DAVIDBIELMANN ANGELINA
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1824 – 1884
«ReisduinsGraubündnerLand, dasistdasAthenderheutigenGauner.»
FriedrichSchiller «DieRäuber»
JohannFriedrichMoser(1807 – 1888)
ImAltervonsiebzehnJahrendurchtrennteJohannFriedrich MosermitdemMesser,dasertagsüberzumHäutenvon Tierkadavernbenutzte,seinemerstenSohndieNabelschnur.
DieMutterbesassschonmehrLebenserfahrungalsderjäh zumVatergewordeneJüngling:EugeniawarzweiundzwanzigjährigundhattebereitsdiePockenunddieFranzosen durchgemacht.DochauchfürsiewaresdieersteGeburt,und alssiedanachwietotimvonFruchtwasserundSchweissund BlutdurchtränktenStrohlag,warsichJohannFriedrichsicher,dasssiedieseTorturkeinzweitesMalerduldenwürde.
AusdemTalwareinezerfurchteFraugekommen,dieinnerhalbeinesJahresihrenMannundzweiTöchterverloren hatteundsichnunalsHebammeanbot,umetwasgegenden Todzuunternehmen.Kaumwaresda,kümmertesiesichum dasblutigeBündel,wuschesmitetwasgarkräftigenHandgriffenundwickelteesindasLammfell.
GebanntsahJohannFriedrichihrzuunddachte,dasses fahrlässiggewesenwar,diesevomUnglückumranktePerson insHauszubestellen.Darübervergasservöllig,sichumseine Frauzukümmern,derenSchreieplötzlichverstummtwaren. Erleichtertstellteerfest,dasssieblinzelte.Ertrocknetemit seinemHemdärmelihrGesicht,behutsamer,alsdieHebammedasKindgewaschenhatte,hieltihreHandfest,suchte nachWorten,fandkeine.
JohannFriedrichMoserkanntesichmittotenTierenund kaputtenKesselnaus,abernichtmitNeugeborenenund Frauen,dieebenentbundenhatten.SeitEintrittderWehen hatteerallesdarangesetzt,sichanderAufgabezubeteiligen, unddochfühlteersichdieganzeZeithilflos,umnichtzu sagen:überflüssig.EinBecherWasser,einliebesWort,ein StreichenüberdieWange – keinevonseinenHandlungen warvonwirklichemNutzengewesen.EugeniahattedasgemeinsameKindalleinzurWeltgebracht.
SobliebseinwichtigsterBeitragzurgelungenenGeburtdie SäuberungdesZiegenstalls.SchonTagezuvorhatteerdie dreiZiegentätschelndaufdasHimmelsdacheingestimmt undsieaufdiezugefroreneWiesegeführt,erhattedenStallbodengewischt,mitheissemWassergeschrubbtundgrosszügigmitStrohbelegt.EugeniakonntesichamTagderNiederkunftüberdieSchmerzen,überGottunddessenganzeNatur beklagen,nichtaberüberdieliebevollvorbereiteteGeburtsstätte.
SpätertrugJohannFriedrichseineerschöpfteFrauvom StallindieStube.DieHebammebrachtedasKind,legtees derMutteraufdieBrust,undzuJohannFriedrichsEntsetzen verabschiedetesiesichdaraufhin.Siewollteihnbereitsallein mitdenbeidenlassen?AberdasKindlebte,dieMutterauch, unddieHebammegabsichhoffnungsvoll,dasssichdaran überNachtnichtsändernwürde.
Nachdemsiegegangenwar,setzteersichandieBettstatt undhörte,wiedasKindatmete – seinSohn,dernochkaum etwasandereskonntealsatmen.ErsollteJohannFriedrich heissen,waserangesichtsdergeringenStrapazen,dieerim VergleichzuseinerFrauerlittenhatte,etwasungerechtfand. EswareineEhre,dieerimGrundenichtverdiente.Aberwas wollteman,dasKindwarnunmaleinJungeundkeinMädchen.EugeniadrehtedenKopfzumMond,derimFenster-
rahmenhing,dafielihmein,dassmandenJungenauchEugenhättenennenkönnen.EugeniasVaterhiesssoundhatte ihrdenNamendamalsausVerzweiflunggegeben,daerkeine Söhnebekam.MiteinemEugenhättemandiemissglückte Familiengeschichtewiedereinigermassenzurechtgebogen.AllerdingskonntemansichauchnichtalleProblemederVorgenerationaufhalsen.Erbemerkte,dasseraneinemEugenviel wenigerFreudegehabthättealsaneinemJohannFriedrich –unddasserdenNamenseinesSohneswohlzurBestimmung erhobenhatte,umseinGewissenzuentlasten.EineWeile nochhörteerdembeständigenAtemzu,undplötzlichbekamerAngst.
LeisestahlersichausderStubeundschritthinausindie kalteNovembernacht.AuseinemHohlraumimVordachzog erdieFlascheKräutergeisthervor,dieersichfüraussergewöhnlicheTageaufbewahrte.ErhieltsiegegendenMond undstellteerschrockenfest,wietiefderPegelstand,dabei hatteesinvergangenerZeitkaumaussergewöhnlicheTage gegeben.VielmehrhatteerausfadenscheinigenGründendie gewöhnlichstenTagezuaussergewöhnlichenerklärt.Heute abermussteersichnichtsvormachen:Nochbevorersichauf dieBanksetzte,nahmereinengrossenSchluckund – dasich dasrechtgewöhnlichanfühlte – gleichnocheinen.
RuheundDunkelheithattensichüberdasLandgelegt. EinpaarHolzpfähle,dieimSommereinenZaunbildeten, stecktenteilnahmslosinderErde.AndenAbhängenrundherumzeichnetensichdieUmrissedunklerWälderab,und untenimTallageinSchimmeraufdemVazersee.
Eswarallesschnellgegangen.IneinerSpelunkeinBregenz warerihrletztenHerbstaufdenFussgetreten,einerFrau mitpechschwarzemHaarundhimmelblauenAugen.SiehattenzusammeneinenKrugWeingetrunken,danngetanztzu denverträumtenLiederneinesBarden,unddannwarensie
einpaarTagegemeinsamdurchKälte,WindundRegenmarschiertbiszurLenzerheide,woJohannFriedrichsVatereinst einenStallgebauthatte.Esgefielihm,siebeisichzuhaben, undsiesahoffenbarüberseinjungesAlterhinweg,weiler rechtkräftigwarvielleichtundbereitsBartwuchsaufwies.Sie hattennieübersichunddieZukunftgesprochen.Siewareinfachbeiihmgeblieben,undjetztwarensieeineFamilie.Es warschnellgegangen.
