Adrian Riess
Raum fĂźR Leben 75 Jahre Tuttlinger Wohnbau GmbH
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Inhalt 6
Vorwort
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Umfrage: „Was bedeutet für Sie Zuhause?“
10 75 Jahre Tuttlinger Wohnbau GmbH: Zahlen, Daten und Fakten
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42
62
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Kapitel 1 Zuhause im Hier und Jetzt
Kapitel 2 Sehnsuchtsort Zuhause
Kapitel 3 Komfortzone Zuhause
Kapitel 4 Zuhause im Umbruch
Kapitel 5 „Wir müssen uns was trauen!“
88 Die Köpfe der Tuttlinger Wohnbau 90 Anhang
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Wegweiser Das Zuhause soll ein Ort zum Wohlfühlen, zum Leben sein. Diesem Anspruch fühlt sich die Tuttlinger Wohnbau seit ihrer Gründung im Jahr 1941 verpflichtet, wenn sie bezahlbaren Wohnraum in der Region schafft und städtebauliche Projekte umsetzt. Welche Herausforderungen und Aufträge im Laufe der Geschichte auf das Unternehmen zukamen, zeigt die vorliegende Chronik zum 75-jährigen Jubiläum. Der Weg durchs Buch Das Buch beginnt in der Gegenwart und zeigt ein modernes Wohnungsunternehmen, das mit seinem Engagement und seinen Projekten das Stadtbild Tuttlingens maßgeblich prägt. Im Fokus des ersten Kapitels steht die Frage nach dem aktuellen Verständnis von Zuhause und nach den Aufgaben, die sich daraus für die Tuttlinger Wohnbau ableiten – ein roter Faden, der sich durch die gesamte Chronik zieht. In den folgenden Kapiteln geht der Blick zurück und wichtige Unternehmensstationen bilden den Rahmen für die Entwicklung der Tuttlinger Wohnbau. Was passierte in den Gründerjahren und in der Zeit des Wirtschaftswunders? Wie orientierte sich das Unternehmen nach dem Wegfall der Gemeinnützigkeit in den 1990er-Jahren? Wie reagiert es bis heute auf die Bedürfnisse einer immer schneller und mobiler werdenden Welt? Basierend auf umfangreichen Recherchen und vielen Gespräche mit Zeitzeugen erzählt dieses Buch die Geschichte des „Zuhause“ in den vergangenen 75 Jahren und gibt gleichzeitig einen authentischen Einblick in die Arbeit der Tuttlinger Wohnbau von gestern, heute und morgen.
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75 Jahre Tuttlinger Wohnbau GmbH Zahlen, Daten und Fakten Mietwohnungsbestand
Verwaltetes Eigentum
0 Mitarbeiterzahlen
Entwicklung der Bilanzsumme
Zahlen inklusive der technischen Mitarbeiter (ohne Hausmeister).
Die Bilanzsumme spiegelt das gesamte Vermรถgen des Unternehmens wider.
Quelle: Archiv Tuttlinger Wohnbau GmbH
DM-Euro-Umrechnungsfaktor 1,95583
Deutschland 586 Russland 98 T체rkei 91 Italien 89 Rum채nien 88 Polen 70 Irak 66 Afganistan 62 Serbien 54 Ukraine 51 Syrien 44 Kroatien 40 Tschechien 40 Bosnien-Herzegowina 32 Griechenland 32 Iran 22 Kosovo 22 Frankreich 21 Spanien 16 Albanien 15 Algerien 14 Mazedonien 14 Tunesien 14 Pakistan 13 Slowenien 10 Portugal 8 Ungarn 7 Bulgarien 7 Brasilien 5 Nigeria 5 Kamerun 4 Libyen 3 Kenia 3 Libanon 1 Namibia 1 USA 1 Lettland 1 Sri Lanka 1 Dominikanische Rep. 1 Togo 1
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40 Nationalit채ten, die als Mieter in Immobilien der Tuttlinger Wohnbau leben.
Wohnfl채che pro Person in Deutschland (in m2) Quelle: Statistisches Bundesamt
14 1950
=
19,4 1960
26 1970
32 1980
36 1990
40,2 2000
1.653 Hauptmieter Pro Mietobjekt wird eine Person als Hauptmieter gerechnet.
42 2010
45 2015
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Kapitel 1
Zuhause im Hier und Jetzt
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Wohntrends und aktuelle Herausforderungen der Tuttlinger Wohnbau Wohnen gehört zu den elementaren Grundbedürfnissen des Menschen. Für die meisten ist es allerdings noch wichtiger, nicht nur zu wohnen, sondern ein Zuhause zu haben. Dort fühlt man sich geborgen, sicher, man kann sich zurückziehen und erholen. Lange Zeit spielten derartige Ansprüche keine Rolle. In den schmutzigen Industriezentren des 19. Jahrhunderts oder nach den beiden Weltkriegen ging es in erster Linie darum, ein Dach über dem Kopf zu haben. Heute stellt sich die Situation in Deutschland ganz anders dar: Sich „Zuhause“ zu fühlen ist keine Ausnahme mehr, sondern vielmehr die Regel. Zu verdanken ist das den Prinzipien unseres Wohlfahrtsstaates. Zu seinen Kernaufgaben zählt es, bezahlbaren Wohnraum quer durch alle sozialen Schichten zu schaffen, so dass möglichst jeder die Chance auf sein Zuhause bekommt. Mehr Platz für Zuhause In den vergangenen 70 Jahren hat sich die Qualität des Wohnens bundesweit deutlich gesteigert. Ein Beispiel sind Größe und Ausstattung von Häusern und Wohnungen: Rechnete man Ende der 1950er-Jahre noch mit einem Zimmer pro Person, sind es heute mehr als zwei. Die Wohnfläche pro Kopf hat sich von knapp 20 Quadratmetern auf über 40 verdoppelt.1 Dazu kommen zahlreiche Entwicklungen sowie bestehende Strukturen und Gewohnheiten, die unser Wohnen prägen und auch weiterhin beeinflussen werden. Ein besonderes Merkmal des deutschen Wohnsektors ist der im europäischen Vergleich ungewöhnlich niedrige Eigentumsanteil. Mit knapp 45 Prozent liegt die Eigentumsquote hierzulande deutlich niedriger als im Rest Europas. In Frankreich sind es beispielsweise 58 Prozent, in Litauen, Rumänien und Ungarn sogar 90. Deutschland besitzt im Gegenzug einen einzigartig breit gefächerten Mietwohnungsmarkt. Dies ist zum einen historisch begründet. Deutschland hat seit dem massenhaften sozialen Wohnungsbau der Nachkriegszeit durchweg einen hohen Bestand an Mietwohnungen. Zum anderen hält der Markt Mietwohnungen in allen Qualitäten und Preisvorstellungen vor. So versorgt er nicht nur Einkommensschwächere mit Wohnraum, er bietet durch hohen Komfort und Standard auch wohlhabenderen Schichten attraktive Alternativen zum Erwerb von Eigentum.2 Ein-Personen-Haushalte ganz oben auf der Beliebtheitsskala Was die Versorgung mit Wohnraum angeht, kann man bundesweit derzeit von einer im Wesentlichen ausgeglichenen Angebotsund Nachfragesituation sprechen – lässt man die Folgeunterbringung von Flüchtlingen einmal außen vor. In Ballungszentren und Großstädten bestehen Probleme: Ein knappes Angebot an Wohnraum sorgt dort für rasant steigende Mieten. Sozial schwächeren
