ROMAN WALKER
HANNS IN DER GAND
Walker
HANNS IN DER GAND
Soldatensänger, Liederfürst
RomanDer Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
© 2023 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Angelia Schwaller
Korrektorat: Jakob Salzmann
Coverbild: © Portrait Hanns in der Gand vom 10. Februar 1942, © KEYSTONE / PHOTOPRESS-ARCHIV, Milou Steiner
Covergestaltung: Hug & Eberlein, Leipzig
Layout / Satz: Andreas Färber, mittelstadt 21
Druck: Finidr, Tschechische Republik
ISBN: 978-3-7296-5141-8
www.zytglogge.ch
Hanns in der Gand gilt als einer der bedeutendsten Protagonisten der musikologischen Feldforschung zu Volksliedern in der viersprachigen Schweiz. Mit seiner Laute in der Hand, und ab den 1930er-Jahren auch mit einem Walzenphonographen im Auftrag des Schweizerischen Volksliedarchivs, zog er als Sänger und Sammler durchs Land und dokumentierte neben Musikinstrumenten insbesondere zahlreiche Volkslieder aus der mündlichen Überlieferung. Nicht nur das, was gespielt und gesungen wird, sondern auch was sich verändert, interessierte ihn. Hierzu forderte er schon 1936: «Wir brauchen Wind, frischen Wind in die Segel.»
Mit der vorliegenden Publikation über den «Soldatensänger und Liederfürsten Hanns in der Gand» entfacht Roman Walker diesen frischen Wind mit einem aufschlussreichen Portrait über den Liedersammler und untersucht beispielhaft in der Gands Feldforschungsdokumentationen zu Liedern aus der Innerschweiz und den Kantonen Bern, Graubünden, Wallis und Tessin. In der Gands integrativer Ansatz ebnete den Weg in die Zukunft, um Liedersammlungen zu kreieren, die allen Landesprachen und ihren Dialekten gewidmet sind. Seine transnationale Idee wurde von seinem Zeitgenossen und Musik historiker Antoine-Elysée Cherbuliez im Forum Alpinum (1965) aufgegriffen, um eine Auswahl von traditionellen Liedern und Musik der Schweiz mit Texten, Melodien und begleitenden Kommentaren in vier Sprachen anlässlich der Schweizer Expo 1964 herauszugeben. Acht Langspielplatten ergänzten diese klingende «Anthologie authentischer Volksmusik aus den Schweizer Bergen», die von ihrem Grundsatz her dem «frischen Wind» von Hanns in der Gand verpflichtet blieb. Im Kontext dieser Wirkungsgeschichte bleibt es ein grosses Anliegen, den Nachlass von Hanns in der Gand mit den Hun-
derten von ihm gesammelten Liedern aufzuarbeiten und neu zu erfassen und – wie es das kritische Anliegen von Roman Walker ist –auch in der Erinnerungskultur lebendig zu halten, denn mit jedem Wiedererzählen treten weitere «Seitenarme des Erinnerungsflusses» hinzu, so wie der Historiker Johannes Fried (2012) es trefflich sagt: «Es bedarf heute der Schriftzeugnisse, um verstummter Mündlichkeit nachlauschen zu können. Doch verklungen ist verklungen.» Mahnend fügt er gleich hinzu: «Die Gefahr, sich zu verhören, ist gross.»
Der Plan einer gesamtschweizerischen Edition von traditionellen Liedern aus der Schweiz, wie sie in Archiven zu Tausenden schlummern und in historisch-regionalen Publikationen gesammelt wurden, liegt allerdings noch immer in weiter Ferne. Auf dem Weg dahin will Roman Walker einen neuen Anstoss geben, was gestern war in seiner Sichtbarkeit und Hörbarkeit heute nochmals neu zu entdecken, für eine Zukunft als offener Erinnerungshort.
AUFTAKT
Am Wochenende vom 21./22. November 1981 veranstaltete die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde (SGV) in Basel ein internationales Kolloquium zum 75-jährigen Bestehen ihres Schweizerischen Volksliedarchivs (SVA).
Dass das Jubiläum mit dem 22. November auf den Tag der heiligen Cäcilia, der Patronin der Musik, fiel, mag Zufall sein. Im Verlaufe der Tagung hat sich jedoch gezeigt, dass dem Volksliedarchiv eine wirkmächtige «Patin» nicht schaden kann. Die Musikwissenschaftlerin Brigitte Bachmann-Geiser spricht vom Geburtstag eines «Stiefkindes»: ein Etikett, das dem Schweizerischen Volksliedarchiv bis heute nicht ganz zu Unrecht anhaftet.
Wie denn eine «Versammlung grauer Pappschachteln», zu der ein Liedarchiv etwas neige, in klingende Volkslieder zurückverwandelt und nicht wissenschaftlich Interessierten zugänglich gemacht werden könne, fragt Bachmann-Geiser weiter.1
Das vorliegende Buch über Hanns in der Gand gibt Antworten auf die berechtigte Frage. Mit der Transkription ausgewählter Liedbeispiele aller Landessprachen leistet es einen bescheidenen Beitrag dazu, die «Versammlung grauer Pappschachteln» in klingende Volkslieder zu verwandeln. Die insgesamt acht Lieder erheben nicht den Anspruch, für den gesamten Volksliedfundus in der Gands repräsentativ zu sein. Viel mehr gewähren sie einen Einblick in die vier unterschiedlichen Schweizer Sprach- und Singkulturen und können so vielleicht das Interesse für die Erforschung weiterer Lieder aus dem Archiv wecken.
Weite Teile des Buches konnten nur durch die Auseinandersetzung mit dem Nachlass in der Gands entstehen. Die im Zuge des Buchprojekts entwickelte Datenbank erfasst den weitgehend unerforschten Nachlass in seiner ganzen Vielfalt und Tiefe. Sie öffnet die Deckel der zwölf Pappschachteln und macht diesen besonderen Schatz im Schweizerischen Volksliedarchiv Basel Interessierten zugänglich. Die vielseitigen Archivalien stellen über die Volksliedforschung hinaus einen wichtigen Bestandteil des kulturellen Erbes der Schweiz dar.
