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Willkommen in der kritischen Zone

Philipp Blom

BESTSELLER-AUTOR, PHILOSOPH UND HISTORIKER

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Es ist Krieg. Menschen in Europa werden von Bomben zerrissen, kauern im Winter in ihren Kellern ohne Elektrizität und Heizung, wehren eine brutale Invasionsarmee ab. Nach der Pandemie, die unser Leben bereits völlig veränderte, ist das die zweite große Ernüchterung für Gesellschaften, in denen viele glaubten, dass ihnen so etwas nie passieren könnte.

Hinter diesen Ereignissen steht eine Katastrophe, die alles andere in den Schatten stellt, ein Ereignis, das wir trotz anderer Herausforderungen nicht aus den Augen verlieren dürfen. Die Klimakatastrophe hat sich in den Jahren der Pandemie weiter beschleunigt. Jede Minute gehen auf der Welt mehr als 30 Fußballfelder Regenwald in Flammen auf, schmelzen 1 Million Tonnen Grönlandeis ab. Dies ist der Krieg der reichen Gesellschaften gegen die Natur. Gefangen zwischen diesen eskalierenden Ereignissen ist es schwer, nicht ratlos und tatenlos zuzusehen, weil die bewährten Rezepte unseres Denkens angesichts der Klimakatastrophe zerbrechen. Wirtschaftswachstum ist keine Antwort darauf, Märkte sind machtlos gegen die Logik der Zerstörung. In dieser Situation scheint mir nichts wichtiger, als unser Handlungspotential zurückzugewinnen. Das ist nur möglich, wenn wir beginnen, anders über die Welt und den Platz der Menschen darin nachzudenken, neue Bilder dafür zu finden. Unsere Sprache bietet uns Bilder an: „Die Natur“ ist etwas, was vom Kulturwesen Mensch getrennt zu sein scheint, eine Kulisse für Machtentfaltung und Urlaubserfahrungen, ein Reservoir, das ausgebeutet wird. Menschen leben „auf der Erde“, die Füße im Staub und den Kopf hoch erhoben mit Blick auf ferne Horizonte. Der französische Philosoph Bruno Latour schlägt vor, dieses Bild umzukehren: anstatt zu denken, dass Menschen „auf der Erde“ leben, wäre es konstruktiver, uns als Bewohner:innen der „kritischen Zone“ zu sehen, der dünnen Membran von Gasen zwischen dem toten Gestein unter unseren Füßen und der ewigen Leere über unseren Köpfen. Dies ist die Zone, in der Leben überhaupt möglich ist, ein hauchdünner Film von wenigen Kilometern, der sich um den Planeten spannt. Die kritische Zone ist unsere Welt. In dieser verletzlichen Haut um die Erde beeinflussen zahllose Akteure das Geschehen, von Mikroben bis hin zu tektonischen Platten, Pflanzen, Menschen und Viren, Höhenwinden und Ozeanströmungen. Wir sind unentrinnbar verstrickt in diese Prozesse, unser Überleben hängt von ihnen ab. „Der Mensch“, der mit „der Natur“ lebt — das ist ein Bild, das längst abgewirtschaftet hat, ein Relikt aus einer Welt, in der Gott seinen Geschöpfen befahl, sich die Erde untertan zu machen. Es ist Zeit für ein neues Bild, um uns selbst zu denken und handeln zu lernen. Wir sind Natur, Bewohner:innen der kritischen Zone. Was wir tun und nicht tun, verändert die Membran, die unser Leben möglich macht, so oder so. Es liegt nicht an uns, die Natur zu schützen oder das Klima zu retten — so viel Macht haben Menschen nicht, so wichtig sind wir nicht. Wenn wir aber nicht gute Bewohner:innen der kritischen Zone sind, dann wird sie kippen und das Leben in ihr wird unmöglich. Nur wenn wir unseren Ort in ihr finden, wenn wir unsere Verstricktheit in diese Prozesse anerkennen, können wir beginnen zu begreifen, wie eine Zukunft für die Menschheit innerhalb dieser kritischen Zone möglich wird.

Die Logik aller Kriege ist gleich. Es geht darum, sich einen Gegner untertan zu machen. Wir haben lange genug Krieg gegen „die Natur“ geführt. Es ist Zeit zu lernen, mit den anderen Bewohner:innen der kritischen Zone in Frieden zu leben.