Zuhause im Hier und Jetzt. Kapitel 1
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Schichten und Familien mit Kindern fällt es besonders schwer, Wohnungen mit angemessener Fläche zu finanzieren. Die Folge ist, dass ihr Zuhause oft zu klein ist. Hinzu kommt, dass das Angebot für größere Wohnungen schrumpft. Immer mehr Menschen fragen kleine Apartments für Ein-Personen-Haushalte nach. Ihr Anteil an allen Haushalten der Bundesrepublik beträgt mittlerweile rund 40 Prozent, in Städten sogar über die Hälfte. Haushalte mit drei oder vier Personen, also Familien mit Kindern, kommen nur noch auf ein Viertel der Gesamtnachfrage. Die durchschnittliche Belegung der 41 Millionen verfügbaren Wohneinheiten in Deutschland beträgt zwei Personen – Tendenz fallend. Für den Markt bedeutet dies, dass selbst bei gleichbleibender Bevölkerung mehr Wohneinheiten benötigt werden.3 Was sind die Gründe für die Beliebtheit kleiner Haushalte? Ein Teil der Nachfrage lässt sich auf den demografischen Wandel zurückführen. Immer mehr Menschen benötigen im Alter eine kleinere Wohnung, die ihnen ein barrierefreies Leben ermöglicht. Wobei das nicht immer neue Immobilien sein müssen. Eine der kommenden Aufgaben der Wohnungsunternehmen wird es sein, bestehende Wohnungen und Häuser altersgerecht umzubauen. Kleinere Wohnungen sind auch deshalb stark nachgefragt, weil sie zu der beruflich zunehmend geforderten Flexibilität passen. Ortswechsel sind für zahlreiche Arbeitnehmer keine Seltenheit mehr und bevor sie sich dauerhaft niederlassen oder ihre Familie nachholen, reichen ihnen Ein-Personen-Wohnungen vollends aus. Eine Entwicklung, die sich auch in Zukunft nicht ändern wird, selbst wenn laut Umfragen drei Viertel der Deutschen von ihren eigenen vier Wänden träumen.4 Renaissance des Stadtwohnens? War es lange Zeit Trend, aus der Innenstadt in das Umland abzuwandern, ist aktuell das Gegenteil der Fall – Experten sprechen sogar von einer Renaissance der Stadt.5 Von einem „Triumpf der City“ zu sprechen, wie das das Nachrichtenmagazin Der Spiegel schon 2006 tat, scheint dagegen verfrüht zu sein.6 Fakt ist jedoch, dass Städte wachsen und zentrumsnahe Wohnungen sich wieder größerer Beliebtheit erfreuen – bei älteren und jüngeren Menschen gleichermaßen. Sie schätzen die Vorteile kurzer Wege sowie die Unabhängigkeit von Autos, die vom Nahverkehr ersetzt werden können. Die deutschen Städte müssen sich für diese Entwicklung wappnen und entsprechend planen. Das gilt aber nicht nur für Großstädte, sondern auch für mittlere bis kleine Zentren. Dabei geht es nicht nur um Wohnraum an sich, sondern um passende Angebote für zahlreiche und vielseitige Ansprüche. Studierende, Familien, Alleinstehende, Senioren – sie alle haben von einem Zuhause unterschiedliche Vorstellungen, denen Rechnung getragen werden muss.
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Das Jubiläumsunternehmen Die Tuttlinger Wohnbau bewegt sich seit 75 Jahren auf diesem Parkett. Als gemeinnütziges Unternehmen wurde sie 1941 gegründet, um nach dem Krieg für breite Schichten der Bevölkerung Wohnungen zu schaffen. Trotz der Abschaffung der Gemeinnützigkeit Anfang der 1990er-Jahre liegt ihr Fokus noch immer auf dem Bau und der Bereitstellung von Wohnraum zu sozial verträglichen Preisen. Bis heute hat die Gesellschaft annähernd 5.000 Wohneinheiten erstellt. Davon verwaltet sie rund 1.400 Eigentumswohnungen. Circa 1.650 Wohneinheiten befinden sich in ihrem Firmenbesitz und werden von ihr vermietet. Seit seiner Gründung gibt das Unternehmen so Tausenden von Menschen eine Heimat. Ihr eigenes Zuhause hat die Wohnbau in der Tuttlinger Innenstadt. Der zentrale Firmensitz „In Wöhrden“ hat dabei Symbolcharakter, da die Tuttlinger Wohnbau selbst von zentraler Bedeutung für die Stadt ist: Jeder fünfte Einwohner lebt in einer Immobilie, die von der Wohnbau stammt. Außerdem ist sie als 66-prozentige Tochter der Stadt ein bedeutendes Instrument der lokalen Wohnungspolitik. Neben der Stadt halten große Unternehmen aus der Industrie wie Aesculap und Chiron seit der Gründung der Wohnbau Anteile an der Gesellschaft. Das sorgt für Verbundenheit und gleichzeitig Pflichten. Die Tuttlinger Wohnbau sieht ihre soziale Verantwortung daher nicht nur in den Aufgaben des größten Wohnraumversorgers vor Ort, sondern auch in der Gestaltung und Attraktivitätssteigerung der Stadt. Weitreichende Infrastrukturmaßnahmen und Projekte, die der Stadtentwicklung dienen, bilden heute ein wichtiges Standbein der GmbH. Der aktuelle Unternehmenssitz der Tuttlinger Wohnbau liegt direkt neben dem von ihr erbauten Scala-Kino.
Zuhause im Hier und Jetzt. Kapitel 1
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Wöhrden-West: Publikumsmagnet und Prestigeprojekt der Tuttlinger Wohnbau.
Durch den Bau des Légère-Hotels gibt es in Tuttlingen hochwertige Übernachtungsmöglichkeiten für Geschäftsleute.
