DeniseBuser
DichtengegendasVergessen
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Korrektorat:Dr.AnjaRebhann
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Druck:CPIbooksGmbH,Leck
ISBN:978-3-7296-5144-9
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Dichtengegen dasVergessen
LyrikerinnenauszweiJahrtausenden
Vorwort
Sappho,geborenaufderInselLesbosumdasJahr630 v.Chr.,wardieEinzige,dieanihrenewigenNachruhm glaubte.FastalleanderenDichterinnenrechnetenmitdem Vergessenwerden.DieKarschin,einstigeKuhhirtinundspätergefeierteDichterininBerlin,antworteteaufdieFrageeinerihrerUnterstützerinnen,obsiewegendesRuhmsschreibe:
NochehesichanmirdieWürmersattgefressen, Dann,Frau,hatschondieWeltmichundmeinBuchvergessen.1
VielleichthängtdasgrößereSelbstbewusstseinSapphosmit ihrerHerkunftzusammen.SiestammteauseineraristokratischenFamilie,währendAnnaLouisaKarschzeitlebensauf dieFeuerholzspendenunddieMittagstischereicherFörderer angewiesenblieb.DasschönsteErgebnismeinerBegegnungen mitdenDichterinnenundihremWerkistallerdings:Sie sindkeineswegsvergessen.Woimmerichnachihnensuchte – anOrten,wosieeinstlebten,inBibliothekenundArchiven –,wurdeichfündig.
InspirierendwardasArbeitenineinemdenkmalgeschütztenJugendstil-Kaufhaus,indemdasPrivatarchivderDichterinHeleneBossertlagerte,derenbitteresSchicksalsognadenlosmitderfriedlichenStimmungdesOrteskontrastierte.Das EintauchenindasWerkunddieWirkungsgeschichteeröff-
1 DiezweiletztenZeilenausdemGedicht ObSapphofürdenRuhm schreibt?;siehedasgesamteGedichtimAnhang.
netenmirfaszinierendeZwischenräume,indenendieDichterinnenwiederlebendigwurden.Langebliebichdort,bisich ihreStimmenvernahm:Ja,siesprachenzumir.DieDichterinnensprachendurchdieGedichtezumir!Nebenaller ZeitgebundenheitunddenUnterschiedenderLebensumständedringtdieSchönheitihrerLyrikbisindieGegenwartvor. WeilsieetwasvonihremLeidundihrenLeidenschaftenverrät?SpieltdiespezielleVerdichtungderLyrikeineRolle,die denDichterinneneinenkleinen,abergroßartigenFreiraum verschaffte – zwischenallenPflichten,imHaus,inderFürsorgefürandere?WerwenigeFreiräumehat,lerntdiesebesondersgutzunutzen.IchmöchteeseineTraditionderFreistattnennenodereingeheimesWissenumdieMacht,aus wenigenWortenvielzumachen.Soviel,dassdasLichtihrer Wortenochimmerleuchtet,dieLyriknochimmernachklingt.
AllezwölfDichterinnenundihreUrmutterausLesbos sinddurchdieUngewöhnlichkeitihrerBiografienmiteinanderverbunden.BerührtundbeiderAuswahlgeleitethat michauch,welchgroßeBedeutungsiederLyrikinihremLebeneinräumten.OftmusstensiedieseEntscheidunggegen gesellschaftlicheKonventionen,jovialesBelächeltwerdenoder sogarineinemlebensbedrohlichenKontextdurchsetzen.
DiearabischeDichterin al-Khansāʾ ausdem7.(nachchristlichen)JahrhundertlebteineinervonWüstenumringtenOaseinderNähevonMedina.MitgroßemErfolgtratsie zuöffentlichenLyrikwettstreitenan.IhrezahlreichenTrauergedichtewurdenrundhundertJahrenachihremTodvon arabischenSchriftgelehrtenineinemDiwan(Sammlung) aufgeschrieben.
InderprovenzalischenLiebesdichtunggabesauchweiblicheTroubadours,sogenannteTrobairitz.Dieshat – nicht zuerst –,aberinwissenschaftlichfundierterArtdiemoderne,
gendersensibleForschungnachgewiesen.Diebekannteste Trobairitzwardie ComtessaBeatrizdeDia (spätes12.Jh.), dieinihrenLiederndemBegehrenRaumgab – unddarin ihrenmännlichenKollegeninnichtsnachstand.
DaslyrischeWerkderRenaissancedichterin VittoriaColonna (1490/92 – 1547)erschienzuihrenLebzeiteninzahlreichenRaubdrucken.NachihrengefeiertenLiebesgedichten schriebsiespirituelleLyrik.ZuihremengstenBekanntenkreis gehörtenMichelangelounddiePapstkritikerihrerZeit.
IneinervontodbringendemTerrorgeprägtenWeltversuchte SibyllaSchwarz (1621– 1638)ihrePassionfürdieLyrikzuverteidigen.IhregesamteLebensdauerfielindenDreißigjährigenKrieg.SiewurdenursiebzehnJahrealtund schriebbiszurletztenMinute.
EinAufundAbstelltdasDichterinnenlebenderehemaligenKuhhirtin AnnaLouisaKarsch (1722 – 1791)dar,die FriedrichdenGroßen – vergeblich – umeineLebensrente bat.AnseineStelletratderDomsekretärundDichterJohann WilhelmLudwigGleim,derihrenerstenGedichtbandherausgab.DamitverfügtesieübereinenminimalenLebensunterhalt,umalsalleinerziehendeMutterundDichterinexistierenzukönnen.
DieDichterin AkikoYosano (1878 – 1942)ausJapan brachtedreizehnKinderzurWeltundesgelangihrtrotzder verantwortungsvollenFamilienarbeit,dieerstarrtejapanische Lyrikzuerneuernundmiteinempersönlichen,emotionalen Tonzuversehen.
ImSchicksalsjahr1945wurdederNobelpreisfürLiteratur derchilenischenDichterin GabrielaMistral (1889 – 1957) verliehen.IhrLebenswegwardaswahrgewordeneMärchen einerDorfschülerinausärmlichenVerhältnissen,dieeszur gefeiertenDichterinundDiplomatinbrachte.Dabeimusste vorallemihrLiebeslebenverborgenbleiben.