Zweifellos, der 1882 als polnischer «Secondo» Ladislaus Krupski geborene und unter dem Künstlernamen Hanns in der Gand bekannte Konzertsänger zur Laute entstammt einem besonderen Elternhaus. Dass sein Vater Stanislaus nach sechsjähriger Gefangenschaft in Sibirien vor der Polizei des Zaren in die Schweiz geflohen ist, wurde lange nur hinter vorgehaltener Hand verbreitet. Ein Umstand, der den demokratieliebenden Baustellenarzt der Gotthardbahn-Gesellschaft heute eher auszeichnet, denn sein Vergehen bestand lediglich darin, öffentlich für den Anschluss Polens an die Österreichisch-Ungarische Monarchie einzutreten.
Vater Stanislaus und Mutter Elisabeth prägten die heranwachsende Kinderschar dermassen weltoffen und bildungsnah, dass Ladislaus zu seiner wirklichen musikalischen Begabung finden konnte.
Wenn Zuzüger im Urner Volksmund bis heute humorvoll und doch etwas ausgrenzend «Lachoonigi»2 genannt werden, so trifft dieser Begriff auf die Familie Krupski anfänglich in besonderer Weise zu. Vor diesem Hintergrund muss das Wurzelnschlagen von Ladislaus auch als eine Geschichte der erfolgreichen Sozialisierung im Urkanton zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelesen werden.
2 Urner Dialekt: Personen, die für eine bestimmte Arbeit in den Kanton gerufen werden.
Verständlich, dass Vater Stanislaus in seiner Demokratiebegeisterung mit seinen Kindern jährlich aufs Rütli pilgerte. Nachvollziehbar, dass Ladislaus zeitlebens einen Urner Dialekt pflegte, der mit keiner Silbe seine polnische Herkunft verraten hätte. Nicht erstaunlich, dass Ladislaus Krupski auf dem Weg ins Berufsleben als Sänger und Liedforscher seinen polnischen Namen ablegte und sich mit der eigenen Namenskreation «in der Gand» auch äusserlich zum Schweizer machte. Das neue Namenskleid war indes keine Verkleidung. Es stellte weit mehr als eine Bühnenidentität dar und repräsentierte das Denken, Fühlen und Handeln von Hanns in der Gand als Schweizer ganz und gar.
Dank einem ausgeprägten Interesse an Volkskultur konnte er in der Wahlheimat seines Vaters «Pfahlwurzeln» schlagen, weshalb er anfänglich im Urnerland und später in der ganzen Schweiz als «iserätenäinä»3 gesehen wurde. Die Berufung zum ersten Schweizer Soldatensänger (1914) machte ihn gar zum Schweizer Botschafter im eigenen Land. Seine identitätsstiftenden Liedbeiträge bildeten vergangene und aktuelle Lebenswelten ab und wurden mit der stets eloquenten, selber vorgetragenen Konzertmoderation begeistert aufgenommen. General und Bundesrat stuften sein Wirken auch in der Zeit der Geistigen Landesverteidigung des Zweiten Weltkriegs als absolut prioritär ein. In der Gand setzte durch sein Wirken klare Zeichen für eine Kultur der sprachlichen Vielfalt, die auch Minderheiten schützt und so zum Gegenentwurf der faschistischen Ideologien jener Jahre wurde.
Mit seinem immensen Repertoire, seinen vielseitigen Sprachkenntnissen und seiner fesselnden sängerischen Auftrittskompetenz hat Hanns in der Gand die identitätsstiftende Hauptrolle seines Lebens gefunden: Volksliedforscher und Volksliedsänger im Dienst der viersprachigen Schweiz.
3 Urner Dialekt: Einer der Unseren
Die Tatsache, dass ein polnischer «Secondo» der ganzen Schweiz durch das Volkslied die Schweiz erklärt, lässt aufhorchen.
Niemand hat sich dem Schweizer Volkslied so umfassend in allen Landessprachen angenommen. Kein Liedforscher konnte die eigenen «Liedernten» auch nur ansatzweise durch eigene Konzerte und Publikationen verbreiten, wie dies Hanns in der Gand über Jahrzehnte tat.
Daher kommt dem Urner Hanns in der Gand die wohl prominenteste Rolle unter den Schweizer Liedforschern zu. Die von Fantasie geprägten Ehrentitel wie «Liederfürst» oder «Bruder Grimm des Schweizer Volkslieds» zeugen bis heute davon.
Im vorliegenden Buch fliessen erstmals Aspekte aus allen heute verfügbaren Quellen zu Herkunft, Leben und Werk Hanns in der Gands zusammen.
SCHWEIZER VOLKSLIEDFORSCHUNG
ZU BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS
In der Schweiz des 18. Jahrhunderts entwickelte sich eine Natur- und Alpenbegeisterung, die massgeblich durch Albrecht von Haller (1708–1777) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) initiiert wurde. Hallers literarisches Gedicht «Die Alpen» machte die Schweizer Alpen weit über die Landesgrenzen hinaus zum idealisierten Sehnsuchtsort. Rousseaus Ranz des Vaches im «Dictionnaire de musique» (1768) wurde zum Ausgangspunkt für die volksethnologische Forschung der Schweiz.4
Diese Begeisterung fand in den ersten beiden Austragungen der Unspunnenfeste 1805 und 1808 bei Interlaken einen kulturellen
Höhepunkt. Aristokratische Stadtberner Initianten versuchten, Stadt und Oberland einander näher zu bringen und richteten für sich und erlesene Gäste aus dem In- und Ausland das Fest in Anlehnung an die Alphirtenfeste aus. «Alte und helvetische Traditionen» sollten wiederbelebt werden, was zu einer eigentlichen Inszenierung derselben führte. Nebst dem für würdig erachteten Alphornblasen, Steinstossen, Schnelllaufen, Schiessen, Schwingen und Jodeln suchten die Verantwortlichen insbesondere «den Gesang unter dem Volke richtungsweisend zu veredeln».5 Im Interesse dieser hehren Ziele wurden durch Gelehrte wie Gottlieb Sigmund Studer (1761–1808) neue Lieder und Kuhreihen publiziert, die den ersten Touristen in der Schweiz einen Einblick in die Volksmusik geben sollten.