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Tuttlinger HĂśfe: Wo frĂźher eine alte Kartonagenfabrik stand, bieten heute rund 80 Stadtwohnungen modernen Wohnraum (Bild oben und unten rechts).
Zuhause im Hier und Jetzt. Kapitel 1
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Tuttlingen trägt die Handschrift der Wohnbau Die Tuttlinger Wohnbau erstellt Bedarfsanalysen und orientiert sich an den Anliegen der Menschen sowie denen der Stadt. Businesshotelbetten waren in Tuttlingen lange Zeit Mangelware. 2013 schloss die Projektentwicklung der Wohnbau mit der Eröffnung des Légère-Hotels diese Lücke und schuf ein Angebot, das besonders für die Tuttlinger Industrie wichtig ist. Wenn im Herbst 2016 Charly‘s House mit seiner markant bunten Fassade eröffnet, ist auch das mittlere Preissegment abgedeckt und Tuttlingens HotelInfrastruktur solide aufgestellt. Im Areal Wöhrden-West entstand bereits 2004 mit dem Investor Tuttlinger Wohnbau eines der attraktivsten Viertel der Stadt. Die Gesellschaft hat hier Mangellagen erkannt und städtebaulich behoben. Mit Kino und verschiedenen Gastronomien ist Wöhrden heute ein Publikumsmagnet und wichtiger Bestandteil der Unterhaltungs- und Erlebnisszene in Tuttlingen. Die Kernkompetenz der Tuttlinger Wohnbau ist und bleibt der Wohnungsbau. Das Unternehmen analysiert laufend aktuelle Trends und ermittelt Bedarfe, um die Nachfrage zu befriedigen. Besonders hoch im Kurs sind derzeit innenstadtnahe Wohnungen – auch in Tuttlingen. Mit ihrem Projekt Tuttlinger Höfe wertete die Wohnbau 2015 deshalb nicht nur nahezu ein ganzes – vorher heruntergekommenes – Quartier am Rande der Innenstadt auf; 78 zentral gelegene Stadtwohnungen in stattlichen Gebäuden und 80 Tiefgaragen entstanden. Dafür musste eine aktive Kartonagenfabrik weichen. Von weit her ist diese moderne Bebauung mit ihren vier Gebäuden sichtbar. Ein fünftes Bauwerk als Dienstleistungs- und Wohngebäude an der Ecke Bahnhof-/ Karlstraße bringt die Tuttlinger Höfe 2018 zum Abschluss. Besonders stark nachgefragt und in Tuttlingen schon heute „Mangelware“ sind kleine Wohnungen. Der bundesweite Trend der EinPersonen-Haushalte macht auch vor der Kreisstadt keinen Halt und sorgt stellenweise für regelrechte Engpässe. Neben Neubaumaßnahmen kommt es zum Ausbau von Dachgeschossen oder der Teilung von 4-Zimmer- in zwei 2-Zimmer-Wohnungen. So wirkt die Wohnungsgesellschaft den Defiziten entgegen. Erster Ansprechpartner Ob passende Studentenwohnungen, Wohnraum für Senioren oder Menschen mit Handicap, Notunterkünfte und Folgeeinrichtungen für Flüchtlinge – die Wohnbau übernimmt wichtige kommunale Arbeitsfelder und gibt deren Rahmen und die Leitlinien vor. Sie kann in Notsituationen aushelfen und fungiert durch ihre starke Stellung in positivem Sinne marktregulierend.
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Darüber hinaus ist die Tuttlinger Wohnbau erste Anlaufstelle für viele Menschen auf der Suche nach einem neuen Zuhause – und damit ein essentiell wichtiger Ansprechpartner. Für das Unternehmen bedeutet das, dass es sensibel mit dem Vertrauen, den Wünschen und Ängsten der Menschen umgehen muss. Alle Mitarbeiter benötigen eine hohe soziale Kompetenz und Fingerspitzengefühl, um allen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu werden – und um angemessen reagieren zu können, wenn sie nicht selten auf Kunden treffen, die oft aus nachvollziehbaren Gründen aufgebracht, verzweifelt oder wütend sind. In ihrer 75-jährigen Geschichte hatte die Tuttlinger Wohnbau viele Hürden zu überwinden und Herausforderungen zu meistern. Sei es die unvorstellbare Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg (Kapitel 2), der ungeahnte Bauboom, als Deutschland sich erholte und das Wirtschaftswunder erlebte (Kapitel 3) oder die Auflösung der Gemeinnützigkeit in den 1990er-Jahren (Kapitel 4).
Ohne Veränderung hätte es keine Chance auf Verbesserung und Fortschritt gegeben. Um den auch wesentlichen Anforderungen gerecht werden zu können, musste sich das Unternehmen laufend wandeln. Nicht immer bedeutet dies Wachstum, aber stets war Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Mitarbeiter und der Unternehmensleitung verlangt. Doch ohne diese Veränderung hätte es auch keine Chance auf Verbesserung und Fortschritt gegeben. Oder um es mit Winston Churchill zu sagen: „To improve is to change; to be perfect is to change often.“7 – frei übersetzt: „Verbesserung erfordert Wandel, Perfektion erfordert ständigen Wandel.“ Die Tuttlinger Wohnbau wird sich auch in Zukunft weiter wandeln, verändern und entwickeln, wohl aber mit einer Ausnahme: Die soziale Verantwortung wird bleiben. Sie bildet seit 1941 Kern und Seele des Unternehmens.
