ArminBiehler
DerSherpa,duundich
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Korrektorat:TobiasWeskamp
Umschlagfoto:ArminBiehler
Umschlaggestaltung:Hug&Eberlein,Leipzig
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Druck:CPIbooksGmbH,Leck
ISBN:978-3-7296-5138-8
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DerSherpa, duundich
Vorstieg
WolkenfetzentanzenimWind.DieLuftstreichthartüber dieBergkante.ImAuf-undAbschwellenderWindeistweder HaltnochOrientierungmöglich.Siesingenlaut,schmettern ihreFanfaren,undihreLustundFreudeamFabulierenflößt Respektein.IhreGeschichterenntdemHöhepunktentgegen,wecktNeugierdeundverdrängtdieAngst.Sobleibtdas Staunen.HinterdengrünschwarzenGrasnarbennehmendie grauen,dunkeldurchfurchtenFelsgebildeKonturan.
ImmermehröffnetsichderBlick.NochistdasWeißder waagerechtenSchneebändermitdenWolkenverwachsen. DochlangsamsetzensichEisundFelsgegendasunstete, flüchtigeWesenderLuftbilderdurch.Nicht,dassdiesein Kampfwäre,nein,dieWandscheintsichbewusstnunStück fürStückzuentblößen.Augenblicke,indenenihresonderbareVerletzlichkeitberührt,umschließlichimmerklarereForm zugewinnen.SooffenbartderBergseininneresWesen.GefestigtimunmissverständlichenBlaudesHimmelsspendeter inallerSchönheiteinenSegen.HierlebtdieGöttin.StillebemächtigtsichderSituation.AllesZaudernistverworfen.In dergebotenenEhrfurchtlässtsiesichinihremNamenfassen:Annapurna.
IhreErhabenheitistvoneinerSelbstverständlichkeit durchdrungen,mitdersieeinLächelnschenkt.EinLächeln, dasdurchausalsAufforderungzuverstehenist,ihrnäherzu kommen.AnderhöchstenLinie,derdurchgehendweißen Kanteentlang,wodarüberdasHimmlischeanfängt,zeigtsie ihrenKörper.Hierentlangzugehenwürdebedeuten,Unsterblichkeitzuerlangen.UndimAnblickdiesesmajestätischenSeinsspiegeltsichdasWissenderGöttin,dasssieder unnahbarsteBergallerBergeist.Indiesemgigantischen
Halbrund,ebenmäßigvonderWandderWändebegrenzt, bezeugtsieihrDaseiningrenzenloserWeltabgeschiedenheit. UnddieGnadeihrerHinwendungnimmtGestaltaninden senkrechtabfallenden,endlosscheinendenSchartenvom Gipfelgrathinunter,indenSeitenvonmassigenSporengefasst,umzumweltlichenBergfußhindieLandschaftzuernähren.Sie,dieGöttinderErnte.
PlötzlichgibtsiekrachendihreZuwendungauf.Mitihrer Lust,sichselbstgenugzusein,wechseltsiehemmungslosihr Kleid.IhrelegantesNachtgewandausgefrorenerNässe schmilztinderaufsteigendenWärmedesTagesundversetzt dasFelsgefügeinrasendeBewegung.ImFallenschlagenSteineihrenunheimlichenRhythmusindieBergflankeundbrechenEisskulpturenvongigantischerGrößeausdenVergletscherungen.SiezerberstenbeimAufprallundreißenin unzähligeFetzenzerfallendeSchneefeldermitindieTiefe. EineStaublawinenachderanderenreibtmitzischendenRufenüberdieHautdesBerges.Demsichauszusetzenistder Preis,dervondenjenigenverlangtwird,dieeswagen,hier einzusteigen.
Diesescheinenabgeschlossenzuhabenmitdem,wasbisherwar.Auchwaskommenwird,kannsienichtmehrberühren.SiegeheninderSuchenachihremWeginderUnsterblichkeitauf.
Davonwarichweitentfernt,alsichmeinZeltamBergschrundderAnnapurnaaufstellte,michhineinlegteundin dieNachthörte.IchdösteinderVorahnung,wasnochalles kommenkönnte,vormichhin.
Trittfassen
EristnocheinJunge,alserihndasersteMalsieht.AlskleinerroterPunktbewegtsichderBergsteigerindenFelsmassen.DieSituationhatetwasUnwirkliches.DerOnkeldes JungenbegleitetalsKochdiesenVersucheinerErstbesteigung undhatseinenNeffenalsGehilfenmitgenommen.
ObwohlderBergsteigerinseinergrellenFarbeindenFelsenwieeinFremdkörperwirkt,strahlterSicherheitaus,als wisseergenau,woihnseineRouteentlangführt.Dochder Küchengehilfefragtsich,wasderBergsteigerhiermacht,allein.Eristihmfremd,underdenktsich,dassdieserwohlim AuftragderMenscheninseinemLandhierhergekommenist. WeilsiedortsolcheBergenichthaben,besteigtersiehier.So willderFremdeihneneinStückdavonmitbringen.Erhat gehört,dassdieserbeisichzuHausedafürsehrbewundert wird.
DerBergsteigergreiftnacheinerFelskanteundziehtsich daranhoch.SeinGesichtsausdruckspiegeltäußersteKonzentrationwider,undseinoffenerBlicksuchtnachHaltimLabyrinthderFelsen.ÜberihmöffnetsicheinweitesSchneefeld,dassteilineinenTrichtermündet.Erhältaufeinem VorsprunganundschlägtmitgroßerKraftdieEispickelin denSchnee,umzuprüfen,obihndasdunkelblaueEishalten wird.ZufriedennimmterFahrtaufundsprintetmiteiner erstaunlichenLeichtigkeitdiesensteilenHanghinauf.Einem MantragleichwiederholterdenAblaufderPickelschlägemit denabwechselndnachrückendenBeinen.Diehartenkurzen
SchlägeinsaufspringendeEisimWechselmitdemlanggezogenenKnirschenderhaltfindendenSteigeisenanseinenFüßengebendenRhythmus.Erfühltsichoffensichtlichwohl.
