Zwischentöne 34

Nummer 34 August 2015

ZWISCHENTĂ–NE Das Generationen-Magazin

Hochschule Niederrhein University of Applied Sciences

Sozialwesen Faculty of Applied Social Sciences

FAUST

Hochschule Für Alte Und STudierende

Gasthörerprogramm Anmeldung: Wintersemester 2015/16 07.09. bis 25.09.2015 Nehmen Sie am regulären Studienbetrieb der Hochschule Niederrhein teil! Studieren Sie zusammen mit den „normalen“ Studenten! Wählen Sie aus einer Vielzahl von Lehrveranstaltungen in zehn Fachbereichen in Krefeld und Mönchengladbach!

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Mönchengladbach: mo, di, mi, 09.00 - 12.00 Uhr Fachbereich Sozialwesen Richard-Wagner-Str. 101, Raum R 109 Krefeld: do, fr, 09.00 - 12.00 Uhr Hochschule Niederrhein Reinarzstraße 49, Raum B 220 Telefon: 02161 / 1865661 u. 1865637

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Editorial

Wissenschaft & Forschung

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Öffentlichkeitsarbeit im Wandel der Zeit

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Projekt OnTOP – Das Mögliche möglich machen

denkanstöSSe

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Lieber Vincent

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Federlesen

Gedichte

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Wahrheit

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70 Jahre danach – Gedichte und Gedanken

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Kopfweiden an Niederrhein

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Windgeneigt

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Mückenmobile

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Standhaft

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Trost

Kultur : Bildung : Leben

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Frau Katja

Zeit

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Getrude L. Bell – Königin der Wüste

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Vor siebzig Jahren – Ende des Zweiten Weltkrieges

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Kohlenklau

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Der Laden

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Kriegskindheit im Erkelenzer Land

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Nicht das Metermaß

Raum

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Grönland – Segelexpedition nach Thule

Mundart

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Dä kleene clevere Koalemann

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Su’emmerr-Morejje

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Dä Tiet mot senn

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Kenger

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Impressum

Inhalt

Liebe Leserin, lieber Leser!

Es ist mal wieder soweit, ein weiteres Jubiläum steht an, diesmal für unser Generationenmagazin ZwischenTöne. Im Herbst dieses Jahres jährt sich die Gründung von ZwischenTöne zum 15. Mal. Das Magazin wurde im Wintersemester 2000/2001 ins Leben gerufen. Zur konstituierenden Redaktionssitzung am 24. Oktober 2000 trafen sich sechs GasthörerInnen des FAUST-Gasthörerprogramms sowie ein Dozent, eine Studierende und zwei MitarbeiterInnen des Fachbereichs Sozialwesen. Das Redaktionsteam wuchs in den folgenden Wochen auf insgesamt dreizehn Personen an, jetzt sind es immerhin noch neun aktive Redakteurinnen und Redakteure. Die erste Ausgabe erschien dann am 29. Januar 2001.

Für alle stand fest, ZwischenTöne sollte ein Sprachrohr für alle Angehörigen der Hochschule sein, für Studierende, DozentInnen, MitarbeiterInnen, insbesondere aber für die GasthörerInnen des FAUST-Gasthörerprogramms, deren Interessen und Bedürfnisse thematisiert werden sollten. Als Ziel wurde sich gesetzt, den Austausch von Gedanken, Ideen, Sichtweisen, Kompetenzen und Erfahrungen zwischen den verschiedenen Generationen unserer Gesellschaft zu fördern. Dabei sollte unter den Überschriften „Kultur“, „Bildung“ und „Leben“ eine Verbindung zwischen wissenschaftlicher Theorie, erlebter und angewandter Praxis und eigener Lebenserfahrung geschaffen werden. So steht es heute noch in den Leit­ linien des Magazins ZwischenTöne.

Nach 15 Jahren erhalten wir immer noch sehr viel positive Resonanz aus der Leserschaft, kritische Töne gibt es selbstverständlich auch. Daraus lernen wir – aus den positiven und kritischen Rückmeldungen.

Zwischentöne

Das Generationen-Magazin Fachbereich Sozialwesen, Kompetenzzentrum „Ressourcenorientierte Alter(n)sforschung (REAL)“ Hochschule Niederrhein

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Editorial

Auf der nächsten Semestereröffnung zum FAUST-Gasthörerprogramm am 30.09.2015 werden wir mit einer kleinen Lesung an unser Jubiläum erinnern. Vielleicht haben Sie ja Zeit dabei zu sein. Nähere Informationen finden Sie im FAUST-Programmheft.

In den Anfängen hat uns seinerzeit der Pressereferent der Hochschule Niederrhein Rudolf Haupt sowie die Studentin Regina Maronn-Messu unterstützt, schließlich war das Zeitungmachen Neuland für uns. Dafür sind wir heute noch dankbar. In Erinnerung daran haben wir unseren heutigen Pressereferenten Dr. Christian Sonntag gebeten, das Thema Öffentlichkeitsarbeit im Wandel der Zeit vorzustellen. Von damals bis heute hat sich doch einiges verändert – seien Sie gespannt!

Jetzt bleibt uns noch, Ihnen viel Freude bei der Lektüre zu wünschen, wie immer erwartet Sie eine Vielfalt von Themenstellungen, die sich mit unserer Vergangenheit, mit unserer Gegenwart und unserer Zukunft auseinandersetzen.

Herzlichst Sigrid Verleysdonk-Simons und das Redaktionsteam ZwischenTöne

P.S. Zur Erinnerung hier noch einmal die Namen der Redakteure der ersten Stunde: Chefredakteur: Prof. Dr. Engelbert Kerkhoff Redakteurinnen und Redakteure: Gabriele Banerjee, Christel Gerlings, Dr. Walter Hendrix, Hans-Jürgen Herzog, Charlotte Karsch, Regina Maronn-Messu, Birgit Palm, Franz-Josef Schmitz, Friedhelm Schmitz, Dr. Werner Schneider, Rudolf Schreur, Alexandra Seidel, Albert Verleysdonk, Sigrid Verleysdonk-Simons.

Wahrheit von Albert Verleysdonk Ein Blatt Ein Ahornblatt Erst ist es grün Hat seinen festen Platz Gewiss am Baum Dann wird es Herbst Dann wird es gelb Mal rot mal braun Wie‘s ihm gefällt Fällt ab vom ersten Herbststurm Losgelöst von allen Fesseln Weht hierhin, dorthin Hin und her im freien Flug Flugs denkt es Oh wie schön ist diese Welt Doch schon am anderen Regnerischen Morgen Liegt es verklebt Auf nassem schmutzigem Asphalt Wird fortgespült War kurz ein Traum War und vorbei

foto // sharon ang // pixabay.com // CC0

Gedichte

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Öffentlichkeitsarbeit im Wandel der Zeit

Die Medienlandschaft ist im Umbruch.

Damit ändert sich auch die Rolle der Presse­­ sprecher und Kommunikations­verantwortlichen.

Früher haben sie die Presse mit Infos versorgt – heute wenden sie sich über die neuen Medien direkt an die Öffentlichkeit.

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wissenschaft & Forschung

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von Christian Sonntag Pressereferent der Hochschule Niederrhein

Vor wenigen Wochen kam es in der Diskussionsliste der Hochschul­ pressesprecher in Deutschland zu einem interessanten Streitgespräch: Die Altvorderen, die in den 80er Jahren die Strukturen für eine professionelle Pressearbeit in den Hochschulen und Universitäten aufgebaut hatten, beklagten fehlendes Arbeitsethos, mangelnden Mut und eine „Was bringt mir das“-Haltung bei den Pressesprechern der jetzigen Generation. Diese seien an­gepasst, weichgespült, Konflikten mit ihrer Hochschulleitung gingen sie lieber aus dem Weg. den Newsletter für die Mitarbeiter und Zwischen den Zeilen stand freilich noch laden auch noch zu Pressekonferenzen eine weitere Botschaft: Während Ihr im ein. Wobei sie letzteres immer seltener gemachten Nest sitzt, haben wir damals tun – denn es kommt kaum noch jemand. in mühevoller Arbeit die Strukturen erst Keine Frage: Der Veränderungsdruck aufgebaut, die Euch heute die Arbeit auf die Kommunikationsabteilungen erleichtern. wächst. Um beim Beispiel Hochschule Die Antwort eines Kommunikationszu bleiben: Dort sind Marketing, RepuVerantwortlichen einer großen Universität tationsmanagement und Social Mediafolgte prompt: Die Arbeit in den PresseKommunikation nur einige der neuen stellen sei vielschichtiger und komplexer Herausforderungen, denen sich die Presgeworden, die Zeiten hätten sich eben sesprecher stellen müssen. Die nächsten geändert. Im Übrigen müsse er sich für Diskussionsfelder sind längst eröffnet: seine kurze Antwort entschuldigen, er Hochschulen sollen sich jetzt auch auf habe keine Zeit, müsse jetzt noch schnell dem Feld der politischen Kommunikation einen Tweet absetzen. zunehmend professioneller bewegen.

Treffender als mit diesem Bild kann Oder: Brauchen Hochschulkommunikaman die sich verändernde Arbeit in toren künftig eigentlich noch Papier für Pressestellen von Hochschulen und Uniihre Arbeit, wenn eine der Kernzielgrupversitäten oder anderen öffentlichen Einpen, die Studierenden, Texte nur noch auf richtungen und Unternehmen nicht bedem Smartphone oder dem Tablet lesen? schreiben. Die Pressesprecher von heute sind wahre Cross-Media-Experten, sie Recherchieren, setzen auf Twitter Kurznachrichten mit einer maximalen Länge von 140 Schreiben, Reden Zeichen ab, sie posten Bilder und Trotz des Veränderungsdrucks bleibt eins Texte auf Facebook und diskutieren mit gleich: der Kern der Arbeit eines Presseihren Kunden, stellen Filme auf youtube sprechers. Es ist sinnvoll, in turbulenten – und ja, sie schreiben auch noch PresZeiten, in denen man permanent in Sorge semitteilungen, die sie an die regionale ist, den nächsten Trend nicht zu verpasPresse versenden, beantworten Joursen, dies noch einmal in Erinnerung zu nalistenanfragen, vermitteln Experten, rufen. Was ist eigentlich die wesentliche organisieren, schreiben und redigieren Aufgabe von Pressesprechern? Kurz das hauseigene Magazin, verfassen foto // ed gregory // stokpic.com

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gesagt: Interessante Vorkommnisse der jeweiligen Institution der Öffentlichkeit mitzuteilen. Tue Gutes und rede darüber, der alte Leitspruch von PR und Öffentlichkeitsarbeit hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Pressesprecher sind die ersten Journalisten vor Ort, sie recherchieren, sie fahnden nach Geschichten im Unternehmen, sie machen aus Ereignissen eine Nachricht, sie finden den Kern der Information, der die Journalisten elektrisiert und die Öffentlichkeit interessiert. Dann bereiten sie das Ganze auf, schreiben eine nach journalistischen Regeln verfasste Nachricht (Pressemitteilung) und verschicken diese an die Redaktionen.

Neben dieser aktiven Medienarbeit sind sie auch gefragt, wenn sich Journalisten für das Unternehmen interessieren: Sie sind zentrale Anlaufstelle für alle Journalisten, geben Auskünfte, vermitteln Experten aus dem eigenen Haus oder stellen sich selbst vor die Kamera und liefern den begehrten O-Ton, mit denen Radio- und Fernsehjournalisten ihre Geschichten anreichern. Wenn es zu krisenhaften Situationen kommt und es gerade wenig Gutes gibt, über das zu berichten wäre, sind sie erst recht gefragt. Dann kommt ein anderer alter PR-Leitspruch zum Tragen: nie alles zu sagen, was man weiß, aber stets gut zu wissen, was man sagt. Worte genau wägen, auch das ist seit jeher eine wichtige Aufgabe für Pressesprecher.