AlsdieFlascheleerwarunderimmernochTatendrang hatte,nahmerdieMundharmonikaausderHemdtasche.In dieStillespielteereineMelodie,dieerschonvonseinemVatergehörthatte,undderhattesieeinstaufWanderschaftaufgeschnappt,ineinerGaststätteimPiemontodervonVagabundenindenVorarlbergerWäldern.Eswareineschöne Melodie,dieihnglücklichmachte,dieihntraurigmachte, beideszurgleichenZeit,weshalbernichtwusste,oberweiterspielensollte.Erversuchte,seinSpieleinwenigabzuändern,undschonklangdieebennochschönetraurigeMelodie schief,dochdieMelancholiebliebinderLuft,undJohann Friedrichfürchtete,dassnichtalleindieMelodieschulddaran war.
ErrichtetedenBlicknachobenundsahdiesiebenhellen Sterne,dieinderimmergleichenAnordnungleuchteten,als wärensiemiteinanderverkettet.EswarderGrosseWagen, derbeständigwiederMondseitUrzeitenüberdenNachthimmelfuhr,unddawurdeJohannFriedrichvomGefühlgetragen,dassauchervonnunanmitallemverbundenwar.Er wareinTeilderewigenKettegeworden,dasMühlrad,aufdas alleSchicksaleseinerVorfahrenzuflossenundausdemalle SchicksaleseinerNachkommenherausströmten.Erhattedie FädenderVergangenheitmitjenenderZukunftverwoben,in denLaufderGeschichteeingegriffen,dasUniversumverändert.UndjetztsaherdieabertausendenSterneamHimmel
funkeln,wievoneinermächtigenHandhingeworfen,umden MenscheneineleiseAhnungdesMysteriumszugeben,unter dessenSchleiersielebtenundstarben.JohannFriedrichatmetefiebrig,dieKälteschnittihmindieKehle,undalseran denSternenvorbeiindieUnendlichkeitsah,spürteerdas GewichtdesganzenWeltallsaufseinenSchultern.
BenommenvomSchnapsundvonderSchwere,dieauf demganzenTallastete,hörteereineStimme.Sieklangzart undallwissendundtrugihmauf,denHanghinunterzumarschieren,inRichtungSüdenzuziehenundnichtmehrzurückzukommen.JohannFriedrichliessdieStimme,liessdie Gedankenzu,erstelltesichvor,denHofzuverlassen,jetzt sofort,undmitihmdieArbeit,dieFrau,dasKind,dieVergangenheitunddieZukunft,umdrausseninderWeltjemandzuwerden,denesnochnichtgab.Oderderzusein,der erwirklichwar.
ErstandaufundschwanktezumnahenSchuppen.Ein RabeflattertekrächzendvomDach,alsJohannFriedrichdie knarrendeTüraufmachte.ErtrathineininsFliegengesurr, hobdiefrischgeschliffeneTruheaufundbrachtesiehinaus ansMondlicht.
EröffnetedenDeckel.DutzendeKnochenlagendarin,die ersorgfältiggehäutet,abgefleischtundgekochthatte.Eine Rindermittelhand,einZiegenhorn,einMarderschädel,ein Pferdehufbein,Schweinezähne,Fuchsrippen,Hundespeichen, einbeinahevollständigesRattenskelett … DaswardasLeben, dachteer,dasLebenaufErden.SeinSohnwürdeFreudedaranhaben.Schonbald.JohannFriedrichnickteundversorgte dieTruhewiederimSchuppen.SeinAtemhattesichberuhigt.
HinterdemZiegenstallfanderdieZiegen.Schutzsuchend hattensiesichgegendieWandgedrücktunddämmertenso dichtbeieinanderdahin,dasssichihreHörnerbeinahever-
keilten.Frohdarüber,dassallesvorbeiwar,führteereineZiegenachderanderenzurückindenStall.Siemeckertendankend.
ErgingwiederindieHütteundwarfeinHolzscheitins Feuer,damitdieStubebiszumEndederNachtwarmblieb. SeineFrauundseinSohnerholtensichintiefemSchlaf.JohannFriedrichbliebstehenundbetrachtetediebeiden,währendLichtundSchattenderFlammenüberihreGesichter zuckten.DerKleineverzogleichtdenMundundspreiztedie Finger,alswürdeerträumen,undJohannFriedrichfragte sich,obdasmöglichwar,obmannichtzuerstdieWeltkennenlernenmusste,bevormanträumenkonnte,oderobman schonmitTräumengeborenwurde.Eugeniaregtesichnicht. MitbeinaheebensozartenZügenwieihrknappzweiStundenaltesKindlagsieda,soverlorenaufderWeltwieervorhinunterdemGrossenWagenunddenunendlichvielen Sternen.EinkleinerschwarzerFalterlandeteaufihrerStirn, undalsJohannFriedrichihnbehutsamfortwischte,spürteer ihreWärme,ihrenPulsundihreHoffnungen.SeineMelodie aufderMundharmonikawarverklungen,derKräutergeist hatteseineKraftverloren,undniehatteeseineStimmegegeben,dieihnaufAbwegezubringenversuchte.Erliesssich nieder,legtedenArmumdiebeidenundschliefüberwältigt vorGlückbaldein.
«JohannFriedrich,komm,kommeinmal,kommeinmal her!»,riefVaterausdemZiegenstall,undseinGestotterdeutetean,dassetwasGrossesgeschehenwar.
MariannakauertehinterdemHolunderstrauchundspähte indenSpaltdernachlässigzugeschobenenTür.Siesah,wie VaterimLichtderÖllampedurchdenStallgeisterte.EinangenehmerSchauerbefielsie.
Früher,nochvorMariannasGeburt,hatteVaterZiegenim Ziegenstallgehalten.JetztabergehörtederZiegenstallVater allein,undwennerdarinarbeitete,durftemanihnnichtstören,umkeineseinerErfindungenzugefährden.MalentwickelteereinArzneimittel,umdieKopfschmerzendesHundeszulindern,malkamerspätabendsmiteinemMesser heraus,dasmaneinklappenkonnte,damitesnurdann schnitt,wennmaneswollte.Manchmalaber,nachstundenlangerArbeit,hatteerblosszerzaustesHaar.DerZiegenstall wareinmagischerOrtvollerÜberraschungen.Undjetztrief VateraufgeregtnachJohannFriedrich.