DemJungenaberkommtdieseLandschaftbösartigvor.In derNachtistesbitterkalt.AberamTagscheintdieSonne grell.IhreWärmeverbrenntalles.AndiesemOrtistkeine Ruhe.VonTagzuTagvermissterdieKlostermauernmehr undmehr.DiesehabenihmbisvorKurzemnochGeborgenheitgegeben.ErwarschonalsKindineinKlostereingetreten,sechsTagezuFußentferntvomHausseinerEltern.Ihm wardieserWegvorgegeben,alsjüngstervonsechsGeschwistern.FrühschonhatihndasLebenBuddhasangezogen.ImmerwiedererzählteihmseineGroßmutterdieGeschichten desPrinzenSiddhartha.Deshalbgabesfürihnnureinen Wunsch:Mönchzuwerden.AberheutefindetersichwiderwilligandieserStelle,wosovieleausseinerFamiliestehen. SiebringenTouristenaufdieGipfel.Alleinwärendieseverloren.UnderkenntdieendlosenWitzedarüber,diesichseineLeuteerzählen,wennsieuntersichsind.
DerBergsteigerkommthochobenaneinemFelsbandan. ErklettertindenweiterführendenKamin.MalfürMalverschwindeterindenGesteinsblöcken,umaneineranderen Stellewiederaufzutauchen.SchließlichistderrotePunkt nichtmehrzusehen,undalsobesihnniegegebenhätte, stehtdieWandinihrerUnzugänglichkeitda.Imletzten LichtdesTageszeichnensichdieKonturenderFelsformationenaufsSchärfsteab.
DochfürdenJungensiehtderFremdenichtauswieeiner dieserhilflosenTouristen.EristwieeinSchauspielerausdiesenHindi-Filmen.Groß,stark,unverletzlich.EinKrieger,in dessenblauenAugensichderHimmelspiegelt.
SoberichteteesmirTenzingSherpa,derJungevondamals. GerufenwirderTenjiwiesovieleandereTenzingSherpa. Wiediezuunterscheidenseien,wollteichwissen.Icherinneremich,dassichihnunsicherfragte,oberdennnocheinen
anderenNamenhabe.Erschienmichnichtzuverstehen,er seidochderTenji.Beidenen,diesichfürBergeinteressieren, derTenjimitdemEverestohneSauerstoff.Undauchder TenjiausdemDorfSanamGudelimKreisMahahulung, demBezirkSoloKhumbu,derProvinzNummer1inNepal. Alle,dieihnkennen,wüsstenschon,welcherTenjigemeint sei,dasolleichmirkeineSorgenmachen.Underlächelte. Ichlächelteebenfalls,abermehrausVerlegenheit,diese Selbstverständlichkeitnichtzubegreifen.
Spätererfuhrich,dassdieSherpaihrenKindernoftden NamendesWochentagesgeben,andemsiegeborenwurden. DaswarbeiTenjijedochnichtderFall.TenzingheißtinseinerSprache«BeschützerBuddhas».AlsichTenjistolzmein Wissenmitteilte,lachteerundmeinte,esseigut,dassesso vieleTenzinggebe.BuddhakönneniegenugSchutzhaben. SeinNameseiihmVerpflichtung,undwievieleandereTenzingkommeaucherdiesernach.DazugebeesvieleMöglichkeitenaufganzunterschiedlichenWegen.
IndieserGleichheitentstehtdieVielfältigkeitderMenschen,diesichimselbenNamenverbundenbleiben.Esist nichteineeinzelnePerson,dieherausragt,sondernsiesindin ihrerGesamtheiteingebundenundsomitunverwechselbar. DieVerschiedenheitunterGleichenzählt.Solegteichmir dieSituationzurecht.
MitdemallgemeingehaltenenNachnamenSherpaunterstreicheerseinegenerelleZugehörigkeitzurweitverzweigten VolksgruppederSherpa.FrüherseienkeineNachnamennötiggewesen.SeineGroßelternhättendassogemacht,alssie sichineinNamensregistereintragenmussten.ErseieinSherpa,abernichtalleSherpaseienauchwirklichSherpas,gibter mirnochmitaufdenWeg.
Ichbegriff:IndieserUmgebungbistdualleinnichtzubegreifen.DasmachteinengroßenUnterschiedzumeinem
SelbstverständnisundderArt,wiewirzueinanderstehen,dort woichherkomme.Alsichdasverstandenhatte,waresmöglich,dieseGeschichtezufinden.EineGeschichtederFreundschaftzwischendemBergsteiger,dersichals«TheSwissMachine»einenNamengemachthatte,undeinemNepali TenzingSherpa,denvieleimzukurzgegriffenenVerständnis seinesNachnamensalsTrägersehen.AberohneTenjikönnte ichdieseGeschichtenichterzählen,dafürbinichihmsehr dankbar.Alsichihnkennenlernte,öffnetesichderBlickzu denMenschen,indieLandschaftundOrte,wosichallesabspielte.SowuchsenvielfältigeTenjiszudiesemeinenzusammen.Siebedingteneinanderundwarenwiederumnichtohne denwestlichenBergsteigerzudenken,unddiesernicht,ohne TenzingSherpazufühlen.
DasistmeineGeschichte,siebegannvorfünfJahren.
