Estland - Landpartie im Baltikum

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REPORTAGE

Bild Mitte: Deisi Juns möchte gerne, dass ihr Weg sie nicht von Saaremaa weg führt. Sie liebt die Insel und ist als eine der wenigen ihrer Jahrgangsgenossen da geblieben

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er kleinste und am dünnsten besiedelte der drei baltischen Staaten hat seit seiner Unabhängigkeitserklärung von der Sowjetunion im Jahr 1991 einen rapiden Wandel erlebt. Seit zehn Jahren ist Estland Teil der EU und der NATO, vor vier Jahren wurde das Land Mitglied der OECD, seit drei Jahren heißt die Landeswährung Euro. Zwar wächst die Wirtschaft, und das Pro-Kopf-Einkommen steigt, allerdings fast nur in den Städten. Tallinn, Tarnu, Pärnu und die anderen Ballungsräume wirken wie Magneten: Hier gibt es Ausbildungsstellen, Arbeitsplätze und Unterhaltungsangebote. Draußen, auf dem Land, dagegen sind die sicheren Arbeitsplätze in den Kolchosen und sowjetischen Militärstützpunkten Vergangenheit. Wie überall in Europa muss man auch im ländlichen Estland mit Abwanderung, Überalterung und Schulschließungen zurechtkommen. Wir sind durch die estnische Provinz gereist und haben dort Menschen getroffen, die ein Leben auf dem Land als Chance begreifen und sich ganz bewusst dafür entschieden haben.

Vilsandi – Saaremaa Über 1.500 Inseln liegen vor der Küste Estlands, die größte ist Saaremaa. Nach 30 Minuten Fährüberfahrt und einer Stunde Fahrt durch den dichten Wald, hinter dem man die Dörfer höchstens vermuten kann, kommt mein Bus in Kuressaare an. Am Busbahnhof empfängt mich Deisi Juns. Sie ist auf der Insel geboren, aufgewachsen und geblieben. Stolz zeigt sie mir den Ort, in dem sie fast ihr ganzes noch junges Leben verbracht hat. »Ich mag es hier«, erzählt sie, »es ist nicht so vollgestopft und hektisch. In Tallinn würde ich eine Stunde brauchen zur Arbeit am anderen Ende der Stadt. Auf Saaremaa bin ich in einer Stunde am anderen Ende der Insel.« Sie lacht. »Und dann die Natur, es ist angenehm still hier.« Etwas lebhafter gehe es zu, wenn im Sommer die Touristen kommen und auch für sie die Saison beginnt. Dann arbeitet die 22jährige auf einem ehemaligen Gutshof, der heute ein kleines Hotel und auch das Informationszentrum des Nationalparks Vilsandi beherbergt. Dort ist sie Mädchen für alles: Rezeptionistin, Kellnerin, Gästebetreuerin und auch schon mal Assistenz der Geschäftsleitung. In dem Familienbetrieb sind die Hierarchien flach. Am nächsten Morgen erkunden wir im alten Saab der Chefin die Küste. Deisis Aufgaben heute: Chauffeurin, Ornitholo-

Bild links: Krista Kallavus hat in der Bucht von Matsalu eine neue Heimat gefunden – und kümmert sich nun als Expertin für das kulturelle Erbe darum, dass die Region lebendig bleibt Bild Mitte: Der verlassene Leuchtturm schaut noch immer etwas schief auf die Küste von Saaremaa, Estlands größter Insel. 2006 war er wieder aufgerichtet worden, nachdem er auf instabilem Fundament zu kippen drohte

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gin und Wanderführerin. Als wir nach einer Stunde Spaziergang durch die Dünen am alten Leuchtturm sitzen, schaut sie auf die Bucht mit den kleinen Inseln und sagt: »Warum sollte ich weg hier. Es ist doch schön, wenn ich Menschen aus der ganzen Welt so etwas zeigen kann.«