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Kapitel 2
Sehnsuchtsort Zuhause
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Deutschland in der Nachkriegszeit: Flüchtlingsströme und Wohnungsnotstand Am Ende des Zweiten Weltkrieges war ein „Zuhause“ für viele Menschen nicht mehr als ein surrealer Traum, eine leere Hülle. Bomben hatten die großen deutschen Städte zerstört. Sie lagen begraben unter ihren eigenen Trümmern. In ganz Deutschland wurden über zwei Millionen Wohnungen dem Erdboden gleichgemacht oder so schwer beschädigt, dass niemand mehr darin wohnen konnte. Insgesamt fiel ein Viertel des gesamten Wohnungsbestandes von 1939 der Kriegszerstörung zum Opfer. Industrie- und Ballungszentren, wie zum Beispiel das Ruhrgebiet, waren besonders verheerend betroffen. Aber auch im französisch besetzten späteren Bundesland Baden-Württemberg wurden 220.000 Wohnungen vernichtet – ein Siebtel der Vorkriegsbebauung.1 Der Krieg zerstörte aber keine intakte deutsche Wohnungswelt. Im Gegenteil: Lang zurückliegende Versäumnisse noch aus der Weimarer Republik (1918-1933) sowie der zivile Baustopp der Nationalsozialisten Anfang 1940 hinterließen einen eklatanten Fehlbestand, den erst die verheerenden Folgen des Krieges in vollem Umfang offenbarten.2 Zu den klaffenden Lücken im Wohnungsbestand kamen in den Jahren 1945-1948 zahlreiche Zwangsräumungen und Einquartierungen von Soldaten durch die Besatzungstruppen. Während die verfügbaren Wohnungen weniger wurden, stieg gleichzeitig die Zahl derer, die ein Heim benötigten. Die größte und schier unlösbare Herausforderung stellte die Unterbringung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen dar. Deutschland hatte einen großen Teil seiner Fläche verloren und der dort noch lebende deutschstämmige Teil der Bevölkerung wurde vertrieben. Ausgebombte Menschen in den verwüsteten Städten, heimkehrende Soldaten, Vertriebene – die Liste der Wohnungssuchenden war lang. Alles in allem suchten ungefähr 21 Millionen Deutsche ein neues Zuhause.3 So fehlten am Ende des Krieges und in den Jahren danach rund sechs Millionen Wohnungen.4 Angesichts dieser schwierigen Situation bedeutete der Begriff „Zuhause“ für einen Großteil der Deutschen vor allem schmerzhafter Verlust und Verzicht. Jene, die noch eine Wohnung oder eine Unterkunft hatten, mussten ihr Heim mit anderen zwangsweise teilen. Fast jede zweite Wohnung war mit mehr als einer Familie belegt. Großeltern, Vater, Mutter und Kinder – ganze Generationen hatten oft nur einen Raum zum Schlafen. Sanitäre Einrichtungen und Küchen wurden geteilt, nicht selten mit wildfremden Menschen. Das enge Zusammenleben machte ein Wohnen mit Privatsphäre unmöglich.5
Privatsphäre ausgeschlossen: Die meisten noch intakten Wohnungen beherbergten so viele Menschen wie möglich.
Sehnsuchtsort Zuhause. Kapitel 2
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Mammutaufgaben für Tuttlingen Tuttlingen war von Kriegszerstörungen weitestgehend verschont geblieben. Es gab nur vereinzelte Bombenangriffe. Bei einem davon wurde die Villa Scheerer zerstört – eine Geschichte, die in den 1950er-Jahren noch interessant werden sollte.6 Doch die grassierende, allgegenwärtige Wohnungsnot, die in ganz Deutschland herrschte, machte auch vor Tuttlingen nicht Halt. Die französischen Besatzer hatten zunächst den Zuzug von Flüchtlingen in ihre Zone und damit auch nachTuttlingen untersagt. Im Frühjahr 1947 waren der Druck, den die anderen Besatzungsmächte aufbauten und die Zahl der illegalen Einwanderungen aber zu groß. Die Franzosen hoben ihr Zuzugsverbot auf und die Wucht des einsetzenden Flüchtlingsstromes war heftig. Jeder Kreis bekam eine Mindestzuweisung an Flüchtlingen in einer Größenordnung von einem Fünftel der heimischen Bevölkerung.7 Das heißt: Jeder sechste Bewohner war ein Flüchtling. Im Vergleich dazu: Ende 2015 kamen auf 100 Bürger in der Bundesrepublik Deutschland knapp zwei Flüchtlinge.8
Auf der Flucht: Kurz nach dem Krieg war jeder sechste Bewohner in Deutschland ein Flüchtling.
Getroffen: Eine Bombe zerstörte die Villa Scheerer in Tuttlingen.
Die ersten offiziellen Flüchtlingstransporte, die in Tuttlingen eintrafen, kamen aus Österreich und Dänemark. Sogenannte Donauschwaben waren deutschstämmige Auswanderer, die sich entlang der Donau bis zum Schwarzen Meer angesiedelt hatten. Gegen Ende des Krieges mussten sie aus ihrer Heimat fliehen. Über Monate, gar Jahre, waren sie unterwegs – teilweise sogar interniert in Gefangenenlagern, bevor sie nach Deutschland übersiedeln durften. Die meisten Vertriebenen kamen jedoch aus den ehemaligen Ostgebieten wie Danzig und Pommern und waren auf der Flucht vor Kommunismus und Verfolgung. Zu Hunderttausenden flohen sie über die Ostseehäfen bis nach Dänemark. Von dort aus versuchten die alliierten Siegermächte die Massen gleichmäßig auf Deutschland zu verteilen.
Für Tuttlingen bedeutete dies, innerhalb kürzester Zeit eine beachtliche Anzahl menschenwürdiger Unterkünfte schaffen zu müssen. Damit die Menschen nicht im Freien schlafen mussten, suchte die Stadtverwaltung zunächst nach einer Übergangslösung. Aus dem ehemaligen Lager für Fremd- und Zwangsarbeiter der Nationalsozialisten, dem Lager Mühlau (stand in etwa da, wo heute die Gymnasien stehen), wurde daher kurzerhand das Kreisdurchgangslager.9 In völlig überfüllten und von Wanzen verseuchten Baracken harrten die Flüchtlinge aus. Die zuständigen Behörden verteilten sie von hier aus auf die Stadt und den gesamten Kreis.
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Anders als bei den aktuellen Flüchtlingsströmen nach Europa existierte in der Nachkriegszeit keine intakte Infrastruktur. Auch gab es zunächst keine bundesstaatliche Behörde. Es waren die Besatzungsmächte, die die Verteilung der Flüchtlinge organisierten. Bei der Unterbringung aber waren die Kommunen auf sich allein gestellt. Die Situation vor Ort verschärfte sich zunehmend. Schätzungen zufolge lag die Zahl der flüchtenden Menschen zwischen 12 und 14 Millionen. Angesichts dieser Menge war es daher nicht selten, dass die gerade befreiten Zwangs- und Konzentrationslager der Nationalsozialisten nahtlos weiter als Unterkünfte genutzt wurden. Tuttlingen befand sich in einer denkbar schwierigen Ausgangslage. Die Anforderungen waren hoch und die Herausforderungen, fremde Menschen zu beherbergen, unüberschaubar. Eine Aufgabe „um die sich niemand gerissen hat“, wie Oberbürgermeister Walter Balz (1951-1979) später einmal nüchtern bilanzieren sollte.10 Rückblickend klingt das noch zu harmlos: Es war vielmehr eine Mammutaufgabe, vor der die städtische Verwaltung und die Bewohner von Tuttlingen im Jahre 1947 standen.
In Sicherheit, aber noch nicht am Ziel: Im ehemaligen Zwangsarbeiter-Lager Mühlau mussten viele Flüchtlinge ausharren, bis andere Unterkünfte zur Verfügung standen.
