,alssie herumfuhrundindieschwarzenAugeneinesgrossenPferdes starrte.EshattedenKopfgesenktundhieltihrneugierigdie Naseentgegen.
ClerablickteaufdenweissenFleckaufseinerStirn,dann aufdasglänzendeschwarzeFell.IhrPulsberuhigtesich,alssie dasPferdwiedererkannte.«Salü,meinHübscher … »,flüstertesieerleichtertundhobdieHand.«Wirsindunsschon einmalbegegnet,weisstdunoch?Aberbitte,gehwiederweg, nichtdassdeinHerrmichbemerkt … »Erstjetztfielihrauf, dassdaseinstmakelloseFellaneinigenStellenstruppigund schmutzigwar.AusserdemwardasPferdnichtgesatteltund trugnureineinfachesHalfter,dasaberbereitsverrutschtund aneinigenStellenabgewetztwar,alshättedasPferddenKopf aneinemBaumoderSteingerieben.
«Dubistwohlausgerissen?»Vorsichtigstrichsieihmmit demFingerüberdieNüstern.ImGegensatzzuihrerletzten BegegnungstanddasPferdruhigundentspanntvorihr.
«Duweisst,dassichdirnichtstue,nichtwahr?»,sagtesie leise.«KeineAngst,ichverratedichnicht.»
DasPferdspitztedieOhren,währendsiesprach.UnweigerlichmusstesieandieZeitzurückdenken,alssiefasttäglich ihreFreundinVrenabesuchthatte,derenElternzweiPferde fürdieArbeitaufdemHofbesassen.
Esfielihrschwerzuglauben,dassessichbeidiesem freundlichenundzahmenWesenumdasselbePferdhandelte, dasderfremdeReiterdamalskaumhatteruhighaltenkönnen.
«Wartekurz»,flüstertesie,bücktesichnachihremBeutelundhieltdemPferdihrenApfelhin.Währendesgenussvollkaute,blickteCleraaufdenSeehinausundwunderte sich,dassdasPferdhierimWaldunbemerktgebliebenwar.
«Glaubmir,wenndumeinPferdwärst,hätteichTagund NachtnachdirgesuchtundwärenichtohnedichnachHausezurückgekehrt.»SiezupfteeinpaardürreBlätterausseiner Mähne.
«Obdudichreitenlässt?»IhreHandwanderteüberden RückendesRappen.
«KeineAngst»,versichertesieihm,«ichversuchees nicht.»DasPferdschnaubte.«VielleichteinanderesMal, jetztmussichgehen.»
SiehängtesichdenBeutelüberdieSchulterundstrich demPferdnochmalsüberdieweichenNüstern.«Ichkomme wieder.»
BevorsiezwischendenBäumenverschwand,hieltsieinne undschautesicherneutprüfendum.«Lassdichnichterwischen!»
AlssieabendsihreStubebetrat,kreistenihreGedankennoch immerumdasschwarzePferd.Eskamihrseltsamvor,dass einPferdausBalthasarsZuchtmehrereTagealleindurchdie Wälderstreifenkonnte,ohnedassseinBesitzereswiederfand. EinsolchesTierwarsichereinigeswert.MitdenArbeitspferden,diesiekannte,liessessichnichtvergleichen.
LangsamtratsieansFensterundschauteindieNachthinaus.AmWesthorizontliesseinschwachesLichtüberden Bergenerahnen,wodieSonneuntergegangenwar.Siestellte dieKerzenebendasBettundbegannihrenRockaufzuknöpfen.DabeifielihrBlickaufdaslederneBüchlein,dassieauf dasBücherregalgelegthatte.AufZehenspitzengingsiehinüberzumRegalundnahmesindieHand.DerBrieflagnoch immerzwischendenSeiten.ObwohlaufdemUmschlagder NameihrerGrossmutterstand,warfsieeinenkurzenBlick hineinunderkannteimschwachenLicht,dasserzweiFotos enthielt.Neugierignahmsiebeideheraus.Daseinezeigteihre
GrossmutterinjüngerenJahren,dasandereeineFrau,diesie nichtkannte.DemPapiernachmusstedasBildälterseinals dasihrerGrossmutter.Alssiegenauerhinsah,bemerktesie, dassesgarkeineFotografie,sonderneineZeichnungwar.