Matsalu »Die Landschaft hier in Matsalu ist, wenn man so will, eintönig. Es gibt keine Berge, dafür viele offene Flächen. Die Vögel, die hier nisten, lieben das. Weil sie schnell bemerken, wenn sich Feinde wie Wölfe oder Luchse anschleichen.« Wenn man Krista Kallavus trifft, muss man kein ausgezeichneter Menschenkenner sein, um ihre Naturverbundenheit zu erkennen. Dabei hat die Natur nur indirekt mit ihrem Beruf zu tun. Krista ist als Spezialistin für Kulturerbe im Nationalpark beschäftigt. Wir stehen auf einem Aussichtsturm im Nationalpark, vor uns Grasland bis zum Horizont, links die Bucht, zu unseren Füßen ein kleiner Hain. »Der gehört einer Privatperson, die meint, im Nationalpark müsse alles Natur sein und deshalb ist alles verwachsen«, erklärt Krista. »Aber wir brauchen hier die Menschen.« Es sei ein Irrglaube, dass es am besten ist, der Natur ihren Lauf zu lassen. »Die offenen Flächen, die für uns vielleicht wie Kahlschlag aussehen, sind für viele Vögel ein paradiesisches Umfeld – und überlebenswichtig.« Die Flussauen in der Bucht von Matsalu sind einer der wichtigsten Rastplätze in Europa für Feuchtgebietsvögel. Bis zu zwei Millionen Tiere machen hier jedes Jahr Station. »Matsalu ist eine Kulturlandschaft«, erklärt die Mittfünfzigerin mit der knallroten Brille. »Während der Sowjetzeit wurde die kleinteilige Landwirtschaft aufgelöst, und die meisten Menschen sind in Wohnblocks gezogen. Die Höfe wurden zu Wochenendgrundstücken.« Nach der Unabhängigkeit seien die Leute wieder zurückgekehrt, ermutigt durch Naturschutz- und Landwirtschaftsfonds. »Die Menschen sind wichtig«, sagt Krista. »Ohne Menschen keine Schulen, Ärzte und Geschäfte. Die Landwirtschaft in Matsalu ist sehr arbeitsintensiv. Wenn es aber keine Infrastruktur gibt, gehen auch die Menschen weg. Das kann gerade hier in dieser Landschaft ein Teufelskreis werden: Keine Landarbeiter, keine Weidetiere, die Landschaft verbuscht, die Vögel können nicht mehr nisten und dann verlieren wir hier auch langsam unser natürliches Kapital.« Obwohl im globalen Preiskampf nur wenige als Bauern ihren Lebensunterhalt bestreiten können, so spüre man doch eine lokale Verantwortung für

Landpartie im Balt

Außerhalb der Städte kämpft Estland mit Abwa Erschließung des Landes wird dem entgegenge

den Schutz dieser besonderen Landschaft. »Wir konnten hier die einzigartige lokale Lebensweise erhalten«, freut sich Krista. »Und das ist schon ein schöner Erfolg.«

Lahemaa Talvi Luther begrüßt mich in PalmseManor, dem ehemaligen Herrenhaus der deutsch-baltischen Familie von der Pahlen. Vier Zeitstränge laufen hier ineinander: die erdgeschichtlichen Besonderheiten der baltischen Küste, die Siedlungsgeschichte der Deutsch-Balten, die

Sowjetzeit und das Wiedererstrahlen des Herrensitzes als einer Hauptanlaufstelle der Besucher des Nationalparks Lahemaa. Einen besseren Guide als Talvi hätte ich mir kaum vorstellen können. Sie hat ein Studium der Osteuropa-Wissenschaften in Hamburg absolviert, im Nebenfach Germanistik belegt und danach dort für einige Jahre unter anderem als Dolmetscherin gearbeitet. Seit 2003 ist sie wieder in Estland, auf dem Land, daheim, in ihrem Geburtsort. Für eine Frau mit ihrer Ausbildung ist der Tourismus ein Segen, deutschsprachige Fremdenfüh-