Vom Fax zu Facebook Und dennoch hat sich die Arbeit von Pressesprechern in den vergangenen 20 Jahren fundamental geändert. Beispiel Hochschulen: 1995 hatten diese in der Regel noch kein Corporate Design, kein einheitliches Erscheinungsbild. Per Fax schickten die Pressesprecher, die es damals an vielen Hochschulen und Universitäten erst seit wenigen Jahren überhaupt gab, Pressemitteilungen an die Redaktionen. Dort wurden sie von Schreibkräften aufgenommen und in die Redaktions­systeme eingestellt. Die Schreibkräfte gibt es nicht mehr, wie übrigens auch die Setzer, die nach der Vorgabe der Redakteure die Artikel und

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Fotos auf die Seiten setzten. Ende der 90er Jahre rüsteten die Zeitungsverlage ihre Redaktionssysteme um – seitdem layouten die Redakteure die Seiten am Bildschirm direkt selbst. Für die Pressestellen ist es seitdem einfacher, ihre Mitteilungen direkt an die Redakteure zu bringen. Eine Mail genügt und schon poppt die Meldung direkt auf dem Bildschirm des Redakteurs auf.

Der direkte Zugang zum Redakteur ist heute selbstverständlich. Aber er ist nichts im Vergleich zu den Möglichkeiten, die die neuen sozialen Medien bieten: den direkten Zugang zur Öffentlichkeit ohne Umweg über die Journalisten, die die Informationen erst filtern und dann nach ihren professionellen Kriterien aufbereiten und veröffentlichen. Die Journalisten verlieren dadurch ihre so wichtige „Gatekeeper“-Funktion – sie haben nicht mehr das Monopol der Meinungen. Am besten lässt sich das an der Kommentarfunktion ablesen, die nahezu unter allen von Journalisten veröffentlichten OnlineArtikeln zu finden ist. Dort kommentieren Leser ungefiltert die Berichte der Journalisten, können beleidigen oder abstruse Meinungen vortragen und stehen damit auf derselben Ebene wie der Journalist, der seinen nach professionellen Regeln geschriebenen Text an eben dieser Stelle veröffentlicht hat. Kein Wunder, dass die großen Zeitungen in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit immer irrelevanter werden. Sie graben sich ja selbst das Wasser ab, sorgen dafür, dass ein Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung auf der gleichen Ebene veröffentlicht wie der Leser XY oder sagen wir besser: wie ein x-beliebiger User.

Keine Angst vor Transparenz Die neue Gleichheit im Netz ist durch den Zuwachs der sozialen Netzwerke noch verstärkt worden. Hier twittern, posten und schreiben alle auf einer Ebene. Das haben natürlich auch die Pressestellen erkannt, die die neuen Medien exzessiv nutzen. Die tägliche Twitter-Nachricht gehört heute ebenso zum Berufsalltag des Pressesprechers wie das Posting auf

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Dr. Christian Sonntag ist seit 2010 Pressesprecher der Hochschule Niederrhein und leitet dort seit Ende 2014 das Referat Hochschulkommunikation.

Der 40-Jährige hat Geschichte, Journalistik und Politik studiert und über die Medienkarrieren Hamburger Nachkriegsjournalisten promoviert. Er volontierte bei der Rheinischen Post und war dort bis 2010 als Redakteur tätig.

Facebook. Zwischen Hochschulleitung und Öffentlichkeit steht heute nicht mehr in erster Linie die regionale Tageszeitung, das Lokalradio oder der TV-Sender. Die Sozialen Netzwerke haben sich massiv dazwischen gedrängt. Sie haben – zumindest was die Zielgruppe Studierende angeht – die herkömmlichen Massenmedien dabei sogar verdrängt.

Das bringt viele Vorteile mit sich: Die Hochschulen kommunizieren über Face­ book oder Twitter direkt mit ihren Studierenden. Und dies ist keine einseitige Kommunikation, die von oben nach unten verläuft, sondern ein Dialog auf Augenhöhe. Für die Präsidien und Rektorate war das anfangs neu und ungewohnt, und manche von ihnen betrachten den Umgang – auf Facebook sagt man Du – auch heute noch skeptisch. Hochschulen sind durch die Nutzung sozialer Medien transparenter geworden – ein Student, der sich öffentlich darüber beklagt, dass sein Seminar zu voll ist, bekommt direkt eine Antwort. Das Problem der Hochschule, nicht genügend Plätze für ein Seminar zur Verfügung gestellt zu haben, wird im Anschluss öffentlich diskutiert.

Hochschul- oder Geschäftsleitungen, die früher ihren Pressestellen im Falle einer krisenhaften Situation die Devise ausgegeben haben, bloß nichts den Journalisten zu erzählen, kann diese Entwicklung nicht gefallen. Es ist wie das Prinzip „Bild“, das Springer-Chef Mathias Döpfner im Jahr 2006 so beschrieben hat: „Wer mit ihr im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten.“ Auf die sozialen Medien übertragen bedeutet das: Wer sich in die neue Medienlandschaft begibt, muss akzeptieren, was damit einhergeht: Transparenz, Offenheit, Angreifbarkeit. Mit anderen Worten: Man muss auch mal bereit sein, sich selbst in Frage zu stellen. Für Chefs, ganz gleich ob wir jetzt von Hochschulen oder Unternehmen sprechen, kann dies einen Kulturschock bedeuten.

Wer sich darauf einlässt, kann viel gewinnen. Nämlich den direkten, unverfälschten Zugang zu seinen Studierenden, die ja einen nicht unwesentlichen Teil der Zielgruppe der Hochschulleitung ausmachen. Aber damit sind wir auch schon beim nächsten Thema – es gibt noch andere Zielgruppen, die eine gut aufgestellte Hochschulkommunikation bedienen muss. Da ist zum Beispiel die regionale Öffentlichkeit, die Unternehmer, Politiker, Entscheider, Lehrer und natürlich immer wieder: Eltern. Sie sind (noch) nicht auf Facebook, sie informieren sich (noch) in erster Linie über die klassischen Medien: Radio, Fernsehen, Zeitung. Und hier kommen denn auch die Journalisten ins Spiel, auf die wir als Pressesprecher immer noch angewiesen sind.

Pressekonferenzen ohne Presse Denn natürlich beantworten Pressesprecher noch immer in erster Linie Journalisten-Anfragen und vermitteln Kontakte zu Professoren, die gerne als Experten zu aktuellen Themen befragt werden. Aber sie sind dabei nicht mehr die Agierenden, sie reagieren oft nur. Wie die Journalisten übrigens auch, die keineswegs immer über intensive Recherche und lange Gespräche auf ein Thema stoßen, sondern

sich Modethemen anschließen. Nach dem Motto „Wir wollen die Geschichte jetzt noch mal ganz anders erzählen“ ähneln sich diese Anfragen dann sehr.

Der Sog der Modethemen ist so stark, dass ein bewährtes Hausmittel deutscher Pressesprecherrunden auch nicht mehr funktioniert: die Pressekonferenz oder das Pressegespräch.

Ihr Ziel ist klar: Unternehmen oder Institutionen möchten selbst die Agenda bestimmen, möchten den Journalisten die Themen vorgeben, über die sie berichten sollen. Es demonstriert Selbstbewusstsein und Bedeutung, wenn man die Journalisten zu sich ins Haus holt und ihnen dann die Welt erklärt. Das Problem ist nur: Immer öfter bleiben die Journalisten aus, die Sache mit der Relevanz kann zum Eigentor werden. Peinlich, peinlich, wenn gar kein Journalist mehr kommt und man so die eigene Bedeutungslosigkeit vor Augen geführt bekommt. Aber ist das wirklich so? Nicht selten erreichen die Pressesprecher kurz vor Beginn der Pressekonferenz immer noch ein paar Anrufe gestresster Redakteure: „Wir schaffen das nicht, jemanden vorbeizuschicken, aber lassen Sie uns ihren Pressetext anschließend zukommen!“ Der Bedeutungsverlust der klassischen Massenmedien macht sich hier ganz konkret bemerkbar: Lokale Zeitungen, Radio- und Fernsehsender sind gezwungen zu sparen, auf freie Mitarbeiter wird häufiger verzichtet, die Redakteure haben in der Regel keine Zeit für Außentermine. Die Presselandschaft am Niederrhein ist in den vergangenen fünf Jahren merklich geschrumpft. Die Westdeutsche Zeitung bezieht in Mönchengladbach ihre Inhalte komplett von der Rheinischen Post. Die lokalen Radiosender haben pro Tag nur noch einen Reporter, der sämtliche Termine abdecken muss. Die Anzeigenblätter haben wenig Platz für die oft komplexen Inhalte, die eine Hochschule vermittelt. Wer gute Pressemeldungen schreibt, spürt das als erstes: Warum sollten wir da hingehen, wenn wir kostenlos einen brauchbaren Text bekommen können?

Herausforderungen Die Medienlandschaft hat sich in den vergangenen 20 Jahren explosionsartig verändert, und es ist nicht davon auszugehen, dass das Tempo der Veränderung künftig langsamer wird. Schon wird darüber debattiert, dass die nachkommende Oberstufenschüler-Generation Facebook nicht mehr als ihr Hausmedium ansieht.

Youtube wird wichtiger, MessengerDienste wie WhatsApp drängen nach vorne. Darauf werden sich die Kommunikationsabteilungen einstellen müssen.

Gleichzeitig dürfen sie den Kern ihrer Arbeit nicht aus den Augen verlieren.

Es geht auch darum, komplexe Inhalte zu vermitteln. Facebook oder Twitter taugen dafür nur bedingt. Auf qualitativ gute Zeitungen sind gerade Hochschulen weiterhin angewiesen. Sie brauchen Journalisten, die die Relevanz von Wissenschaft erkennen und in der Lage sind, sie ihrem Publikum zu vermitteln. Wer als Pressesprecher über ein MarketingBudget verfügt, sollte gut abwägen, wen er hin und wieder mit teuren Anzeigen beglückt: das kostenlose Anzeigenblatt oder die vielleicht letzte noch verbliebene regionale Tageszeitung, die auch mal Platz hat für ein längeres Stück über das jüngste Studierenden-Projekt.

„

So viele Möglichkeiten wie nie und noch nie

so machtlos.

Pressesprecher haben heute wahrscheinlich so viele Möglichkeiten wie nie zuvor, Einfluss zu nehmen. Und sie waren wahrscheinlich noch nie so machtlos wie heute, wo dank der sozialen Medien aus jeder schlechten Nachricht innerhalb weniger Stunden ein Shitstorm werden kann, der alles hinwegfegt, was ein Unternehmen an Reputation zuvor aufgebaut hat. Pressesprecher spielen mit in der neuen Welt der sozialen Netzwerke und jonglieren dabei mit mehreren Bällen.

Aber wenn es hart auf hart kommt, sind sie ihnen ausgeliefert.

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Projekt OnTOP

Das Mögliche möglich machen Die Hochschule Niederrhein unterstützt zugewanderte Akademikerinnen und Akademiker. Seit März 2015 beteiligt sich das Institut SO.CON mit seinem Projekt „OnTOP/HN“ am bundesweiten Förderprogramm „Integra­tion durch Qualif­izierung“ (IQ). Akademikerinnen und Akademiker mit ausländischen Abschlüssen, die entweder keine Arbeit in Deutschland finden können oder aber nicht qualifikationsadäquat beschäftigt sind, werden in sogenannten Brücken­maßnahmen nach­qualifiziert.