4 Max Peter Baumann, Anselm Gerhard, Annette Landau (Hg.): «Die Älplerfeste zu Unspunnen und die Anfänge der Volksmusikforschung in der Schweiz», in: Schweizer Töne. Die Schweiz im Spiegel der Musik, Zürich 2000, S. 158. 5 Ebd., S. 169.
Das volkskundliche Dokumentieren des bereits bestehenden Schweizer Liedguts ging weniger auf die Initiative der Oberschicht zurück. Entdeckungsreisende aus dem Ausland, wie beispielsweise Johann Gottfried Ebel (1764–1830), waren es, die ihre populärwissenschaftlichen Reiseberichte mit den gesammelten Volksliedern verbreiteten.6
Erst am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert setzte in der Schweiz eine breite Forschungs- und Editionstätigkeit im Bereich des Schweizer Volkslieds ein. In dieses Umfeld hat sich Hanns in der Gand durch sein vielseitiges Wirken eingeschrieben.
Nebst zahlreichen idealistischen Bemühungen einzelner Personen war es die 1896 durch Eduard Hoffman-Krayer (1864–1936) gegründete Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde (SGV), die sich des Themas mit einer gewissen Systematik annahm. Zu diesem Zweck wurde die «Kommission für die Sammlung der deutschschweizerischen Volkslieder» gegründet und somit der Grundstein für das Schweizer Volkliedarchiv (SVA) unter dem Dach der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV) gelegt. Die Volksliedkommission trat am Sonntag, 28. Oktober 1906, um 08.30 Uhr im Hotel Schweizerhof in Olten7 zur ersten Sitzung zusammen. Dem Gremium gehörten Eduard Hoffmann-Krayer, John Meier (1864–1953), Otto von Greyerz (1863–1940), Alfred Leonz Gassmann (1876–1962) und Karl Nef (1873–1935) an. Es initiierte und koordinierte die Sammeltätigkeiten zuerst in der Deutschschweiz, später in allen Sprachregionen. Das hehre Ziel war nichts weniger als die Herausgabe einer historisch-kritischen Gesamtedition des Schweizer Liedguts.8 Der Umstand, dass sich die Herren an einem Sonntagmorgen in Olten trafen, lässt auf ein grosses Interesse für die Sache schliessen.
6 Alfons Maissen, Iso Albin, Cristian Collenberg u. a. (Hg.): Die Sammlung Maissen: ein Querschnitt durch das rätoromanische Volksliedgut: Entwicklungen, Formen, Motive, Chur 2014, S. 23.
7 Ryffel: Protokoll 1. Sitzung Kommission SVA, Hotel Schweizerhof, Olten 28.10.1906.
8 Maissen u. a. (Hg.): Die Sammlung Maissen, 2014, S. 25.
Kopfzeile des ersten Protokolls der Kommission für die Sammlung der deutschschweizerischen Volkslieder, 1906 (Quelle: Volksliedarchiv, SGV).
Das tradierte Liedgut soll als eines der ersten Projekte der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV) gesammelt und im Verlauf der nächsten Jahrzehnte in schlichten Liederbüchlein festgehalten werden. Die Kommission hatte die Sammelaktion im Raum Deutschschweiz anzustossen und wissenschaftlich zu begleiten. Die Liederhefte haben einen kantonalen oder regionalen Fokus, wie zum Beispiel «Das Volkslied in Appenzell» oder «Das Volkslied im Luzerner Wiggertal und Hinterland».
Ein über mehrere Jahre publizierter Sammelaufruf wurde im Innencover der SGV-Publikationen in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Lehrerverein und dem Verein Schweizerischer Gesang- und Musiklehrer gedruckt. Für jedes zugestellte Lied bezahlte die SGV 20 Rappen plus Portospesen.
Wenn Johann Gottfried Herder (1744–1803), Schöpfer des Begriffs «Volkslied», im Rahmen seiner Forschungen den Fokus besonders auf die Bauern und Landbevölkerung legte, so wird nun ein wesentlich breiter gefasster Volksbegriff definiert. Die Kommission hält im Sammelaufruf fest, dass die Aufgabe nur befriedigend gelöst werden könne, wenn sie die Mitarbeit aller, Gross und Klein, Arm und Reich, Gebildet und Ungebildet, finde. Nur wenige Monate nach der Erst-
Sammelaufruf der SGV-Volkslied-Kommission, 1906 (Quelle: Volksliedarchiv, SGV).
publikation, am Neujahr 1907, konnten bereits mehr als 5000 Lieder aus allen gesellschaftlichen Schichten gezählt werden.
La Commission des Chansons populaires allemandes ayant lancé son appel en novembre 1906, avait déja reçu plus de 5000 chansons au nouvel-an 1907; les correspondants appartiennent à toutes les classes de la population.9
9 Arthur Rossat: Les chansons populaires recueillies dans la Suisse romande, Bd. 1/2, Basel 1917 (Publications de la Société suisse des Traditions populaires 13), S. 5.
Es zeigte sich, dass vor allem Frauen Hüterinnen der Familien-Liedrepertoires waren. Kurz nach dem Sammelaufruf, im April 1907, sendete die Glarnerin Catharina Streiff Lieder mit erstaunlich präzisen Kontextinformationen: «Die hier aufgezeichneten Verschen sind mir alle aus meiner Kinderzeit bekannt (mein Alter ist zwanzig Jahre), sie waren aber auch samt und sonders zur Zeit meiner Eltern gebräuchlich und zwei davon […] stammen schon von meiner Urgrossmutter, geb. 1805, her.» Tausende solcher Einsendungen fanden durch die Jahre ihren Weg ins Volksliedarchiv. Alle wurden durch Mitarbeiterinnen auf Honorarbasis verdankt und entsprechend erfasst. So erstaunt nicht, dass der heutige Direktor des Schweizerischen Volksliedarchivs anerkennend resumiert: «Frauen haben einen grossen Anteil daran, die Idee zu einem lebendigen Archivprojekt weiterzuentwickeln.»10
Erforschen
Mit Blick auf die angestrebte Gesamtedition erhebt die VolksliedKommission der SGV den Anspruch, das Liedgut in einem definierten geografischen Raum bis zum Zeitpunkt der jeweiligen Publikation möglichst umfassend festzuhalten und als wissenschaftliche Arbeit zu veröffentlichen. Die erste Publikation «Das Volkslied im Appenzellerlande»11 ist bereits 1903 dank dem Engagement des Pfarrers, Konzertsängers und Liedforschers Alfred Tobler (1845–1923) erschienen. Dieser Erstdruck legte die Grundlage für sechs weitere Sammelhefte, die bis 1931 durch die SGV herausgegeben wurden.