AneinemMittagimAprilhatteichzumerstenMaldie StimmedesBergsteigersgehört.ImRadiowarereingeladen, vonseinemkommendenVorhabenimHimalayazuberichten,einergroßenÜberschreitungamEverest-Massiv.Es spracheinMann,dessenkonzentrierteArtmirgefiel.Die Entschiedenheit,mitdererseinZielanging,warineinen Realismuseingebettet,dermichbeeindruckte.Hierredete keinAbenteurer,sonderneinfokussierterLeistungssportler. Aberesbliebmirauchnichtverborgen,dasserimUnterton meinte,sichfürseineTätigkeitrechtfertigenzumüssen.Oder andersbetrachtet:Eswarihmhörbardarangelegen,sichzu erklären.Erbeschrieb,wieermitseinerGeschwindigkeitdas Risikominimiere,seineErfahrungihnschütze,seinekörperlicheundmentaleStärkeResultateineshartenTrainingssei undersichalsTeilderGeschichtedesAlpinismusbegreife.
Erwollteverstandenwerden,undalsihnderReporter fragte:«SiehabenAchttausenderinRekordzeitaufschwie-
rigstenRoutenbestiegenundvielfacherlebt,wiedieBerge ihreOpferforderten.Gibtesetwas,wasSiesichnichttrauen?»,zögerteerkeineSekunde,undohneUmschweifehörte ichseineklareAntwort:«EineFamiliezugründen.»
Ichdachte:Du,daskanndochnichtwahrsein,wasmacht diranderAussicht,VerantwortungineinerFamiliezuübernehmen,mehrAngstalsaufAchttausenderzusteigen?Ich schaltetedasRadioausundmichstreifteabschließendder Gedanke,erwerdewohlnocheinigeKlettereienvollbringen müssen,biserdieseFragebeantwortenkönne.
Dazukamesnicht.ZwanzigTagespäterwarderBergsteiger tot.AusgerutschtanderSüdwestflankedesNuptse,einem NachbargipfeldesEverest,undtausendMetertiefinsTaldes Schweigensgefallen.EswareinSonntag.DieSonnegingmitteninunsererStadthinterdemspitzenKirchturmauf,und derMorgenpräsentiertesichvielversprechendinklaremBlau.
IchlagnochimZeltaufunsererDachterrasse – undjetzt ertappeichmichdabei,michrechtfertigenzumüssen.Nein, bineigentlichkeinAsket,schlafeaufeinergroßen,bequemen MatratzeuntereinerAnzahlBettdecken,diederJahreszeit angepasstist,undhabeeineNachttischlampeimZelt.Aber ichmageseinfach,wennfrischeLuftmeineNasekitzelt.
Gut,imWinter,beirichtigkalterTemperatur,braucheich manchmaletwasÜberwindung,umdieBettdeckenzurückzuschlagenundaufzustehen.
DaswarandiesemMorgennichtderFall,alssichmein Mitbewohnerbemerkbarmachteundfragte,obichesschon mitbekommenhätte,«TheSwissMachine»seiabgestürzt. Wiesollteich?ErhingegenistSportkletterer.SeineeinarmigenKlimmzügebeiunsimTürrahmenmachennichtnurmir erheblichenEindruck,seintäglichesTrainingisteisern.Er hattedenBergsteigeraneinemVortraggesehen,undsogarin
seinerSzenehattedieserdurchausGeltung.Respektwarihm sicher,obwohlerdeutlichälterwarundinBedingungenkletterte,andenenjene,diestundenlangübereinenbestimmten BewegungsablaufamFelsfachsimpelnkönnen,keinInteresse haben.DerenRoutenheißen«Ravage»,aufDeutsch«Verwüstung»,oder«Anarchia»undsindimMittelgebirgedes Jurazufinden,nichtinderAnnapurna-SüdwandimHimalaya.DennochwarmeinMitbewohnerergriffen,mitgenommen,aufgewühlt,undauchmirgingdieNachrichtnahe.Ich schautemirumgehendnepalesischeMedienan,undmich schockiertediedetaillierteSchilderung,wieeinKörper,der tausendMeteraufeinemEisfeldnachuntenrutscht,Stück fürStückwieaufeinerKüchenraspelzerlegtwird.Trotzdem werdeindiesemFallderLeichnamgeborgenundnachKathmandugeflogen,lasich.DanachnahmmeinTagseinenLauf, undamAbendwarmirdiesertödlicheAbsturzzumEreignis gewordenundweitindenHintergrundgerückt.Ichschien ihnvergessenzuhaben.
ImgleichenFrühjahr,einenMonatspäter,kamichvoneiner atemberaubendenFahrradfahrtinTeheraninmeinkleines HotelimSüdenderStadtzurück.Hierwarichabgestiegen, imStadtteilderÄrmerengleichbeimBahnhof,wovonriesengroßenPlakatenRuhollaChomeinilinksvomHaupteingang indieFerneblickte.RechtsdavonsuchteseinNachfolgerals geistigesOberhauptundRevolutionsführerAliChameneiden BlickkontaktzudenReisendenaufdemPlatz.
DerPortiernahmmir,alsseidasganzselbstverständlich, meinVeloab,undichgingdieTreppehochderDuscheentgegen.MeinlangärmligesdunkelblauesHemdunddielangen schwarzenHosenzeigtenmitweißenSalzringenundgroßflächigverteiltemfrischenSchweißdieSpurenmeinerVerausgabung:dieValisar-Straße,dasObjektmeinerBegierde,undder
alltäglicheWegTausenderaufMotorrädern,Autos,inBussen undLastwagen.DieseTransversaleführtaufachtzehnKilometernvomSüdenschnurstracks,zeitweisesechsspurig,in denNordenderStadt,wosiesichineinerepischlanggezogenenKurveinFormeinerAlleesanftnachOstenzumTajrish-Platzneigt.BeieinemHöhenunterschiedvonsechshundertMetern.Oben,wodieReichenwohnen,hatteichmir zurBelohnungeinsündhaftteuresEisgeleistet.