DenschlimmstenTerrorhatte GertrudKolmar (1894 –1943)zuertragen.SieverpasstedieFluchtvordemHolocaust,weilsieihrenaltenVaternichtalleininBerlinzurücklassenwollte.AlssiewenigeJahrevorihrerErmordungdurch dieNazisZwangsarbeitverrichtenmusste,zerbrachihrelyrischeFeder.DieFähigkeitzuliebenkonntesiesichbiszuletzt bewahren.
DieschweizerischeMundartdichterin HeleneBossert (1907– 1999)wurdewegeneinerRusslandreisewährenddes KaltenKriegszuröffentlichenUnperson.SiemusstedeswegenindenbestenLebensjahreneinenBruchihrerdichterischenLaufbahnhinnehmen.InihremNachlassbefindensich vieleunveröffentlichteGedichte.
WegenObszönitätwurdederamerikanischenHippieDichterin LenoreKandel (1932 – 2009)derProzessgemacht. DurchalleGerichtsinstanzenhindurchmusstesiesichdas Rechterstreiten,dasWort«Schwanz»(« cock »)ineinem Gedichtverwendenzudürfen.InanderenGedichtennimmt siedieQueernessvorwegundsprichtdie«freakische»Natur inunsan.
FastallederDichterinnenmusstendieBarrierenderRollenstereotypeihrerEpocheüberwindenundneueAutorinnen-Perspektivenentwickeln.DieseAufgabestelltesichfür dieafroamerikanischeDichterinundAktivistin AudreLorde (1934 – 1992)nichtnuramRand.Sieverstandsichalslesbische,feministische,schwarzeIntellektuelleundbefasstesich mitderindividuellenSelbstermächtigung,dieabersoweitgedachtwurde,dasssieauchGeltungfürihreSchicksalsgenossinnenhatte.
AlejandraPizarnik (1936 – 1972)ausBuenosAireskonntesichausihrer«tödlichenEinsamkeit»2 nurmiteiner ÜberdosisSchlaftablettenerlösen.Dawarihrdichterisches Werkschoninternationalbekannt.EinWerk,dasmitfunkelnderLyrikdieQualenderAngstbeschreibt – nichtvor demTod,sondernvordemLeben.
DiefolgendenzwölfGeschichtensindkeineKurzbiografien, sondernerzählenvondenmöglichenWendepunktenimLebenderDichterinnen.AuchwennesnacheinemWiderspruchklingt,denkeich,dassdiefiktionaleErzählungdie wahreDichterinbesserhervortretenlässt.Dassetztzwareine intensiveRechercheüberdiejeweiligePersönlichkeitsowie einEintaucheninihreGedichtweltvoraus,dannaberfolgt das«désapprendre»,wieesPicassoeinstbeschrieb.3 DasLebenderDichterinundihreLiebezurLyrikwillerzähltund nichtinbloßenLebensdatenoderDokumentenausgedrückt werden.
MeinZugangzudenDichterinnenerfolgteüberihrWerk. AlsmeineMutterstarb,habeichal-KhansāsTrauergedichte gelesen,einsnachdemanderen,tagelangundineinemZug. PlötzlichwarenJahrhunderte,geografischeundkulturelle KontexteunwichtigundnurnochdieSprachederTrauer hörbar.EineEssenzderTrauer,universalverständlich,ohne weitereErklärungbegreifbar.NormalerweisemussmankeinenLiebeskummerhaben,umLiebesgedichtezuverstehen.
2 Zitataus: DieBesessenenimFliederIV ( LosposeídosentrelilasIV ),in:AlejandraPizarnik, Cenizas ( Asche,Asche ),SpanischundDeutsch,herausgegeben undübertragenvonJuanaundTobiasBurghardt,Zürich2002,S.385.
3 «Apprendrevraiment,c’ esttoujours désapprendre,pourrompreaveccequi nousbloque,nousenfermeetnousaliène.» – Wirklichlernenheißtimmer auchverlernen,ummitdemzubrechen,wasunsblockiert,einschließtund entfremdet.(PicassozugeschriebenesZitat)
Estrifftabersicherzu,dasssichdiemehrschichtigeWeltvon Gedichtenerstvollständigöffnet,wennmannichtnurein einzelnesGedichtherauspflückt,sondernindenlyrischen FlusseinesganzenWerkseintaucht.WereinenGedichtband vomAnfangbiszumEndeliest,fastwieeinegroßeErzählung,vernimmtplötzlichdieStimmederLyrikerin.EinberührendesErlebnis,daseinerVerschmelzungvonVergangenheitundGegenwartgleichkommt:DieDichterinsprichtjetzt zudir.
DerEpilogbestehtauseinemfiktivenBriefandielyrische UrmutterSappho.Siehatvormehrals2000Jahrengelebt, abersieistnochimmerweltberühmt,obwohlihreGedichte fastalleverlorensind.DochdieWissenschaftgibtnichtauf undversuchtunermüdlich,dasVerschollenezufinden,zu sichtenundzusammenzuführen.FürdiesesBuchhabeich Gedichtsammlungenbenutzt,dieausderZeitderarabischen DiwanebiszudenmodernenEditionenmitdemneuesten Forschungsstandreichen.DieSorgfaltundPflege,diediese Editor*inneneinemGedichtwerkangedeihenlassen,dieMühenderÜbersetzung,diesieaufsichnehmen,habenmich berührtundbeiderArbeitandiesemBuchinspiriert.Die ReihenfolgederErzählungenfolgtnichtderChronologieder Lebensdaten,sondernisteinassoziativerReigen.DieLyrikist zeitlos.