Obschon das reine Sammeln dem heutigen, umfassenderen Anspruch der Liedforschung nicht gerecht wird, haben die Verantwort-
10 Johannes Müske: Der Schlager kam, das Volkslied ging?, 08. 10. 2021, S. 3, <https:// www.dasbulletin.ch/post/der-schlager-kam-das-volkslied-ging>, Stand: 14.08.2023.
11 Alfred Tobler: Das Volkslied im Appenzellerlande, Basel 1903 (Schriften der Schweizer Gesellschaft für Volkskunde 3).
lichen mit ihren Bemühungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Fundament für eine bedeutende Liedsammlung gelegt. Das akribische Notieren der Melodien mit den dazugehörigen Liedtexten muss als Novum gewürdigt werden. Noch im 19. Jahrhundert wurden Liedersammlungen weitgehend ohne Noten publiziert. Die Weisen waren meist im Repertoire der Bevölkerung verwurzelt und wurden bei Bedarf von Mund zu Mund mit regionalen Nuancen verbreitet.
Auf eine Illustration der einzelnen Lieder verzichtet die SGV. Layout, Druck und Einband bleiben schlicht, sachlich und nicht auf eine Musizierpraxis, sondern auf ein historisch-dokumentarisches Interesse ausgerichtet. Der Einband ist nüchtern und gänzlich ohne schützenden Kartondeckel gehalten.
Dieses für die Schweiz pionierhafte Zusammentragen bleibt von grosser Bedeutung. Erst durch das so entstandene, regional und kantonal definierte Korpus konnten sich spätere Generationen mit einer gewissen Systematik dem Schweizer Volkslied annehmen. Die Verantwortlichen des Schweizerischen Volksliedarchivs waren realistisch genug und erwarteten keinen besonderen Verkaufserfolg ihrer wissenschaftlichen Liedsammlungen.12 Eine Selbstfinanzierung wurde daher von Beginn an ausgeschlossen. In Ermangelung der dringend benötigten Drittmittel konnte das 1906 angedachte Projekt jedoch trotz Tausender handschriftlich erfasster Lieder (z. B. durch Hanns in der Gand in Graubünden) nicht abgeschlossen werden. Im Schweizerischen Volksliedarchiv (SVA) in Basel schlummern heute 31 000 deutschsprachige, 3200 französische, 1400 italienische und 1200 romanische Liedblätter, von denen noch Hunderte darauf warten, wiederentdeckt oder gar publiziert zu werden.
12 Eduard Hoffmann-Krayer: Brief an den Bundesrat, 26.03.1930, Schweizerisches Volksliedarchiv, Nachlass Hanns in der Gand, Signatur: Ar 153, S. 2.
Die ersten Forschungspublikationen zum Schweizer Volkslied zeugen von einer ausserordentlichen Sammel- und Dokumentationsbegeisterung jener Pionierjahre.
– Der Volksliedforscher Alfred Tobler (1845–1923) befasste sich pionierhaft mit dem Appenzeller Liedgut beider Halbkantone und legte im Jahr 1903, drei Jahre vor der Gründung der «Kommission für die Sammlung der deutschschweizerischen Volkslieder», mit dem Büchlein «Das Volkslied in Appenzell» das erste Liederbüchlein der SGV vor (SGV-Band 3).
– Im ländlich-katholischen Milieu der Zentralschweiz ist der etwas jüngere Volksschullehrer, Organist, Blasmusik-Dirigent und Komponist Alfred Leonz Gassmann (1876–1962) als Volksliedforscher und Herausgeber mit einem forschenden und vermittelnden Fokus tätig.13 Seine regionale Sammlung «Das Volkslied im Luzerner Wiggertal und Hinterland» erschien 1906 (SGV-Band 4).
– Der Solothurner Volksschullehrer Sigmund Grolimund (1842–1920) war zuerst in Büsserach und Rodersdorf tätig, wo er auch als Organist und Kirchenchordirigent wirkte. Im Interesse der besseren Bildungsmöglichkeiten für seine Kinder zog er nach Aarau, wo ihm die Stelle des Korrektors beim Sauerländer-Verlag angeboten wurde.14 1910 konnte er das Heft «Volkslieder aus dem Kanton Solothurn» publizieren und bereits ein Jahr darauf folgten die «Volkslieder aus dem Kanton Aargau». Beide Hefte sind in Zusammenarbeit mit der SGV entstanden und lösen deren Forschungsanspruch ein (SGV-Bände 7 und 8).
– Arthur Rossat (1858–1918) wirkte in der Westschweiz als einer der prominentesten Volksliedforscher zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Weil er in seinen Sammelbemühungen mit einem Vollständigkeits-
13 Brigitte Bachmann-Geiser: Geschichte der Schweizer Volksmusik, Basel 2019.
14 Emma Grolimund: Sigmund Grolimund, der Liedersammler, in: Dr Schwarzbueb / Solothurner Jahr- und Heimatbuch, Breitenbach 1920, S. 76–77.
anspruch vorging, ergab sich die Zusammenarbeit mit der Société Suisse des Traditions Populaires, der Schweizer Gesellschaft für Volkskunde. Er publizierte mit «Les chansons populaires 1» (1917) mitten im Ersten Weltkrieg die bedeutendste französischsprachige Sammlung Schweizer Volkslieder (SGV-Band 14). Nach seinem frühen Tod konnte sein Mitarbeiter Edgar Piguet (1894–1946) unter gemeinsamer Namensnennung «Les chansons populaires recueillies dans la Suisse romande 2» (1930/1931) herausgeben (SGV-Band 22).
Für das musikpädagogisch motivierte «Vermitteln» arbeiteten zum Teil die gleichen Liedsammler mit Verlagen und Druckereien unabhängig der SGV zusammen.