Docherkamnicht.Natürlichkamernicht,daswusste Marianna,erwarvorknappeinerStundetalabwärtsmarschiert.
«Franz!Mathias!»,riefVaterweiter,undbereitsvibrierte dieUngeduldinseinerStimme.
Auchsiekamennicht.FranzundMathiashattenJohann Friedrichbegleitet,zumSalpetersiedernachChurwalden,Va-
terselbsthattesiegeschickt,dochjekonzentriertererimZiegenstallherumtüftelte,umsowenigerbegrifferdieWelt.
MariannabegannsichüberdieAbwesenheitihrerBrüder zufreuen.WennallesmitrechtenDingenzuging,dannwürdeVaterjetztnachihrrufen,dennvondensechsKindern warsiedieviertälteste,nurzweiJahrejüngeralsMathiasund schonfastgleichgross – dochstattihrenNamenhörtesie einenFluch,derihrklarmachte,dassVaterkeinenAugenblickansiedachte.
EnttäuschtbisssiesichaufdieUnterlippe.Siefand,dasses anderZeitwar,auchallmählichinsFamiliengewerbeeingebundenzuwerden.SiewarjetztsechsJahrealtundkeinkleinesKindmehr.AberdasSagenhattehierderjenige,derseine Söhnesuchte,dieerebeninsTalgeschickthatte.
«Marianna!»,riefVaterzuihrerFreudeschliesslichdoch. Siefuhrhoch,ranntezumStallundantwortetevorder
Vaterdrehtesicherstauntum,dabeihatteerdochnachihr gerufen.«WosindJohannFriedrich,FranzundMathias?», fragteer.
«BeimSalpetersieder.»
«Wardasnichtmorgen?»
«VoreinerStunde.Alsoheute.»
Obwohlsiewusste,dassVatersiehierfürgewöhnlichnicht duldete,tratMariannaeinenSchrittvorundsahsichum.Im kleinenStall,dervonderkleinenLampedumpfausgeleuchtet wurde,herrschteeinriesigesChaos.AufdemBodenlagen KesselundPfannen,Feile,ZangeundHammer,einzerbrochenesRad,einAmboss,einFass,einFuchsfell.Untereinem Hocker,demeinBeinfehlte,pickteeinHuhnaufeinStück Lederein.DurchdasoffeneFensterwuchertenBrombeeren.
Vaterjedochtatso,alswärehierallesinbesterOrdnung.Sei-
neganzeAufmerksamkeitgalteinemSchemel,aufdemsich einverbeulterGegenstanddarbot.ErähnelteeinerGlocke.
«IchhabeeineGlockegegossen,Marianna!»,sagteVater begeistert.
MariannastrichsichdieHaarehinterdieOhren.UnversehenswarsieinderFamilienhierarchieumdreiRängevorgerücktundzuVatersVertrautengeworden,damitändertesich alles.Siespürte,dasssiejetztnichtallessagendurfte,wassie dachte.FragloswarVatersErfindung,fürdieermehrere Mahlzeitenausgelassenhatte,eineEnttäuschung.Aberes standzubefürchten,dasseinsolchesUrteilvorallemseine MeinungüberMariannagebildethätte,nichtjeneüberdie Glocke.Vorerstgingesalsoalleindarum,ihnnichtzuenttäuschen.«Gegossen?Wie?»
VatersLächelnzeigte,dasssievollinsSchwarzegetroffen hatte.SeinBlickwurdewärmer,undzumerstenMal,seitsie beiihmimStallwar,sahersierichtigan.Daswarwiederder Vater,deramEsstischsassundwusste,wasseineKindertaten – derVater,denMariannaeigentlichliebermochtealsden verrücktenErfinder.
«Weisstdu»,sagteer,«wennmanalteSachenganzheiss macht,Sachen,dieniemandmehrbraucht,kaputteKessel, zerbrocheneWerkzeuge,dannverlierensieihreForm,sie werdenzueinerFlüssigkeit.Unddarauskannmanallesmachen,wasmansichwünscht.»
«Alles?»
«Alles.»
«AucheineGeige?»,entfuhresihr.
VatersEifererlitteinenDämpfer.ErwühlteinseinemimmerwilderwucherndenBart,alssuchteerdarinetwas,dann sagteer:«IngewisserWeise,ja.DenneineGlockekannich zuGeldmachen.UnddasGeldzueinerGeige.»
DasfandMariannareichlichumständlich,behieltesaber geradenochfürsich.«Undwarumhastduausgerechneteine Glockegemacht?»,fragtesie.
VaterrunzeltedieStirn.«Jetztpasseinmalauf»,sagteer. ErhobdieGlocke,dieetwasgrösserwaralseineBirne,indie Luft.Dannwarteteerwieder,machteesübertriebenspannend,sodassMariannaganzverlegenwurde.EineGlockewar eineGlocke,dasEinzige,wasmanausihrhervorzaubern konnte,wareinGlockenschlag.Andererseitsmusstemanbei Vaterimmeraufallesgefasstsein.Endlichschüttelteerdas Handgelenk,derKlöppelschluggegendenRand.
Vaterstrahlte.
Mariannaschwieg.
DasHuhndösteselbstvergessenvorsichhin.
«Wassiehstdu?»,fragteVatermiteinerAufregung,die Mariannaeinschüchterte.«Sagmir,wasdusiehst,wenndu diesenKlanghörst!»
«DieGlocke?»
«Ja,aberworandenkstdubeidiesemKlang?»
Währendsienachdachte,liessernocheinenweiteren Gongfolgen,dererneutsofortinderLufterstickte.Siehatte eineIdee,abersiewusstenicht,obsieessagensollte.
«Und?»
«IchdenkeaneinenStein,denichinsWasserwerfe.»
VaterstelltedieGlockezurückaufdenSchemelundbedeuteteMariannamiteinemNicken,dassihreZeitimZiegenstallabgelaufenwar.
DochdieleiseKritikschiennichtspurlosanihmvorbeizugehen,dennschonamNachmittagtrennteerfüreinenneuen VersuchdasMetallblattvomSchaufelstielundschmolzes überdemFeuer.MariannasassdanebenimGrasundverfolgtedasGeschehenohneHoffnung,dassdarausjeeineGeige
werdenwürde,alssichdemHofeinMann,einJungeundein Pferdnäherten.