DieFrauunddieFüchsin
EsistfrühamMorgen,dieNachtziehtsichlangsamzurück. EineFüchsintänzeltdurchdentiefverschneitenWald.HinterjedemBaumeinVersprechen,einverirrtesRebhuhnoder mäusischeGeruchsfetzen,verfangenindenEiskristallenam Boden.SiewirddenHungerstillen,auchjetztimWinter. AnderswowüteteineWelt,vondersienichtsweiß.Hier herrschtweißeStille,Schutz,Schönheit,eineAhnungvom nahendenTag;dieaufgehendeWintersonnewirdmitEisblumenringen.RoteHagebuttenankahlenÄstenwerdender KälteeinezärtlicheNotegeben.DieFüchsinahnt,dassihr ReicheinWunderist,einParadies,einWaldfrieden.Am SaumihresReviers,dassieseltenverlässt,erhebtsicheineAnhöhe,aufdereinpaaralteVillenstehen,ringsherumgroße, ausladendeRotbuchenundhimmelwärtsragende,malerisch gekrümmteKiefern.
ZurselbenStundeistdieFrauinderStadtweitabvon diesemWaldunterwegs.SchonkurznachvierUhristsieaufgestanden,soleisewiemöglich,umniemandenzuwecken. VielesindesnichtmehrinderWohnung,nurnochzwei Mitmieter.AuchderalteVateristnichtmehrda.AusgewohnterRücksichtsteigtsiedennochsachteausdemBett, bereitetstillihrenAusgangvor,dieStullen,dennsiewirderst spätabendsheimkehren.KeinFrühstückjetzt,esdauertezu lang.DenndiehalbeStunde,dienochbleibt,istheilig.Esist das,wasihranKostbarkeitgebliebenist,dieheiligehalbe Stunde,dieZinsenträgt!EinBriefandieSchwesterinder sicherenSchweiz,dieschonsovieleAntwortenunddringendeBittengeschickthat,siesolleebenfallsabreisen,ambesten sofort.AberdieFrauistreich,reichanKraft,anSeelenstärke. Siekanneinigesaushalten.MirhilftdasinnereLicht,schreibt
sie,undnievergesseich,esjedenMorgenanzuzünden.Die Fraustaunt,wieleichtihrdasfrüheAufstehenfällt,geschuldetnurdempünktlichenEintrittindieFabrik,derFußmarschvoneinerStundedorthin,wiedasmöglichist.Um sechsUhrmorgens,sieistnunmittenaufdemWeg,liegtdie Stadtnochstillunddunkelda.DieWinterkälteistdieselbe, dieauchdieFüchsinspürt.DieFraukenntdieFüchsin.Sie hatsiefrüher,alssienochinderVillaamWaldrandlebte, weithintenzwischenBirkengesehen,wennsiedenBarsoi, dengroßenWindhund,ausführte,morgens,wennallesinder Villanochschlief,diekrankeMutter,derVaterunddielangjährigeAufwartefrau.DieGeschwisterhattensichlängstin Sicherheitgebracht.
DieFrauhatsichindenFabrikarbeiterverliebt.Abererist garkeinFabrikarbeiter,sondernMedizinstudent,undsieist keineFabrikarbeiterin,sondernLyrikerin,Dolmetscherinund Kindererzieherin.Siemüssensotun,alswärensieFabrikarbeiter.DennallesandereentsprichtdenTatsachen.DieMaschinen,andenensiearbeiten,sindecht,inderKartonageverarbeitung,ingroßenLagerhallen,PappeundPapierabfall türmensichauf,ZellulosegärtinstinkendenBrühen,gefährlicheSchneidevorrichtungenundPressenmüssenvonihrbedientundvonihminstandgehaltenwerden.EinmalschneidetsiesichtiefindenFinger.Blutspritztundgellender Schmerz.Erverarztetsienotdürftig,eristjaMedizinstudent, wirdnurgezwungen,Fabrikarbeiterzusein,wiesie.Undsie habensichtatsächlichinderFabrikkennengelernt.
DieFüchsinhateineerfroreneKröteamRandeinesTümpelsentdeckt,diesieverschlingtundinihremMagenbestattet.BaldbrichtderTagan.DasTieristmüdevomnächtlichenStreifzug.DiegeschlosseneSchneedeckewirdnoch wochenlangkaltvorsichhinglitzern.DieFüchsinwillschlafen.ImwohligabgedunkeltenBauunterderErde,woalles
außerihrinTotenstarreverharrt,dieKrume,dieLarven,GerippelängstverstorbenerMäuse.InNachbarhöhlenschlummernSiebenschläfer,Eidechsen,Igel.
WährenddieFüchsinimWaldinihremErdlochverschwindet,hatdieFrauzurgleichenZeitdasEndederStraße erreicht.BaldbrichtderTagan.DievomSchneeeingehüllte Stadterwachtnurzögerlich.DieFraudrehtsichum.Immer andieserStelleaufdemWegindieFabrikdrehtsiesichum, bevorsieabbiegt.DerBlickaufdieBacksteinkircheamEnde derStraßelöstjedesMaldieErinnerunganFrühlingserwachenaus,weilimFrühlingdieAnsichtvomPurpurrauschder Magnolienblüteeingerahmtwird.Auchjetzt,mitdenschneebedecktenAstrispenimBildausschnitt,istihrdieSzenerie lieb.DerneugotischeBauwirktherb,diebraunrotenBacksteinemilderndieSprödigkeitderArchitektur.DieAurades Unerschütterlichenkannsichentfalten.Eskommtihrvor,als obdieihrzugewandteStirnfassademitdemgroßenPortal unddenZwillingsfensternatmetundimmeratmenwird, komme,waswolle.EinenGottesdienstwirdsienichtbesuchen.ImLandderFüchsingibtesnichteinmaleineSynagoge.Eskönntesein,dasssieimeigenenTempelwohnt,undim TempelbrennteinLicht,dassiejedenMorgenanzündet.Die Magnolieistreal,auchwennsienurkurzimFrühjahrblüht undjetztimWinternurinderVorstellungweißundpurpurnaufbrichtunddasHerzerfreut.Mankannallesherüberretten,wenndasLichtderVergangenheitimmerwiedererglimmtundmansichdavonbezaubernlässt.