Damals wie heute war die dringlichste Aufgabe, die Menschen unterzubringen. Das langfristige Ziel aber war es, sie zu integrieren – ihnen ein neues „Zuhause“ zu geben. Einem damals noch sehr jungen Wohnungsbauunternehmen sollten hierbei wichtige Aufgaben zufallen: der Tuttlinger Wohnbau. Ihre Geschichte beginnt aber nicht erst mit dem Bauboom der Nachkriegszeit. Die Anfänge liegen weiter zurück. Flüchtlingsbaracken weichen den Neubauten.
Sehnsuchtsort Zuhause. Kapitel 2
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Gründungszeit und Nationalsozialismus Vor dem Krieg blühte die Tuttlinger Wirtschaft. Namhafte Unternehmen hatten und haben zum Teil bis heute hier ihren Sitz: die Aktiengesellschaft für Feinmechanik, vormals Jetter & Scheerer (heute Aesculap), die Schuhfabrik Rieker sowie die Instrumentenfabrik Chironwerke. Eine starke, aufstrebende Industrie sorgte schon immer für einen lebendigen Arbeiterzustrom. So verlangten gerade die großen Firmen nach Werkswohnungen. Einfache Häuser und Apartments sollten es sein, in denen die Arbeiter mit ihren Familien wohnen konnten und von denen der Weg zur Arbeit nicht weit war. Bei der Erstellung von Werksheimen kam es zumeist zu größeren Bauvorhaben. In unmittelbarer Nähe der Firmen oder direkt auf dem Betriebsgelände entstanden Komplexe mit nicht selten mehr als 50 Wohnungen. Eine Aufgabe, die für eine einzelne Firma nur schwer durchzuführen war. Zu diesem Zweck schlossen sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg häufig mehrere Firmen – teils mit, teils ohne Beteiligung der Stadt – zusammen und gründeten sogenannte Wohnungsbaugesellschaften. Diese sollten den organisatorischen Aufwand und die Planung der Großprojekte übernehmen. Doch auch das war noch nicht die Lösung aller Probleme. Umfangreiche Bauvorhaben reizten selbst die Kapazität solcher Gesellschaften für mehrere Monate, sogar Jahre aus. An eine starke Mehrfachbelastung war bei Unternehmen dieser Struktur nicht zu denken. Bei den ersten Wohnungsbaugesellschaften haperte es oft an der Finanzierung und der Leistungsfähigkeit.
Die Vorgänger der Wohnbau Schon nach dem Ersten Weltkrieg war die Wohnungsnot in der Industriestadt Tuttlingen besonders groß. Es wurden vor der Tuttlinger Wohnbau GmbH daher bereits zwei Baugenossenschaften gegründet: 1919 die Tuttlinger Siedlungsverein GmbH sowie 1925 die Siedlungskolonie Tuttlingen GmbH. Die Träger des Siedlungsvereins waren die großen Player der ortsansässigen Industrie. Trotz seines relativ starken Vermögens mangelte es dem Verein aber an Effektivität.11 Die Siedlungskolonie war dagegen die deutlich aktivere Gesellschaft. Neben Gesellschaftern aus der Industrie und vielen Privatpersonen gehörten vor allem der Stadt große Teile des Unternehmens. Der Kolonie kamen daher verantwortungsvolle Aufgaben zu und ihre prominentesten Werke prägen noch heute einige Stadtteile Tuttlingens. Ein Beispiel dafür ist der alte Kern des Kreisklinikums sowie dessen erster Anbau aus dem Jahr 1930; ebenso das heute unter Denkmalschutz stehende Alte Krematorium am Friedhof.12
Tuttlingen besaß seit 1925 zwei kleinere Unternehmen dieser Art: die Siedlungskolonie Tuttlingen und den Tuttlinger Siedlungsverein. Bürgermeister Max Haug (1938-1945) warnte in einer Verhandlung mit den Ratsherren im November 1941, die Wohnungsnot nehme immer „schärfere Formen“ an.13 Der Gemeinderat beriet daher schon im Krieg, wie die Stadt dem zunehmenden Wohnungsmangel entgegentreten sollte. Es ging dabei weniger darum, ob die Deutschen den Krieg gewinnen und wann genau er vorbei sein würde. Sobald die Auseinandersetzungen beendet sein würden, musste unverzüglich mit großen Baumaßnahmen begonnen werden. Wer aber sollte diese Aufgabe übernehmen?
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Eine wichtige Entscheidung mit weitreichenden Folgen stand an. Doch noch ehe die Ratsherren einen Beschluss fassen konnten, wurde ihnen die Entscheidung dafür entzogen. Der Anstoß kam von höherer Ebene. Adolf Hitler gab am 15. November 1940 mit seinem Führererlass für den „Sozialen Wohnungsbau nach dem Kriege“ den Startschuss für eine einschneidende Änderung der Wohnungspolitik. Mit großem Propagandaaufwand und einer radikalen Umgestaltung der bisherigen Strukturen wurde ein neues Wohnungsbauprogramm eingeleitet.14 Dieser ideologische Vorstoß in den Lebensalltag traf unmittelbar das Zuhause der Menschen. Nicht nur die symbolischen, moralischen und ideellen Werte, sogar die physische Beschaffenheit des Zuhauses sollte künftig von den Nationalsozialisten kontrolliert und vorgegeben werden. Sie wollten dafür den gesamten Bausektor rationalisieren, normieren und typisieren. Ähnlich wie der „Volkswagen“ und der „Volksempfänger“ sollten künftig auch „Volksheimstätten“ als ein Massenprodukt erstellt werden. In propagandistischen Kampagnen wie „Schönheit des Wohnens“ wurden rassengerechte Musterwohnungen des sogenannten „Führertyps“ vorgestellt.15
Die Nationalsozialisten idealisierten das Bild des Eigenheims wie die Einfamilien-Reihenhäuser in der Johann-Sebastian-Bach-Straße (Foto aus den 1960er-Jahren).
Für die Durchsetzung der ideologischen Utopien musste die Landschaft der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen eingedampft, konzentriert und damit effektiver gestaltet werden. Nach nationalsozialistischer Überzeugung sollten die neuen Wohnungsbauunternehmen „unter straffer zentraler Leitung und Überwachung stehen“, die Mehrheit dieser Kapitalgesellschaften „in öffentlicher Hand“ sein oder besser noch: „die Führung in die Hand der Partei gelegt werden“.16 So lautete die Anweisung des Verbandes Württembergischer Wohnungsunternehmen in einem Schreiben vom 10. Januar 1941 an den Landrat in Tuttlingen. Demnach war in jedem Landkreis nur noch maximal ein Unternehmen für diese Aufgabe vorgesehen. Für Tuttlingen sah die nationalsozialistische Führung daher eine lokale Überbesetzung an Wohnungsbaugesellschaften. Auch wenn beide vorhandenen gemeinnützigen Unternehmen intakt und teilweise mitten in der Realisierung von Projekten waren, liefen Bürgermeister Haugs Versuche, sie zu erhalten, ins Leere. Tuttlingen musste sich von einem seiner Unternehmen trennen.