Vermitteln
Die teils aufwendig produzierten Liedertaschenbüchlein, wie sie zum Beispiel Otto von Greyerz, Alfred Leonz Gassmann, Hanns in der Gand oder Adèle Stöcklin herausgegeben haben, erheben nicht den Anspruch, für eine bestimmte Region zu einem bestimmten Zeitpunkt vollständige Sammelwerke zu sein. Sie möchten mit ihren Publikationen die Pflege des Volksliedgesangs verbreiten und fördern. Dafür nutzen sie ihr eigenes Repertoire, schöpfen aus dem Volksliedfundus der gesamten Deutschschweiz und greifen auf die ersten SGVHefte zurück.
Die nicht zuletzt auch musikpädagogisch motivierten Büchlein sind für die Westentasche oder den Rucksack handlich produziert, verfügen über ansprechende Illustrationen und werden teils durch robuste Kartondeckel geschützt. Aus heutiger Sicht ist auffallend, dass alle deutschen, französischen, italienischen und rätoromanischen Liedsammlungen jener Zeit sprachlich ganz bei sich bleiben. Ein Editieren über Sprachgrenzen hinaus – also auch mit Blick auf eine ganze, mehrsprachige Schweiz – war zu Beginn offenbar kein Anliegen.
Die folgenden Publikationen illustrieren die regen Vermittlungsbemühungen im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts:
– Otto von Greyerz (1863–1940) wirkte als Germanist und Mundartdichter im bürgerlich-reformierten Bern richtungsweisend und engagierte sich mit seinem sprach- und kulturwissenschaftlichen Hintergrund für das Volkslied.15 Von 1908 bis 1925 publizierte er unter dem Titel «Im Röseligarte» sechs kunstvoll illustrierte Büchlein. Mit Blick auf eine interkantonale Deutschschweizer Sängerschaft sind die Büchlein «Im Röseligarte» nicht Teil der SGV-Reihe. Von Greyerz fand im Verlag von A. Francke in Bern einen langjährigen Partner. Seine Bände stellen die bedeutendste Deutschschweizer Volksliedersammlung dar, die für den Mundartrock und die Volksmusikszene bis heute von grosser Bedeutung sind.
– Alfred Leonz Gassmann (1867–1962) veröffentliche nach seinen SGV-Heften die beiden Büchlein «’s Alphorn» (1913) und das an die Jugend adressierte «Juhui!» (1914). Mit diesen Sammlungen öffnete er den Fächer über den Kanton Luzern hinaus und berücksichtigte das Liedgut im ganzen Deutschschweizer Sprachraum, so wie dies bereits Otto von Greyerz tat. Er fand für die «vermittelnden» Büchlein im Verlag «Gebrüdern Hug & Co.» einen Partner ausserhalb der SGV.
– Hanns in der Gand (1882–1947) konnte als erster offizieller Soldatensänger im Ersten Weltkrieg die Trilogie «Schwyzerfähnli 1–3» (1915–1917) herausgeben. Die insgesamt 44 ernsten und heiteren Kriegs-, Soldaten- und Volkslieder der Schweiz wurden im Ersten Weltkrieg zu einem weit über die Armee hinaus verbreiteten Repertoire. Zum Lied «La petite Gilberte de Courgenay», dem berühmtesten Stück aus der Sammlung, wurde 1941 unter dem gleichnamigen Titel gar ein Spielfilm produziert. Die Armee fand im Verlag
15 Otto von Greyerz, Literapedia Bern, <https://www.literapedia-bern.ch/Greyerz,_ Otto_von>, Stand: 17.03.2021.
«Ernst Kuhn» einen Partner. Die damals vorhandenen SGV-Liederhefte waren für in der Gand bereits ein wichtiger Ort der Liedrecherche. Zudem war Hanns in der Gand im Herausgeberkollektiv des Liederbüchleins «Soldatenlieder» (1918) führend. Es wurde im Auftrag der Armee zusammengestellt und gilt als erste Liedersammlung der SGV ausserhalb der wissenschaftlichen Hefte. Das Büchlein «Soldatenlieder» wird im Kapitel «Tätigkeit als Herausgeber» näher besprochen.
– Adèle Stöcklin (1876–1960) war als Volkskundlerin eine der ersten an der Universität Basel promovierten Frauen. Durch ihr Wirken war sie de facto die operative Leiterin des Volksliedarchivs. Sie führte die Korrespondenz mit den zahlreichen Personen, die per Post Lieder zustellten, katalogisierte die Bestände und sammelte und erforschte im Rahmen mehrerer Exkursionen empirisch Volkslieder. 1921 veröffentlichte sie selber «Weihnachts- und Neujahrslieder aus der Schweiz» samt Melodien. Dieses Liederheft ist als eines der wenigen auf Vermittlung ausgerichteten Sammelbände im Eigenverlag der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde erschienen.
Die Herausgeber bilden nicht nur die Lebenswelten vergangener, oft idealisierter Jahre ab. Sie sind auch an einer nachhaltigen und edukativen Wirkung der von ihnen editierten Lieder interessiert. Der fleissige Gesang soll in den Herzen künftiger Generationen Lebensfreude, Rechtschaffenheit, Heimatliebe und Gemeinsinn stiften: ganz im Geiste der Unspunnenfeste von 1805 und 1808. So kamen beherzte Aufrufe wie der Folgende zustande:
Die alten Volkslieder dürfen nicht verloren gehen, […] sind sie doch in ihrer Art die Geschichte des Volkes. In ihnen spiegelt sich sein Denken und Fühlen, sein Lieben und Hassen, sein Darben und Kämpfen. Denn jedes grössere Ereignis, das die Volksseele bewegt, wurde in ein Lied gekleidet und den Nachkommen in Lied-
form überliefert. So wurde das Volkslied zum grossen Buch des Volkes, in dem trotz mangelnder Volksbildung jedermann zu lesen verstand.16
Das Volkslied wurde in gewisser Weise zum historischen Gedächtnis der Gesellschaft und hatte hohe edukative Bedeutung. Obschon der offenkundige Wandel im Volksliedrepertoire auch zu jener Zeit kein Novum war, wird mit grossem Aufwand versucht, ein altes Liedgut ins Morgen zu retten, denn es scheint neu aus mehreren Richtungen und in verschärfter Weise bedroht. Der in früheren Jahrhunderten ohne Bewusstsein für volksethnologische Fragen kaum thematisierte Repertoirewandel wird nun durch die Liedforschung diskutiert.