DerBarsoiinderVillabrauchtevielAuslauf.EinMorgenspazierganggenügtenicht.WennsieamfrühenNachmittag mitderausgetobtenHündinzurückkam,gingsieinihrZimmerundzogdieVorhängezu.AufdemBettruhendlauschte sieihrenGedankennach.GedankenwiehalbfertigeGedichte. Bilderbögen,zyklischeAbläufe,Seegeister,Wale,Verwandlun-
genund Du.Dichwollt’ ichvomHimmelmirkrallen,Reißen tiefinmeinLebenhinein.4 Allesspieltsichdirektvorihrem Augeab.Siemussesanschließendnurnochnotieren.Esist ZeitzumSchreibenda,nebenkürzerenBerufsphasenundder langjährigenPflegederMutterimElternhaus,wosiefortan bleibt.
DenneswerdenandereTagekommen,andenensiejeden MorgenumvierUhroderabendsnachendloserPlackereiin derFabriknochihreStrümpfestopfen,ihreWäscheflicken muss.Aberjetzt,inihremruhigenZimmerimgroßenWaldhaus,istdiesesnochZufluchtsort,umWortwelten,MeeresburgenmitWortstrebebögen,mitWorttragebalkenzubauen. EinKosmos,unzerstörbar,verwahrtinManuskripten,ausgehändigtanbefreundeteBotinnenmitgesicherterExistenz.
DieFrauweiß,dasssiedasDichterinnen-Genhat.Esverschafftihrkurze,jäheGlücksmomente,ganzso,wiesich Glückanfühlt:abruptexplosiv,danndemZurückfließeneiner Welleähnlich.
DieMergui-InselnsindLaich.
HingesamtvordenSchenkeldesFrosches, Der,blauesBirma,gelbesSiam,grünesAnnam, Hocktundrudert,denSchwimmfußMalakkainchinesische Flutenstößt.5
DieFüchsinträumtundbewegtsichimSchlafinihrerHöhle,wosiesichtagsüberverkriecht.IhrTraumwaldistvoller ElfenundknorrigemGeäst.SiekenntdieFrau,zweibeinige ElfemitdemnebenihrtrottendenVierbeiner,vondemdie
4 DerWal,ersteundzweiteZeile(Gedichte1927– 1932).
5 DieMergui-Inseln,ausdemZyklus Welten (1937).
Füchsinahnt,dassdieser,derLeinederFrauentflohen,Jagdhundwerdenwird.DieFüchsinkenntdenGeruchderFrau. EinVeilchenduft,wohlriechend,schmerzlindernd.Wenndie Veilchenzeitdaist,schnuppertdieFüchsin,ganzunfüchsinnenhaft,andenlilafarbenenBlüten.SovielepositiveGefühle, Linderung,Rettung.VonderTiererinnerungverwahrt.Die FrauhatdieFüchsin,Welpedamals,entdeckt,dieverletzte Hinterpfoteverarztet,denSchmerzbeendet.EinkaummerklichesHinkenseither,kaumdenTrabgangstörend.
DerFabrikkameradsiehtgutaus.Undwieunbefangener auftritt.EinhübscherSchlaks,großgewachsen,trägtereinen zerschlissenen,blauenOverall,derihminseinerLässigkeit ausgezeichnetsteht.AuchsieträgteineFabrikarbeiterinnenschürzeundschuftetdenganzenTagindergroßenHallemit Lärm,Staub,GestankunddenAngstliedernderanderen,bedrohtundpreisgegebenwiesie.DieInselnsindjetztdieArbeitspausen,Zwangspausenzwar,dennsiefindenzuvorgeschriebenenZeiten,Zwangszeiten,statt,müssenstrikt eingehaltenwerden,damitdieKörpersichdanachweiterabrackernkönnen.DieFrauistabendsvollkommenerschöpft, mussdannStrümpfestopfen,Wäscheflicken,allesgehtdauerndkaputt.AberdieInselnbewahrtsiesich.Siehataufdem FabrikarealeinenBretterverschlaggefunden,woKrautwuchert,Brennnesseln,Königskerzen,vierQuadratmeterAsyl: LärmStaubGestankAngstchorabgedämpft.Pausenbrotund Lektüre.Erstöbertsiedortauf.Siebleibeneineheiligehalbe Stunde,bisdieSireneschrilltundzurZwangsarbeitmahnt.
Nein.
MeineMergui-InselnbadennichtsingendimindischenMeere.
SietauchenausNachtseeschweigsaminstetigtaglosesDämmerempor,
Kuppig,schwarzgrünbezottelt, WiderristeungeheurerBüffel,dieinMeertiefebräunlichen Tangdurchweiden.
IhreNüsterkochtSchaum.
IhreFlankerauschtFinsternis.FahlschwelendesWetterleuchtenzittertausdemgebogenenHorn.
Verglostet … 6
ImLandderFüchsinlebtdieFrauvieleJahreinderVilla.Sie entziehtsichgesellschaftlichenVerpflichtungensogutesgeht. AufFamilienfotosstehtsieimmerzufälligerweiseabseits.Die Geliebtensindimmerschonzufälligerweiseanderweitiggebunden.Dasfälltihrauf,aberesistwieesist!Hauptsachesie liebt,undwennsieliebt,erwartetsienichts.Undweilsie nichtserwartet,bleibtesLiebe.SieschreibtüberdieseArs AmandiandieSchwester,diesichSorgenmacht.DerMedizinstudentistzujung,eswirdschlimmenden.Undeswird sowiesoschlimmenden,weißdieSchwesterimExil,während dieSchwesterimMörderlandingroßerGefahrschwebt. Schwester!ReiseendlichabnachEngland.DortgibtesFamilien,dieKindererzieherinnensuchen.Undaußerdemistder Medizinstudentzujung,eswirdschlimmenden.Undeswird sowiesoschlimmenden,weißdieSchwesterimExil,während dieSchwesterimMörderlandingroßerGefahrschwebt. Schwester!Reiseendlichab!