IchfuhreinenStarrlauf:einGang,undnieaufhörenzu pedalieren,hochwierunter.FahrräderwarenbisvorhundertdreißigJahrenso,sindesheuteaufderBahnnoch.Undseit einigerZeitwiederauferstandenalsFixisimFahrradkurierwesen.Ichtrateinenunlackierten,rohenStahlrahmenund hielteinensteilabfallenden,verchromtenKeirin-Rennlenker.
SogenanntnacheinerjapanischenBahnraddisziplin,dem Kampfsprint.DieserLenkererwiessichalsSegen,erlaubteer mirdoch,michbeimHinunterfahreninschmalsteLückenzu stürzen.MancheaufihrenMopedsundMotorrädernblieben sozurück.IchdrücktemichzwischenBussenundAutosmillimetergenauvorbeiandieSpitzevorzurrotenAmpel.Wenn dieAmpelaufGrünschaltete,stürmteerstderPulkvonMotorrädernlos.Jetztgaltes,blitzschnellzubeschleunigenund dieGeschwindigkeitzuhalten,umnichtvondersichhinter miraufbauendenAutowelleüberrolltzuwerden.DerSprint führtemanchmalüberein,zweiKilometer,bisichinder AufstauungandernächstenAmpelwiedersicherverschwindenkonnte.Ichgebezu,dassesmirnichtmöglichwar,die ValisarineinemZugdurchzufahren,zuhochwardasverlangteMaßanKonzentrationimmassivenVerkehrsaufkommen undderKraftaufwandbeioftüberfünfzigStundenkilometernSpitzengeschwindigkeit.Aberichhatteessehrgenossen, michganzalleinunterdenMotorisiertenzubewegen,ein
Fremdkörperzusein,dertrotzdemseinenPlatzbeanspruchte. EinrasenderTanzimVerkehr.
NunwarendieSatteltaschengepackt,undamnächsten TagwollteichlosnachNordenansKaspischeMeer.
SeitelfStundenwarichunterwegs,erstimNordwestender StadtaufeinemPassmitdemBlickzurückhinunternach Teheran.VonhierauswarsogarderMolochmitseinenrund neunMillionenMenschenfassbar.DasLichtderMorgensonneunddiezahllosenSchattenwürfeließendasHäusermeer ungewöhnlichausgeglichenundruhigerscheinen.NacheinigenKehrenhinunter,wobeimeineTrittfrequenzeinerNähmaschineinhöchsterAuslastungglich,fandichamAnfang einesSeesmeineStraßeinRichtungNordwesten.Ichhatte geahnt,dassessokommenwürde:StundensteterSteigung. Ichwarbereit.
ImWiegetrittschraubteichmichStückfürStückhoch, derBelagwarbestens,schwarzundaufgeheiztvondergleißendenSonne.Autoswarenschonlangenichtmehrunterwegs, spätestensabdort,woeinmassiverErdrutschdieFahrbahn weggedrückthatteundichmeinRadüberdieweitflächigen Steinhaufengetragenhabe.IchsahmeinemSchattenaufdem AsphaltbeiderBewegungzuundmeinte,denBeginneines Sonnensticheszuspüren.
AufdergegenüberliegendenSeitedeslanggezogenenbreitenTalswarendieBergrückenschneebedeckt.Siewarenfast viertausendMeterhoch.IchstiegvomRad,suchtenachOrientierungundfandineinigerEntfernungdiePasshöheimdirektenGegenlicht.Wundertemich,dassichnichtimVollbesitzmeinerKräftewar,aberdasVelozuschiebenwäremir ungewohntvorgekommen.ZudiesemZeitpunkthatteich nochkeineAhnung,dassderDizim-Pass – womichdiebeidenHerrenvomBahnhoferneutbegrüßensollten,diesmal
aufBlechgemalt,festgeschraubtaneinemstarkenGerüstmit demHinweisaufdasinternationaleSkigebiet – dreitausendzweihundertsechzigMeterüberdemMeeresspiegelliegt.
DortobenwürdeichinetwasmehralszweiStundenankommen.DieWindewürdenstarkblasenundsichanden Felskantenbrechen.InOstwestrichtungwürdesicheine nächsteBergkettezeigen.AllerdingsnichtmehrinderHöhe, vondermeineAussichtübersiehinwegindiedahinterliegendenTälerging.DiesewiesennachNorden,fieleninden Dunst,indemdasKaspischeMeerzuvermutenwar.ErschöpftwürdeicheineneinigermaßengeschütztenPlatzfür meinZeltfinden.OhneProblemeineinentiefenSchlaffallenundamnächstenTagjauchzenddiesteilstenSerpentinen halbfallend,halbfahrendhinuntertaumeln.DieSonnewürde mitunmissverständlicherKlarheitSchneeundEisaufder Straßeschmelzen,undichwürdeglücklichsein.
DochvorerststandichhieramspätenNachmittagmit demsuchendenBlickzurPasshöhenebenmeinemFahrrad: dem Monstre,undsammeltemeineKräfte.Dafielmirder Bergsteigerein,ganzbeiläufigeinfachso.Ichwarkeinesfalls überraschtoderverwundert.IchnahmeseinfachzurKenntnis.DieEingebunghatteihrenPlatzbeanspruchtundgleich gefunden.SieformteGedanken,dievoneinerGewissheitunterlegtwaren,dasssiesichnichtmehrverflüchtigenwürden. WaswardasfüreinMensch,wasbewegteihn,wasverknüpft michmitihm?Fragen,diemireineeigeneAntwortabverlangten.Ichstiegauf,ohneDruckzuverspüren,siegleichfindenzumüssen.ImGegenteil.Beruhigtfuhrichlos,fandmeinenTritt.
DaswardieEinladungfüreinZwiegespräch,dasichohne ZweifelinallerSelbstverständlichkeitannahm.DerBeginn derBeziehungmitdemtödlichverunglücktenBergsteiger.Sie solltedienächstenJahreandauern.