„DIES IST DER KRIEG DER REICHEN GESELLSCHAFTEN GEGEN DIE NATUR.”

„WIRTSCHAFTSWACHSTUM IST KEINE ANTWORT DARAUF, MÄRKTE SIND MACHTLOS GEGEN DIE LOGIK DER ZERSTÖRUNG.”

JUMA XIPAIA (BRA) Juma ist Anführerin des indigenen Volkes der Xipaya, Mutter, Aktivistin und Medizinstudentin. Im Alter von 24 Jahren wurde Juma als erste Frau Häuptling im Mittleren Xingu. Sie führte ein friedliches Leben, bis 2011 mit dem Bau des Megastaudamms Belo Monte begonnen wurde. Als sie 2017 ein Korruptionssystem in Zusammenhang mit dem Bau des Staudamms entdeckte, wurde sie Opfer von Anschlägen und Morddrohungen. Sie musste mit ihrer Tochter aus Brasilien fliehen, verbrachte ein Jahr in der Schweiz und war die erste Vertreterin der Xipaya, die vor den Vereinten Nationen sprach. Zurück in Brasilien gründete sie das Instituto Juma, mit dem sie sich für die Autonomie der indigenen Völker, die Gleichstellung der Geschlechter und gegen Korruption einsetzt. institutojuma.org

SPRECHERIN

DER AMAZONAS IST EINE FRAU

von Stefan Lechner

FILMPRODUZENT, REGISSEUR, AUTOR

Juma Xipaia und ich lernten uns Anfang November 2021 bei der UN-Weltklimakonferenz COP26 in Glasgow kennen. Die indigene Aktivistin und Anführerin des Volks der Xipaya im östlichen Amazonas wollte den Regierenden der Welt auf der COP26 die Augen öffnen. Mein Filmteam und ich waren hergekommen, um ihren Kampf für mehr Rechte und den Schutz des größten verbleibenden Regenwalds der Erde zu dokumentieren. Denn seit der Machtübernahme durch den ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro schreitet die Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes immer schneller voran und die Situation der dort lebenden indigenen Völker verschlechtert sich auf dramatische Art und Weise.

Als Juma in den Van einstieg, mit dem ich sie vom Hotel abholte, sah sie erschöpft aus. Der Jetlag und das kalt-feuchte schottische Herbstwetter machten ihr zu schaffen. Sie setzte sich in die zweite Reihe des Vans zum Rest der Filmcrew und ich fuhr los.

In den Wochen vor der Konferenz hatte ich mir etliche Videos von Juma angesehen und war von der erst 29-Jährigen als erster Cacica (= indigene Anführerin) ihres Stammes beeindruckt. Viele der Videos zeigten die junge Mutter und Medizinstudentin wie sie sich, ähnlich einer Löwin, furchtlos gegen ihre übermächtigen Feinde aufbäumte. Juma trat auf Versammlungen leidenschaftlich gegen Korruption beim Bau des weltweit drittgrößten Staudamms Belo Monte in ihrer Heimat ein und kümmerte sich bei Demonstrationen gegen aktuelle Gesetzesvorhaben des Präsidenten um Verletzte. Morddrohungen, mehrere Attentate auf sie selbst und Tränengas konnten diese Frau nicht aufhalten. Anstatt aufzugeben hatte sie im Oktober 2020 das Instituto Juma gegründet. Mit diesem Institut setzt sie sich für die Autonomie der indigenen Völker, die Gleichstellung der Geschlechter und den Kampf gegen Korruption ein.

Ich schaute in den Rückspiegel. Die leicht zusammengekauerte junge Frau auf dem Rücksitz des Vans entsprach so gar nicht dem Bild, das ich mir bisher von ihr gemacht hatte. Freundlich, zurückhaltend und eher ruhig war sie die meiste Zeit auf ihr Smartphone fixiert. Plötzlich erreichte Juma ein Videocall einer befreundeten Aktivistin aus dem Amazonas. Diese erzählte ihr, dass schon wieder jemand versucht hatte, sich das Leben zu nehmen.

