4 minute read
Nature strikes back
VOLUNTEER DER ERDGESPRÄCHE
„IN NUR 20 JAHREN SIND IN ÖSTERREICH RUND 40 % ALLER BRUTVÖGEL VERSCHWUNDEN, WÄHREND TÄGLICH EINE FLÄCHE VON 24 FUSSBALLFELDERN VERBAUT WIRD.”
Advertisement
OLIVER SCHNETZER
Der Mensch stand und steht in keiner Sekunde über der Natur. Wir SIND Natur! Als abhängiger und verletzlicher Teil selbiger zeigen uns Pandemie und Klimakrise schmerzhaft unsere Grenzen auf – nature strikes back. Bereits eine Million Tier- und Pflanzenarten sind direkt durch unser Tun bedroht. Irreversible Folgeschäden für ganze Ökosysteme sind das Ergebnis. Höchste Zeit, dass wir beginnen, uns als Teil eines großen Ganzen zu begreifen, denn: Natur- und Klimaschutz ist auch Menschenschutz.
Alles hängt zusammen Corona hat uns gezeigt, wie fragil der Mensch im System Natur tatsächlich ist. Ein einzelner Erreger widerlegt nicht nur den Fehlglauben, wir wären der Natur überlegen, er stellt auch unsere gesamte Gesellschaft von heute auf morgen vor enorme Herausforderungen. Dabei ist die aktuelle Pandemie keineswegs ein einzelnes Ereignis: Sie ist die Konsequenz desselben Phänomens wie die Klimakrise, nämlich des menschlichen Eingreifens in die Natur. Durch die großflächige Umgestaltung von Landschaften und Ökosystemen begünstigt der Mensch Zoonosen; unser Lebensstil wird zum Risiko für Seuchen. Aktuell warnen Fachexpert:innen vor einem vom Menschen verschuldeten, 6. Massensterben (als 5. Massensterben gilt das Ende der Dinosaurier). Zum einen bedeutet dies, dass es wie beim Klimaschutz in unserer Hand liegt, die Katastrophe zu verhindern. Zweifelsohne drängt die Faktenlage dabei aber zur Eile. Allein in Österreich, mit rund 3.000 Pflanzen- und über 45.000 Tierarten noch eine der artenreichsten Regionen Mitteleuropas, ist mittlerweile jede 3. Art vom Aussterben bedroht. In nur 20 Jahren sind hier rund 40 % aller Brutvögel verschwunden, während täglich eine Fläche von 24 Fußballfeldern verbaut wird. Neben naturschädigender Landwirtschaft sowie der Versiegelung wertvoller Lebensräume spitzt die Klimakrise die Lage weiter zu. Fakt ist: Jede verschwundene Spezies erhöht das Risiko für den Kollaps bedeutender Ökosysteme. In dem hochkomplexen (und wunderschönen) System Natur existiert keine Art für sich: Ökosysteme leben von ihrer Vielfalt. Verschwinden zu viele Arten, kippt das System, von dem wir als Mensch so abhängig sind. So ist nicht zuletzt unser Wohlstand auf eine Vielzahl von Umweltleistungen angewiesen, die ausschließlich eine artenreiche Natur liefern kann. Mitunter ist ein Drittel der weltweiten Ernte von der Bestäubung durch Insekten und anderer Tiere abhängig. Die Rechnung ist einfach: weniger Bestäubung, weniger Ernte, weniger Lebensmittel für den Menschen. Schon heute klagen Landwirt:innen immer häufiger über Totalausfälle bei den Ernten und Schäden in Millionenhöhe. Begreifen wir Biodiversität als unsere Gesundheitsvorsorge, so kommt die Abholzung des Amazonas einem Messerstich in die eigenen Rippen gleich.
INSPIRATION ZUM ARTIKEL:
STERNSTUNDE PHILOSOPHIE "PHILIPP BLOM: DIE NATUR SCHLÄGT ZURÜCK" WWW.SRF.CH
Zeitenwende Während die Menschheit früher noch versuchte, sich mittels Wissenschaft, Aufklärung und Technik aus ihrer Abhängigkeit von der Natur zu lösen, erfordert die Klimakrise heutzutage gänzlich neue Zugänge. Noch nie hatte dabei der Naturschutz vor Gericht so viele Möglichkeiten. Bereits 2017 wurde mit dem Whanganui-Fluss, dem drittlängsten Strom Neuseelands, erstmals ein Gewässer mit juristischen Rechten ausgestattet – ähnlich den Grundrechten der Menschen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht erkannte 2021 den Klimaschutz als Menschenrechtsproblem an. Demnach muss JETZT der CO2-Ausstoß gesenkt werden, um nachfolgenden Generationen keine radikale Reduktionslast zu überlassen, die „umfassende Freiheitseinbußen“ mit sich brächte. Es gibt mittlerweile zahlreiche ähnliche Verfahren und Beispiele, die nicht nur ein Umdenken signalisieren, sondern auch als Wegweiser für kommende Prozesse dienen – auch die ERDgespräche 2019 setzten unter dem Titel „About action and justice“ einen eigenen Schwerpunkt. Mit der Biodiversitätsstrategie 2030 der EU kommt das Problem auch in der Politik an. Jährlich werden 20 Mrd. Euro für die biologische Vielfalt bereitgestellt, während ein Minimum von je 30 % der europäischen Land- sowie Meeresflächen in Schutzgebiete umgewandelt wird. Zudem wird mit dem Lieferkettengesetz endlich an einer Grundlage gearbeitet, um Menschenrechte wie Umwelt- und Sozialstandards entlang der Lieferketten einzuhalten. Selbst in der Landwirtschaft wird Permakultur immer populärer. Dies sind alles positive Zeichen dafür, dass der Druck der Bevölkerung Wirtschaft und Politik erreicht hat. All dies mag nach kleinen und zu langsamen Schritten aussehen, es ist aber mehr als das: Es ist ein beginnender Neuanfang. Die Erkenntnis, dass ein Weiter-wie-bisher ins Nichts führt, wächst beständig. Mit den richtigen Visionen, einer gesunden Portion Tatendrang und vor allem Mut können wir heute die Welt von morgen entscheidend mitprägen. Es gibt so viel zu gewinnen! • OLIVER SCHNETZER
PHILIPP BLOM (AUT)
Philipp Blom ist Autor, Philosoph und Historiker. Er studierte in Wien und Oxford. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit moderiert er die Sendung „Punkt Eins“ auf dem Kultursender Ö1, macht Filme wie die preisgekrönte Dokumentarserie „Der taumelnde Kontinent“ und kuratiert Ausstellungen in Europa und den USA. Seine Bücher verbinden historische Forschung mit philosophischen Erkundungen. Vor dem Hintergrund von gegenwärtigen Umbrüchen wie der Erderhitzung und der Digitalisierung wendet er sich auch in seinem Buch „Was auf dem Spiel steht“ verstärkt Gegenwarts- und Zukunftsthemen zu. Seine Werke (darunter viele Bestseller) wurden in 16 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. www.philipp-blom.eu
„JÄHRLICH WERDEN 20 MRD. EURO FÜR DIE BIOLOGISCHE VIELFALT BEREITGESTELLT, WÄHREND EIN MINIMUM VON JE 30 % DER EUROPÄISCHEN LAND- SOWIE MEERESFLÄCHEN IN SCHUTZGEBIETE UMGEWANDELT WIRD.”