WiederzuHausewussteichnicht,wasichmachensollte. WerwardieserMensch,undwashabeichmitihmzutun?
Einzigwarmirklar,dassichdieseGedanken,dieEingebung aufderPassstraßeRd425,dieichausdemiranischenElbrozgebirgemitgenommenhatte,ernstnahm.
EineersteRundsichtschrecktemichab.ZweihunderteinundneunzigtausendLinksbrachtedieSuchmaschineans Licht.VerlautbarungenunzähligerMedieninallenaudiovisuellenodergetextetenArtenlagenvormir.Auchwennichdie SuchergebnisseaufdiedeutscheSpracheeingrenzte,bliebdie Überforderung.SollteichmichfürgewisseLeitmedienentscheidenundvondiesenausindieTiefegehen?Nein,die Abneigungbliebbestehen.Ichgestandmirein,dassmichdas medialeBild,eineMischungausProfisportlerundbodenständigemBergler,eigentlichnichtinteressierte.Ichwarzögerlich undspürteeineninnerenWiderstand,diesenMenscheninallermedialenBreiteausgewalztvormirzusehen,sodasskein andererBlickwinkelaufihnBestandhabenkonnte.Aberes warseineAngstdavor,«eineFamiliezugründen»,diebei mirhängengebliebenist,undimKontrastdazusprachdas medialeBildwenigvonAngst,höchstensvonStrategienzur RisikominimierungamBerg.Folgerichtigwollteichmichbei seinerFamiliemelden.Nurwie?Undwiedamitumgehen, dassersteinhalbesJahrvergangenwar,seitderToddenEltern,denGeschwisternundderEhefrauSohn,Bruderund Ehemannentrissenhatte?
MeineUnsicherheitwarunbegründet,undichstaunte, denneinemöglicheKontaktaufnahmewaraufeinerdigitalen KondolenzseiteinallerKlarheitgeregelt.DieFamiliebat,von direktenAnfragenabzusehen,siewerdevoneinerMedienagenturvertreten,diezukontaktierensei.Frohdarüber,mich aufvorgespurtemWegbewegenzukönnen,schilderteich meinAnliegenundbeschrieb,wieichdazugekommenwar.
Außerdemerwähnteich,mirseidasUngewöhnlichemeiner Absicht,denverstorbenenAlpinistennachdessenTodkennenlernenzuwollen,durchausbewusst.Undichbetonte,den Trauerndenkeinesfallszunahetretenzuwollen.NacheinigenWochenkameinehöflicheNachrichtdesMediensprechers,meinAnliegenseiandieFamilieweitergeleitetworden undmanbittemichumGeduld,bisdieAntworteintreffe.
IndiesemZusammenhangfielmirauf:DerBergsteiger wurdevoneinerAgenturvertreten,diesichdie«persönliche BegleitungvonführendenWirtschaftspersönlichkeitender Schweiz»aufdieFahnegeschriebenhat.DerInhaberwar DiplomingenieurundhattejahrelangalsWirtschaftsjournalistgearbeitet.Nungingesum«Communication&ReputationManagement».EineWelt,inderdasäußereBildder KlientengeradeauchinKrisensituationengesichertundgesteuertwerdensoll.WiederwarichindiemedialeSphäregeratenundbegriff,dass«TheSwissMachine»eineMarke war.EinProdukt,dassichamMarktzubehauptenhatte. UndwahrscheinlichwürdeinderAgenturvon«Brand»gesprochen.Daskammirfremdvor.
NurwenigspäternachdemKontaktmitdemMediensprechertrafeineAntwortderWitweein.Siefreuesichdarüber, dassihrMannmichinspirierthabe.LeidersehesichdieFamilieinihrerunmittelbarenTrauernichtimstande,sichmit mirzutreffen.SiebitteumVerständnis,undichkönnemich ineinemJahrwiedermelden.
Ichwarfasteinwenigerleichtert,wasmicherstaunte.Aber unbewusstgenossiches,sogenugRaumzuhaben,micherstmalalleinmitdiesemMenschenauseinanderzusetzen.Mir
Zeitzugeben,klarzuwerden:WasfüreinVerhältnisentstehtzwischenuns?Warumließermichnichtlos,undwieso ließichdaszu?Wovonwürdeichausgehen,wennichdereinstseineAngehörigentreffensollte?
NatürlichmeldeteichmicheinJahrspäterwiederbeider FraudesBergsteigers,nichtohnezuschildern,wasichinder Zwischenzeitunternommenhatte.Siereagiertefreundlich undbeschriebihreTrauer.IhrseidaswichtigsteGegenüber abhandengekommen,derMensch,derihramnächstengewesenseiundmitdemsieimmerwiederneueAbenteuererlebt habe,ihrSparringspartnerindenkleinenundgroßenFragen desLebens.AbersiefühlesichheutenochnichtinderLage, michzutreffen.SiebatumVerständnis,undichkönnegerne ineinemJahrwiederbeiihranklopfen.Dasnahmichmir vorundfinganzuschreiben.
IndenAnfanggestürzt
AlssichTenjiundderwestlicheBergsteigerdasersteMalbegegnen,istdieserdreißigundTenjifünfzehn.VoreinigenTagenhatdieGruppeaufdemWegzumAnnapurna-Basislager aneinerheißenQuelleeinePauseeingelegt.ImTalistes grünvonalldiesenBananenstauden,undderBambuswuchert.DerBergsteigerlegtsich,ohnezuzögern,indasBecken mitheißemWasser,undKaji,TenjisOnkel,ebenfalls.Das WasserergießtsichauseinemgebogenenRohrdirektüber dieKöpfederbeiden.Tenjihingegenistvorsichtig,ihmist dieserdampfendeWasserstrahlnichtganzgeheuer.Erlässt ersteinmaletwasabseitsdieBeineinsBeckenbaumelnund beobachtetdiefallendenWassertropfen,dieindenSonnenstrahlenglitzern.EineFrauhälteineKameraundlächeltin RichtungdesBergsteigers,dergutgelaunterzählt.