KurzvordemSchinderschuppenbliebdasPferdstehen, schwankteundwarfeineschleimigeFlüssigkeitausdem Maul.DerMannstelltesichalsParpanvor.Ersprachleise, zeigtemitdemKinnunauffälligzurSeite,alsbemühteersich gegenüberdemTierumDiskretion,undwünschtesicheine rascheHeilung.
«DasPferdistmirteuer»,sagteer.«IchgebeIhnenalles, wasSiewollen.Aberichhabenichtviel.»
Vaterwinkteab,gingumdasPferdherumundtasteteihm mitderflachenHanddenBauchab.
DerweilmusterteMariannadenJungen.Erwarschmächtig,dieKleiderbaumeltenanseinenGliedern.SeinschielenderBlickstraucheltedurchdieGegendundkonntesichnirgendsfesthalten.Auchersahallesanderealsgesundaus.
«Etwasstimmtmitihmnicht»,sagteVaterfachkundig. ErmeintedasPferd.«Ichvermute,dieLungensucht.»
«Undwasheisstdas?»,fragteParpan.
«Dassichespflegenmuss.»Erversichertesichmiteinem abschliessendenHandgriffseinesBefunds,kniffdieAugen zusammenundnickte.«Marianna»,sagteer,«suchstdu miretwasBrunnenkresse?UndzweiHändevollKörbelkraut.»
DaswardasGuteanseinerVergesslichkeit:Erverzieh schnell.SieeilteinsHaus,umdenKorbzuholen,denMutterkürzlichgeflochtenhatte.Erwaretwaszugrossfürsie, verliehihremTunaberumsomehrGewicht.
«Washastduvor?»,fragteMutter.SiesassmitdemkleinenJosefamBoden,vorihnenlagendieSpielfigurenausder Truhe.
«EinPferdheilen!»,sagteMariannaundbrachauf.
VaterhattedasgewölbteSchaufelblattausdemFeuergenommenundeinenKesselbereitgestellt.ParpanundderJungestandenbetroffendaneben.DasPferdhattesichhingesetzt.
«PaulFidel,gehdochmitdemMädchenmit!»,sagte Parpan.
DerJungesahängstlichzuihmhoch.
«Nungehschon!»
MariannawollteihnbeiderHandnehmen,dazogersie erschrockenzurück.SiehattekeineZeitfürsolcheMätzchen, dabeiwaresdochseinPferd,nichtihres.Sieschrittaufdie Wiesezu,undalssiezurückblickte,sahsie,dasserihrwiderwilligfolgte.
Washiervorging,erfülltesiemitStolz.Immeröfterkamen fremdeLeutemitihrenkrankenTierenvorbeiundersuchten VaterumHilfe.WennesdenTierenschlechtging,dannwarenihreBesitzermeistratlos,dasienichtwussten,wieesim InnerenderTiereaussah.Vateraberwusstees.ErwareinangesehenerManngeworden,daerwusste,wiedieHerzender Tiereschlugen,wieihreMuskelnarbeitetenundwiesichihre SehnendurchdenKörperspannten.UndsiewarseineGehilfin,dasiediePflanzenkannte,dierundherumwuchsen – da sieechtevonfalscherBrunnenkresseundKörbelkrautvon Petersilieunterscheidenkonnte.
DasWiesengrasreichteihrbiszurHüfteundkitzeltesie andenUnterarmen.SiesahdiegelbenBlüteneinerKönigskerze,Gamander,Huflattich,einenblühendenSchlangenknöterich.SierochdenDuftvonTeufelskrallenundTausendgüldenkraut,strichaneinemLöwenschwanzvorbei,am dornigenStängeleinerHauhechel,undschliesslichentdeckte sieimSchattenderFichteneineverdächtigePflanze.Wares blossSchafgarbe?SiezupfteeinBlattab,legteessichaufdie Zungeundwartete,bissichdasAromaentfaltete.Es
schmecktenachAnis,undaucheinbisschennachFenchel, keinWunder,dennAnisschmecktejaähnlichwieFenchel undFenchelähnlichwieAnis,aberwieauchimmer,wenn daskeinKörbelkrautwar,dannwarsiekeinMädchen.
SiepflücktezweiBüschel,währendPaulFideldurchdie Brescheangelaufenkam,diesieinsGrasgeschlagenhatte.Er schielteskeptischaufdasKrautinihrenHänden.
«Willstdumalriechen?»,fragtesie.SiehattedenDrang, ihnindieKompositionderArzneieinzubinden,damiter sichendlichaucheinwenigbegeisterte.
PaulFidelschütteltedenKopf.
HatteerAngst?SolltesieihmeineBaldrianwurzelanbieten,damitersichberuhigte?MariannaverwarfdenGedankenundzogweiter.PaulFidelsahzurückzumHof.
AmUferdesBächleins,dasinsTalhinabfloss,stiessMariannawieerhofftaufeindichtesFeldanBrunnenkresse.Um sicherzugehen,sanksieaufdieKnie,nahmeinentiefen Atemzug,spürtedasJucken,daslangsamdieNasehochstieg, dieAugenüberlaufenliessundineinNiesenmündete.
GanzangetanvonihrenPraktikenzurPflanzenerkennung, indieMuttersieeingeweihthatte,legtesieeineHandvoll BrunnenkresseindenKorb.
Bevorsiezurückkehrten,versperrtePaulFidelihraufeinmaldenWeg.Siebemerkte,dassersichMühegab,sieentschlossenanzusehen.Beinaheschaffteeres.
«Werseidihr?»,fragteermitzitternderStimme.
«Wiemeinstdudas?»
«WasfürLeuteseidihr?»
«WirsindDoktoren»,sagtesieohneAufhebens.
«Stimmtes,dassdasalleshiereingrosserFriedhofist?»
«DumeinstdenTierhimmel.Derliegtgleichdahinten.» SiegabdieRichtungmitdemgestrecktenArman.«Willst duihnsehen?»
«Washabtihrdortallesbegraben?»
«Kühe,Schweine,Schafe,Wölfe,Hunde,Füchse – alle Tiere,diedukennst.»NatürlichgabesimTierhimmelauch Pferde.Sieverschwieges,damanjaaufdieHeilungvonPaul FidelsPferdhinarbeitete.UmdieLückezufüllen,diedadurchentstand,hattesieWölfegenannt,obwohleshiergar keineWölfegab.