Potentielle Arbeitgeber sollen auf diese Weise von der Aktualität und Vergleichbarkeit der Fachkenntnisse überzeugt werden.

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von Flavia Nebauer & Stefanie Wolgast Institut SO.CON // Institut für Forschung und Entwicklung in der Sozialen Arbeit // Projekt OnTOP // Studienprogramm für zugewanderte Akademikerinnen und Akademiker in NRW // Gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Sozialfonds

Fragen Sie sich auch manchmal, ob der freundliche Croissantverkäufer am Bahnsteig des Hauptbahnhofs vielleicht nicht einen ganz anderen beruflichen Hintergrund hat und dort im zugigen Verkaufsbüdchen gewissermaßen auf dem Nebengleis gelandet ist? Und wer weiß, vielleicht war die Dame mit dem ausländischen Akzent an der Supermarktkasse in ihrer Heimat eigentlich Lehrerin. In Deutschland jedoch musste sie ihren Beruf, der ihr so viel bedeutet, an den Nagel hängen. Was unsere persönlichen Begegnungen im Alltag betrifft, so bewegen wir uns wohl im Bereich der Spekulationen.

Croissantverkäufer mit Diplom

Ein Blick in einschlägige Studien kann aber Auskunft über die Situation der nach Deutschland zugewanderten Akademikerinnen und Akademiker geben. Sie sind überproportional auf niedrig qualifizierte und schlecht bezahlte Tätigkeiten verwiesen. Insbesondere die unzureichende Anerkennung ausländischer Qualifikationsnachweise in Form von Hochschul- und Berufsabschlüssen sowie von Berufserfahrungen erschwert den Arbeitsmarktzugang. Wer sich arbeitslos meldet, wird dann im Zweifelsfall in die Kategorie „Ungelernter“ eingruppiert, auch wenn akademische Abschlüsse vorliegen. Folglich liegen potentielle Arbeitsangebote im niedrig qualifizierten Bereich (vgl. Englmann/Müller 2007, Wilkens/Märker 2014).

Für die Betroffenen ist eine solche Schieflage verständlicherweise nur schwer zu verkraften. Ist man nicht in der Lage, seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, so wird die selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Lebens und gesellschaftliche Teilhabe zu einem schwer erreichbaren Ziel. Man entfernt sich unfreiwillig von seinem erlernten Beruf, der aufgrund seiner identitätsstiftenden Bedeutung zentral für das

eigene Selbstverständnis ist. Statt die eigenen Kenntnisse, Kompetenzen und Erfahrungen einbringen zu können, findet man sich in Beschäftigungsverhältnissen wieder, die ausgesprochen unvorteilhafte Arbeitsbedingungen beinhalten, höhere Risiken bergen und eine Dequalifizierung verstetigen. Offenen Auges bewegt man sich in eine berufliche Sackgasse hinein.

Von Seiten der Politik wird – natürlich auch vor dem Hintergrund des seit Jahren beklagten Fachkräftemangels – großer Handlungsbedarf gesehen. Um die Ressourcen und Potenziale dieser Menschen nicht weiterhin ungenutzt zu lassen, versucht Deutschland nun den Weg in eine qualifikationsadäquate Beschäftigung wesentlich zu erleichtern und damit einen Gewinn für beide Seiten zu erreichen.

Die Zugewanderten sollen Wertschätzung und Anerkennung erfahren und Deutschland soll durch die Integration der Fachkräfte als Wirtschaftsstandort gestärkt werden.

Der Grundstein dafür wurde 1999 gelegt, als der Bologna-Prozess zur Vereinheitlichung von Studiengängen in europäischen Ländern eingeführt wurde. Bisher stellten 47 Mitgliedstaaten ihre Systeme auf analoge Studienstrukturen – Stichwort: Bachelor und Master – mit einheitlichen Angaben

foto // aundre larrow // stocksnap.io // CC0

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zu Hochschulabschlüssen und Qualifikationen (z.B. „Diploma Supplement“) um.

Zwar sind die Dauer und die damit zu erreichenden Credit Points noch immer länderspezifisch, trotzdem wurde ein wichtiger Schritt zur besseren Vergleichbarkeit von Abschlüssen erreicht.

Senior-Mentorinnen und -Mentoren willkommen!

Bei Interesse, unser Projekt zu unterstützen, würden wir uns über eine Nachricht oder einen Anruf von Ihnen freuen. Weiter­gehende Informationen zum Projekt finden Sie auf unserer Webseite: // www.hs-niederrhein.de/forschung/socon/projekte/ontop // stefanie.wolgast@hs-niederrhein.de // 02161/186-5708

Das Anerkennungsgesetz

In Deutschland wurde dieser Grundgedanke im April 2012 durch die Einführung des Anerkennungsgesetzes erweitert.

Laut Paragraf 1 ist das Ziel dieses Gesetzes die Erreichung qualifikationsnaher Beschäftigung für im Ausland erworbene Berufsqualifikationen und damit einhergehend eine bessere Arbeitsmarktintegration. Dadurch ist in Deutschland erstmals ein allgemeiner Rechtsanspruch auf die Überprüfung der Gleichwertigkeit von ausländischen Berufsqualifikationen gegeben.

Besonders für reglementierte, also staatlich anerkannte Berufe, wie beispielsweise Arzt/Ärztin oder Jurist/Juristin, ist eine Anerkennung besonders wichtig, da diese für die Berufsausübung in Deutschland Voraussetzung ist. Für nicht reglementierte Berufe ist die Anerkennung zwar keine Pflicht, jedoch kann sie die Chancen auf eine qualifikationsnahe Beschäftigung erhöhen und damit zu einem beruflichen Aufstieg führen. Denn laut dem Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) werde ein nicht anerkannter und ein fehlender Abschluss ähnlich negativ bei der Erwerbsintegration bewertet (Brussig et al. 2009, S. 1).

Insgesamt geht die Bundesregierung von 285.000 Menschen aus, für die dieses Anerkennungsgesetz interessant sein könnte. Jedoch hatten seit April 2012 bis Ende 2013 lediglich 26.500 betroffene Menschen in Deutschland einen Anerkennungsantrag in die Wege geleitet (mehr Informationen dazu unter www.bmbf.de oder www.anerkennungin-deutschland.de). Die Dunkelziffer der Anerkennungsgesuche dürfte laut Ilka Sommer jedoch um ein Vielfaches höher liegen, da verschiedene „unsichtbare“ Selektionsmechanismen greifen (Sommer 2014, 30ff). So bekämen beispielweise Menschen, deren ursprünglicher Beruf

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foto // deathtothestockphoto.com // CC0

mit keinem deutschen Referenzberuf vergleichbar sei, überhaupt keinen Zugang zum Anerkennungsverfahren. Weiter würden Bewerberinnen und Bewerber nicht gezählt, wenn sie die geforderten Unterlagen in einen bestimmten Zeitraum nicht einreichen können. Und teilweise werde ihnen auch von einer Antragstellung in einem Beratungsgespräch abgeraten, weil mittels der bisherigen Angaben keine Aussicht auf Erfolg gegeben sei.

Brücken bauen mit OnTOP

Für neu nach Deutschland zugewanderte Akademikerinnen und Akademiker stellt es eine große Herausforderung dar, herauszufinden, welche beruflichen Möglichkeiten sie auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben und was zu tun ist, um den eigenen Qualifikationen entsprechend beruflich Fuß zu fassen. Es verstreicht hierbei oft viel Zeit und nicht immer sind die Bemühungen von Erfolg gekrönt, so dass die mit einem Neuanfang verbundene Motivation nicht selten in Frustration oder sogar Resignation umschlägt.

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Dies zu verhindern ist Ziel des Projekts OnTOP. Zu Beginn wird in einer Beratung geklärt, welches berufliche Ziel die Bewerberin oder der Bewerber verfolgen, was diesbezüglich bereits unternommen wurde und wo Nachholbedarf gesehen wird. Es stehen dann grundsätzlich drei Modelle zur Auswahl: 1. Bei der modularen Ergänzungsqualifizierung werden nach Rücksprache mit dem Fachbereich Module ausgewählt, die einen erfolgreichen Einstieg in Arbeit unterstützen. Ein Abschluss wird als entbehrlich gesehen, da z. B. schon sehr gute Abschlüsse und eine langjährige Berufserfahrung vorliegen.

2. Nach Anrechnung der bereits erworbenen Studienleistungen erfolgt eine Einschreibung in ein höheres Semester und somit das Absolvieren eines verkürzten Studiums. Es wird ein deutscher Bachelor- oder Masterabschluss erworben.

3. Bei der Gasthörerschaft werden einzelne Vorlesungen oder Seminare besucht, um z. B. die in Deutschland üblichen Methoden kennenzulernen oder um sich als Quereinsteiger ein Bild von der

„

Ich möchte nicht nur irgendeine Arbeit machen.

Ich möchte das machen, worin ich gut bin.

Elektroingenieur aus Syrien

Literaturhinweise /// Brussig, M./Dittmar, V./Knuth, M. (2009): Verschenkte Potenziale. In: IAQ-Report 2009-08. http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2009/report2009-08.pdf, Aufruf: 29.06.15 /// Englmann, B./Müller, M. (2007): Brain Waste – Die Anerkennung von ausländischen Qualifika­tionen in Deutschland. Augsburg: Tür an Tür – Integrations­projekte gGmbH /// Sommer, I. (2014): Ist das Anerkennungsgesetz ein Verkennungsgesetz? Der umkämpf­te Wert auslän­discher Berufsqualifikationen in Deutschland. Hrsg. Heinrich Böll Stiftung. https://www.boell.de/sites/default/files/e-paper_anerkennungsgesetz.pdf Aufruf: 29.06.15 /// Wilkens, I./Märker, F. (2014): Zuwanderung, Integration und Beschäftigung – die ak­tuelle Debatte. In: Migration und Soziale Arbeit. Ausg. 03. Weinheim: Beltz, S. 1-9

Anschlussfähigkeit der eigenen Kompetenzen zu machen. Zudem kommt die Gasthörerschaft für diejenigen in Frage, die noch nicht über die für ein Studium erforderlichen Deutschzertifikate verfügen.

Deutschkenntnisse verbessern

Alle Teilnehmenden werden zudem mit einem auf ihre Bedarfe zugeschnittenen Zusatzprogramm unterstützt. Da die Deutschkenntnisse einen Schlüssel zum beruflichen Erfolg darstellen, wird hierauf besonderes Augenmerk gelegt. Mit Hilfe von speziell ausgebildeten Sprachcoaches werden in Einzelsitzungen der Sprachstand ermittelt, Lernziele festgelegt und individuelle Lernstrategien erarbeitet. In Kleingruppen besteht zudem die Möglichkeit, die Deutsch- und fachsprachlichen Kenntnisse zu verbessern. Überfachliches und methodisches Know-how wird in Workshops vermittelt. Während in der ersten Phase der Projektteilnahme das Thema „wissenschaftliches Arbeiten“ (z.B. Mitschriften

anfertigen, Referate halten, Hausarbeiten schreiben) im Vordergrund steht, wird es später um die Vorbereitung auf den Berufseinstieg gehen. Um von Anfang an eine Orientierung an der Hochschule zu erleichtern, den Austausch mit anderen Studierenden zu befördern und mögliche Schwierigkeiten schnell aufzufangen, werden studentische Mentorinnen und Mentoren eingesetzt.

Individuelle Beratung

Die individuelle Beratung und Begleitung der Teilnehmenden durch das Projektteam erfolgt während der gesamten Brückenmaßnahme. Eine besondere Herausforderung stellt hier die Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für den Lebensunterhalt dar, da die Projektteilnahme zwar kostenlos ist, aber kein Stipendium mit einschließt. Als eine besonders hohe Hürde wird sich für viele Interessierte auch das geforderte Sprachniveau erweisen. Die für Hochschulen übliche Zugangsvoraussetzung ist ein durch Zertifikat nachgewiesenes

C1-Niveau (gemäß dem „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen“).