«JadieAnnapurna,derschwierigsteAchttausender.Die Südwand,dieschwierigsteRoute,eineErstbesteigung.Ja,das istrichtig,bishersindallegescheitert.»
DieReporterinnimmtseineAusführungenwohlwollend zurKenntnisundsprichtdannselbstinsMikrofon:«Du warstbisjetztnochnieaufeinemAchttausenderinNepal?»
«Irgendwomussmanjaanfangen.»
«Undwennduscheiterst?»
«Gescheitertbinich,wennichtotbin.»
UnvermittelttauchtermitdemKopfunter.Tenjihatte nichtsvondemGesprächverstanden,bemerktaber,dassdas BlubberndesBergsteigersunterWasserdieFrauverlegen macht.SiewendetsichhilflosanseinenOnkelKaji:«Und Sie,wasmachenSiehier?»
KajirecktsichzurKamera,holtLuftundredetplötzlich aufgeregtlos:«IchbackeApfelkuchen,meinenApfelkuchen
magersehrgerne.UnddasistTenji,meinGehilfe.»Dieser nicktinRichtungderJournalistinundlächelt.NunistKaji inseinemElementunderklärt:«Ichbineigentlichkein Sherpa,abermeinBruderhateineSherpageheiratet,obwohl ereinMagarist … »SiegibtihmeinZeichen,dassjetztgenuggeredetsei,aberKajiistnichtmehrzustoppen:« … deshalbistTenjijetztbeimir,weilseinOnkelMingma,der SohnderSchwesterdesGroßvaters,nichtverstandenhat … »
EntnervtlässtdieFraudieKamerasinkenundunterbricht Kaji:«Gut,danke,danke,undwirprobierengerneeinStück IhresApfelkuchens.»
KajinicktstolzzuTenji.Dieserfühltsichwohlbeiseinem Onkel.
ImBasislagerschneitesseitTagenohneUnterbrechung. TenjihatdenBergsteigernachdessenNamengefragt,dieser buchstabiertelangsam,vielleichtmerkteersogar,dassTenji diesenDoppellaut,dererstdunkeltiefdaherkommtund plötzlichineinenhellenoffenenTonübergeht,schweraussprechenkonnte.TenjierinnertderKlangeherandenRuf einesVogels,einerEule.
Aberdasistegal,dennderBergsteigerredetsowiesonicht viel,mitihmnichtundauchsonstnicht.NurwenndieJournalistinmitderKameravorihmsteht,scheintihmetwaseinzufallen.Ansonstenisterdraußenundschipptstundenlang mitderSchaufelSchneeweg,währendTenjiundseinOnkel KajiimKüchenzeltdasEssenvorbereitenundvielschlafen. Kajisagt,daskenneerschon.DerBergsteigermüsseerstauf einenGipfel,wennerdannzurückkommemitseinerwiedergefundenenSprache,hättensiesogarschonzusammengesungen.Erkönnesehrlustigsein,wasTenjizudiesemZeitpunkt nichtglaubenmag.AberdannlehntsichKajizuseinemNeffenundsetzteinebedeutsameMieneauf.Tenjiistsichnicht sicher,wieernstesseinOnkelinseinemFlüstertonwirklich
meint.ErhabeihmetwassehrWichtigesanzuvertrauen:Der Westlerseikrank.ErbegebesichimmerwiederinGefahr,in derseineSeelegeraubtwerdenkönnte.Ihm,Kaji,kommees sovor,dassdieneunHexenschwesternnurdaraufwarten würden,seineSeeleversteckenzukönnen,undermachesich Sorgenumihnundwerdehelfen,egalwaspassiere.Errollt ausgiebigmitdenAugen,umseineWortezuunterstreichen.
Erweiß,wovonerredet,eristschonseitJahrenKochbei denverschiedenstenProjektendesBergsteigersimHimalaya. DochfürTenjiistallesneu,underfindetsichimGanzen nochnichtzurecht.Erbleibtvorsichtigundschautzu.
DasWetterändertsich.NunscheintTagfürTagdieSonneverlässlichbiszumMittag.DannziehenjeweilsWolken auf,diesichauflösen,wennesamAbendwiederfrischwird. DieNächtesindsternenklarundsehrkalt.
SostehtderBergsteigerimerstenLichtdesaufziehenden TagesamBergfuß,nimmtdieSteigeisenindieHandund prüftmitderFingerspitzedieSchärfederZacken.OffensichtlichzufriedenschnalltersichdieKletterhilfenandieFüße. ErrichtetsichaufundblicktindieWand.SeinGesicht strahltgespannteVorfreudeaus.SeinersterZugamFelseröffnetihmdieMöglichkeit,indieseralsunkletterbargeltendenWandseinenWegzufinden.Erhatsichentschieden, unddiefestenStößeseinesAtemsformendenRhythmus,der keinenZweifelmehraufkommenlässt.
StundenspäteristdieserkleinerotePunktindenFelsmassenverschwunden.
AnfangsunbemerkthebtirgendwoamBergeinrauschendesSchlagenan.DasGeräuschschwilltanundwirdimmer lauter.EsstehtinseltsamemKontrastzumerhabenen,ruhigen,vonderSonnedurchfluteten,ebenmäßigenBild,dasdie GöttinAnnapurnaaussichererEntfernungvonsichzeichnet. PlötzlicheindumpferAufprall.DanachherrschtRuhe.