«Wölfe?»
«Ja,mitgrossenspitzenZähnen.»
«UndPferde?»
«Nein.Wirwissen,wiemanPferdeheilt.»
«UndMenschen?»
«Nein!»
«Ichhabeesgehört.DassihrhierauchMenschenleichen verscharrt.»
«Unsinn.EsistderTierhimmel.Komm!»
Sieerreichteneineweitläufige,vonTannenwaldumhegte WieseinüppigemGrün.VielebunteBlumenwiegtensichim Wind,unddieTauperlenimGrasschimmerteninallenRegenbogenfarben.DasLandohneSchmerzen.DasParadies. DerTierhimmel.
PaulFidelschiensichschonvonderIdylledesOrtesüberzeugenzulassen,biserplötzlichrief:«Da!DasindMenschen!»
Tatsächlich.AuseinerSenkeamanderenEndederWiese ragtendreiKöpfeheraus.Dochsiebewegtensich.Sielebten. EswarenJohannFriedrich,FranzundMathias.
«DassindmeineBrüder.Komm!»
«Wirsolltenzurückgehen»,sagtePaulFidel.
AufseinerStirnglänztedieAngst.Abererhatteauch Angst,hierobenalleinüberdieWiesenzustreifen.Deshalb folgteerihr,alssiedenBrüdernentgegenrannte.Siehatten
sichineinemErdlochversteckt,dasVaterbereitsausgehoben hatte.EinemkünftigenGrab.
«Weristdas?»,fragteJohannFriedrichunwirsch,alsMariannaeintrafundbald,mitetwasVerspätung,auchder schweissüberströmteFremdling.
«DasistPaulFidel.SeinPferdistkrank.»
«PaulFidel?WerheisstschonPaulFidel?»,sagteJohann Friedrichundlachte.
«SagtJohannFriedrich»,sagteMarianna. «Erschielt»,sagteJohannFriedrichzuseinerVerteidigung.
«Eristnett»,sagteMarianna,obwohlesgarnichtstimmte.AberwennsiesichjetztaufdieSeiteihrerBrüderschlug, warerendgültigverloren.
«Na,PaulFidel.»GalantdeuteteJohannFriedrichauf diezweiFlaschen,dievorihmhalbversunkeninderErde standen.«WillstduvonunserenWundertränkenprobieren?»
FranzundMathiaslachten.
«DuhastdieWahl»,sagteMathias.«Mitdemeinen Trankkannstdufliegen.Mitdemanderenwirstduunsichtbar.»
JohannFriedrichundFranzlachten.
«Danntrinktdochselber»,sagteMarianna,«undwir sindeuchwiederlos!»
Alledreilachten – aberwarumlachtensieeigentlich?
«Sehtmalher»,sagteMathiasundschnapptesicheine Flasche.Mariannaerkanntesie.EswardieschmutzigeFlaschemitdemdickenHals,dieVaterimmerzwischendie Dachbalkenschob.MathiasentferntedenKorken,atmetetief durchundspanntedieArmewieFlügelaus.ObwohlVater immersitzenblieb,wennerausderFlaschetrank,warMariannanundochgespannt,wasgeschehenwürde.
MathiasnahmeinenSchluck.FüreinenAugenblickschien allesmöglichzusein,hierimTierhimmel,wojaselbstdie totenTiereemporschwebten.
AberdannbegannMathiaszuhustenundstürztemitangewidertemGesichtzuBoden.
«Dasistnichtsfürdich»,sagtederzwölfjährigeJohann Friedrich,nahmMathiasdieFlaschewegundtrankebenfalls daraus.Danachgeschahüberhauptnichts,genaugleichwie beiVater.RoutiniertverschlossJohannFriedrichdieFlasche undstelltesiesoachtlosab,dasssieumfiel.UngleichvorsichtigerergrifferdieandereFlasche,hieltsieansLichtundbetrachteteihrenInhalt,alshandelteessichdabeiumeinkostbaresElixier.DierotbräunlicheFlüssigkeit,diedarin schaukelte,sahauswieMelissentee.
IhreBrüderwarenAngeber,dachteMarianna.Niemand würdehiereinfachsodavonfliegen.Undniemandwürdesich inLuftauflösen.
«GibmaldeineHalskette»,sagteJohannFriedrichzu Franz.
«Vergisses.Nimmdeine»,sagteFranz.
«Gibsie»,sagteJohannFriedrichmitderArgumentation desÄltesten.
FranznahmsichdieblitzendeKettevomHalsundgabsie seinemBruder.
JohannFriedrichliessdieKetteanseinemZeigefingerhinundherpendeln,bissiestillstand.Dannzielteersieinden Flaschenhals,blicktenocheinmalindieRundeundzogden Fingerweg.
DieKettefielindieFlüssigkeit,Mariannamusstewieder andendumpfenGlockenschlagdenken,undinJohann FriedrichsAugenlodertederVaterauf.MitglühendemBlick starrtensieaufdieGlocke,starrtenaufdieFlasche,Vatermit jungenhafterBegeisterung,JohannFriedrichmitderWeisheit
einesMannes,undbeide,ihrBruderundihrVater,wurden MariannawährendeineslangenAtemzugsfremdundunheimlich.
Undplötzlichwarsieweg.
DieHalskette,dieebennochaufdemGrundderFlasche gelegenhatte,warnichtmehrzusehen.Dabeibestandkein Zweifel,dasssieauchjetztnochdortlag.Siewarunsichtbar geworden.DerTrankfunktionierte.
EsfielkeinWortmehr.Allewarenfassungslos,undselbst JohannFriedrich,derdochdenSpukverursachthatte,setzte dieFlascheaufdieErde,betrachtetesieungläubigausallen Winkeln,umsichzuvergewissern,dassihmwederdasSonnenlichtnochsonstjemandeinenStreichspielte.
NacheinerWeilefühlteMariannaeinZupfenamÄrmel. EswarPaulFidel.
«DasPferd»,flüsterteer.
Natürlich.DiebeidenzogenvomTierhimmelab,undzum erstenMal,seitsiegemeinsamunterwegswaren,gingPaulFidelvoran.
VaterkreistebereitsfingernägelkauendumdasFeuer,als sieankamen.Hastig,damitkeinewertvolleZeitverlorenging, warfereinStückButterindenKesselunderhitztees,bises zerfloss.MiteinemflüchtigenBlickprüfteerdasKraut,das Mariannagesammelthatte,undgabesebenfallsindenKessel.