Neben einem im Ausland erworbenen Studienabschluss, der in Teilen an der Hochschule Niederrhein angerechnet werden kann, sind keine weiteren formalen Voraussetzungen zu erfüllen. So spielen etwa das Herkunftsland oder der Aufenthaltsstatus keine Rolle. Selbstredend wird von einer hohen Motivation und zeitlichen Kapazitäten ausgegangen, um ein insgesamt sehr anspruchsvolles Studienprogramm zu absolvieren – und das Mögliche endlich auch möglich zu machen.

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GerTruDe L. beLL

kÖniGin Der WüsTe

Berlinale 2015: Werner herzog stellt seinen Film „Queen of the Desert“ (Die Königin der Wüste) vor – mit Nicole Kidman als haupt darstellerin. Die Kritik1) nennt das Werk eine schwülstige Orient saga, die die tatsächliche Bedeut ung der Britin Gertrude L. Bell nicht vermittelt.

Bereits Ende der 90er Jahre las ich die Biographie „Die Königin der Wüste – Das außergewöhnliche Leben der Gertrude Bell“ von Janet Wallach.2) Ich las und staunte, was die autorin über diese Frau, die 1868 geboren wurde, heraus gefunden hat.

Der aktuell eskalierende Konfl ikt in Syrien und dem Irak ließen mich ein zweites Mal zu dem Buch greifen. Ich stellte erstaunt fest, wie wenig sich seither geändert hat. Der Nahe Osten ist mehr denn je ein Krisenherd. und es war schon damals das Öl, das die auseinander setzungen verschärfte.

foto // wolfgang beisswenger // pixabay.com // CC0

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ZEIT

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VON GErTruD GrINS

1 // Tagesspiegel 06.02.15; Zeit online: Frauenbiografie überzogen mit Hollywoodlack

2 // Janet Wallach, „Desert Queen“ originalausgabe New York 1996. Die deutsche Fassung erschien 1999.

Janet Wallach ist freie Journalistin und in den USA eine bekannte Nahostexpertin. Die Autorin stützt ihre Darstellung auf die veröffentlichten Werke und die privaten Schrifen der berühmten Britin, auf offizielle Dokumente, auf Briefe, Tagebücher, Zeitungsberichte; sie befragte Zeit- und Augenzeugen.

3 // ob sie freiwillig aus dem Leben schied, wurde nicht eindeutig geklärt.

4 // Diese auflagenstarke Zeitung erschien von 1835 bis 1924 in New York City.

Gertrude Bell lebte selbstbestimmt, selbstbestimmt bis in den Tod – sie starb 58-jährig an einer Überdosis Schlaf tabletten in Bagdad/Irak.3) Zu Lebzeiten brachte sie es zu ansehen und zu großem politischen Einfl uss.

In einer von Männern dominierten Welt überzeugte sie mit Scharfsinn und Durchsetzungswillen.

Wer war Gertrude L. Bell?

Sie war ein sehr widersprüchlicher Mensch, vielleicht war sie eine Getriebene. Sie war mutig und sie nahm sich außer o rdentliche Freiheiten heraus, gleichzeitig akzeptierte sie die Konventionen der viktorianischen Oberschicht. Sie war sich bewusst, dass Frauen unterbewertet sind, stellte sich aber gegen ihre Geschlechtsgenossinnen, als die, in der Sufragetten-Bewegung, für die Gleichberechtigung und das Frauenwahlrecht kämpften. Sie wünschte verheiratet zu sein, wollte sich aber keinem Mann unterordnen, der ihr nicht geistig ebenbürtig war. Zudem sollte er gesellschaftlich hoch angesehen und fi nanziell unabhängig sein. Sie war tatkräftig, forderte sich bis zum äußersten, litt aber zeitweise unter Depressionen.

Sie hatte in den 1920er Jahren den offi ziellen Status eines politischen Offi ziers im Nahen Osten. Von ihren Neidern wurde sie als araberfreundin verunglimpft.

Ruhm überdauert die Zeit GertruDe Bell 1868 – 1926 foto: wikipedia. gemeinfrei

„Die Forscherin, die den Irak erfand“ war 2014 ein Beitrag in der Zeitung Die Welt überschrieben. „Gertrude von arabien“ titelte Der Spiegel am 31.05.2011 einen Bericht über sie. „Mesopotamiens ungekrönte Königin“ schrieb man über sie

schon 1921 im New York Herald.4) Wie kam Gertrude L. Bell, die Tochter eines Stahlmagnaten aus Newcastle/GB, zu diesen Ehren?

Die Kindheit Gertrude war drei Jahre alt, als ihre Mutter starb. Das enge Verhältnis, das sie in der Kindheit zu ihrem Vater entwickelte, hielt ein Leben lang. Sie war ein Vaterkind, aber sie schätzte auch ihre Stiefmutter, die Bühnenautorin war. Das belegen die Briefe, die sie regelmäßig an beide schrieb. Weil die Eltern die bestmögliche ausbildung für ihre Tochter wollten, schickten sie Gertrude auf ein Mädchengymnasium nach London. Ihre Leistungen berechtigten sie zum Studium in Oxford. Sie wählte als hauptstudienfach Neue Geschichte und bestand das Examen mit sehr gut.

Die junge Frau Ihr Onkel war britischer Botschafter in rumänien. als Gast in seiner Familie lernte sie die Diplomatenwelt kennen und konnte sich bald mühelos in ihr bewegen. als der Onkel nach Persien versetzt wurde, begann sie Persisch zu lernen.

Das beherrschte sie nach zwei längeren aufenthalten in Teheran so perfekt, dass sie Gedichte aus dem Persischen (Farsi) ins Englische übersetzte. Zwei Jahre zuvor hatte ihr Buch „Persische Reisebilder“ schon für aufmerksamkeit gesorgt. Sie war überdurchschnittlich sprachbegabt.

Eingeladen zu einer Dinner Party konnte sie sich auf Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Persisch oder sogar Türkisch unterhalten.

Nach dem Tod ihres Geliebten, henry cardogan, den sie nicht heiraten durfte – er hatte sich hoch verschuldet –, trauerte sie fünf Jahre. 1902 begab sie sich in Begleitung ihres Bruders auf eine Weltreise. anschließend studierte sie in Paris ägyptische, griechische, islamische, byzantinische Kunst und archäologie.

ZEIT

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5 // Biographie Königin der Wüste S. 420 6 // „Die letzte Person, die diesen Namen trug, war Aisha die Frau des Propheten“, schrieb Gertrude stolz an Hugh. Dass sie Britin, Frau und Christin war, spielte damals anscheinend keine Rolle.

7 // Um einen Posten beim brit. Geheimdienst bewarb sie sich erst, als das Vermögen ihres Vaters dahingeschmolzen war und ihre Ausgaben von den Einnahmen aus ihren Büchern nicht mehr zu finanzieren waren. Sie war inzwischen so bekannt bei der islamischen und weltlichen arabischen Elite, dass sie im Geheimen nicht tätig sein konnte.

8 // Sir Percy Cox war der brit. Administrator von Mesopotamien. In einigen Berichten wird Winston Churchill als der Grenzzieher genannt.

Gertrude Bell zwischen arabischen und britischen Würdenträgern (Archiv preuss. Kulturbesitz)

Bei der Royal Geographic Society in London lernte sie, wie man Land vermisst, astronomische Beobachtungen durchführt und Landkarten zeichnet. Das war ihr Weg sich aus der Trauer zu befreien.

Die Forscherin Bei ihren Aufenthalten in Persien hatte sie den Orientalisten Dr. Alfred Rosen kennengelernt. Der lud sie nach Jerusalem ein, wo er inzwischen deutscher Konsul war. Dr. Rosen lehrte sie auf Kamelen zu reiten und sich in der Wüste – bei Beduinen und Drusen – wohlzufühlen.

Mit einem Buch über diese Erlebnisse versuchte sie, ihren Landsleuten die Lebensweise der Wüstenbewohner näher zu bringen.

Weil sie den Nahen Osten bereisen wollte, begann sie in Jerusalem Arabisch zu lernen. Mit zwei Privatlehrern übte sie zeitweise bis sechs Stunden am Tag. Als sie glaubte, ihre Kenntnisse reichten aus, begab sie sich auf mehrere lange Wüstendurchquerungen – allein, d.h. ohne ein anderes Familienmitglied, ohne Anstandsdame. Allerdings bestand ihre Karawane aus zwanzig schwer beladenen Kamelen mit drei Kameltreibern, dazu kamen ihr Koch, ein arabischer Wüstenführer und ihr persönlicher Leibwächter. Die Expeditionen finanzierte sie aus eigener Tasche. Trotz aller mitgeführten Artikel westlicher Zivilisation waren es keine bequemen Reisen und gefährlich waren sie obendrein. Gertrude nahm ihre selbstgestellten Aufgaben das Land zu vermessen und zu kartographieren

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zeit

sehr ernst. Sie erkundete archäologische Stätten, notierte Wasserstellen, erfasste die verwandtschaftlichen Beziehungen der Beduinen, die an diesen Stellen ihre Herden tränkten. Stolz berichtete sie ihrem Vater, dass sie von den Clanchefs wohlwollend empfangen wurde und dass es ihr eine Freude war, sich mit ihnen ohne Dolmetscher unterhalten zu können. Durch die Gespräche in den Zelten und Palästen wurde ihr die arabische Denkweise und Mentalität vertraut. Sie schätzte die blumenreiche Sprache ihrer Gastgeber, ließ sich aber davon nicht blenden. – Mit der Wahrheit nahmen sie es nicht so genau, wenn es darum ging, einen Vorteil zu erlangen. – Ihre schnelle Auffassungsgabe machte es ihr leicht, sie zu durchschauen und ihrer Taktik mit Klugheit und Charme zu begegnen. Stets war sie eine aufmerksame Zuhörerin, sie gab gerne Informationen weiter, sorgte aber dafür, dass sie jeweils mehr bekam als sie gab. Die Araber bewunderten sie.

Die Vermittlerin Die Türken – das Osmanische Reich – hielten große Teile Vorderasiens besetzt.

Die größte Kolonialmacht in Asien waren aber die Briten. Der indische Vizekönig – er war Brite – war gleichzeitig Leiter der Verwaltung der unter britischem Einfluss stehenden Gebiete der arabischen Halbinsel. Das ist aus heutiger Sicht nur schwer nachvollziehbar. Als in Mesopotamien zwischen Türken und Briten Krieg ausbrach, sollte Gertrude zur Deeskalation beitragen. Sie reiste nach

9 // „Chatun“ ist eine Hofdame, die dem Interesse des Staates ihre ganze Aufmerksamkeit widmet.

Basra/Irak mit einem Empfehlungsschreiben des Vizekönigs. Darin stand: „Sie ist eine außergewöhnlich kluge Frau mit dem Gehirn eines Mannes.“ Den Krieg konnte sie aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr verhindern. Er kostete Tausende Briten und Inder das Leben. Sieger blieben die von den Arabern ungeliebten Türken. Der weitsichtigen Gertrude war es unverständlich, dass sich ihr Land in einen Krieg begeben hatte, ohne vorher ein Konzept für den gesamten Mittleren Osten zu erarbeiten.

Die Visionärin Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Völkerbund gegründet. Die Grenzen vieler Staaten wurden neu festgelegt.

Gertrude kritisierte die anglo-französische Deklaration vom 18. Nov. 1918, in der den Arabern zugestanden wurde, unabhängige Staaten zu bilden, deren Staatsform und Staatsgrenzen noch verbindlich ausgehandelt werden müssten.