DieFrauweißumdieGefahrundhofftdoch,dassdieUnzeiteinmalausgestandenseinwird.DemaltenVater,nochist erda,gehtesgut.ErtrauertderVillanichtnach.EinKind nachdemanderengingweg,insExil.Undmitihnenauchdie drolligenEnkelkinder,dieersoliebte.Undhierindieser
zwaraufgezwungenenStadtwohnungistwiederLebeninder Bude.Mitmietersindständigzugegen,TüranTür,manchmalauchnurdurcheinenVorhanggetrennt.ImmeristjemanddafüreinPlauderstündchen,eineWohltatfüreinen Greis,dergernevonfrühererzählt.WaswardasfüreinLeben,immergingesaufwärts.DieTochteristjadenganzen TagweginderFabrik,kommtabendstodmüdeheim.Sie,das weißderVaterauch,sehntsichnachdemLandderFüchsin unddemstillenHaus.EinSofastehtdortinihremZimmer. AufdiesemlauschtsiebeizugezogenenVorhängendenGedankennach,hörtdieGeräuschedesWaldeshinterdem Haus.Dortkannsieschreiben.
DieFraulebtvieleJahreimLandderFüchsin,frequentiert kaumdieStadt,kaumliterarischeKreise.UnddochhatsieErfolg,findetFörderinnen,diesichfürdieVeröffentlichungihrer Gedichteeinsetzen.SiehältLesungenab.SieerlebtdieFreudeneineserstenGedichtbands.UnddiesemerstenBandfolgt einzweiterunddanachhätteeindrittererscheinensollen.
DerVerlagpubliziertdendrittenGedichtband. Derwirdunverzüglichverbotenundeingestampft.
Dann,wennsieanblutendemSchopfdurchdiefinsterenLöchermichschleifen!7
ImLandderFüchsinistesschön.NebenRotbuchenund KieferngibtesBirken,EichenundAhorne,diejahreszeitlichenLichtvariationenbeglänzenAkazienundRobinien.Die FrauistmitdemBarsoiaufWaldpfaden.
7 DiebeidenletztenZeilenderviertenStropheausdemGedicht AndieGefangenen (30.September1933).
EswirdderTagkommen,andemsieihnweggebenmuss. AmbestenderGärtnerfamilie.DiekenntdenHund,wird sichgutkümmern.DerBarsoiwirdsievergessen.
NochspazierendieFrauundderHundaufdenweichen Wegen.Eskönnteewigsoweitergehen.SiekraultdemBarsoi dasFell.NachmittagsistdieFüchsinunsichtbarimErdloch. DieNaturatmet,dieFrauhörtes.IhreBrustspitzenkräuseln sichangenehm.NochistGlückgreifbar.
UnterdornigemStruppwerkdesKamms
Ducken,mitPferdshaaren,flugloseVögelsich,dienochkein Forschererkannthat.
VonsteinigerLichtung
StarrtmondgoldnesAugeschiefergrauerreglosgewundener SchlangeinewigenAbendauf.
AberinKalksteinhöhlen, DerenWändezerfressenvonWellenschnauzen,zernagtsind vonTropfenzähnen, FeiernMeerechseninmalachitgrünemBrautschmuckbrünstigeVermählungen,
KröpftschwarzerGeiermitkahlem,blaurotemAntlitz scharlachflossigenFisch, HuschenausLöcherndunkleSchwalben,erdbraunbeschwingt,mitveilchendüsterenBrüsten, Blühnnelken-undsafranfarbBlumentiere,atmenschon Beute,fächelnmitFangarmenhin,
RollteinegroßeSchneckesichindenpantherfleckigenporzellanenenMantelein.
Undschlummert.8
GenosseBürgermeister!1978:mitsozialistischenGrüßen!
GenosseBürgermeister:WirmüssendiehumanistischeDichterinehren,bevordieBRDunszuvorkommt!EineGedenktafelundeineWegbenennungsinddasMindeste.Sollenwir zulassen,dasssichjeneBRDunserKulturguteinverleibt?Mit sozialistischenGrüßen!GenosseBürgermeister,obwohldie MehrzahlderpostumenGedichtbändeinderBRDerscheinen,solltenwirnichtzulassen,dasssichjeneBRDunserKulturguteinverleibt.Miristnichtbekannt,dassinWestberlin eineStraßedenNamenderDichterinträgt;undauchkeine Gedenktafelverweistaufsie.DasistunsereAufgabe,Genosse Bürgermeister!
DieGedenktafelistamHausangebracht.DerWeg,derihren Namenträgt,führtdirektvordasHaus,eingroßesHausmit schützendemWalmdach.EsisteinnaturbelassenerPfadohne Audio-Stationen.«HiererfahrenSieetwasüberdiejungen JahrederDichterin … »Unddasistgutso.Diemächtige RotbucheunddasZimmerhinterdemrechtenFensterneben demBalkongibtesnoch.DasHausistjetztausgestattetmit Spielgeräten,SpielwiesenrundumsHaus,kreischendenKinderscharen,einestaatlicheKita.NurdasSofastehtnicht mehrimZimmerderFrau.EskambeimUmzug,Zwangsumzug,mitindiezwangsweisezugewieseneStadtwohnung,die nachundnachmitfremdenSchicksalsleutengeteiltwerden musste.
DiejungeFrauhatdieAbtreibungnichtverschwiegen.Alle meinten,dassesdasBestesei.FamilieundguterRuf,nicht wahr.Auchfürsie?DiejungeFraulegtHandansich.Der Suizidmisslingt.SiebettetdasUngeboreneindieZeilen,bis eseinewigesLebenhat.IndemGedenkweg-Audiowürdees vielleichtheißen:«DieersteLiebesgeschichteendeteinvie-
lerleiHinsichtunglücklich,undGefühlevonVerlorenheit undVerantwortungverließensiezeitlebensnichtmehr.»In WirklichkeitbettetsiedasEmbryoindieGedichte,damites einewigesLebenhat.
DieFüchsinstreiftdurchdieNächte.Tagsüberruhtsie. NochmittenimWinter,gegenseinEndehin,wirdsiesich paaren.SiewirdimFrühlingmitdenWelpenspielen.Wenn ihrnichtvorheretwaszustößt.DieMortalitätsrateisthoch beiFüchsen.DiemeistenFüchsewerdennurwenigeJahrealt. Unfälle,FallenundTreibjagdenbedrohensie.Auchdie Füchsinwirdvorzeitigsterben.