HoffnungsvollverfolgteParpandieArbeitdesDoktors undstreichelte,umauchetwaszutun,beständigdasPferd. PaulFidel,nunwiederdichtnebenseinemVater,ahmteihn herzlosnach.ÜberdieHalskettesagteerkeinWort,unddas war,fandMarianna,einweiserWinkelzug.
NunwarderDoktorganzinseinWerkvertieft.Alsdas KrautzueinergrünlichenMassezerkochtwar,fügteer
«Ja?»,sagtesie.
BaumölundeinigeLothHundeschmalzhinzu.Esbegannzu blubbern,Vaterrührte,undschliesslichgossereinenganzen SchoppenBierindenKessel.ZischendstiegeineRauchwolke auf.PaulFidelhustete.
VaterliessdieArzneikurzabkühlen,dannschütteteersie demPferdinsMaul.
«DieLungeistvollerEitergeschwüre»,erklärteer,nachdemerwährendderZubereitungkaumgesprochenhatte. «DieArzneiwirdallesreinigen.NachzweiTagenistdas Pferdwiedergesund.»
Parpanbedanktesicherleichtert.DieBehandlungschien schonersteWirkungzuzeigen,dennalssiedenHeimwegantraten,strahltedasPferdschonfastwiedereineKraftaus, dassmanesjedenMomentdavonzugaloppierenglaubte,und sogarPaulFidelspazierteunbesorgthinterher.
NachzweiTagenwardasPferdtot.Eswurdegeschlachtet, derMetzgerkonntedasFleischdeskrankenTierskaumverwerten,unddannbrachtenParpanundPaulFideldenKadaverwiederzuWasenmeisterMoser.Siesagtennichtsundihre Gesichterwarenhart.AuchMariannabeobachtetedasTrauerspielbetrübt,dochmanchmalwaresebenzuspät,daswusstesie.ManchmalwardiehöhereGewaltstärkeralsdieKönnerschafteinesMenschen.DannbestatteteVaterdieTiereim Tierhimmel,dortlebtensieweiterundhattenesbesserals vorher.DashätteMariannaPaulFidelgerneerläutert,doch etwasempfahlihr,zuschweigen.
DerüberraschendeToddesPferdesliessVaterkeineRuhe. EingehenduntersuchteerdenKadaverundfandschliesslich dieLungenwändevoneinerungewöhnlichenMassebefallen – «Eitergeschwüre»,sagteerzuMarianna,dieihmbeider Arbeitzusah,underpfiffzufriedenunterseinemBarthervor. DochoffenbarwardemGeschwürmitBrunnenkresse,HundeschmalzundBiernurbedingtbeizukommen.
EineriesigeHautspanntezwischendenZaunpflöcken,als MariannasichwährenddesSonnenuntergangszuVaterauf dieBanksetzte.StummsahensiehinunteraufdenSee,auf dieTannen,dieihnsäumten,aufdieWälder,diesichbisin dieBergehochzogen.Wiesooft,wennetwasgeschehenwar, fürdaseskeineWortegab,nahmVaterdieMundharmonika hervorundbegannzuspielen.EineWeileergabenauchseine TönewenigSinn,dochlangsamfügtensiesichzueinerMelodiezusammen,dieermehrmalswiederholte.SiegefielMarianna,siewarschöneralsdieanderenLieder,dieermanchmalzuspielenversuchte,aberauchtrauriger.Undobwohldie Tonfolgeneinfachwaren,soeinfach,dasssieeinemauchselberhätteneinfallenkönnen,schlossensieetwasein,etwas, dassienichtenthüllenkonnte.DieMelodieerzählteeineGeschichte,bargeinGeheimnis.Mariannafragtesich,wasan demGerüchtdranwar,dassmanimTierhimmelauchMenschenbegrub – Menschen,diemanvielleichtvorherunsichtbargemachthatte?SiedachteanPaulFidel.SeineAngst,als sieihmdieHandentgegenhielt,alswäresieverteufelt.Gabes DingeaufdieserWelt,vondenensienochüberhauptnichts wusste?
«Bistdutraurig?»,fragtesieindietraurigeMelodiehinein.
VatersetztedieMundharmonikaab.«Nein,meinGoldschatz»,sagteer,fuhrihrübersHaarundlächelte.
DaskamMariannanichtschlüssigvor.«Warumspielst dudannso?»
Erantwortetenichtmehr,spielteetwasanderes,daszwar wenigertraurig,aberauchwenigerschönwar.Baldlegteer dieMundharmonikaweg,standaufundgriffineinenHohlraumimVordach.
«HastduirgendwoeineFlaschegesehen?»,fragteer.
«EineschmutzigemitdickemHals?»
«Nein?»
Siemussteschnellantworten,abersiedurfteihreBrüder nichtverraten,sonstwarsieerledigt.«Zuerstfragstdudoch immerJohannFriedrich,FranzundMathias»,wichsiegekonntaus.
«Ach,dieseBengel»,sagteVaterkopfschüttelnd.
MariannabisssichwiederaufdieUnterlippe.Siehätte mehrZeitgebraucht.IhreletzteHoffnungwarVatersVergesslichkeit.
«WofürgehtmaneigentlichzumSalpetersieder?»,fragte sie,umdasVergessenmiteinemThemawechselvoranzutreiben.
«FürSäure.»
«Säure?»
«Morgen,Marianna.MorgenwerdeichdirdieKönigin unterdenSäurenvorstellen.»
Mariannanickteratlos.VonZortenherhörtemandie Kirchenglockeläuten.Sieklangso,wiemanesvoneinerGlockeerwartendurfte:ManhörtesieauchnochnachdemAnschlagdesKlöppels.
«DeineGlocke … »MariannawarebeneineIdeegekommen.
«Ja?»
«DieistfürKühe,nichtwahr?»
Ernickte.
«SolltesienichttrotzdemsoklingenwiedievonderKirche?»
VatersGesichthelltesichauf.«Ja … »,philosophierteer, «eineWiesevollerKirchen … »Ruckartigstanderaufund begabsichsozielstrebigindenZiegenstall,alshätteersoeben dieErfindungdesJahrhundertsgemacht.