Gertrude schrieb: „Das ist noch zu früh.

Die arabische Gesellschaft ist noch nicht so weit.“ Sie kehrte von der Pariser Konferenz, bei der die Nahost-Frage vertagt wurde, nach Mesopotamien zurück. Ihrem Vater teilte sie mit: „Ich führe offiziell zwar nicht die Geschäfte in Mesopotamien, aber im Augenblick war niemand da, der das hätte tun können, und da wir keine Zeit verlieren durften, habe ich mich halt vorgedrängt und es gemacht.“

Ihr Haus in Bagdad wurde ein Zentrum der Macht. Sie suchte mit großem Geschick die Vertreter der provisorischen irakischen Regierung aus, die bis zu den Wahlen die Geschäfte führen sollten. Sie akzeptierte, dass die Araber die Autonomie nicht von unten, vom Volk ausgehend, nach oben aufbauen wollten. Sie wollten erst ein Dach, das mit einigen Stützen hielt, und dann das Gebäude festigen. Sie wollten einen Herrscher (König). Gertrude meldete sich mit einem Weißbuch zu Wort. Ihr Werk „Review of the Civil Administration of Mesopotamia“ wurde dem Britischen Parlament vorgelegt. Für diese Arbeit erntete sie großes Lob.5)

Die Expertin Miss Bell kannte die meisten Scheiche persönlich. Sie vermittelte zwischen ihnen, zwischen den Religionsführern der Sunniten und Schiiten, zwischen Stadtbevölkerung und Nomaden und natürlich zwischen Arabern und Briten. Für die Kolonialbeamten war sie eine gefährliche Konkurrentin. Die muslimischen Männer schätzten sie wegen ihrer Weisheit.

Gerne und oft suchten sie bei ihr Rat. Sie verehrten sie, betitelten sie als „Umm al-Muminin = Mutter der Gläubigen“.6) Das berührte Gertrude und machte sie glücklich. Sie mochte das Zweistromland Mesopotamien und sie wünschte sich

einen wirtschaftlich starken Irak, in dem Sunniten, Schiiten und Kurden auf Dauer friedlich zusammenleben würden.

1921 wurde sie zur Kairoer Konferenz berufen.7) Wieder war Miss Bell die einzige Frau unter den Teilnehmern. Wieder ging es um den Nahen Osten. Wieder trug sie ihre Visionen vor. Winston Churchill übernahm nach einigen Bedenken ihre Vorschläge für den zu bildenden Staat Irak. Er wollte aber, dass er britisches Mandatsgebiet bliebe. Die Saudis wollten zwei Nomadenstämmen bewegliche Grenzen zugestehen. Denn die Nomaden verbanden Eigentum mit Personen und Tieren und nicht mit Territorien. Fünf Tage und Nächte dauerten die Verhandlungen.

Schließlich verlor Sir Cox8) die Geduld. Er nahm die Landkarte, die Gertrude erstellt hatte, zog sorgfältig eine rote Linie ein, wies einen Teil des Nedschd dem Irak zu, dafür bekam Saudi Arabien zwei Drittel des Gebietes von Kuweit. Außerdem markierte er zwei neutrale Zonen, eine kuweitische und eine irakische (wegen der Erdölvorkommen).

Im Dezember 1922 wurde das Abkommen unterzeichnet. Der von Gertrude favorisierte Feisal wurde zum König gewählt. „Mesopotamiens ungekrönte Königin“ lautete daraufhin die Schlagzeile im New York Herald. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Sie war aber Realistin. Sie wusste, dass den Irakern die britischen Hoheitsrechte ein

Zu der Zeit um 1918/19 traf sie sich mehrmals mit einem Nomaden­scheich, der eine Entschä­digung für einhundert Rinder forderte, die er angeblich während der bri­tischen Besatzung verloren hatte. Als Gertrude ihm eine Entschädigung von zwei Pfund pro Stück zusagte, leuch­teten seine Augen, und er sagte, das sei durchaus akzeptabel. Da die „Chatun“ aber alle möglichen Gerüchte gehört hatte, wusste sie genau, dass der Mann das Vieh entweder vorüber­gehend zu einem Nachbarn getrieben oder es gegen Frauen eingetauscht hatte. Als er aufstand und sich mit „Salam“ verabschie­dete, fragte Gertrude ihn auf Arabisch: „Und wie viele Rinder hast du jetzt noch, o Scheich?“ „Fünfhundert“, erwiderte er. „Und wie viele, bevor wir hierher­gekommen sind?“

Dorn im Auge waren und dass vor König Feisal die schwierige Aufgabe lag, die Bevölkerung seines Landes zu einen. Dafür wurde sie aber nicht mehr gebraucht.

Trotzdem blieb sie in Bagdad und baute das heute noch geschätzte archäologische Museum auf, dessen Direktorin sie bis zu ihrem Tode war.

Ihr Vermächtnis Gertrude Bell war Entdeckerin, Archäologin und Schriftstellerin. Sie reiste auf eigene Kosten durch den Orient, durchquerte unerforschte Wüsten, traf sich mit Kalifen, muslimischen Führern, mit Beduinen und Scheiche. Sie war die „Chatun“,9) eine analytisch und strategisch denkende, ledige Britin, die den Nahen Osten mit all seinen absurden Realitäten kannte und liebte. Ihre ganze Kraft steckte sie darein, bei der arabischen Bevölkerung für ein friedliches Zusammenleben zu werben.

Ein Film, der ihre Liebesbeziehungen in den Mittelpunkt stellt, wird der wahren Bedeutung dieser starken, wenn auch komplizierten Persönlichkeit, Gertrude Lowthian Bell nicht gerecht.

Wie vertraut und geschickt Gertrude Bell im Umgang mit den arabischen Partnern war, zeigt das folgende Gespräch, das ich aus ihrer Biographie übernommen habe:

„Fünfzig.“ „Ali vom Fluss“ sagte sie ernst, „deine Herden sind von uns gut gehütet worden, abgesehen von den ein­hundert. Nimm die zweihundert Pfund, die stehen dir zu. Aber du musst dem König von England, der deine vierhundert­fünfzig Rinder so gut bewacht hat, drei Jahre lang pro fünfzig Stück zehn Pfund zahlen.“ Der alte Scheich schwieg eine Weile, dann sagte er: „O du Gerechte, ich bitte dich, das mit der Rechnung nicht so ernst zu nehmen. Ich habe meine bereits vergessen.“ Als er das Zimmer verließ, hörte Gertrude, wie er murmelte:

„Sie ist der Satan.“

zeit

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Lieber Vincent!

VoN ELISE DoNDER

In zahlreichen Briefen hast Du Dich mitgeteilt. Nicht nur mit Strichen und Farben konntest Du malen, sondern auch mit Worten. Vielleicht verstehst Du Dich immer noch aufs Briefelesen? Ich traue mich mal einfach, Dir zu schreiben.

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DENKaNSTĂ–SSE

Es sind inzwischen 125 Jahre vergangen, seit Du diese Welt verlassen hast. Alle Welt redet von Dir. Nicht nur die Fachwelt, Kunsthändler, Maler, Museumsleute, sondern auch Liebhaber von Formen und Farben, Dilettanten, Alltagsmenschen wie ich.

Wie ist das möglich? Was ist geschehen?

Du würdest dich wundern. Deine Bilder, die in Deinem Atelier, vielleicht auch im Lager oder in der Galerie Deines Bruders Theo auf Käufer gewartet hatten, sind nun im Besitz reicher Leute und berühmter Museen. Sie werden immer noch zu enorm hohen Preisen versteigert. Aber das ist nicht alles. Sie werden vermarktet, zu diesem Zweck -zigtausendfach vervielfältigt und hängen als Kunstdrucke in den Wohnungen, Büros, Arztpraxen, sind in Büchern, sogar auf Schals, Regenschirmen, Taschen und vielen erdenklichen Gegenständen zu bewundern. Sie sind für viele erschwinglich und nahezu jedermann zugänglich. Du würdest deinen Augen nicht trauen: Mit einer Informations- und Suchmaschine, die nun in fast allen Haushalten steht, kann man Deine Werke in wenigen Sekunden auf einer beleuchteten Fläche erscheinen lassen.

Deine Briefe an Theo und andere Adressaten wurden mitsamt den Skizzen zur Veröffentlichung freigegeben. Sie sind in Sammlungen als Bücher erschienen und werden eifrig gelesen.1 Berühmte Leute, kürzlich der Schriftsteller Günter Wallraff, haben daraus zitiert.2 Er war von Deinem Bild „Bauernkate in Nuenen“3 bewegt. Du hättest Gefallen daran, wie er Deinen Sinn für die Armen, für Bauern und Arbeiter,

hervorhebt. Wallraff, selbst ein Kämpfer für die Benachteiligten unserer Gesellschaft, preist deine soziale Einstellung.

Zu den einfachen Leuten fühltest Du Dich hingezogen.

Du hast einen Weg ertrotzt, sie auf Deine eigene Weise darzustellen; ebenso wähltest Du Landschaften und Gebäude fern von Konventionen, nicht abgehoben, nicht vornehm, sondern lebensnah und maltest sie so, wie Du sie gesehen hast! – Kannst Du Dich mit dem Gedanken anfreunden, dass Kopien dieser Werke nun mannigfach in vielen Behausungen zu finden sind?

Und noch etwas muss ich Dir berichten: Nicht nur zum Kunstgenuss, sondern auch zum eigenen Erproben und Schaffen ist der Weg nun für viele offen. Farben, Stifte und Malgründe sind nicht nur in Fachhandlungen, sondern in den ganz alltäglichen Gemischtwarenläden (neben Brot und Gemüse) im Angebot und gar nicht teuer. Mit Zeichnen, Malen und Gestalten kann sich nahezu jeder beschäftigen, der Lust dazu hat. Wann er das kann? Nach getaner Arbeit am Abend und Wochenende haben die Menschen Freizeit.

Es gibt solche, die lieber alleine in Ruhe etwas schaffen möchten und andere, die in einem Atelier oder Kursraum Gemeinschaft und Gespräch beim Malen suchen.

Menschen, die sich fremd waren, finden zueinander. Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaftsschichten.

Ich glaube, Du würdest Dich freuen.

t. à t. (tout à toi)

Elise

1 // Vincent van Gogh, Briefe, Reclam 2011 2 // Bilder. Geschichten – Schrifsteller sehen Malerei, München: Luchterhand, 2006 3 // In dem ort Nuenen in den Niederlanden hat Vincent van Gogh zwei Jahre gelebt und gearbeitet.

DENKaNSTÖSSE

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pointillismus

will man bilder dieser maltechnik betrachten, tritt man am besten einige schritte zurück // steht man zu dicht am gemälde, so schwirrt es vor bunten Pünktchen, und es ergibt sich noch nicht das ganze // die bekanntesten pointillisten sind die franzosen georges seurat und paul signac

Georges Seurat: Die Brücke von Courbevoie (1886-1887)

Georges Seurat: Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte (1884–1886)

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Kultur / Bildung / Leben

Gestern Dali, Heute Seurat

Nie zu spät

Frau Katja hat sich Seurat vorgenommen. Sie hat von dem Kunstband, den sie im Regal im Atelier gefunden hat, die Seite mit dem Bild „Le Pont de Courbevoie“ aufgeschlagen. Sie kommt seit einigen Monaten zum Bunten Atelier, einer Einrichtung des Migrationsdienstes der Caritas Krefeld. Sie ist zeitig da, breitet ihren Block aus oder rückt die Leinwand auf dem Tisch zurecht, nimmt Wasserfarben, Buntstifte, Kreiden oder Filzstifte (je nach Bedarf auch alles zugleich) und beginnt. Zu kopieren? Nein, eher setzt sie um! – setzt die Vorlage in ihre Farben- und Formen- und Gedankenwelt um.