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tikum

anderung und Überalterung. Mit touristischer esteuert. Text und Fotos von Marcus Bauer

befand sich ein sowjetischer U-Boot-Hafen. Es ist der Teil des Nationalparks, der nicht auf der Standardroute der Touristen liegt. In den verlassenen Kasernengebäuden liegt allerhand Schrott, der gigantische Betonkai, der in die Bucht ragt, ist mit Graffiti bemalt. »Sei bitte vorsichtig«, mahnt mich Talvi, als ich aus dem Auto aussteige. »Das ist ein komischer Ort, keiner weiß so genau, was hier im Boden und in der Bucht so alles rumliegt.« Nach wenigen Schritten kehre ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch um. Eine verlassene Militärbasis ist kein einladender Fleck Welt, da muss ich Talvi recht geben. Der morbide Charme der Anlage bleibt wohl noch erhalten, bis sich mutige Investoren oder eifrige Umweltschützer des Geländes annehmen. Angesichts der Dimensionen eines solchen Projektes ist Warten keine schlechte Strategie – die Natur wird sich das Areal schon irgendwann zurückerobern. Talvi beschäftigt sich derweil lieber mit kleineren Projekten. »Wenn man die traditionellen Holzhäuschen als Gästehäuser für Radfahrer, die auf dem Küstenradweg unterwegs sind, herrichten könnte, das wäre eine sinnvolle Kombination«, ist sie sich sicher. »Dann hätten wir Infrastruktur, Kulturpflege und Lokalkolorit auf einmal.« An Ideen mangelt es ihr nicht, nur manchmal fühlt sie sich gebremst durch die strikten Regularien im Nationalpark. Aber das gehört wohl dazu, wenn man in einem Naturschutzgebiet lebt und arbeitet.

Soomaa

rer sind gut nachgefragt. Talvis Führung durch das Anwesen zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie nichts schönredet. Dem feudalen Landleben, das sich an den prächtigen Einrichtungsgegenständen ablesen lässt, stellt sie immer auch die Perspektive der lokalen Landbevölkerung gegenüber. Leibeigenschaft, harte Fronarbeit und strenge Hierarchien stehen bei ihr in direktem Zusammenhang mit Bewirtschaftungsplänen und Landerschließung. Die Deutsch-Balten haben der Gegend ihren Stempel aufgedrückt und weite Teile des Landes urbar gemacht, nicht selten

zu Lasten ihrer Untertanen. Wie das Leben der einfachen Leute aussah, lässt sich im Fischerdorf Altja gut nachempfinden. Einige Häuser wurden auf Initiative der Nationalparkverwaltung originalgetreu restauriert, man versucht den Charakter eines typischen Küstendorfes zu bewahren. Dazu gehört offenbar auch der fensterlose Schankraum der Dorfschenke, die deftige Hausmannskost kredenzt. Nach 30minütiger Fahrt entlang der Küste steht ein ganz anderer Teil der Geschichte Lahemaas auf dem Programm. Die Bucht von Hara war lange Zeit militärisches Sperrgebiet, hier

Soomaa ist ein riesiges Moorgebiet, eine der letzten wirklich wilden Gegenden des Kontinents. Aivar Ruukel führt seit 20 Jahren Gruppen durch die Gegend, gestartet hat er ein Jahr, nachdem Soomaa zum Nationalpark erklärt wurde. Angefangen hat es mit Kanutouren, seit ein paar Jahren bietet er auch Sumpfschuh-Wanderungen an. »Als das mit den Schneeschuhen populär wurde, haben wir uns überlegt, dass man damit doch auch auf dem Moor laufen könnte.« Spezielle Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Mit knallroten Plastikgestellen bewehrt folge ich Aivar auf den wabbeligen Torf. Die Sonne brennt, und die Beine müssen Schwerarbeit leisten. Als wir nass geschwitzt an einem kleinen Moorsee ankommen, klingt das Angebot, ein Bad zu nehmen, zwar verlockend, zu mehr als einem Fußbad kann ich mich angesichts des stockdunklen Wassers dann aber doch nicht durchringen. Man kann leicht nachvollziehen, weshalb Gruselge-