DieTränendesVaterswarenihmschleierhaft.Einweinender Mannwarschonseltsamgenug,abernochwenigerverstand PaulFideldieUrsache.EswardochallesVatersIdeegewesen, VatersWille,undPaulFidelhattesichohnezufragengefügt. WennderVaternichtwusste,wasdasRichtigefürseinen Sohnwar,werdann?Gewiss,einhalbesJahrbestandauseinerunvorstellbarenMengeanTagen.DochalsderVaterihm aufdemgeschecktenRückeneinesKalbs,deralsLandkarte diente,dieWeitenderWelterklärthatte,begriffPaulFidel, dassereinGrosserwerdenkonnte.EineReiseindenNorden,durchferneLänderundprächtigeLandschaftenbisans SchwäbischeMeerunddassagenumwobeneSchwabenland –eswareinAbenteuer,dasHeldenschuf.Undnunstandder Vatersogebrochenda,alswärewiedereinesseinerTieregestorben.
AufdenBergenlagnochvielSchneeundimTalsammelte sichderNebel,alsrunddreissigKinderausverschiedenen BündnerDörfernfortzogenineinenungewissenSommer. UnterPaulFidelsGefährtenbefandensichBuben,diegar nichtvielkräftigeraussahenalser,undsogarMädchen – so hartkonntedasUnterfangenalsonichtsein.DieReisegemeinschaftwurdevoneinerälteren,gleichwohlstämmigen Frauangeführt.AlleinihrezerfetztenStiefelerzähltenLegendenvonendlosenMärschen,unddieEntschlossenheit,mit dersievoranstapfte,duldetekeineSaumseligkeiten.Aufdem
erstenTeilstückwagteesniemand,dasvonihrwortlosverordneteSchweigenzubrechen.Baldaberfingsiemiteiner überraschendtiefenStimmeanzubeten,undeinstrenger BlicküberdieSchultergebotderganzenProzession,ihreBittenimChorzuwiederholen.GlorreicherErzengelRaphael, dugrosserFürstderhimmlischenHeerscharen!Dugütiger ArztGottes!DuSchutzengelderReisenden!Mitdeinem Lichteerleuchteuns!MitdeinemHeilmittelheileuns!Mit deinenFlügelnbeschützeuns!
BehütethinterdemSchildausWortendurchstreiftensie denLandstrich,einunbarmherzigvoranschreitendesGebet, dochPaulFideldachtedabeiwederandenErzengelRaphael nochandieWorte,dieihmwievonselbstüberdieLippen kamen.ErdachteanVaterundMutter,anseineKälber,den VazerseeunddasLenzerhorn – dieWelt,dieerkannte, schienhinterihmunterzugehen.Undwerwarerohneseine Welt?Soähnlich,vermuteteer,fühltemansichnachdem Tod.AberderKummerinihmtobte,dieFüsseschmerzten undtrugenihnindieFremde,woeralsFremderweiterlebte.
BedrohlicherhobensichzubeidenSeitendieschneebedecktenBerggipfel,ausdemAuslandwehteihmeinkühler WindinsGesicht,undderstetigabfallendeWeg,derhinter derlinkenTalseiteverschwand,führtegeradewegsindenAbgrund.
DochkurzdarauföffnetesichdieLandschaftundder Frühlingkehrteein.SchonauseinigerEntfernungerblickteer aufdemsonnenbeschienenenFeldeinMädchen.Eskonnte aucheinejungeFrausein.VersunkenpflücktesieBlumen undsammeltesieineinemKorb.SietrugeinenblauenRock, dessenSaumbeimGehenüberdasGrasstrich.HonigfarbenesHaarfielihrbiszurHüfteüberdenRücken.PaulFidel warfasziniert.Er,dersichbereitsnachallemVertrautensehnte,witterteinderBlumenpflückerinzumindestetwas,daser
mitderHeimatverband.Odergefielihmeinfach,wasersah? GefielenihmdieBlumen,dieglutrotenBlüten,mitdenendie Wiesegesprenkeltwar,gefielihmgardasMädchen,dasdie BlumensorgfältigzupfteundindenKorblegte?EndlichvernahmsiedieanmarschierendenStimmen,drehtesichzum Weghinum,bliebaufrechtstehen.Siewischtesicheine SträhnehinterdasOhr,dieihranderWangeklebte.Inder HandhieltsieeineeinzelneBlume,Mohnmöglicherweise, einBlütenblattlöstesichundschwebtedavon.
EswarderKorb.Eingrosser,feingeflochtenerKorbmit zweirundenHenkeln,undmitdemKorberkannteerauch sie.Ihmschauderte.LangehattensieihninseinenTräumen heimgesucht,diesesonderbarenGestaltenmitdemhellen, fastweissenHaar,alshättederWahnsinnsieallesamtgebleicht:derversoffeneSchinder,derseinPferdaufdemGewissenhatte,diedreiSöhnemitdenGifttränken – unddie kleineKräutersammlerin.
Siewargrössergeworden,natürlich,derKörperrunder unddasGesichtwenigerrund,dasHaaretwasdunkler.Eigentlichwarsiedamalsganznettgewesen,docherhatteihr niemalsgetraut,siewarebentrotzdemeineMoser,undwie vieleSchauergeschichtenhatteerüberdieMoserinzwischen gehört!
DerWegführtedichtanihrvorbei.WenigeSchritte trenntenPaulFidelnochvonihr,einigeFuss,zweiArmlängen.Dochimmerfortstarrteersiean,soungehemmt,wie maneinenBaumanstarrtodereineschlafendeKuh.
PlötzlichliesssiedieBlumefallen,erhobdieHandund winkte.Unddasieihndabeiansah,ihreAugenstetsseinem Gangfolgten,waresoffensichtlich,dasssienichtdemganzen KinderzugzumAbschiedwinkte,sondernihmallein.PaulFidelwardarübersoverblüfft,dasserwegsah,dassersotat,als
hätteersienichtbemerkt.Sieexistiertenicht,hattenieexistiert,erwollteFrieden.
Dannsaherdochzurück.SiehattedenBlickvonihmgelöst,knietesichhinundhobdiefallengelasseneBlumewieder auf.Undaufgewühltentschiederfürsich,dasserhöchstens eineunbekannteBlumenleseringesehenhatte,vielleichtaber auchnureinwunderlichesTrugbild.