Siewirdsichnichtpaaren.
SiewirdnichtmitdenWelpenspielen.
Manchmalmachtsichder Held meinesFabrikromansrar, schreibtdieFrauderSchwester.SiebeschreibtdieLovestory wieeinenFortsetzungsroman,dennauchdieBriefinhalte müssencamoufliertwerden.SonstbleibtdieZensurdaran hängen,erhaschtNamen,mitbedrohlichenKonsequenzen. SpäterwirddieFraunichteinmalmehrschreibenkönnen, dassderalteVaterabgeholtwurde.MitachtzigJahrenmuss ereinenkleinenKofferpacken,ja,einKöfferchenistnoch erlaubt.ImBriefandieSchwesterwirdderTagderAbholungalsdieScheidungvonihremEhemannbezeichnet.Man darfnichtschreiben,dassdergreiseVaterdeportiertwurde.
SeitunsererScheidunghabeichnichtsmehrvonihmgehört.
DerStadtmarschdurchdievereistenStraßenimWinter1943 dauerteineStundebiszumEingangderFabrik.Esistfreiwillig,siekönntedieBahnnehmen.DieandereninderFabrik verstehenesnicht.DenganzenTaghindurchmühseligePla-
ckereiundtrotzdemfreiwilliginallerFrüheinderMorgenkältedenFußmarschaufsichnehmen.Jungistsiejanicht mehr.Sieist48Jahrealt.AberanihremGeburtstagkommt ernicht.SiefeiertdenGeburtstagallein.LiestRilke,schreibt Briefe,schreibtaneinerErzählungweiter.NurnochProsa, Lyriknichtmehr.SiefeiertdenGeburtstagallein,ohneden Vater,eristnichtmehrda.Familieistnichtmehrda.Freundesindnichtmehrda.DiefremdenMitmietergehenihrauf dieNerven.SieschreibtesnurderSchwester.Wieunangenehmesist,wennfremdeMenschen,vonExistenzangstgequält,TagundNachtinderKüchesitzen,dasGeschirr benutzen,dasBadundpausenlosvonihrergrauenvollenangstsprechen.
Waswirdausunswerden?
Wannholensieunswoistgott?
SeitderVaterwegist,hatsiewiedereineigenesZimmer. SozynischistUnglück.DerFabrikarbeiterbesuchtsieeine WochenachdemGeburtstag.EsistdasselbeSofa,aufdemsie früherimHausimLandderFüchsinimHalbdunkelnlag undlauschte.DerjungeMannsetztsichnebensie.Sieleeren dieletzteFlascheLikörausdemKellerderVillaimLandder Füchsin.Dortwohntjetzteinanderer.EinOffizier,derdiesesHausdemrechtmäßigenEigentümerIsraelunddessen TochterSaraunrechtmäßigabgekaufthat.WährendderUnzeitwerdenrechtmäßigundunrechtmäßigeinfachausgetauscht.UndIsraelundSaraheißennichtso.Essind Zwangsvornamen.Siewerdenfortansogenanntundsiemüssensichselbstsonennen.DieNamenwerdenaufamtlichen Dokumentenverewigt.AuchaufdemZwangsverkaufsvertrag müssensiemitdiesenNamenunterschreiben.
DerCassislikör.DieletzteFlascheausdemKellerderVilla imLandderFüchsin.SiewirdderSchwesterschreiben,dass
andiesemNachmittagallesstimmte.Eswirdderzweitletzte BriefandieSchwestersein.
Schiffewurdenverweht.
Verweht … zerrissen … Plankentreiben,FetzenderWelt, DiedenMeißeldesWerkersträgtunddesSchreibendenStift unddenPflugundKaufmannsGewichtundWaage, TausendhastendeRäder,tausendhaspelndeWorte ( … )
SeltsameGrottenratte,diegraulichgesprenkeltes,türkisfarbes Eibebrütet, Schlafstrauch,destintigeBeeren
DenEsserfüreinesJahrsHinganginDruselnlullen – doch niemandpflücktsiegeschäftig …
Stille.
SeinnochohneTun.9
IndieverrückteRomanzemischtsichein SchussErotik, schreibtsiederSchwester.AufihrÄußereslegtsienichtviel Wertundmeint,dassesihreAugensind,diesieanziehend machen.DerjungeFabrikarbeiterhatihreNähegesucht.Sie istbereit,sieihmzugeben.Dannmachtersichwiederrar, undwennerauftaucht,springtihrHerzfastvomFleck.Die Sprödigkeitgibtnach,dieSinnlichkeitsiegt.Dassdie Heldin dasnocherlebendarf.Der Fabrikroman fülltganzeSeitenim Briefwechsel.
UnterAkaziengefieder
BrichtaustiefgrünerBlattscheideeinsameFruchthervor,
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Langundgerundet,steilinnackter,fleischigerRöteschwellend.
Siewartet, BisLippenleisen,schwülerenHauches
FlüsternddurchDickichttasten,rühren,schauern,umhüllen: Siebebt
UnddieimFruchtfleischverborgenenSträngegießenzeugendenSamenaus.10
AuchdieschönenVillenineinerParallelstraßeimLandder Füchsingibtesnoch.Sanftmodernisiert.Geschmackvoll.EinesderPrachthäuserleuchtetintensivrot,warm,modern.Der FarbtonsiehtfantastischauszwischendenhimmelwärtsragendenKiefern,diepinienhaft,mediterrananmuten.Am RanddesGrundstücksarbeiteteinHandwerkeraufdem DachderneuenGarage,eigentlicheineMinivillafürsAuto. DieAutogaragebestehtauskunstvollemFachwerkunderstklassigenBaumaterialien.Mankannhierkilometerweitumhergehen,ohnejemandemzubegegnen.AuchdasHeimatmuseumliegtmenschenleerda.EinOrtfürseltenenBesuch. DasGedenkenistkeinePflanze,dietäglichgegossenwerden muss.Esmusseinfachnurdasein,allenfallsimRuhemodus. WennBesuchkommtundamGedenkschlummerrüttelt,ist dasGedenkensofortwach,mitteilungsbedürftig,erzählt,dass denerstenbeidenGedichtbändeneindritterhättefolgensollen.UndderdritteBandwirdauchpubliziert,sagtdasGedenken.Nämlich:1938.Dochdaistesschonzuspät.Sofort nachderPublikationwirdderdritteBandverbotenundeingestampft.DieFrauwirdkeineGedichtemehrschreiben,sagt
dasGedenken.SieschreibtnurnochBriefeundwenigProsa, dieverlorengeht.DieBriefewerdengerettet.Esbrauchtnur eineFrankaturunddenStempelderZensurundschonreist diePostinsAusland.DieSchwesterdortistAdressatinund Archivarin.DenndieSendungensindTagebucheinträgein Briefform,sagtdasGedenkenzumSchluss.