Juma konnte es nicht glauben, sie weinte und machte sich Vorwürfe, in letzter Zeit aufgrund des vielen Reisens so wenig Zeit für andere gehabt zu haben. „Die Kinder reden

„MORDDROHUNGEN, MEHRERE ATTENTATE AUF SIE SELBST UND TRÄNENGAS KONNTEN DIESE FRAU NICHT AUFHALTEN. ANSTATT AUFZUGEBEN HATTE SIE IM OKTOBER 2020 DAS INSTITUTO JUMA GEGRÜNDET.”

2020 SIND IN BRASILIEN 182 INDIGENE ERMORDET WORDEN, EIN ANSTIEG UM 61 % GEGENÜBER DEM VORJAHR.

Fachstelle der katholischen Kirche für Indigenenfragen

„DER AMAZONAS IST MIT EINER AUSDEHNUNG VON 6,7 MILLIONEN KM² DER GRÖSSTE ZUSAMMENHÄNGENDE REGENWALD DER ERDE.”

„DER AMAZONAS-REGENWALD HAT WÄHREND DER LETZTEN 50 JAHRE BEREITS ÜBER 17 % SEINER WALDFLÄCHE VERLOREN.” von Selbstmord und sie versuchen es auch!“, sagte Juma unter Tränen. „Ich habe das Institut gegründet, um auch diesen Jugendlichen eine Chance und ein Zuhause zu geben. Die Unterstützung, die ich nie hatte. Auch deswegen bin ich hier in Schottland, obwohl ich viel lieber zu Hause bei meiner Familie wäre. Trotz all der Strapazen darf ich nicht aufgeben!“

Juma wischte sich die Tränen von den Wangen. Draußen war alles grau in grau und hier im Van war es vollkommen still geworden. Jedem von uns war das Gespräch unter die Haut gegangen. Am Lenkrad festgekrallt kämpfte ich mit meinen Emotionen und glücklicherweise kamen wir kurz darauf beim Konferenzgelände an. Die Türen gingen auf und als wir ausstiegen, fielen wir uns in die Arme. Es kam zu langen Umarmungen mit Juma, so als würden wir sie schon ewig kennen. Eines stand fest: Diese zehn Tage in Glasgow würden etwas Besonderes werden, eine unglaubliche menschliche Bereicherung.

Ab diesem Moment war Juma wie ausgewechselt, die Löwin in ihr war erwacht. Sie setzte ihren Federschmuck, die Coca, auf und strich die Federn sorgfältig zurecht. Sie strahlte nun eine unglaubliche Kraft aus und meinte lächelnd, dass es losgehen könne. Auf ihrem Programm stand eine Vielzahl an Einladungen zu Panels, Diskussionen und Gesprächen mit Entscheidungsträger:innen. Außerdem wollte sie sich mit Repräsentant:innen anderer indigener Völker vernetzen und an Demonstrationen in den Straßen Glasgows teilnehmen. In den nun folgenden Tagen sollte die Kondition der Filmcrew gehörig auf die Probe gestellt werden, denn wir kamen der flinken Juma, die von einem Treffen zum nächsten eilte, mit unserem Equipment kaum hinterher. Juma wurde nicht müde, von der Situation im Amazonas und den zuletzt noch viel schneller voranschreitenden Rodungen des Regenwaldes zu berichten. Der Amazonas ist mit einer Ausdehnung von 6,7 Millionen km² der größte zusammenhängende Regenwald der Erde. Er hat jedoch in den letzten 50 Jahren bereits über 17% seiner Waldfläche verloren. Diese Rodungen haben aufgrund des freigesetzten CO2 einerseits und des verlorenen Kohlenstoffspeichers andererseits starke Auswirkungen auf das Weltklima. Auf der COP26 war somit eines der wichtigsten Ziele, einen Weg zur Erhaltung des Amazonas zu finden. Juma betonte in ihren Wortmeldungen immer wieder die Rolle der indigenen Völker beim Schutz des Regenwaldes. Im Amazonas leben an die 350 indigenen Völker, mehr als 60 von ihnen weiterhin in großer Abgeschiedenheit. Zur UN-Weltklimakonferenz waren 40 Abgesandte der indigenen

Völker Brasiliens angereist, um ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Bei Gesprächspanels hörte Juma auch anderen Meinungen immer aufmerksam zu und sprach oft erst nach einer langen Pause, in der sie ihren Federschmuck zurechtrichtete und ihre Gedanken ordnete. „Respektiert den Amazonas, respektiert uns ...“, forderte sie. „Wir haben den Amazonas seit Jahrhunderten mit unseren eigenen Leben verteidigt!“