Es hat mich fasziniert, beim Entstehen dieses Bildes zuzuschauen.

Was ich über Frau Katja weiß, habe ich von ihrer Tochter Lidia erfahren. Dass die Familie vor Generationen von Süddeutschland nach Kasachstan gekommen ist und dort eine entbehrungsreiche und schwierige Zeit verbrachte, darüber fand sie auch ihren Kindern gegenüber lange keine Worte. Jetzt, sagt die Tochter, durch das Malen öffne sie sich allmählich. Viel kann ich mich mit Frau Katja nicht unterhalten. Sie spricht einen besonderen Dialekt, der mal schwabendeutsch klingt und mal russisch. Ich habe den Eindruck, sie hat sich schon damit abgefunden, nicht gut verstanden zu werden – was das Verbale angeht. Aber sie fühlt sich ohne viele Worte akzeptiert und aufgehoben und vielleicht auch bewundert. Wenn wir ihr anerkennend zunicken, lächelt sie verschmitzt-verlegen.

Ausdauer Frau Katja arbeitet ausdauernd. In den zwei Malstunden schafft sie meistens ein Bild. Dann packt sie ihre Sachen zusammen, und man muss diese Zeit abpassen, will man ihr fertiges Werk noch sehen und würdigen. Während es noch ein wenig trocknen muss, räumt sie sehr sorgfältig alle Utensilien auf, nicht ohne Pinsel und Mischteller gründlich gereinigt zu haben. Von uns, den anderen Hobbymalern, nimmt sie ein Kompliment, von ihrer Tochter eine Umarmung entgegen. Das neue Bild verschwindet in der Mappe, in der Tasche, und dann geht die Malerin ebenso pünktlich, wie sie gekommen ist.

Sie malt erst seit ungefähr drei Jahren. Damals schenkte ihre Tochter ihr ein Skizzenbuch, Buntstifte und ein Lehrbuch. Frau Katja räumte den Küchentisch ab, breitete die Malsachen aus und füllte seitdem Tag für Tag jede Seite und Rückseite vom Heft und dann noch jedes freie Eckchen mit ihren Übungen.

Als das zweite Buch in Fleißarbeit gefüllt war, versah sie es mit einer Widmung an ihre neun Kinder (in russischer Sprache), etwa folgenden Inhalts: Für meine Kinder: Bisher habe ich für Euch gestrickt, jetzt male ich für Euch!

Frau

Mut

Katja

von Elise Ihren 79. Geburtstag hat Frau Katja im Bunten Atelier gefeiert. Jemand aus der Gruppe hat auf ein großes Plakat ein Portrait der kleinen energisch dreinschauenden weißhaarigen Dame mit ihrem grünen Hut gemalt. Darunter stehen Glückwünsche in kyrillischen Buchstaben. An der Wand, links von ihrem Platz, hat sie zu ihrem Ehrentag ihre eigene kleine Bildergalerie eingerichtet bekommen. Längere Zeit hatte sie sich mit Werken Dalis beschäftigt, nicht mit den surrealistischen, sondern mit frühen, noch nicht verfremdeten. Und mutig hat sie sich an sein Selbstportrait herangetraut. Nun schaut er verwegen aus der Bilderreihe hervor. Salvador Dali mit gezwirbeltem Schnauzbart.

Dali à la Katja.

donder

Für meine Kinder: Bisher habe ich für Euch gestrickt, jetzt male ich für Euch!

Frau Katja: Salvador Dali

In eine andere Welt

Zum Bunten Atelier fährt man in einer Einkaufspassage in der belebten Krefelder City mit dem Aufzug in die zweite Etage einer Senioren-Wohnanlage, geht dann an der Rezeption vorbei nach draußen und befindet sich in einem wunderschönen Dachgarten mit idyllischen Plätzen und liebevoll angelegten Wegen. Immer dem Schild „Atelier“ folgend, gelangt man in eine andere erstaunliche Welt: Viele bunte Gemälde und Collagen an den Wänden, Ton-Objekte auf Regalen. An den Tischen und Staffeleien arbeiten junge und alte Krefelder aus unterschiedlichen Ländern unter Anleitung von Lidia und Anatoli an zwei Nachmittagen in der Woche.

Frau Katja: Die Brücke von Courbevoie

Frau Katja: Landschaft

kultur / Bildung / Leben

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foto // oliver berghold // unsplash.com // CC0

Federlesen Auf dem Weg vom Gymnastikraum in den Speisesaal hüpfte Vera fast. Vor wenigen Minuten hatte sie ein Medi­zin­ball mit Wucht an der Stelle getroffen, wo vor einem halben Jahr noch ihre linke Brust war. Aber nichts war passiert außer einem kurzen mittelschweren Schmerz – nicht mehr und nicht weniger. Ein weiterer Schritt in die Normalität.

von ELKE ROOB

Ihre Tischnachbarin hielt mit beiden Händen die Kaffee­tasse so umklammert, dass ihre knallrot lackierten Fingernägel wie ein Warnstreifen leuchteten. Ihr Frühstücksteller blieb wie jeden Morgen leer. Als sie Vera erblickte, griff sie nach der Möwenfeder neben Veras Tasse und hielt sie wie eine Trophäe hoch. „Ihr Verehrer gibt nicht auf. Wissen Sie mittlerweile, wer es ist?“ Ihre Stimme war unangenehm hoch, das Make-up zu dick aufgetragen. Welche Krebsart sie in diese Reha-Klinik geführt hatte, behielt sie für sich. „Guten Morgen, Kornelia, haben Sie gut geschlafen?“ Man hatte sich auf den Vornamen und das Sie geeinigt. Vera nahm ihr die Feder aus der Hand und strich sich damit leicht übers Kinn. Es kitzelte. Sie konnte nicht leugnen, dass sie die allmorgendliche Aufmerksamkeit des Unbekannten genoss. Dies war bereits die fünfte schneeweiße Möwenfeder auf ihrem Platz.

Die beiden anderen Tischgenossinnen, die hübsche Ellen, die seit ihrer Zungen-Operation etwas lispelte, und die lange, dünne Petra – wie immer mit einer Leidensmiene – nahmen am Tisch Platz. Petra war so aufgebracht, dass ihre Hand zitterte, als sie sich Tee eingoss. „Ich war gerade bei der Rezeption und hab’ mich über den Kerl im Zimmer neben mir beschwert. Er

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Denkanstösse

hält sich an keine Regel. Das geht so nicht weiter. Der ganze Flur stinkt nach seinen Zigaretten. Und saufen tut er auch. Wer meint er denn, dass er ist!“ Ellen nickte: „Ich rauch’ ja auch, aber doch nicht hier in der Klinik!“ Mit einem Handtuch um den Hals und trotz der herbst­ lichen Kühle barfuß und nur mit einer leichten Leinenhose und einem kurzärmligen T-Shirt bekleidet, betrat der Gescholtene den Speisesaal durch die Tür, die direkt ins Freie führt. Seine Gestalt war aufrecht und sehnig.

Die sonnengebräunte faltige Haut hing an vielen Stellen, wo früher mal Muskelpakete waren, erschlafft herunter. Kein Gramm Fett war auszumachen. „Der war im Meer – bei der Kälte“, Ellen schüttelte sich. Im Stehen goss er sich eine Tasse Kaffee ein und leerte sie in einem Zug, dann noch eine – und schon verließ er wieder den Speisesaal. Es war ein kurzer Auftritt, der aber kaum einem der Anwesenden entgangen war.

Nach dem Frühstück schaute Vera am Schwarzen Brett nach, ob sich ein Partner für den Saunabesuch heute Abend gefunden hatte. Dies war die einzige Aktivität, die den Patienten hier nicht im Alleingang gestattet war. Tatsächlich hatten sich eine Klara und ein Herbert eingetragen. Für mehr als drei Leute bot die Sauna auch keinen Platz. Vera runzelte die Stirn bei dem Gedanken, sich beim ersten Saunabesuch nach der Operation gleich den Blicken eines Mannes aussetzen zu müssen. Sprachfetzen vorbeigehender Patienten drangen an ihr Ohr: „rausschmeißen“, „Hausordnung“, „eine Schande“. Sie dachte an die Möwenfeder in ihrer Sportjacke.

Sie kamen fast gleichzeitig: Klara, die mit über siebzig fast eine Generation älter als Vera war, aber noch beide Brüste vorweisen konnte – dafür teilte eine breite Narbe ihren Unterbauch – und Herbert, äußerlich unversehrt, bis auf seine Magerkeit. Nackt wirkte er älter und verletzlicher als bei seinem Auftritt nach dem Bad im Meer.

In der winzigen Saunakammer saßen sie schweigend nebeneinander, wofür Vera sehr dankbar war. Doch kaum hatten sie im Ruheraum auf den Liegen Platz genommen – Vera zwischen Klara und Herbert –, sprudelte es aus Klara heraus, die Geschichte ihres gesamten traurigen Lebens: Beide Söhne hatte sie ans Heroin verloren, beide berufstätige Familienväter. Der ältere starb mit 41, der jüngere folgte ihm zwei Jahre später im Alter von 36. Sie sorgte sich um ihre kiffenden Enkel. „Ist Heroinsucht vererbbar?“ Ihre eigene Krebserkrankung und die ihres Mannes waren nur eine Randbemerkung wert. Vera tat, als ob sie schliefe. Herbert hingegen zeigte Interesse und Mitgefühl.

Als Klara geendet hatte, fuhr er nahtlos mit seiner Lebens­ geschichte fort. Er habe als kleiner Polizist angefangen, dann habe er sich bei den Ledernacken in den USA zu einer Kampfmaschine ausbilden lassen und sei schließlich bei der GSG9 gelandet. „Sagt Euch Mogadischu noch etwas?“ Herbert duzte jeden.

Vera horchte auf. Bilder vom gedemütigten Gefangenen Schleyer, der entführten Landshut und den toten RAF-Häftlingen in Stammheim tauchten vor ihr auf, als Herbert die Stürmung der Maschine schilderte. Seine Stimme klang dabei völlig emotionslos. „Wie stolz sie auf uns waren: nicht nur Helmut Schmidt und die Bundesregierung, sondern ganz Deutschland. Als Helden sind wir geehrt und gefeiert worden: Das Bundesverdienstkreuz hat man uns verliehen, sozusagen als Tapferkeitsfeder für uns und unseren ewig sabbernd Pfeife rauchenden Häuptling. Doch keiner hat sich darum gekümmert, wie wir mit dem Erlebten klarkamen. Ich war Monate lang in der Psychiatrie und kann heute noch keine Nacht ruhig schlafen. Ein anderer hat sich das Leben genommen. Aber wen hat’s interessiert.“ Herbert richtete sich auf und schlug sein Handtuch noch enger um seine schmalen Hüften. Mit dem gestreckten Zeigefinger suchte er eine Stelle in Veras Bademantel-Dekolleté, jedoch ohne sie zu berühren. „Ich kann meinen Gegner immer noch mit dem Druck meines Zeigefingers an der richtigen Stelle umbringen, und genug Geld habe ich auch gemacht. Aber innerlich bin ich tot.“ Klara streifte ihren Frotteemantel ab und griff nach dem Badetuch. „Mir wird kalt; ich geh’ wieder rein.“ Herbert beugte sich über Vera. „Gefallen dir meine Federn?“ Vera lächelte: „Ach, du steckst dahinter.“ „Am Strand findet man ja auch schöne Steine, aber Federn sind leichter“, fuhr er fort. Vera verstand, wusste genau, was er meinte. Nach einer Pause fügte er hinzu: „Außerdem passen sie viel besser zu einem Engel wie dir.“

„Wir sollten Klara nicht so lange allein lassen. Komm, lass uns zu ihr gehen.“ Vera schritt voran und Herbert folgte. Den Saunagang verbrachten sie wieder schweigend.