Sehnsuchtsort Zuhause. Kapitel 2
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Die Gründung der Tuttlinger Wohnbau Relativ schnell stellte sich heraus, dass eine Fusion der beiden bestehenden Unternehmen nicht möglich war und schon „rein formal gewisse Schwierigkeiten“ bereitete.17 Im Gemeinderat kam daher die Diskussion auf, ein völlig anderes Modell anzustreben. Anstatt sich mit einer verzwickten Verschmelzung der bestehenden Unternehmen abzumühen, planten die Stadt und Vertreter der Industrie eine komplett neue gemeinnützige Gesellschaft mit eigenem Stammkapital und verbesserter innerer Struktur zu gründen. Der Siedlungsverein und die Siedlungskolonie sollten sich beide auflösen, ihre Bestände und Projekte jedoch in der neuen Tuttlinger Wohnbau GmbH aufgehen. Sie wäre damit die Nachfolgerin der beiden bisherigen Gesellschaften und – wie von der Reichsleitung gefordert – einziges gemeinnütziges Wohnbauunternehmen in Tuttlingen. Am 3. November 1941 traten die Ratsherren zusammen und gründeten die Tuttlinger Wohnbau GmbH, „um nach Beendigung des Krieges recht bald mit dem Bau neuer Wohnungen beginnen zu können“, wie Bürgermeister Max Haug verkündete.18 21 ortsansässige Firmen sowie die Stadt beteiligten sich am 300.000 Reichsmark starken Stammkapital. Keine unübliche Höhe für Unternehmen, die zu diesem Zeitpunkt gegründet wurden. Die Stadt war mit über 50 Prozent der größte Anteilseigner, was sich bis heute nicht geändert hat. Das Besondere war jedoch, dass sie nahezu ihren gesamten Anteil als ein großes Grundstück im Wert von 133.500 Reichsmark einbrachte. Damit stand gleich zu Beginn in der Messkircher Straße ein umfangreicher Bauplatz zur Verfügung, was sich später noch als wahre Starthilfe erweisen sollte.
Auszug aus dem Zeitungsartikel zur Gründung der Tuttlinger Wohnbau GmbH im Gränzboten, 5.11.1941.
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3. März 1942:
3. November 1941:
Anerkennung als gemeinnütziges Wohnungsunternehmen
Gründung der Tuttlinger Wohnbau GmbH
10. Februar 1942:
Eintrag ins Handelsregister
Am 3. November 1941 traten die Ratsherren zusammen und gründeten die Tuttlinger Wohnbau GmbH, "um nach Beendigung des Krieges recht bald mit dem Bau neuer Wohnungen beginnen zu können", wie Bürgermeister Max Haug verkündete.
Als zweitgrößte Anteilseigner hielten die Unternehmen Rieker, die Aktiengesellschaft für Feinmechanik und die Chironwerke jeweils 30.000 Reichsmark. Ihre umfangreiche Beteiligung lässt sich in erster Linie auf ihren ständigen Bedarf an Werkswohnungen zurückführen.
Die Wohnbau war von Anfang an eine gemeinnützige Gesellschaft. Im Vergleich zu Unternehmen aus der freien Wirtschaft strebte sie keine Gewinnmaximierung an. Sie verpflichtete sich vielmehr dazu, Wohnraum für breite Schichten und speziell für sozial benachteiligte Menschen zu schaffen und bot deshalb Wohnraum zu kostendeckenden Mieten an. Als Gegenleistung für diese soziale Verhaltensweise gewährte der Staat steuerliche Vergünstigungen. So befreite er die Tuttlinger Wohnbau wie alle anderen gemeinnützigen Wohnungsunternehmen von der Körperschaft-, der Vermögen- und der Gewerbesteuer. Als das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz 1990 aufgehoben wurde, hatte das weitreichende Folgen. Die Auswirkungen auf die Wohnbau werden in Kapitel 4 dieses Buches noch eingehender beleuchtet.
Gründervater Max Haug war von 1938 bis 1945 Bürgermeister von Tuttlingen.
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Sehnsuchtsort Zuhause. Kapitel 2
Bedeutende Projekte der Tuttlinger Wohnbau: 1940er- und 1950er-Jahre Das Zuhause der ersten Stunde: Die Wohnbau baute hauptsächlich für Heimatvertriebene und Aussiedler “So viel und so schnell wie möglich.“ Klare Anweisung für die Wohnungsbauunternehmen der ersten Stunde. Das bedeutete auch Druck, der sich besonders bei gemeinnützigen Unternehmen aufbaute. Auf ihnen ruhten die Hoffnungen und niemand anderes wurde stärker vom Staat gefördert. Gleichzeitig standen Unternehmen wie die Tuttlinger Wohnbau an vorderster Front. Sie blickten den verzweifelten Menschen, deren Namen die langen Wartelisten füllten, in die Augen.