DerFüchsinwirdeineHermelinfallezumVerhängnis.Esist Februar.DieSchneedeckenochgeschlossen.SiehatdieFalle übersehen.DasSterbendauertdreiTage.
DasGedenkenwirdgerettet.DieGedichtewerdenpostum publiziert.IhreGedichtewerdenliteraturgeschichtlicherforscht.Nochimmer.
DieFrauschreibteinenBrief.Denletzten.Wieheißtein Brief,derderletzteseinwird,dochdieBriefschreiberinweiß nicht,dassesihrletzterseinwird?Würdesieeinenanderen Briefschreiben,wennsieeswüsste?EsisteinlangerBrief, einerderlängeren,fastso,alsobsiewüsste,esistderletzte. Abersieweißesnicht.UndderBriefklingtauchnichtwie einletzterBrief.Sieschreibtvondiesemundjenemundauch nocheinmalvomFabrikarbeiter.ErhatihrnocheinmaleinenBesuchabgestattet.WieheißteinBesuch,derderletzte seinwird,dochwederderBesuchernochdieBesuchtewissen, dassesderletzteBesuchist?WürdederBesuchandersablaufen,wennsieeswüssten?DieFrauschreibtimBrief,von demsienichtweiß,dassesihrletzterseinwird,siehabenun doppeltenHungernachdergutenSpeise undmitderguten SpeisemeintsiedieBesucheihresKameraden.AusVorsicht nenntsienieseinenNamen,eristnurimmerder Kamerad.
AuchimBrief,vondemsienichtweiß,dassesihrletzterist, schreibtsiekeinenNamen.Sieweißauchnicht,dassdie
Fahndungschonvorbereitetwird.DieRazziabeginntwenige Tagespäter.
EsistFebruar.
FrostbeherrschtdieStadtunddasLandderFüchsin,die inderHermelinfalleverendet.
DieVerhaftetenwerdenaufoffenenLastwagenzuSammelstellengebracht.
EsdauertTage,bisTausendeverhaftetsind.
EsgibtvieleBetriebe,indenenZwangsarbeitverrichtet wird.
AufeinerKarteikartewirdunterdemNamenderFrau «Osttransport»vermerkt.
ErfindetamdrittenTagstatt.
DieFüchsinistseiteinemTagtot.
EinJäger,derzufälligvorbeikam,hatdasröchelndeTierin derFalletotgeschlagen.Vielleicht,umihmweitereQualenzu ersparen.
EinAmtsgerichtwirddenTodestagderFrauaufden 2.Märzfestlegen.Genaueresistnichtbekannt.
Esistanzunehmen,dassderjungeFabrikarbeiterweiß,was ihmblüht,alserverhaftetwird.ErdenktandieFrau.Erwürdesiegernbeschützen.Abererkannnichtmehr.DasLeben istvorbei.Eristgerade23Jahrealtgeworden.
DieheuteunterihremKünstlernamenGertrudKolmar(eigentlichGertrud KätheChodziesner)bekannteLyrikerinlebtevon1894
1943anverschiedenenWohnorteninBerlin,zuletztineinemsogenanntenJudenhaus.DieJahre von1923bis1938verbrachtesieimElternhausinFinkenkrug,einemländlichenVillen-VorortvonBerlin.DiesesHausmussteihrVater1938zwangsweise verkaufen.AbJuli1941mussteKolmarZwangsarbeitverrichten,zuletztineinerKartonagefabrikinCharlottenburg.JüdischeDeutschemusstenihreNamenumdenZusatzvornamen«Israel»bzw.«Sara»ergänzen.
DieVerhaftungswelleundanschließendeDeportationsämtlicherZwangsarbeitenden(diesogenannteFabrikaktion)begannam27.Februar1943.ZuvorwarKolmarsVaterimSeptember1942nachTheresienstadtdeportiert worden,woeram13.Februar1943starb.
DieRomanzemitdemMedizinstudentenistimBriefwechselvonKolmar belegt.
ImMuseumvonFalkenseeistderBriefzusehen,indemeineBürgerinmit dendamalsüblichenGrußformelnundFloskelnderDDRdenVorschlageiner EhrungvonGertrudKolmarunterbreitet,demstattgegebenwurde.
BeidemzwischendenAbschnitteneingefügtenGedichthandeltessichum DieMergui-Inseln ausdemZyklus Welten,entstanden1937.Zitiertwerden zudemdieerstenbeidenGedichtzeilenaus DerWal sowiedieersteZeileund diebeidenletztenZeilenderviertenStropheausdemGedicht AndieGefangenen. Zitiertaus:ReginaNörtemann, GertrudKolmar,DaslyrischeWerk,3 Bände: FrüheGedichte,Gedichte1927– 1937,AnhangundKommentar,Göttingen2003,S.503ff.,229,365f.
DieEinzelwort-Zitate(jeweilskursiv)entstammenderKorrespondenzzwischenKolmarundihrerimZürcherExillebendenSchwesterHildevon1938 biszumletztenBriefvom20./21.Februar1943.Zitiertaus:JohannaWoltmann(Hrsg.), GertrudKolmarBriefe,Göttingen2014.