Bevor sie sich trennten, baten sowohl Klara als auch Herbert darum, das Gehörte für sich zu behalten. Herbert zog einen Flachmann aus der Tasche seines Kapuzenpullovers und prostete den Beiden zu: „Auf die Geschichten, die das Leben schreibt!“ Dann nahm er einen großen Schluck. Klara schüttelte sorgenvoll den Kopf: „Du solltest achtsamer mit dir umgehen.“ Bald wusste die ganze Klinik von Veras und Herberts Beziehung, da er sein Versteckspiel nun aufgegeben hatte und Vera die allmorgendliche Feder gewöhnlich selber überreichte. Petra wandte sich dann wie angeekelt ab, Ellen schaute fasziniert, als ob sie einen Horrorfilm sähe, und Kornelia konnte sich die ein oder andere spöttische Bemerkung nicht verkneifen.

Sie waren nicht die einzigen, die ihrer Missbilligung deutlich Ausdruck verliehen – vor allem wegen Veras stets ausgesprochen freundlicher Reaktion auf die Geschenke: Sie lächelte Herbert an, erkundigte sich, ob er gut geschlafen habe, scherzte mit ihm und dankte ihm für seine Komplimente – ja, und manchmal berührte sie ihn sogar leicht an der Hand oder Schulter.

Sie verabschiedeten sich dann stets, indem sie einander einen guten Tag wünschten – bis zum folgenden Morgen.

Am letzten Tag ihres Klinik-Aufenthaltes ging Vera vor dem Frühstück ans Meer, das im leichten Nebel lag. Von der Uferpromenade aus konnte sie nur eine Person am sonst menschenleeren Strand ausmachen – Herbert, der wohl gerade wieder ein Bad genommen hatte und schnell in Hose und T-Shirt schlüpfte. Dann zündete er sich eine Zigarette an und ging den Strand entlang, sodass Vera nur seinen Rücken sehen konnte. Nach einer Weile bückte er sich und hob etwas auf; er holte zum Wurf aus, traf, eilte zu der Möwe, und als er sie in der Hand hielt, drehte Vera sich um und rannte zurück in die Klink und die Treppen hoch zu ihrem Zimmer. Sie kramte in ihrem Koffer, bis sie die Federn gefunden hatte, und warf sie in den Papierkorb.

Im Kleinbus, der sie mit vielen anderen Patienten zum Bahnhof bringen sollte, vermied sie es, aus dem Fenster zu sehen. „Warum waren Sie denn nicht beim Frühstück? Ihr Verehrer hat Sie vermisst.“ Kornelia stupste sie in die Seite. „Nun schauen Sie doch endlich mal. Er winkt Ihnen mit einem ganzen Strauß von Federn zu.“ Vera schloss die Augen:

Federn sind leichter ...

– von wegen!

Denkanstösse

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Die Einwohner von Rheindahlen werden von der Besatzung zusammengetrieben und in Sammellagern untergebracht.

(Foto: Stadtarchiv Mönchengladbach)

Rheindahlen nach der Eroberung: Evakuierung der Frauen und Kinder durch die 9. US-Armee.

(Foto: Stadtarchiv Mönchengladbach)

Frühjahr 1945: Für die Menschen am Niederrhein endeten die Schrecken des Zweiten Weltkrieges.

Stolz schrieb im Februar der britische Kriegshistoriker Thompson: „Kein Stein blieb auf dem anderen; der Anblick einer noch stehenden Mauer wurde zum Phänomen.“ Wie kam es zu dieser Entwicklung?

US-Soldat in den Ruinen vor dem Münster.

(Foto: Stadtarchiv Mönchengladbach)

Vor siebzig Jahren

Ende des Zweiten Weltkrieges VoN KARL-HEINZ THIFESSEN

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ZEIT

D-Day Am 6. Juni 1944, dem sogenannten D-Day, gelang es den Alliierten mit der Landung in der Normandie, den deutschen Verteidigungswall zu durchbrechen. Seiher drängten britische und amerikanische Divisionen unaufhaltsam der deutschen Reichsgrenze entgegen.

Die damit verbundenen immer häufiger werdenden Luft­angriffe auf deutsche Städte zeigten überdeutlich die alliierte Dominanz.

Letztes Aufgebot Bereits Mitte September hatten sie Frankreich, Belgien und Luxemburg zurückerobert. In einem Akt der Verzweiflung versuchte die Deutsche Wehrmacht im Dezember 1944 noch einmal das Blatt zu wenden. Doch die Ardennen-Offensive wurde gestoppt und die Front verlief nunmehr nur noch wenige Kilometer von der alten Kaiserstadt Aachen und damit vom Reichsgebiet entfernt.

Während die von den Amerikanern ausgerufene Operation Grenade von Westen her auf das Reichsgebiet vordrang, rückten gleichzeitig von Norden Kanadier und Briten in einer Zangen­ bewegung zur Eroberung des Niederrheins an. Beide Armeeverbände sollten sich bei Geldern vereinigen und die verbliebenen deutschen Truppen einkesseln.

Die deutsche Armee sah sich außer Stande, diesen gewaltigen Vormarsch zu verhindern, zumal wichtige Kampfverbände an die ebenfalls schwer unter Druck geratene Ostfront abgegeben werden mussten. Verzweifelt wurden alte und blutjunge Kämpfer im Volkssturm rekrutiert und in eine sinnlose Abwehrschlacht mit vielen Toten geworfen.

Selbst Schüler, schlecht ausgebildete Fünfzehn- und Sechzehnjährige, gehörten zum letzten Aufgebot.

Aussichtslos Evakuierungsanweisungen an die mehr und mehr verunsicherte Bevölkerung gab es ab Oktober 1944. Immer mehr Menschen verließen daraufhin ihre Heimatorte – teils gezwungen, teils freiwillig –, da sie unweigerlich in kürzester Zeit zum Kampfgebiet würden. foto // gertrud grins

Obwohl fast überall noch Widerstand aufbrandete, rückten amerikanische Kampfverbände täglich näher und standen am 27. Februar 1945 auf einer Linie zwischen Hückelhoven – Erkelenz – Königs­hoven. Nur wenige Tage vor dem Einmarsch wurde am 23. Februar Erkelenz bei einem Bomben­angriff fast vollständig zerstört, ebenso erging es Wickrath und Rheindahlen.

Danach dauerte es nicht mehr lange, bis die ersten Soldaten der neunten amerikanischen Armee auf Mönchengladbach/Rheydt vorrückten. Sie schätzten zunächst die Stärke des deutschen Widerstandes viel höher ein, als er tatsächlich war, doch zur Verteidigung der Städte standen an Wehrmachteinheiten nur noch vereinzelte Truppenteile zur Verfügung. Das Kräfteverhältnis zu den Alliierten betrug in etwa 1:10.

kriegsende in Mönchengladbach Damit wurde jedem klar, dass beide Städte mit den verbliebenen Kräften nicht zu halten waren. Teile der nationalsozialistischen Stadtverwaltung setzten sich bereits Richtung Krefeld und Düsseldorf ab. Die gesamten Fahrzeuge der Polizei wurden auf die rechte Rheinseite geschafft.

Erste Kämpfe um Mönchengladbach gab es im Gebiet des Hardter Waldes.

Gewaltige Detonationen waren weithin hörbar. Gleichzeitig setzten Panzereinheiten mit ständiger Unterstützung von Jagdbombern die Einkesselung in nordöstlicher Richtung fort.

Von allen Seiten tasteten sich amerikanische Panzer- und Infanterieeinheiten vor. Widerstand war kaum zu verspüren, Schützengräben und Gewehrstellungen waren verlassen, nur vereinzelt fielen Schüsse. Unter den rund 50.000 Bewohnern, die noch in Mönchengladbach lebten, brach Panik aus.

Sie ließen sich kaum noch auf den Straßen sehen, sondern verkrochen sich dorthin, wo sie in den letzten Monaten ohnehin die meiste Zeit verbracht hatten: in den Kellern und Luftschutzbunkern.

Die Stadt lag unter starkem feindlichem Artillerie­beschuss. Über den Ruinen patrouillierten ständig Beobachtungsflugzeuge.

zeit

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Um die Mittagszeit des 1. März war es soweit: Die ersten Panzer der neunten amerikanischen Armee rollten in Mönchengladbach und Rheydt ein. Gegen 10:45 Uhr erreichen sie den Marienplatz und um 14:00 Uhr den Alten Markt.

Die wenigen kurz zuvor noch zusammengestellten Verteidiger zogen sich angesichts der massiven gegnerischen Übermacht hinter die Niers zurück. Die Übergabe erfolgte weitgehend kampflos.

Befreiung?

Den Bewohnern wurde befohlen, aus den Bunkern zu kommen und versprengte deutsche Streitkräfte zu melden. Weiterhin mussten Waffen, Munition, Radios, Brieftauben, Sender und Fotokameras abgeliefert werden. Schlagartig wurde den Menschen bewusst, dass sie von nun an ein be­siegtes Volk waren und sich der alliierten Gesetzgebung unterzuordnen hatten. Bei jeglichen Hilfeleistungen für den »Feind«, womit von nun an die deutschen Truppen gemeint waren, drohten schwere Strafen durch alliierte Militärgerichte bis hin zu Todesstrafen.

Während beim Einmarsch die Bevölkerung relativ unbehelligt blieb, kam es wenig später häufig zu Übergriffen und Belästigungen. Bei Racheakten von befreiten Zwangsarbeitern sahen die Besatzer weg.

In den folgenden Tagen eroberten die Amerikaner in rascher Folge Neuss, Krefeld und bald schon den gesamten Niederrhein. Am 10. März befand sich das linke Rheinufer in alliierter Hand.

Was bedeutete dies alles für die dort lebenden Menschen?

Die meisten erlebten das Ende des Krieges keineswegs als Befreiung. Nur nach und nach gelang es, die Fesseln der Diktatur abzustreifen. Das Tausendjährige Reich war untergegangen. Zunächst war man heilfroh, die Bombenangriffe überlebt zu haben, obwohl es ringsum trostlos aussah. Fast jede Familie hatte Tote zu beklagen. Allein in Mönchengladbach waren 42% der Wohnungen von 1939 zerstört und weitere 30% beschädigt

zerstörung und not Überall gab es Spuren der Zerstörung. In den Straßen türmten sich Trümmerberge. Hinzu kam die Sorge um vermisste Angehörige. Zahlreichen Bewohnern fehlten nicht nur das Dach über dem Kopf, sondern auch Nahrungsmittel, Wasser, Strom usw. Eine Infrastruktur gab es nicht mehr.

Rigoros sperrten in Mönchengladbach am 8. März englische Soldaten große Bereiche des Stadtteils Eicken ab, u.a. auch das Fußballstadion am Bökelberg und die Kirche St. Elisabeth.

Die Bewohner mussten ihre Häuser verlassen und zusehen, wo sie unterkamen.

Verbotsschilder zeigten den Zivilisten eindeutig an: Sperrgebiet! Bei Betreten drohte die Todesstrafe. Ähnlich ging es auch in anderen Städten am Niederrhein zu. In Wickrathberg richteten die Amerikaner im April 1945 ein Kriegsgefangenenlager ein (vgl. Zwischentöne Nr. 29) Verwendete Quellen:

Bosch, Heinz: Der Zweite Weltkrieg zwischen Rhein und Maas, Geldern, 1970.