Zuhause sollte mehr sein, als nur ein Dach über dem Kopf. Unweigerlich drängt sich daher die Frage auf, ob dieser immense Druck die Qualität der Bauvorhaben senken würde. Die Antwort: Ja, es wurde schnell gebaut und ja, oft wurden dabei optische und städtebauliche Mängel in Kauf genommen. Anders in Tuttlingen: Die Bauleiter schufen nicht einfach nur Bauten. Sie schufen ein Zuhause, ein Daheim, in dem sich Menschen wohlfühlen sollten – dessen waren sie sich stets bewusst. Natürlich fielen die Wohnungen der ersten Bauphase kleiner, einfacher und weniger komfortabel aus. Es musste schließlich Masse geschaffen werden. Geschäftsführer Gerhard Jüngel (1955-1968) hielt aber noch 1966 zu den nach dem Krieg neu geschaffenen Wohnräumen fest, dass sie „in ihrem Wohnwert aber zweifellos auch den heutigen Anforderungen genügend“ seien.19 Ein tiefes Bewusstsein für die soziale Verantwortung spielte in der Unternehmensphilosophie der Tuttlinger Wohnbau von Beginn an eine große Rolle. Zuhause sollte mehr sein, als nur ein Dach über dem Kopf. Die ersten Projekte des Unternehmens bestanden nahezu ausschließlich aus Mietwohnungen. Nur der massenhafte Bau von sozial geförderten Wohnungen konnte dem damaligen Bedarf gerecht werden. Der Startschuss für einen regelrechten Bauboom fiel mit der Währungsreform am 18. Juni 1948. Etwas mehr als zwei Reichsmark wurden zu einer Deutschen Mark. Die neue Währung brachte das Vertrauen ins Geld zurück und beendete den Schwarzmarkt. Überdies spülte ein amerikanisches Kredit- und Förderpaket – besser bekannt als Marshallplan – dringend benötigtes Kapital ins Land, das investiert werden konnte. Völlig lahm gelegte Rohstoffwege und die Bauwirtschaft kamen so wieder in Gang. Dazu kam eine ausgeprägte staatliche Förderung. Die erste Regierung der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer verkündete ein ambitioniertes Ziel: zwei Millionen Wohnungen in sechs Jahren. Dafür verabschiedete sie 1950 das erste Wohnungsbaugesetz.20 Die
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Regierung verpflichtete den Bund, die Länder und die Kommunen, den sozialen Wohnungsbau beispielsweise mit der Vergabe von unverzinslichen Krediten zu unterstützen. Gemeinnützige Unternehmen wie die Tuttlinger Wohnbau stellten mit diesem Geld einen Großteil ihrer Finanzierung sicher. Im Gegenzug mussten sie die Sozialwohnungen zu einem festgelegten Richtpreis anbieten. Die Miethöhe für eine neue Sozialwohnung der Wohnbau im Jahr 1952 lag bei einer Mark pro Quadratmeter.
Verwaltungseinheit 1 (VE 1) Die allerersten Wohnungen, die die Wohnbau fertigstellte, liegen an der Kreuz-, Olga-, Ringstraße und am Biesendorfer Weg (damals noch Querstraße). 55 Wohneinheiten boten Platz für Werksarbeiter der Chironwerke. Das Areal heißt bis heute Chironsiedlung und trägt den Titel VE 1. Übrigens: Begonnen hatte das Bauvorhaben noch die Siedlungskolonie Tuttlingen, eine der Vorgängerinnen der Tuttlinger Wohnbau. Nach deren Auflösung standen noch einige Putz- und Restarbeiten aus. Es sind daher die ersten und einzigen Bauten, die die Wohnbau noch vor der Währungsreform fertigstellen konnte.
Währungsreform, Marshallplan, das neue Wohnungsbaugesetz plus die Tatsache, dass die Stadt Tuttlingen ihren Stammkapitalanteil an der Wohnbau in Form eines großen zusammenhängenden Grundstücks im Brunnental einbrachte, ermöglichte dem Unternehmen einen wahren Blitzstart: Ende 1950 waren dort bereits 120 Wohnungen bezugsfertig. Als das Projekt abgeschlossen war, befanden sich auf dem Gelände sogar 270 Wohnungen. Die gut zehn Mitarbeiter wickelten in der ersten Hälfte der 1950erJahre ein gewaltiges Arbeitspensum ab. Mit ihrem großen Engagement stellten sie fast jedes Jahr 100 Mietwohnungen fertig. Stellenweise betrug das Arbeitsprogramm – also die in einem Jahr betreuten Bauprojekte – sogar über 200 Wohneinheiten. Die ersten Bewohner
Blitzstart im Brunnental: Bereits Ende der 1950er-Jahre konnte die Tuttlinger Wohnbau 120 Mietwohnungen als neues Zuhause anbieten. Heutige Adresse: Meßkircher Straße.
Als gemeinnütziges Unternehmen der Stadt war die Tuttlinger Wohnbau der Hauptträger des sozialen Wohnungsbaus. Per Definition sind Sozialwohnungen bis heute für Menschen bestimmt, die auf dem gewöhnlichen Wohnungsmarkt keine Wohnung bekommen oder bezahlen können. In Tuttlingen war die Wohnungsnot durch die Flüchtlinge aber so groß, dass bis Ende der 1950er-Jahre und darüber hinaus nahezu ausschließlich Heimatvertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten die sozialen Mietwohnungen belegten.
Sehnsuchtsort Zuhause. Kapitel 2
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Interview Nebenerwerbssiedlungen: Ein besonderes Modell zur Ansiedlung von Flüchtlingen Mitte der 1960er-Jahre entstand ein außergewöhnliches Projekt der Tuttlinger Wohnbau. Von 1963 bis 1969 schuf das gemeinnützige Unternehmen in einem seiner größten Siedlungsprojekte die Stadtteile Wolfsbühl und Ettlensegart am südlichsten Zipfel Tuttlingens. Dort entstanden 300 sogenannte Nebenerwerbssiedlungen – die letzte große Antwort auf die Flüchtlingsströme. Selbst 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das Thema noch nicht an Brisanz und Bedeutung verloren. Das Besondere an den Nebenerwerbssiedlungen lag, wie der Name schon sagt, am Nebenerwerb. Die Bebauung sah neben dem Wohnhaus noch einen großen Garten mit landwirtschaftlicher Nutzfläche vor. Dieses Modell war für Heimatvertriebene als Ausgleich gedacht, weil diese nach dem Krieg ihren Hof und ihre Felder in den ehemaligen deutschen Ostgebieten verloren hatten. Die Siedler konnten so in ihrer neuen Heimat wieder eigene Hühner, Ziegen und Hasen züchten oder Gemüsebeete bepflanzen.
Aus der Vogelperspektive: Siedlungsprojekt Wolfsbühl / Ettlensegart.
Die Bauten waren als Doppelhäuser angelegt und alle nach demselben Muster gefertigt, um Zeit und Planung zu sparen. Bewerber für die Häuser gab es viele. Zwei der Bewohner sind der heute 94-jährige Alfred Gehrau und der 86-jährige Gerhard Schimschal. Vor über 50 Jahren – im September 1964 – waren sie in das Doppelhaus „Im Wolfsbühl“ eingezogen. Die beiden Nachbarn und langjährigen Freunde eint eine anstrengende Flucht aus den ehemaligen Ostgebieten, bei der sie ihre Heimat verloren. Sie siedelten mehrere Male um, bevor sie in Tuttlingen schließlich ein neues Zuhause fanden.
Baugesuch der Tuttlinger Wohnbau für 22 Doppel-Wohnhäuser mit Kleintierställen.
Schon beim Betreten von Alfred Gehraus Wohnung fallen die Blümchentapete und die Stilmöbel aus massivem Holz auf. In einer Ecke im Wohnzimmer steht der Kachelofen. Ein großer Teil des geräumigen Zimmers nimmt eine klassische Polstermöbelgarnitur ein. Ein bisschen soll der Stil einstiger Zeit bewusst bewahrt bleiben. Auf dem Wohnzimmertisch liegt der Gränzbote und gleich daneben die Preußische Allgemeine Zeitung – augenscheinlich der einzige Hinweis, der noch auf die Herkunft von Alfred Gehrau schließen lässt.