ErliegtausgestrecktundmitdemKopfnachuntenim SchneeundzittertamganzenLeib.SeinAtemgehtschnell undhechelnd.Trotzdemversuchter,sichaufzurichten,sackt aberimmerwiederzusammen.InseinemerstarrtenGesicht stehtungläubigesEntsetzen.Schließlichgelingtesihm,einigermaßenaufrechtimSchneesitzenzubleiben.DasLicht blendetihndermaßen,dasserdieAugenmitallerKraftzusammenkneift.StotterndbrabbelterunverständlicheWorte. Erschluchzt,ziehtdieschneidendeLuftstoßweisedurchdie Naseein,währendermitbeidenHändenseinenKopfabtastetunddenverbeultenHelmabnimmt.Derzerfälltinzwei Hälften.DerBergsteigerschlucktangestrengt,stiertvorsich hin.UmihnherumliegenFelsbrockeninallenGrößenund Formen.SeineAngstlöstsich,alsderGedankeihnergreift, welcherdieserSteineihngetroffenhabenmag.Ermusswohl mehrereHundertMeterabgestürztseinundwirdsichnicht daranerinnernkönnen,wasgenaupassiertist.DiesesUnwissenbleibtbestehen.
ErtutTenjileid,dersichfragt,wieesseinkönne,dassdieserKriegersogeschlagenwurde.DerWestlerkommtihm sehrtraurigundeinsamvor.Wieersodasitzt,siehtsichTenjiselbst,alserseinKlosterverlassenmusste.IndiesemAugenblickspürtereineNähezumBergsteiger.Vondaanwirder beijedemseinerProjekteinNepalmitdabeisein.DienächstenzehnJahrebiszudessenTod.
SiestützendenVerunfalltenaufdemWeginsGemeinschaftszeltimBasislager.DieFraumitderKamerawillsich gleichmitihmunterhalten,mussdannabereinsehen,dasser nichtdazufähigist,ihrAuskunftzugeben.ErkriechtinseinenSchlafsackundschläftsofortein.
Alseraufwacht,sitztTenjinebenihmundfragt,wiees ihmgehe.DerBergsteigerfährtsichmitdenHändenübers
Gesicht.«AufalleFälleseheichnichtmehrallesdoppelt undaufdemKopf.»
«DuhasteineNachtundeinenganzenTaggeschlafen.» TenjireichtihmWasser.
ErrecktundstrecktsichaufseinerMatte.Dannfasstersich andenKopfundnimmtdieschwarzeStrickmützeab.Sieist miteinemseltsamenweißenZeichenbestickt,dasTenjisofort insAugespringt,ohnedassersichtrauenwürde,nachdessen Bedeutungzufragen.IngroßenSchlückentrinktderBergsteigerdasWasser.ErspürtwohlTenjisInteresseundmustertdieKappe.«Hatermichbeschützt,kaumzuglauben.»
«Wer?»,willTenjiwissenundstelltsichvor,dassdaseinerderGötterdesWestlersseinmüsse.
«DieMützehatmireinFreundgeschenkt.Allevierzehn Achttausender,geknacktwieErdnüsschen.»
Tenjimerkt,dassereinenMenschenmeint,dassesum BergegehtundernichtübereinenGottredet.DerBergsteigererzählt,wieerdasersteMalaneinerrichtigenExpedition imHimalayaamJannuteilgenommenhat.DerMannmit denvierzehnAchttausendernunddenErdnüsschenhatteihn gefragt,obermitkomme.Erhabesichdamalsriesiggefreut undtuedasjetztnoch,obwohldasschonfünfJahrehersei.
LangsamtauchtvorTenjisAugeneinBilddiesesManns auf.Erstelltsichihnaufrechtundgroßvor,ermusswohl älteralsderBergsteigergewesensein.WiedieweisenAsketen, denenSiddharthaaufseinemWerdegangzuBuddhabegegnete.DieserMannscheinteinVaterfürdenBergsteigergewesen zusein,obeinguterodereinböser,weißTenjinicht.
Docherhatwohlvonihmgelernt,aufdieGipfelzuklettern,undalsTenjihört,dassdieserMannaucheinBergsteigerundfastzwanzigJahreältersei,bestätigtdasseinenEindruck.AuchweißTenjivonKaji,dassderWestler,dervor ihmsitztunddemerdabeibeobachtenkann,wiedessenLe-
bensgeisterwiederzurückkommen,fünfzehnJahreälteristals erselbst.Fürihnistesselbstverständlich,demÄlterenmit großemRespektzubegegnen.AllerdingsistsichTenjinicht sicher,obderBergsteigerdasüberhauptbemerkt.Vielleicht deuteterseineZurückhaltungalsUnsicherheit.Oderer nimmtschlichtkeineNotizvomAltersunterschied.Aufalle FälleistderBergsteigerzudiesemZeitpunktdoppeltsoalt wieTenji.
NungerätjenerregelrechtinsSchwärmenüberdiese NordwandamJannu.TenjihatkeineAhnung,wosichdieser Bergbefindet.SpätererzähltihmKaji,derKumbhakarna,wie siedenJannunennen,seidenSherpaheilig,keinerwürdeihn besteigenwollen.DerBergsteigeristindesseneingetauchtin seineErinnerungenundeigentlichredeterimmermehrmit sichselbst,alsermitBegeisterungerzählt,dassderJannuder EisschrankseiunddessenNordwanddasGefrierfach.Tenji verstehtnicht,wieerdasmeint,undwarumsollesbesonders sein,sichaneinemOrtaufzuhalten,andendieSonneihre Strahlennichthinschickenkann.AndauerndwürdendorteisigeWindewehenundesschneieeigentlichimmer,hörter ihnerzählen.SowundertesTenjinicht,dassdiebeiden Männeresdamalsnichtgeschaffthaben,durchdieWandzu klettern.EsgabwohleinfachkeinenWeg.Schließlichnennt derBergsteigererstaunlichlebhaft,dafürdasseskeinezwei Tageherist,dassihneinSteinausderWandgeschlagenhat, denNamenseinesLehrers.AlssolchenbegreiftTenjiden zweitenBergsteigerundhatindiesemMomentdenEindruck,esredeeinJungezuihm,derdenNamenseinesVorbildesaussprichtunddannvorlauterEhrfurchtverstummt.