«Katharina»standdarunter.Cleraüberlegte,obihreGrossmutterjeeineKatharinaerwähnthatte.Nachdenklichschob siedieBilderwiederinsBuch,setztesichaufihrBettund schlugdieersteSeiteauf.Auchdastandnichts.Alssieeine weitereSeiteumblätterte,fieleinzusammengefaltetesPapier herausundlandeteinihremSchoss.Vorsichtigöffnetesiees understarrte,alssiesah,dassderBriefansiegerichtetwar. Mitholz,1915
LiebeClera
WenndudiesenBriefliest,werdeichnichtmehrbeieuchsein. Ichhoffesehr,dassduzurechtkommst.
DuhastmeinBuchgefunden.Erzählniemandemdavon,behalteesfürdich.Wahrscheinlichwirstdudichfragen,warum dirniejemanddieseGeschichteerzählthat.DashateineneinfachenGrund:Nurichkennesie.NichteinmaldeineEltern wissendavon.Esistbesserso,siebrauchendas,wasdarinsteht, nichtzuerfahren,eskönnteUneinigkeitauslösen.
Trotzdemmöchteich,dassduweisst,warumunsereFamilie damalsdieseswunderschöneTalverlassenhat,umimEngadin einneuesLebenzubeginnen.
DieGeschichtebegannimJahre1803,alsmeineGrossmutternocheinjungesMädchenwar.Siehatmirspäteralleserzähltundichhabeesniedergeschrieben,fürdenFall,dassiches ebenfallsweitergebenwill.
Wennduwillst,liesdasBüchlein,wennnicht,verbrennees. Ichbraucheesnichtmehr.
Gottbehütedich,meineliebeClera!
DeineGrossmutter
Cleraspürte,wieihrdieTränenindieAugentraten.Ihrwar, alshörtesieGrossmuttersStimme,alssiedieWortelas.Noch einmalüberflogsiedieZeilen.SiewürdedasBuchnichtverbrennen,zumindestnicht,bevorsieesgelesenhatte,wasauch immerdarinstand.Entschlossenschlugsieesauf.
DasMondlichtzeichnetegespenstischeSchattenaufdenBoden,alsKatharinaWandfluhausdemHaustrat.Leiseschloss siedieTürdesaltenBauernhausesundlauschteindieDunkelheit.KeinLautwarzuhören,Mitholzschientiefundfest zuschlafen.DenWegkanntesieinzwischenauswendigund hätteihnauchimStockfinsterengefunden.Heutehattesie Glück,dassesnichtganzsodunkelwar.SiemieddieStrasse undeilteüberdieWiesenaufdenWaldzu.Inkeinemder Häuser,derenUmrisselangsamimDunkelnverschwanden, sahsieLichtbrennen.
AlssiedenWaldranderreichte,wurdesielangsamer.FrüherhättesiesichnienachtsindenWaldgetraut,nurderGedankedaran,wassieerwartete,nahmihrdieAngstundtrieb sievoran.Siehatteniemandemdavonerzählt,nichteinmal ihrerSchwesterMaria,mitdersiesonstjedesGeheimnisteilte.
AberdiesesGeheimnis,dassienunseiteinigenWochen hütete,gehörtenurihr.BisherhattesiesichkeineGedanken gemacht,wiedasweitergehensollte.Irgendwannwürdeesans Lichtkommen,aberdannwürdensichallemitihrfreuen.
WeitvorsichsahsieeinenLichtscheinzwischendenBäumen.Erwarschonda.
«Liebste,dabistduja»,hörtesiedenjungenMannsagen,dernebenderLaterneaufdemFelsensassundihrnun entgegenging.
«Grüssdich,Vitus»,sagtesieundstrecktedieHandnach ihmaus.
«Hatdichniemandgesehen?»,fragteerundlegtebeide Armeumsie.
Ein Familiengeheimnis, das am mystischen Blausee begann
Mitholz, 1920: Clera Catschader wächst als einzige Tochter eines Bergbauern im Berner Oberland auf. Oft schleicht sie sich vom Hof, um zu dem geheimnisvollen blauen See im Wald zu gehen. Eines Tages trifft sie dort Konstantin, den Sohn des reichsten Mannes im Tal. Er behandelt sie zunächst herablassend, doch als sie nach einem dramatischen Zwischenfall zu Verwandten zieht, wird er zu ihrer wichtigsten Stütze. Das, was die beiden verbindet, ist der blaue See im Wald und ihre gemeinsame Geschichte. In den Aufzeichnungen ihrer Grossmutter findet Clera vergessene Einzelheiten über Konstantins und ihre eigenen Vorfahren und entdeckt den wahren Kern der Sage vom Blausee.