schichten immer wieder im Moor ihren Lauf nehmen. Für Aivar hingegen hat die Gegend ihren ganz eigenen Reiz: Er lebt mit und von dieser Landschaft, so wie die Holzfäller, Torfstecher und Kleinbauern. Nur eben als Tourismusanbieter. 1996 hat er seinen ersten Einbaum gebaut. Vier Stämme fußen auf der Wurzel eines riesigen Baums, der kleinste hat einen Umfang von zwei Metern. »Mit einer Linde hab ich das noch nie versucht«, sagt Aivar. »Normalerweise benutzen wir Espen.« Sein Blick tastet sich an einem der Stämme nach oben. »Die ersten fünf Meter müssen astfrei und der Stamm kerzengerade sein, wie ein riesiger Bleistift.« Gezeigt hatte es ihm ein alter Mann. Viele gab es nicht mehr, die die alte Technik beherrschten, die Jahrhunderte lang, während der alljährlichen Überflutung, das Überleben der Bewohner von Soomaa gewährleistet hatte. Bis zu sechs Meter steigt der Wasserpegel im Frühjahr, wenn die Flüsse das Schmelzwasser nicht schnell genug aus der Gegend östlich der Hafenstadt Pärnu abtransportieren können. In Soomaa nennen sie es »die fünfte Jahreszeit«. Sie ist Bestandteil des Alltags, seit sich überhaupt Menschen in dieser unwirtlichen Gegend niedergelassen haben. »Man lebt mit dem Landunter, es ist so wie mit ungeliebten Verwandten, die sich einmal jährlich blicken lassen, ob man will oder nicht«, sagen die Alten. Es sind diese kleinen und großen Geschichten, mit denen Aivar Soomaa zu einem Erlebnisreiseziel erster Güte macht. Und das World Wide Web bietet die ideale Bühne für seinen Nationalpark. Bedenkt man die hohe Internetaffinität der Esten, wundert es denn auch kaum, dass Aivar gerade seine Doktorarbeit zu Social Media Marketing im Tourismus schreibt. Es gibt schließlich genug zu erleben, im Estland jenseits der Städte. Die beschriebenen Gebiete sind allesamt Teil des estnischen Netzwerks von EDEN. Das Akronym bezeichnet die »European Destinations of Excellence«, ein Projekt, das nachhaltige Tourismusmodelle innerhalb der Europäischen Union fördert. Im Rahmen eines nationalen Wettbewerbs, jeweils unter einem bestimmten Motto, küren die teilnehmenden Länder jährlich ein herausragendes Reiseziel. Die Herrenhäuser im Lahemaa Nationalpark erhielten 2011 die nationale Medaille für die »Wiederherstellung physischer Stätten«, der Soomaa Nationalpark wurde 2009 ausgezeichnet für die erfolgreiche Tourismusentwicklung in einem Naturschutzgebiet. Saaremaa und Matsalu erreichten die Finalrunde.

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Die offizielle Tourismuswebsite Estlands mit Informationen zu den genannten Gebieten ist erreichbar unter www. visitestonia.com/de. Weitere Informationen zu EDEN und den herausragenden europäischen Reisezielen bietet die Seite www.ec.europa. eu/enterprise/sectors/ tourism/eden. Die Reise wurde unterstützt durch die estnische Tourismusbehörde und die nationale EDENKoordinierungsstelle.

Bild rechts: Aivar Ruukel begleitet Gäste durch den Soomaa Nationalpark, der mit seinen großen Mooren eines der wichtigsten Naturschutzgebiete Europas ist. Gepaddelt wird meist mit Plastikkanus, die Herstellung eines Einbaums von Hand dauert für eine Massenproduktion schlicht zu lange


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