Gegen Ende des 18. Jh. setzte eine neue Liederwelle früheres Liedgut sozusagen ausser Kraft und verbannte es in Vergessenheit. Solche Ablösungen von (Volks)lied-Repertoires sind bis in unsere Zeit hinein immer wieder festzustellen.17
Im Gegensatz zur geschilderten Situation am Ende des 18. Jahrhunderts geht der Gesangskulturwandel anfangs des 20. Jahrhunderts eher wie ein Verdrängungskampf verschiedener Kulturen vonstatten. Das bestehende Volksliedrepertoire wird nicht von einem zeitgemässeren Volksliedrepertoire gleicher Singpraxis abgelöst, sondern durch etwas ganz Anderes, ganz Neues und weitgehend Fremdes mit einer völlig neuen Rezeption an den Rand gedrängt oder gänzlich ersetzt.
Im Vorwort zum ersten Liederbüchlein «Im Röseligarte» beklagt
Otto von Greyerz nebst einem gravierenden Kulturwandel in der
16 Sigmund Grolimund: Volkslieder aus dem Kanton Solothurn, Basel 1910 (Schriften der Schweizer Gesellschaft für Volkskunde 7), S. III.
17 Maria Josepha Barbara Broger; Joe Manser; Albrecht Tunger u. a. (Hg.): Mit wass freüden soll man singen: Liederbüchlein der Maria Josepha Barbara Brogerin 1730; Transkription aller Noten und Texte, ausgew. Reproduktionen, synoptische Vergleiche, Appenzell 2003 (Innerrhoder Schriften 5), S. 26.
Sing praxis explizit das Schulsingen und die Gesangsvereine als Bedrohungsfaktoren für das Schweizer Volksliedgut.
Der städtische Kunstbetrieb hat auf allen Gebieten, aber ganz besonders im Gesang, die volksmässige Überlieferung ins Stocken gebracht, oder auf bedenkliche Irrwege geführt. Wie die Gesangskunst der Ritter und Pfaffen im Mittelalter das Volkslied zurückgedrängt, so haben in unserer Zeit die nach städtischem Vorbild gegründeten Gesangsvereine, unterstützt durch das künstliche Schulsingen (…) nicht bloss die alten Lieder vertrieben, sondern auch das Ansehen der altväterlichen, natürlichen Singweise – des auswendig und einstimmig Singens – schwer geschädigt.18
Im Zitat könnte der Eindruck entstehen, ein besonders eifriger Freund des Volkslieds lasse lediglich seinem Ärger freien Lauf. Die Einschätzungen von Otto von Greyerz sind hingegen nicht von der Hand zu weisen. Die durch ihn geförderte Volksliedgegenbewegung lässt sich nicht ausschliesslich als Reaktion auf das einflussreiche Schul- und Chorwesen erklären. Das besonders vor dem Ersten Weltkrieg aufkeimende Interesse am möglichst Authentischen, Althergebrachten muss vor dem Hintergrund der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung gesehen und als eigentlicher Auslöser für das neuerwachte Interesse am Volkslied verstanden werden.19
In der Gand trifft mit dem Beginn seiner Forschungstätigkeit ums Jahr 1912 auf einen Zeitgeist, der sich nach seinen «Liedernten» sehnte. Durch das alte, wiederentdeckte Liedgut bringt er die vergangene, vorindustrielle Zeit als klingende Sehnsuchtsbilder zurück in Stube und Wirtshaus.
18 Otto von Greyerz: Im Röseligarte, Schweizer Volkslieder, Bd. 1–6, Bern 1908, S. 5.
19 Rico Valär: Weder Italiener noch Deutsche! Die rätoromanische Heimatbewegung
1863–1938, Baden 2013 (eine Publikation des Instituts für Kulturforschung Graubünden), S. 69.
Die starke familiäre Prägung durch das Elternhaus ist bei Hanns in der Gand naheliegend. Sowohl der Vater Stanislaus als auch die Mutter Elisabeth hatten in ihrer unterschiedlichen Art grossen Einfluss auf den jungen Ladislaus und späteren Hanns. – Ob die Flucht des Vaters aus der sibirischen Verbannung bis in die nächste Generation im Urnerland nachwirkte?
Dank dem uneingeschränkten Zugang zu in der Gands Nachlass und dem gewährten Einblick in die privaten Archive seiner Grossnichte Ursula Krupski aus Altdorf konnten für das vorliegende Portrait auch neue, bisher nicht publizierte Aspekte berücksichtigt werden. Von Sibirien ins Urnerland
Die Familiengeschichte von Ladislaus ist eng mit der Biografie seines Vaters Stanislaus Krupski (1839–1904) verknüpft, der ein politischer Flüchtling war.
Stanislaus Krupskis Matrikeledition der Universität Zürich verrät, dass er ursprünglich aus Galizien, einer Landschaft im Grenzgebiet zwischen Südpolen und Westukraine mit der Hauptstadt Lemberg (polnisch Lwów, ukrainisch Lwiw) stammt. Er wurde am 1. Oktober 1839 im heute 500 Einwohner zählenden Dorf Husakiw geboren. Die kleine Ortschaft war im Jahr 1839 noch polnisch, wurde später russisch und ist heute Teil der Ukraine. Die Spielsucht des Vaters führte zur Verarmung der Familie, die zum Landadel jener Gegend zählte.
Nach dem Gymnasium studierte Stanislaus ab 1860 in Warschau Medizin. Polen gehörte damals zum russischen Zarenreich, und die
zaristische Geheimpolizei Tscheka unterdrückte mit brutalsten Mitteln jede liberale Idee. Am Abend des 13. Februar 1861 wurde Stanislaus auf dem Hauptplatz in Warschau in seiner polnischen Nationaltracht während eines Protests gegen die zaristische Behörde festgenommen und als subversiver Pro-Österreich-Provokateur eingestuft.20
Er war in seinem jugendlichen Engagement dabei, Flugblätter für ein freies Polen zu verbreiten. Ein Kriegsgericht verurteilte ihn zu vierjähriger Festungshaft und anschliessender Abschiebung nach Österreich.