Oft berichtete Juma auch von ihrer Jugend in einer kleinen indigenen Gemeinde am Fluss Iriri, wo die Angehörigen des Volkes der Xipaya ein relativ friedliches Leben führten, bis 2011 mit dem Bau des Megastaudamms Belo Monte begonnen wurde. Dadurch wurde unberührter Regenwald in der Region Xingu im östlichen Amazonas zerstört, Tausende wurden aus ihrer Heimat vertrieben und auch Jumas Leben sollte sich für immer verändern.

Wenn Juma sprach, wurde es oft ganz still im Publikum, niemanden ließen ihre Ausführungen und ihre Art zu sprechen kalt. In ihren Worten und in ihrer Stimme schwang die schmerzliche Erfahrung all der indigenen Völker mit, die bereits den größten Teil ihres Landes und ihrer Jagdgebiete verloren hatten und doch nicht aufgeben, sondern mit unglaublicher Willenskraft weiter für die eigenen Rechte und gegen Ungerechtigkeit kämpfen.

JUMAS HEIMAT IM NORDEN BRASILIENS

institutojuma.org

JUMA TRIFFT LEONARDO DICAPRIO BEI DER KLIMAKONFERENZ IN GLASGOW

Juma nahm sich auch in Diskussionsrunden mit prominenten Politiker:innen kein Blatt vor den Mund. Sie ließ sich nicht aus der Fassung bringen, sondern konfrontierte sie mit Fragen: "Welches Kind würde seine eigene Mutter töten? Was seid ihr für Kinder?“ Sie machte eine Pause und schaute in die Runde. „Der Xingu und der Amazonas sind Wesen, die ihr nicht wahrnehmen und respektieren könnt, und wisst ihr warum?“, klagte sie an. Nach einer Weile betretenem Schweigen ihrer Zuhörer:innen fuhr sie fort: „Weil ihr mit der Natur nicht verbunden seid, weil ihr nicht wisst, wie sich diese Bindung mit Mutter Natur anfühlt. Welch ein Kind kämpft für Abholzung und tötet dabei die eigene Mutter?“

Jumas Worte und ihre Anklagen schwangen bei vielen, die sie gehört hatten, noch lange nach und auch die routiniertesten Lobbyist:innen wussten teils nicht, wie sie mit dieser Direktheit umgehen sollten. Juma gab sich auch nicht mit monetären Versprechungen zufrieden. Die Systematik, mit der die indigenen Völker dezimiert werden, müsse ein Ende haben, forderte sie und sprach über Korruption und die Regierung des Präsidenten Bolsonaro, deren Ziel es sei, die indigenen Völker denen auszuliefern, die ihr Land rauben wollen: Bergbaufirmen, Holzunternehmen, Plantagenbetreiber und deren Handlanger. Nur eine einheitliche Front aller indigenen Völker, meinte Juma, erzeuge die Hebelwirkung, die es für Veränderung brauche. Sie sprach auch davon, dass sie mehr indigene Frauen dazu inspirieren wolle, sich dieser Bewegung anzuschließen. Die Frauen im Amazonas hätten sich als zähe Kämpferinnen bewiesen und seien weniger anfällig für Korruption als Männer. Zu viele Frauen würden derzeit noch ihre eigenen Schlachten kämpfen und oft bliebe ihre Not ungehört. Auch hier soll ihr Instituto Juma unterstützen.

Die Tage vergingen und die hochsensible Juma wirkte inmitten der Konferenz mit ihren mehr als 25.000 Teilnehmer:innen zunehmend erschöpft. Nicht nur ihre Heimat und Familie, sondern auch der Kontakt zur Natur fehlte ihr. Also beschlossen wir, an den schottischen See Loch Lomond zu fahren. Juma spazierte am Seeufer entlang, erfreute sich an jeder Pflanze und genoss den Wind in ihren Haaren. Sie sah lange in die Ferne, bevor sie sagte: „Die Welt könnte viel von den indigenen Völkern lernen, der Kern unserer Kultur ist der Natur- und Klimaschutz. Und es steht viel auf dem Spiel, nicht nur für uns, sondern für alle!“ • STEFAN LECHNER

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