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Von 1963 bis 1969 schuf das gemeinnützige Unternehmen in einem seiner größten Siedlungsprojekte die Stadtteile Wolfsbühl und Ettlensegart am südlichsten Zipfel Tuttlingens.
Alfred Gehrau: Man versuchte auszuweichen. Wenn ich damals mit meiner Freundin und späteren Frau etwas vorhatte, sind wir in den Park abgehauen. In der kleinen Wohnung waren ja unsere Eltern.
Ihre Familien hatten beide all ihren Besitz verloren. Nach mehreren Umsiedlungen sind Sie in Tuttlingen gelandet. Wie waren die ersten Jahre für Sie? Was bedeutete Zuhause für Sie, welchen Wert hatte es?
Alfred Gehrau: Ich habe bei der Stadt gearbeitet und nicht viel verdient, vielleicht 700 Mark im Monat. Ein Freund riet mir aber, bau doch in Tuttlingen und wende dich mal an die Wohnbau. Du arbeitest doch bei der Stadt. Ich ging dann zu einer Interessentenversammlung in der Gaststätte Sommerau. Dort informierte ich mich über die Nebenerwerbssiedlungen, die im Wolfsbühl entstehen sollten. Das Problem war aber das Geld. Wir hatten ja nichts. Ein Viertel mussten wir als Anzahlung aufbringen. Ich kratzte dafür alles zusammen, was ich auftreiben konnte. Ich pumpte meinen Vater und sogar meinen Schwiegervater an. Irgendwie hat es dann geklappt. Ich wurde angenommen und konnte bauen.
Alfred Gehrau: Es war eng. Meine Schwester, meine Eltern und ich wohnten in einer kleinen 2-Zimmer-Wohnung. Ich kann mich noch erinnern, wie bitterkalt die Winter waren. Das Dach war nicht isoliert. Im Schlafzimmer meiner Eltern konnten wir die blanken Dachwangen sehen. Gerhard Schimschal: Du warst froh, wenn du überhaupt etwas zu essen gehabt hast und Arbeit – das war das Wichtigste. Ich kann mich erinnern, dass wir uns Tag und Nacht abgeschuftet haben. Die paar freien Stunden am Wochenende waren wir dann oft so platt, dass wir nur noch schlafen konnten. Wenn die ganze Familie so dicht gedrängt wohnt, führt das doch sicher zu Reibereien? Gab es Rückzugsmöglichkeiten oder so etwas wie Privatsphäre?
Wie kamen Sie schließlich zur Wohnbau und wie gelang es Ihnen, einen Platz in der Nebenerwerbssiedlung im Wolfsbühl zu ergattern?
Gerhard Schimschal: Als Heizöllieferant kam ich durch die ganze Stadt. Daher kannte ich den Architekten Depke, der die Häuser plante, sehr gut. Er hat mich ermutigt, der Wohnbau doch einmal eine Bewerbung zu schicken. Auch ich hatte das Glück, genommen zu werden. Das Geld war bei mir natürlich auch knapp. Für die Anzahlung nutzte ich einen Bausparvertrag und alles, was ich irgendwie zusammenbekam.
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Nachdem Sie viel mitgemacht und durchgestanden haben, wie war es da, als Sie Ihr eigenes Haus bauen konnten? Was bedeutete es für Sie, ein Eigenheim zu besitzen? Gerhard Schimschal: Es war mein Lebensziel, eine Familie zu gründen und ein Haus zu bauen. Ich dachte immer: Man muss ja irgendwie wieder zu etwas kommen. Als ich nach dem Krieg acht Jahre bei einem Landwirt gearbeitet hatte und gerade so genug zum essen hatte, war das die absolute Perspektivlosigkeit. Ich schuftete hart und nachdem ich bei der Firma Irion einen Job gefunden hatte, ging es für mich wieder bergauf. Ein eigenes Haus zu bauen, und das auch noch mit Nebenerwerb, war das Größte für mich. Alfred Gehrau: Wir hatten endlich wieder etwas Eigenes. Vorher hatten wir das ja schon. Aber nachdem wir alles verloren hatten, wieder etwas zu besitzen – das war ein tolles Gefühl. Das hätten wir privat und ohne die Wohnbau nicht geschafft. Wir empfinden dafür tiefe Dankbarkeit. Was bedeutete für Sie beide speziell das Thema Nebenerwerb? Alfred Gehrau: Also zunächst einmal muss man sagen, es war Pflicht, Tiere zu halten und einen solchen Nebenerwerb zu führen, sonst hätten wir gar keinen Platz in der Siedlung bekommen. Für uns war das aber eine neue Möglichkeit und ein Ausgleich. Meine Familie hatte alles verloren, was sie in Ostpreußen besaß. Ich kann mich noch gut an unseren Hof und unsere Tiere erinnern. Es ist gut, dass es Nebenerwerbssiedlungen für solche
Leute gab, die ihre Landwirtschaft in ihrer alten Heimat nach dem Krieg aufgeben mussten. Gerhard Schimschal: Das sehe ich genauso. Wenn du auf einem Hof aufgewachsen bist, dann liegt dir das praktisch im Blut. Du kannst gar nicht anders. Für uns ist der landwirtschaftliche Nebenerwerb wirklich wichtig. Alfred Gehrau: Wir waren stolz darauf, Eigenversorger zu sein. Das Gemüse im Garten, die Kartoffeln, die Hühner, die Hasen, fast alles haben wir selbst gezüchtet. Gerhard Schimschal: Heute können wir sagen, das Schaffen hat uns jung gehalten. Ich habe noch heute 15 Hühner, um die ich mich jeden Tag kümmere. Hätte der Fuchs mir letztes Jahr nicht zehn genommen, wären es sogar noch mehr! (lacht) Den ganzen Haushalt mache ich allein; nur zum Essen gehe ich zu meiner Lebensgefährtin. Alfred Gehrau: Ich lebe auch allein. Ich habe zwar seit einer Weile keine Tiere mehr, aber ich bin auch schon etwas älter als Du. (lacht ebenfalls)
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Alfred Gehrau (l.) und Gerhard Schimschal sind seit über 50 Jahren Nachbarn. 1964 zogen sie in das Doppelhaus „Im Wolfsbühl“. Im großen Garten betrieben sie einen landwirtschaftlichen Nebenerwerb mit Kaninchen- und Hühnerzucht sowie Gemüsebeeten.