Im Zuge des sich anbahnenden Januaraufstands von 1864, mit dessen Scheitern sich die Hoffnung auf ein freies, selbstbestimmtes Polen gänzlich zerschlug21, verschärfte der damalige Statthalter Polens, Fürst Gortschokoff, das Urteil in eine lebenslängliche Verbannung nach Ostsibirien. Durch eine zusätzliche Verfügung versetzte Gortschokoff den jungen Stanislaus Krupski in den nichtadeligen Stand. Somit war er aller Adelsprivilegien beraubt, womit er vor den verbreiteten drakonischen Körperstrafen im Justizvollzug des zaristischen Russlands auch nicht mehr geschützt war. Todesurteile, Auspeitschen und Spiessrutenlauf gehörten im damaligen Strafvollzug zur Tagesordnung.
Die Verbannung sollte insgesamt sechs Jahre dauern. Die Deportation der zahlreichen Gefangenen, die scharf bewacht während Wochen in Richtung Osten wanderten, war damals ein gut eingespieltes Prozedere. Hunderte übers ganze Land verteilte Aufseher fanden durch diese Gefangenentransporte im Justizvollzug eine willkommene, knapp entschädigte Anstellung, die sie in der Regel durch Zuwendungen der Verurteilten für kleine Privilegien noch aufzubessern
20 Naser Dahdal: Zwischen Demokratie und Verbannung – Leidensweg eines polnischen Flüchtlings (Oder: Agonie und Ekstase im Leben des polnischen Schriftstellers Dr. med. Stanislaus Krupski (Bahnarzt von Erstfeld), Erlenbach bei Zürich 2007, S. 197.
21 Stanislaus Krupski: Sechs Jahre in Sibirien verbannt (1861–1867), in: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur 46 (1966–1967), 1967, S. 3.
vermochten. Viele Deportierte erkrankten und verstarben der ungenügenden Kleidung oder der mangelhaften Verpflegung wegen bereits unterwegs.
Zu Beginn war Krupski in der ostsibirischen Bezirkshauptstadt Tobolsk eingesperrt. Dort thronte mit dicken Ringmauern eines der grössten Gefängnisse Russlands aus der Zeit Peters des Grossen über der Stadt. In diesem festungsähnlichen Bau war auch das Zentralverbannungsamt untergebracht. Eines Morgens kam ein in Pelz gekleideter Häftling mit Ketten an den Füssen im Innenhof an. Durch seine zufällige Anwesenheit am Tor lernte Stanislaus Krupski den von der Deportation völlig erschöpften Literaturprofessoren Michailow von der Petersburger Universität kennen, der für seine Heine-Übersetzungen ins Russische bekannt war und zum Freund in der Gefangenschaft wurde.22 Stanislaus hatte in Michailow fortan ein Gegenüber, mit dem er literarisch-philosophische Diskurse führen konnte. Unter dem Pseudonym X. Purk sind von ihm später der Roman «Unter dem Flügel – Almae Matris» und ein weiteres Buch unter dem Titel «Briefe der Medizinstudenten» erschienen.23
Ein erster Fluchtversuch misslang und Stanislaus Krupski wurde mit gefälschten Papieren wieder aufgegriffen. Weil damals von den Häftlingen noch keine Fotografien angefertigt wurden und Krupski sein eigenes Sträflingsdossier verbrennen konnte, war es unmöglich, ihn zu identifizieren. Er wurde per Postkutsche, Schiff und Bahn nach Wilno24 deportiert, wo er 1866 während zehn Monaten unter der neuen Identität eines Zegot Rombski25 eine Untersuchung über sich ergehen lassen musste. Trotz drakonischer Verhörmethoden konnte ihm nichts nachgewiesen werden. Schliesslich wurde er auf adminis-
22 Naser Dahdal: Zwischen Demokratie und Verbannung – Leidensweg eines polnischen Flüchtlings (Oder: Agonie und Ekstase im Leben des polnischen Schriftstellers Dr. med. Stanislaus Krupski (Bahnarzt von Erstfeld), 2007, S. 106.
23 Ebd., S. 196.
24 Vilnius, Hauptstadt von Litauen
25 Stanislaus Krupski: Sechs Jahre in Sibirien verbannt (1861–1867), 1967, S. 32.
trativem Weg ohne Begleitung zurück ins Zentralverbannungsamt nach Tobolsk entsandt, wo er freilich nie eintraf.
Aus Geldnot und um nicht erkannt zu werden, wanderte Stanislaus Krupski allein dem Don entlang via Kiew bis zum Mariä-Entschlafens-Kloster in Potschajiw, das er als Wallfahrtsort nahe der Grenze seiner Heimat Galizien kannte. Er gab vor, als Wallfahrer ein Gelübde erfüllen zu müssen, und wurde nach klösterlicher Tradition im Gästehaus untergebracht. Der für Pilger zuständige Gastpater kümmerte sich um ihn und gewann Stanislaus seiner Hilfsbereitschaft wegen lieb. Als dieser weiterziehen wollte, ermunterte ihn der Mönch, ins Kloster einzutreten, denn als Adliger würde er durch die vielen Kosaken im Kloster sicher bald zum Abt gewählt. Im klösterlichen Leben sei dies ein äusserst gewichtiges Amt, so der Pater. Stanislaus berichtete später über diese Situation:
Diese Behauptung schien keine Metapher zu sein, denn der Abt war wirklich derart imposanten Umfangs, dass ich mich immer, wenn ich ihn zu Gesicht bekam, fragen musste, ob denn dieser heilige Mann, nachdem er das Zeitliche gesegnet haben würde, die enge Pforte des Himmelreichs werde passieren können, ohne diese oder sich selbst zu beschädigen.26
Die humorvolle Art seines Vaters dürfte Ladislaus zusammen mit der Affinität für Literatur und das eigene Schreiben zweifelsohne geprägt haben.