VermutlicheinzigerhaltenePorträtaufnahme vonGertrudKolmar;Abdruckgenehmigung undCopyright:DeutschesLiteraturarchiv Marbach,Schillerhöhe8 – 10,71672Marbach amNeckar.
VerwendeteLiteratur(Auswahl):
Eichmann-Leutenegger,Beatrice, GertrudKolmar,LebenundWerkinTexten undBildern,1.und2.Aufl.,Frankfurta.M1993.
Nörtemann,Regina, GertrudKolmar,DaslyrischeWerk,3Bände: FrüheGedichte,Gedichte1927– 1937,AnhangundKommentar,Göttingen2003.
Woltmann,Johanna, GetrudKolmar – LebenundWerk,Göttingen1995.
Woltmann,Johanna(Hrsg.), GertrudKolmarBriefe,Göttingen2014.
EintödlicherSchluckWasser
SojungbinichundwillschonüberLiebeschreiben.Ach Amor,nimmdeinschweresJochvonmir,dasistdochnicht zuvielverlangt,verschonemichmitdeinenLiebesplagen, jammernmirdieFreundinnenvor,inihrenGesichternspiegeltsichdaspureGegenteil!SosüßsindihreLeidensmienen, dieLiebesplagensindköstlich,jubelnihreAugen.Wassoll ichvondeinenPillensagen,diebittersindunddochmir wohlbehagen?UndinmeinenGedichtennehmeichdiePositiondesfrischverliebtenMannsbildsein,deranderLiebe verzweifelt.Wosollichhin,ichbinalleinundwilldochnur beiihrsein.Binichbeiihr,quältmichderGedankeandas Scheiden.Undwennsiemichliebt,meinensehnlichsten Wunscherfüllt,sofühltsichdiesesGlückzuschwer,zusüß, zunahan.SollichfürdieLiebesterben – wirdsiemichumbringen?SoklagtderLiebeskranke,aberichbinin … Judith verliebt!UndmeineKlagengelten … ihr!Obsieesahnt?
ImFrühjahr1638weißSibyllaSchwarznicht,dasssienur nochdreiMonatelebenwird.SiebzehnJahrealt,begabtund indiekomfortablenLebensumständeeinerPatrizierfamilie hineingeboren – daistderGedankeandeneigenenTod fern.Sehrfern.Unddochlauerterschon.Erlauertinjenen Zeitenständig.Sibyllaweiß – jaallewissen,wieschnellerdas Schicksalbesiegelnkann.DerBürgermeistervonGreifswald istSibyllasVater,underliebtseinedreiTöchterundseine dreiSöhne.ErliebtdieMutterdieserKinderscharsehr.Doch derTodkapptihrenLebensfadenvielzufrüh.Eswütetdie Pest.SibyllaisterstneunJahrealt.DerVatermussdarüber hinwegkommenunderstürztsichindieArbeit,istviel
dienstlichunterwegs.DasHauspersonalistverlässlichund kümmertsichumdieJungmannschaftdesHausherrn.Einer, dersotiefumdieEhefrautrauertundgleichzeitigdieStadt sogutesgehtdurchdenHorrordiesesschonsolangedauerndenKriegsführt,wirdallgemeingeschätzt.DasBürgermeisterhausinGreifswaldmitderbarockenGiebelfassadeist alsowohleinpassablerOrt,wennmanalsHauspersonaldort unterkommt.EinglücklicherGriffdesVatersistauchdieAnstellungeinesHauslehrers.DasistdamalsfürMädchendas HintertürchenindieWeltdesGeistes,deseigenenDenkens undWirkens.SibyllafindetschnelldenDrahtzuSamuel Gerlach.Beidesindliterarischinteressiert,beideüberden Kriegswahnentsetzt.GerlachistalsFeldpredigerderschwedischenTruppennachPommerngekommen,kurzbevores auchdortsorichtiglosging.DieKriegsluntezeichnetimjahrelangenWütendieSchlachtrouten,kreuzundquerdurch dieLänder.GründefürKrieggibtesimmer,heißensieReligion(meinGottwirddichmorden!)oderUsurpation(hier herrscheICH).DieReichensindgeschützter.Dochdiegroße,armeBevölkerungistdemMesserrecht(dieschärfere Klingekillt!)erbarmungslosausgeliefert.Eswirdaufgeschlitzt,abgestochen,vergewaltigtundverprügelt.DieschutzlosenExistenzenzuerst.
HinterdennochstandfestenMauerndesVaterhauses machtSamuelGerlachdieSchülerinmitderzeitgenössischen deutschenLiteraturundvorallemmitderDichtkunstbekannt.BerühmtistdasHauptwerkvonMartinOpitz11 ,der fürdiedeutschsprachigeDichtkunstneue,nochniegehörte Regelnaufstellt.LösteuchvondenklassischenJambenund
11 MartinOpitz, BuchvonderDeutschenPoeterey,Brieg/Breslau(heutePolen),1624.
Das lyrisch anmutende Werk Dichten gegen das Vergessen berichtet über die Stern- und Schattenstunden von zwölf Dichterinnen aus unterschiedlichen Zeiten und Weltregionen, die sich für ihre künstlerische Berufung gegen zahlreiche Widerstände und Hindernisse durchsetzen mussten.
Empathisch und pointiert widmet sich Denise Buser den faszinierenden, teilweise erschütternden Lebensläufen dieser poetischen Meisterinnen und erörtert, weshalb ihr Werk vollkommen zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Ein aussergewöhnliches, eindrückliches Buch, das zu mehr Weiblichkeit im literarischen Kanon einlädt.
MIT BEITRÄGEN ÜBER UND GEDICHTEN VON
Al-Khansā’
7. Jh.
Comtessa Beatriz de Dia
12. Jh.
Vittoria Colonna
1490 / 92 – 1547
Sibylla Schwarz
1621 – 1638
Anna Louisa Karsch
1722 – 1791
Akiko Yosano
1878 – 1942
Gabriela Mistral
1889 – 1957
Gertrud Kolmar
1894 – 1943
Helene Bossert
1907 – 1999
Lenore Kandel
1932 – 2009
Audre Lorde
1934 – 1992
Alejandra Pizarnik
1936 – 1972