AberseinBlickhatkeinZiel,undTenjikanndiesenAugennichtstandhalten.DerBergsteigerverkrampftseineHändeinderWollmützeundberichtet,dassdieserMannetwas sehrSchweresmitsichherumtrage.JenerhabeseinenSohn,
einBaby,umgebracht.EswaraneinemFeiertag,demHeiligenAbend.TenjihatschonvondiesemgroßenFestgehört. Erweiß,dassdieGeburtdesSohnesihresGottesmitvielen Kerzengefeiertwird.DasvergleichtermitdemLichterfest derHindus.EsistalsoandiesemTaggewesen,alsderSäuglingdesLehrersgeschrienundderMannseinenSohngeschüttelthat,biserverstummtwar,tot.NeunMonatespäter warensiedannzudritt,derMann,dieMutterdestotenKindesundderBergsteiger,aufdieseExpeditiongegangen.Die Mutterkochte,wasgutschmeckteunderregelrechtverschlang.ImGegensatzdazuweigertesichderMann,irgendwaszuessen.DieserhabeeigentlichimmerdraußenimSturm gestandenundseinurzumSchlafeninsZeltgekommen.Die ErinnerungenbedrängendenBergsteigerimmermehr.Er fragtsich,warumesihnnichtberührthat,alsdieMutterihm gestand,siehöreNachtfürNachtihrenSohnimSchneesturmdraußenschreien.Irgendetwasstimmtenicht.DasElternpaarredeteeigentlichkeinWortmiteinander.DerMann wusstenicht,waserzuseinerFrausagensollte,undesschien, erhabeauchschlichtwegnichtszusagengehabt.Daserklärt derBergsteigerdamit,dassderMannundernurGedanken fürdieseWandgehabthätten.Dieseaberhabesichihnenimmerweiterentzogen.UnddasmitdemKindmusswohlein Unfallgewesensein,sagter,so,wieerhieranderAnnapurna verunglücktsei.MitdemUnterschied,dassdasKindtotist undernochlebt,denktTenjiundspürt:AuchderBergsteigeristsichdessenbewusst.NunsiehtTenjisogarwiederden KriegerinseinemGegenüberaufblitzen.DieserstößtzurückhaltendlächelndeinenSeufzerausundmeint,aufalleFälle geheerdortnichtmehrhin,andiesenJannu.
NacheinerWeilefragtihnTenjidoch,wasdasinder WollmützeeingestickteZeichenbedeute.DerBergsteiger schütteltleichtdenKopf,alsoberetwasverneinenwollte,
undhältihmdieMützehin.«DerTod,einTotenkopf,das istdasZeichenfürdenletztenAtemzug,danachistesvorbei.»
DerplötzlicheHinweisaufdenTodüberraschtTenji,und führtihninGedankeninseineKlosterschule.Eigentlichhat eretwassagenwollen,abererzögert.ErwillnichtdenEindruckerwecken,demÄlterengegenüberbelehrendzusein, bisesdochausihmheraussprudelt:«Buddhasagt,esistder Weg,derWiedergeburtzuentkommen.JederTagisteinwenigSterben.»
«Woherweißtdudas?»,fragtderBergsteigersichtlich überrascht.
«Ichwar,bisichhierherkam,Klosterschüler.»
«DuwillstMönchwerden?»
«IchwaraufdemWeg.Aberjetztistermirversperrt.»
«Warum?»
Tenjikannnichtantworten.Wahrscheinlichistesihm selbstzugroß,seinvorzeitigesAusscheidenausdemKloster. SofindeterkeineWortedafür,wasihnnichtstört.Aberer erklärt,wieerhierhergekommenist:«MeinOnkelKajihat michmitgenommen.EristderBrudermeinesVaters.Dasist besser,alswennmichmeinMutteronkelMingmazuden TouristenandenEverestgeschleppthätte.Eristeinböser Mensch.»
DerBergsteigerinteressiertsichfürdieFamilienverhältnisse,obwohlersienichtganznachvollziehenkann.Erlegtdie MützezurSeiteundreichtTenjidieHand.DererwidertseinenGrußimWissendarum,dassdieMenschenausdem WestensofreundlicheVerbindungzeigen.
«DahastduGlückgehabtundichauch.Freutmich,dich kennenzulernen.»
«Darfichdichetwasfragen?»,ergreiftTenjidieGelegenheit.
ROMAN EINER POSTHUMEN ANNÄHERUNG
Als der Sherpa den Bergsteiger das erste Mal sieht, wirkt dieser auf ihn wie ein Held aus einem Hindi-Film: ein Krieger, stark und unverletzlich, in dessen Augen sich der Himmel spiegelt.
Als der Autor das erste Mal vom Bergsteiger hört, ist dies dessen letztes Interview: Drei Wochen später ist «The Swiss Machine» tot, abgestürzt am Nuptse in Nepal. Einige Monate später – während einer eigenen Grenzerfahrung – beschließt der Autor, den Spuren des Bergsteigers zu folgen. Er ahnt nicht, dass er sich damit auf eine jahrelange Reise begibt. Er tri auf den Sherpa Tenji, einen steten Begleiter und Freund des Bergsteigers in dessen letzten zehn Lebensjahren. Tenji wird auch ihm zum Vertrauten und erö net ihm die Welt, in der er den Menschen hinter der Schweizer Berglegende ndet.
Der Sherpa, der Bergsteiger und der Autor: drei Menschen, deren Wege sich jenseits des Vorstellbaren kreuzen – in einem Roman, der die Grenzen des Machbaren auslotet.