Obschon der noch immer flüchtige Stanislaus nicht Abt werden wollte, trat er als Novize ins orthodoxe Kloster ein und half tatkräftig als Bäckergehilfe. Um sein frei erfundenes Gelübte doch noch zu erfüllen, durfte er nach drei Monaten im Noviziat nach Weihnachten 1866 in der Mönchskutte weiterpilgern und so in monastischer Tarnung seine
Wallfahrt in die Freiheit antreten. Am 12. Februar 1867 kam er in Galizien an, legte Kutte und vorgespielte Andacht ab und wähnte sich sechs Jahre nach seiner Verhaftung wieder in Freiheit. Weil das Russische Zarenreich zu jener Zeit starken Einfluss auf die Wahlmonarchie Polen ausübte, war an ein wirklich freies Leben, das einen ordentlichen Studienabschluss als Arzt ermöglichte, nicht zu denken.
Vor dem Hintergrund der sechsjährigen Odyssee war ihm aber ein Leben in Freiheit politisch gesehen und mit Blick auf den angestrebten Studienabschluss ein Herzensanliegen. Die Zeichen der Zeit standen in seinem Heimatland aber anders. Die beiden vereitelten Attentate auf Zar Alexander II. (1866 und 1867) zeigten ihre Wirkung auf den Herrscher. Der besondere Geist des anfänglichen Gestaltungsund Reformwillens (Abschaffung der Leibeigenschaft, Verkauf Alaskas an die USA) wich einem inneren Rückzug und einer Reformverdrossenheit.27
Die Schweiz mit der damals noch jungen demokratischen Verfassung hingegen übte auf Stanislaus Krupski eine besondere Anziehungskraft aus, weshalb er sich zur Emigration entschied und 1867 über Österreich in die Schweiz auswanderte. 1870 immatrikulierte er sich in Zürich zur Fortsetzung seines Medizinstudiums. Den Abschluss erlangte er 1872 in Genf. Möglicherweise wollte er aus sprachlichen Gründen sein Staatsexamen in der Westschweiz machen, denn aus einer Bekanntmachung der Zürcher Behörden vom Juni 1875 geht hervor, dass er seinen Wohnsitz in Zürich Altstetten hatte.28 In seinen ersten Jahren in der Schweiz engagierte sich Stanislaus Krupski zusammen mit dem polnischen Grafen Wladislaw Plater (1808–1889) für das neu gegründete Polenmuseum in Rapperswil, das sich der Bewahrung der Geschichte Polens in wissenschaftlicher, literarischer und
27 deutschlandfunk.de: Vor 135 Jahren – Ermordung von Zar Alexander II., Deutschlandfunk, <https://www.deutschlandfunk.de/vor-135-jahren-ermordung-von-zaralexander-ii-100.html>, Stand: 08.12.2022.
28 Dr. E. Wuhrmann: Bekanntmachung von Justiz-Behörden, in: Zürcher Amtsblatt, Zürich 07.06.1875.
künstlerischer Hinsicht verschrieben hat und sich zudem für Bildung und Freiheit der Völker engagiert.29
In Genf pflegte sich der junge Dr. Krupski jeweils in einer Brasserie zu verpflegen, wo er nebst seiner ersten Frau den Bauunternehmer Louis Favre (1826–1879) kennenlernte. Dieser hatte sich auf die internationale Ausschreibung der Gotthardbahn-Gesellschaft vom April 1872 beworben und im Sommer des gleichen Jahres den Zuschlag erhalten. Der im Anschluss ausgearbeitete Anstellungsvertrag enthielt die Auflage zur Errichtung von zwei Spitälern. Eines sollte in Airolo entstehen und ein zweites war am Nordportal in Göschenen geplant.30
So wurde aus der losen Genfer Brasserie-Freundschaft mit Louis Favre eine Festanstellung bei der Gotthardbahn-Gesellschaft, die ihm seinen Weg ins Urnerland, nach Erstfeld und später nach Altdorf weisen sollte.
Mit seiner ersten Frau hatte Dr. Krupski drei Töchter und einen Sohn. Diese Ehe wird in den Akten im Zusammenhang mit der späteren Einbürgerung nicht erwähnt. Weder der Name seiner früh verstorbenen Frau, sie stammte aus Zürich, noch die vier Kinder werden in einer Form aufgeführt. Im Jahr 1881 heiratete der Landarzt die um siebzehn Jahre jüngere Bauerntochter Elisabeth Huggler aus Brienzwiler im Berner Oberland. Das Paar verbrachte die ersten Ehejahre auf der französischen Seite des Genfersees, wo die ersten beiden Kinder zur Welt kamen.
Über die Rolle des jungen polnischen Eisenbahnarztes Krupski während der schwierigen Bauzeit ist wenig bekannt. Berichterstattungen von Aufständen lassen aber aufhorchen. Am 27. Juli 1875 wurde in Göschenen im Auftrag von Louis Favre eine Revolte blutig niedergeschlagen. Vier Tote aus Italien waren zu beklagen.
29 Geschichte des Museums, Polenmuseum in Rapperswil, <https://polenmuseum.ch/ geschichte-des-museum>, Stand: 30.11.2022.
30 Konrad Kuoni: Der Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels (1872–1881), 2008. Online: <https://doi.org/10.5169/SEALS-378447>, Stand: 01.12.2022.
Zweifellos, der 1882 als polnischer «Secondo» Ladislaus Krupski geborene und unter dem Künstlernamen Hanns in der Gand bekannte Konzertsänger entstammt einem besonderen Elternhaus. Vater und Mutter prägten seine Kindheit weltoffen und bildungsnah, sodass Ladislaus zu seiner wirklichen Begabung fand. Nach dem Gesangsstudium wurde er im Ersten Weltkrieg zum ersten Soldatensänger der Schweizer Armee berufen. Im Zweiten Weltkrieg setzte er durch sein Wirken klare Zeichen für eine Kultur der sprachlichen Vielfalt, die auch Minderheiten schützt.
In der Gand hat mit seinem immensen Repertoire, seiner vielseitigen Sprachkenntnis und und seiner fesselnden sängerischen Auftrittskompetenz die identitätsstiftende Hauptrolle des Lebens gefunden: Volksliedforscher und Volksliedsänger im Dienst der viersprachigen Schweiz.