«Trinkt!»,riefdieAnführerin,«trinktalle!Sonstfallt ihrbaldvorErschöpfungum»,undbeinahehättePaulFidel dieWortenachgebetet.Ersah,wiesiesichübereinBrunnenbeckenbeugteundWasserausderhohlenHandschlürfte. Ohnezuzögerngehorchteer,obwohlernochkeinenDurst hatte,undauchkeinesderanderenKinderschiendieAnweisungderAnführerinanzufechten:Alletranken,umnicht baldvorErschöpfungumzufallen.Dannmarschiertenund betetensieweiter.
AllmählichfandPaulFideldiebeharrlicheBetereisinnvoll. NichtihresInhaltswegen,zumaldieForderungenanden Erzengelimmerobskurerwurden – erverstandlängstnicht mehr,wasgenaumanvonihmverlangte.DochdieGebete verunmöglichtenjeglichesGespräch,schütztenihnvorunliebsamenUnterhaltungen,daswussteerzuschätzen.Erzog seineeigenendenfremdenGedankenvor,undseineeigenen Gedankenbehielterlieberfürsich.
SiekamenzueinerSchlucht.VorlangerZeitwarhierdie Landschaftentzweigerissenworden,undimmernochklaffte sieauseinanderwieeinetiefe,nieverheilteWundederErde. Dasmusstesiesein,befürchtetePaulFidel,dieNaturgewalt, derenNamewieeinelieblicheApokalypseklang:dieRabiosa.
«VerwundeunserHerzdurchdiebrennendeLiebeGottes!»,riefdieAnführerin,währendsiehochüberder SchluchtdenPfadentlangstiefelte,ohnedieGeschwindigkeit
zudrosseln.DiemeistenKinderhieltenSchritt,allerdingsauf KostendesNachbetens.
«UndlassdieseWundenieheilen!»,riefsieaufeiner schmalenBrücke,diesichaufbeidenSeitenderSchluchtan dieFelswandklammerte.PaulFidelwagteeinenBlickhinab indendunklenSpalt,ausdemdasAnsinnenderAnführerin widerhallte.
«DamitwirimmeraufdemWegderLiebebleiben!»Der nächsteAusrufvermischtesichmitdemnochnichtverklungenenEchoundlösteeinweiteres,nochkräftigeresEchoaus. DieAnführerin,inihrerLitaneinunvonsämtlichenKindern imStichgelassen,hörtesichanwieeinChor,dessenStimmensichinderSchluchtsammelten,ummitallerMachtins Gottesreichgeschleudertzuwerden.PaulFidelgerietins Straucheln,dieBrückeunterseinenFüssenschaukelte, schwebte,fiel –
«UnddurchdieLiebeallesüberwinden!»
– bisereineHandinderseinenspürte,dieihnsicherauf dieandereTalseitegeleitete.
SiehattekupferrotesHaarundeinemerkwürdiggespalteneOberlippe.PaulFidelversuchtezuergründen,wasgerade geschehenwar.DasMädchenhatteihnungefragtbeider Handgenommen,underhattenichtsdagegengetan.Er mussteohnmächtiggewordensein.Warergestürzt?Erfand keineSchürfungen,keineSchmerzen,keineErinnerung.HinterihmhingdieBrückewieeinFoltergerätinderLuft.Es warunschwerzuerkennen,dassmansieentwedermithöchsterKonzentrationpassierte – odergarnicht.HattedasMädchenihnvoreinemUnglückbewahrt?Ertrautesichnicht, siezufragen.Beschämtdarüber,dasssiemehrüberihnwusstealserselbst,gelangteerzumvorläufigenSchluss:Etwaswar geschehen.
«EskommenkeineweiterenSchluchten»,sagtesieleise.
Ersahsiefragendan.
«IchwarschonzweiMalimSchwabenland.Jetztwirdes flacher.»
Dasberuhigteihneinerseits,andererseitsdämpfteesein wenigseinGefühl,sichaufgrosserEntdeckerfahrtzubefinden.
InzwischenbildetensiedenAbschlussdesganzenZugs. HierkonntemansichdasMitbetensparen,eswarnutzlos, dieAnführerinwarweitweg.Allerdingskonntemansich nununterhalten.
Sieerzählteihm,dasssieLinahiess.Fünfzehnwar.AusSavogninkam.Dannsahsieihnaufforderndan.
PaulFidel.Vierzehn.Obervaz.NochwarihmdasGesprächnichtgeheuer.
«EinschönerName»,sagtesielächelnd. Underlächelteschüchternzurück.
Waswolltesie?Warumgabsiesichmitihmab?Erdachte nach.Siewirkte – echt.Nichtsanihrwarfalsch.Ernahm sichvor,freundlicherzuihrzusein.Sollteersieetwasüber dasSchwabenlandfragen?
«HatmanimSchwabenlandvielHeimweh?»,fragteer.
«DuhastjetztschonHeimweh,nichtwahr?»
Wiekonnteernursodummsein.Heimwehgehörtesich nicht,schongarnichtnachkaumzweiStunden,dochVaters Tränenleuchtetenihmlängstein,undjetzthatteersichmit einerunbedachtenÄusserungselberindieBredouillegebracht.
«EinhalbesJahrdauerteineEwigkeit»,sagteer,umseine Würdenochhalbwegszuretten.
«DudarfstnichtimmeranzuHausedenken.DanndauertdieEwigkeitnureinhalbesJahr.»
AusihremMundhörtesichdasganzeinfachan,undsie mussteesjawissen.Erversuchte,dasThemazuwechselnund
Lenzerheide, 1824. Johann Friedrich Moser wird mit siebzehn Jahren zum ersten Mal Vater. Er lässt sich mit seiner Familie auf einem abgelegenen Hof nieder und arbeitet als Abdecker. Es folgen zehn weitere Kinder.
Ein Jahrhundert später wird die 8-jährige Angelina Eugster, eine Nachfahrin von Johann Friedrich, durch das halbstaatliche «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» ihrer Familie entrissen und aus Graubünden fortgebracht. Die theoretische Grundlage dafür bildet eine eugenische Schrift, die der Psychiater Johann Josef Jörger über die Familie Moser verfasst hat. Während Angelina über Umwege in verschiedenen Heimen in den Kanton Freiburg kommt, sucht die Mutter Maria Ursula verzweifelt nach ihrer Tochter.
David Bielmann folgt den Spuren seiner Ahnen, von Obervaz über Basel, Zürich, Bern, Lugano und Strassburg nach Rechthalten – und erzählt dabei ein unheimliches Stück Schweizer Geschichte.