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Literaturtipps
| LESETIPPS |
Schöne Bücher im Juni
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Wiederentdeckt
Der schwarze Arbeiter Fred Daniels wird auf dem Heimweg von der Arbeit von der Polizei gestellt und verhaftet. Zunächst hält er alles für einen Irrtum, der sich aufklären wird. Doch als man ihn des Doppelmordes beschuldigt, bald auch foltert, beginnt er zu ahnen, in was für einen Alptraum er da geraten ist. Nach einem erzwungenen Geständnis gelingt ihm die Flucht, die ihn in tief die labyrinthische Kanalisation der Stadt führt, in der wiederum ganz eigene Gesetze gelten … Berühmt wurde Richard Wright (1908–1960) für seinen Roman »Native Son«, er selbst fand »Der Mann im Untergrund« stärker. Nur wollte anno 1940 kein Verlag die düstere Geschichte über Rassismus und Polizeigewalt veröffentlichen. Nun ist das packende und wichtige Buch endlich erschienen. (mei)
Wiederentdeckt II
André Dhôtel (1900–1991), französischer Autor von mehr als 40 Romanen kann man eigentlich kennen — oder kennenlernen. Etwa über den frisch entstaubten und erstmals auf Deutsch erschienenen, nur vermeintlich von einer Idylle geprägten Roman »Bernard der Faulpelz«: Eben jener führt in der französischen Provinz ein schön behaglichträges Leben, bis eines Tages die aparte Estelle auf der Bildfläche erscheint. Beide verfallen einander — allerdings nicht in Liebe. Ein unerklärlicher Hass auf den ersten Blick keimt auf zwischen beiden und treibt sie, egal was sie auch tun, um dem zu entgehen, immer näher gen Abgrund. Mit enormer sprachlicher Leichtfüßigkeit führt Dhôtel dem Lesenden die rätselhafte Zielstrebigkeit des menschlichen Schicksals vor Augen. Pures Lesevergnügen. (mei)
Richard Wright: »Der Mann im Untergrund« Kein & Aber, 240 Seiten (geb.) André Dhôtel: »Bernard der Faulpelz« Matthes & Seitz Berlin, 288 Seiten (geb.)
Wiederentdeckt III
In Vergessenheit geratenes Kleinod der dystopischen Literatur: 1977 verfasste die britische Autorin Kay Dick mit »Sie — Szenen des Unbehagens« einen ungewöhnlichen Episodenroman, der sich eigentlich perfekt neben Orwells »1984« oder Bradburys »Fahrenheit 451« einreihen ließe. Doch das szenisch angelegte, stark verdichtete, vielschichtige Buch stieß auf Ignoranz — die Zeit war damals offenbar noch nicht reif für eine Geschichte, in der ein gesichtsloser, namenloser Mob — eben ›sie‹ — gewalttätig gegen allen erkennbaren Individualismus, gegen jede Form von Kunst und gegen jeden Kunstschaffenden vorgeht. Jetzt erhält das im wahrsten Sinne des Wortes Unbehagen bereitende schmale Buch eine zweite Chance — und unsere begeisterte Zustimmung! (mei)
Hoch empathisch
David gegen Goliath oder die Turtle Mountain Chippewa gegen die US-Regierung: In den 1950er Jahren machte letztgenannte sich daran, sämtliche indigenen Stämme aus ihren vertraglich zugesicherten Reservaten zu vertreiben — per gesetzlicher Annullierung und Zwangsassimilation. Das Volk der Chippewa ließ nichts unversucht, um dieser sogenannten »Terminierung« zu entgehen, organisierte letztlich sogar ein eigenes Boxturnier, um die Reise für eine Anhörung in Washington zu finanzieren. Louise Erdrichs auf den Aufzeichnungen ihres Großvaters beruhender, akribisch recherchierter Roman »Der Nachtwächter« erzählt derart authentisch, warmherzig und mitreißend von jenem politischen Kampf, dass das Buch 2021 völlig verdient mit dem Pulitzer-Preis gekrönt wurde. (mei)
Kay Dick: »Sie — Szenen des Unbehagens« Hoffmann und Campe, 158 Seiten (geb.) Louise Erdrich: »Der Nachtwächter« Büchergilde Gutenberg, 488 Seiten (geb.)
Visionär
Großer literarischer Wurf aus Taiwan. Wu Ming-Yi hat mit »Der Mann mit den Facettenaugen« einen Roman geschaffen, der auf ganz wundersame Weise Facetten des magischen Realismus mit indigenen Mythen und ökologischen Bedrohungsszenarien der Jetztzeit verflechtet, überdies vielschichtig von lebensphilosophischen Reflexionen durchsetzt ist und: auch erzählerisch seine Leserschaft bis zum letzten Satz eindrucksvoll in Bann schlägt. All dies anhand verschiedener (Lebens-)Geschichten, die zunächst unvereinbar wirken und dann ausgerechnet von einem gigantischen, viele Quadratkilometer großen Plastikmüllstrudel zusammengeführt werden, der als Bote eines neuen Zeitalters unaufhaltsam gen Taiwan treibt. Visionär, ergreifend und ohne Frage ein ausdrücklicher Lektüretipp. (mei)
Wu Ming-Yi: »Der Mann mit den Facettenaugen« Matthes & Seitz Berlin, 320 Seiten (geb.)
Altmeisterwerk
Comic- und Graphic Novel-Fans aufgepasst — Weihnachten wurde dieses Jahr vorgezogen! Nach 35-jähriger Entstehungszeit ist das faustische Langzeitprojekt von Comic-Altmeister Barry WindsorSmith endlich fertiggestellt. »Monster« offenbart sich dabei in jeder Hinsicht als Monster — eine 368-seitige Tour de Force des visuellen Erzählens: sowohl Familiendrama als auch Thriller, Odyssee und metaphysische Reise. Bailey, ein junger Mann ohne Perspektiven wird 1964 für ein geheimes Experiment der US-Regierung angeworben, das einst in Nazi-Deutschland seinen Anfang fand. Als er hierbei in ein Monster verwandelt wird, nehmen die Ereignisse einen Kurs, den niemand mehr kontrollieren kann … Eine der wohl intensivsten Graphic Novels, die jemals gezeichnet wurden. (mei)
Barry Windsor-Smith: »Monster« Cross Cult, 368 Seiten (geb.)