Hügen, Ludwig: Der Krieg geht zu Ende. Niederrheinische Berichte zur Operation Grenade 1945, Viersen, 1982.

Hügen, Ludwig: Operation Granate. Die Besetzung der Städte M.-Gladbach, Rheydt, Viersen und Krefeld - Uerdingen durch amerikanische Panzerdivisionen und der Panzerkampf in Schiefbahn am 1./2. März 1945, Willich-Schiefbahn, 2002.

Michels, Wilhelm: Niederrheinisches Land im Krieg. Ein Beitrag zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Kleve, 1965.

Foto: Stadtarchiv Mönchengladbach Blick vom Geroplatz zum Abteiberg mit Münster und Rathaus Abtei

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Neuanfang Nachdem die Zuständigkeiten über die besetzten Gebiete geklärt waren, bekleidete in Mönchengladbach der Brite Donald Syme ab Juni die Position des Stadtkommandanten, Wilhelm Elfes war schon seit April von den Alliierten eingesetzter Oberbürgermeister. In Rheydt übernahm dieses Amt August Broicher.

Schwierig war für viele die Überwindung der Sprachbarriere, denn kaum jemand verstand die neuen Herren. Vor den Menschen lag ein Leben unter fremder Herrschaft in Ruinen und der Kampf ums tägliche Brot. Allenthalben wurden Plakate angeschlagen, die immer neue Anordnungen und Ausgangssperren der Militärregierung bekanntmachten.

Die Evakuierten kehrten heim, ebenso Wehrmachtsangehörige und Kriegsversehrte. Tagtäglich kamen Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die irgendwie untergebracht und ernährt werden mussten.

Dennoch erkannte man auch rasch die Chancen, die das Kriegsende bot.

Die Menschen lernten es, sich mit den neuen Herren zu arrangieren, aus den ehemaligen Feinden wurden Freunde.

Vor ihnen lag eine Zeit des Umbruchs, des Wiederaufbaus, verbunden mit der Hoffnung auf dauerhaften Frieden.

Foto: Stadtarchiv Mönchengladbach US Soldaten der 9. US Armee durchkämmen am 27.02.1945 die Bismarckallee (heute Trompeterallee) in Wickrath

Wie einen unendlich wert­vollen Schatz versteckt Klara Baumanns unter ihrem Mantel eine grüne Stofftasche mit einigen Lebens­ mitteln für die kommenden Tage.

Fast den gesamten Nachmittag hat sie an der Ausgabestelle in einer langen Menschenreihe gestanden und tatsächlich es ist ihr gelungen, ein Stück Brot, drei Scheiben Käse und 150 Gramm Fleisch zu ergat­ tern. Horst und Hermann, ihre zwölf und neun Jahre alten Kinder, werden sich freuen.

Von ihrem Mann hat Klara schon lange nichts mehr gehört, genauer gesagt seit seinem letzten Fronturlaub im Sommer 1944. So begingen sie schon das siebte Weihnachtsfest ohne ihn. Diesmal kam nicht einmal ein Gruß. Das macht ihr große Sorgen.

Kohlenklau von Karl-Heinz Thifessen

Der Winter 1945/46 liegt mit bitterer Kälte auf den Trümmern der zerstörten Stadt. Seit einem halben Jahr fallen zwar keine Bomben mehr, doch es fehlt an allen Ecken und Enden. Besonders knapp sind Nahrungsmittel und Brennstoffe. Für die Menschen gilt es, das eigene Überleben zu sichern.

Daran zu denken, dass er vielleicht gar nicht mehr lebt, verbietet sich von selbst.

Doch nachts holt Klara die Ungewissheit erbarmungslos ein und lässt sie stunden­ lang nicht schlafen. In den vergangenen Monaten scheint sie um Jahre gealtert.

Bei einem der letzten Bombenangrif­ fe wurde ihr schönes Eigenheim völ­ lig zerstört. Sie und ihre Kinder über­ lebten nur, weil sie sich rechtzeitig in einen Luftschutzbunker retteten. Als Zuflucht blieb ein kleines Holzhäuschen im Schrebergarten direkt hinter den Ei­ senbahngleisen. Dort leben sie seit Mo­ naten und dennoch geht es ihnen besser als manch anderen. Gott sei Dank fallen keine Bomben mehr.

Von Weitem künden dicke grauen Rauchwolken das Herannahen eines Güterzuges an, der direkt aus dem Ruhr­ gebiet kommt. Einmal in der Woche rollt er mit schwer beladenen Kohlenwag­ gons durch den Hauptbahnhof. Zeigt das Signal rot, muss er anhalten und minu­ tenlang warten, bis ihm die Durchfahrt gewährt wird.

Bundesarchiv, Bild 183-R68236 CC-BY-SA

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Kohlejäger Sie hat schon davon gehört, dass junge Leute – oft sind es auch Kinder – genau diese Zeitspanne abpassen. Unter Lebensgefahr klettern sie dann auf die Waggons und werfen in aller Eile den unten wartenden Angehörigen Kohlebrocken oder Briketts zu. Das ist sehr gefährlich, manch einer stürzte beim plötzlichen Wiederanfahren des Zuges auf die Gleise und bezahlte seinen Mut mit dem Leben. Ältere, denen das Risiko zu hoch ist, reißen deshalb mit Stangen den wertvollen Brennstoff einfach nur herunter, sammeln rasch alles ein, um dann wieder so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Doch darf man das? Ist das nicht Diebstahl? Diese Fragen wollen Klara nicht aus dem Kopf.

Andererseits hörte sie vom Erzbischof Frings aus Köln, der erst vor wenigen Tagen während der Sylvesterpredigt im Dom den hungernden und frierenden Menschen zurief, dass Diebstahl in der Not keine Sünde sei.

Horst, ihr ältester Sohn, ist fast schon so groß wie seine Mutter und fühlt sich stark genug, ebenfalls auf die Waggons zu klettern. Obwohl noch im Kindesalter, wirkt er schon erwachsen und weiß um seine Verantwortung für die Familie. „Ich schaffe das schon“, beschwichtigt er die Bedenken seiner Mutter. „Und ich helfe dir dabei.“ Die vorschnellen Worte des neunjährigen Hermann ängstigen Klara. „Jaja“, hält sie ihm entgegen, „dann kommen die Wärter von der Bahn und sperren euch beide ein.“ Doch sie weiß, dass sie dem Drängen ihrer Kinder nicht mehr lange widerstehen kann, und wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, will sie das auch gar nicht mehr. Wahr­ scheinlich dauert es nicht mehr lange, bis sie sich in der kalten Bretterbude erkälten und krank werden. – Und dann? Wer soll ihnen helfen?

Am folgenden Abend decken dichte graue Wolken den Himmel vollkommen zu. Es friert leicht und tagsüber hat es immer wieder nach Schnee ausgesehen. Tatsächlich fällt nun feines Geriesel lautlos nieder. Aus den Trüm­ mern einiger zerstörter Häuser in unmittelbarer Nähe schimmert schwaches Kerzenlicht. Der steile Anstieg hoch zu den Gleisen erweist sich mehr und mehr als glit­ schige Rutschbahn. Es riecht nach Erde und Feuchtigkeit.

Klara, Horst und Hermann ziehen es deshalb vor, sich hinter einem dichten Gebüsch unterhalb des Bahndam­ mes zu verstecken. Sie wissen, dass sie nicht alleine hier sind, denn schon bei einem kleinen Blick zur Seite sehen sie die grauen Menschenknäuel der anderen Kohlejäger.

Klara zieht den Kragen des dünnen Stoffmantels bis an den Hals, dennoch ist ihr kalt und sie friert fürchterlich.

Mehrmals haucht sie in ihre klamm gewordenen Hän­ de. Den Kindern scheint die Kälte nichts auszumachen.

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Ganz im Gegenteil: Ihre Gesichter glühen regelrecht vor Erregung. Gespannt reagieren sie auf jedes Geräusch.

Hält der Zug? Plötzlich kommt Bewegung in die Menschen am Bahn­ damm. Von ferne vernehmen sie das Pfeifen des heran­ nahenden Güterzuges. Klara reißt die Augen weit auf und schaut nach oben. „Jetzt ist es soweit“, geht es ihr durch den Kopf. „Der ist bestimmt noch zwei Kilometer entfernt“, beruhigt Horst seine Mutter.

Sie antwortet nicht, wischt sich zum wiederholten Mal mit dem Handrücken einige Schneeflocken aus dem Gesicht und starrt gebannt auf die Signallichter, die nur verschwommen zu erkennen sind. Nur wenn rot aufleuchtet, hat sich die bisherige Aufregung gelohnt.

Doch noch stehen alle Lichter auf grün. Das würde be­ deuten, der Zug fährt ohne Halt an ihnen vorbei. Dann wäre alle Mühe umsonst. Nur Sekunden später die Erlösung: Rotes Licht blinkt auf. Schrill quietschen die Bremsen der Schlepplok. Ächzend verlangsamen die großen Eisenräder ihre Drehzahl und Sekunden später steht die Lokomotive wie ein fürchterliches Dampf speiendes Monster zischend über ihnen. Für einen Au­ genblick herrscht gespannte Ruhe. Klara drückt Horst fest an sich, als wolle sie ihn nicht mehr loslassen.

Die Kohlentransporter werden bewacht, meistens von deutschem Bahnpersonal, mitunter übernimmt auch englisches Militär diese Aufgabe. „Wer denen in die Hände fällt, dem gnade Gott“, grübelt sie. Doch zum Glück ist weit und breit nichts Verdächtiges zu sehen.

Keine Zeit für Angst Schon bald kriechen die ersten Gestalten, überwiegend Männer und junge Burschen, mit tief ins Gesicht gezo­ genen Mützen aus den Sträuchern hervor, schleichen hoch Richtung Gleise und versuchen die vor Nässe glitzernden Waggons zu erklimmen. Jede Sekunde ist kostbar, der Zug steht nicht ewig hier. Einige rutschen an den glatten Planken ab, versuchen es immer wieder, so lange bis sie irgendwie oben ankommen. Der flinke Horst Baumanns gehört zu den Ersten, die ihr Ziel erreichen. Bald schon fliegen die begehrten schwarzen Brocken herunter. „Komm, Mutter, sonst gehen wir am Ende noch leer aus“, flüstert Hermann und kriecht mit ihr, immer wie­ der ängstlich zur Seite schauend, auf allen Vieren näher heran. Unter seiner Jacke zieht er einen zusammengefal­ teten Kartoffelsack hervor, in dem die wertvolle Beute versteckt werden soll. Nur schemenhaft erkennt er das Gesicht seines Bruders.

Obwohl dem Neunjährigen der direkt vor ihm stehende Kohlewaggon wie eine finstere Wand aus Eisen von

ungeheuren Ausmaßen vorkommt, bleibt keine Zeit für Angst. Er muss sich beeilen, denn neben und hinter ihm robben ebenfalls Frauen und Kinder heran. Alle raffen wahllos umher und stopfen so viel wie möglich in mitge­ brachte Säcke oder Körbe. Es kommt darauf an, schneller zu sein als die anderen. Und dann … nichts wie weg.

Stehen bleiben!

Doch plötzlich zucken sie zusammen: Eine große uni­ formierte Gestalt schält sich unvermittelt aus dem Schneegeriesel heraus und stapft mit Riesenschritten näher. „Bahnpolizei!“, dringt es barsch an ihre Ohren.

Rasch überwinden die jungen Kerle auf den Waggons den ersten Schrecken, schauen nach links und rechts, springen halsüberkopf herunter und versuchen zu fliehen.

Horst schlägt jedoch so unglücklich auf, dass er sich einen Fuß verrenkt. Fast hätte er laut aufgeschrien; um sich jedoch nicht zu verraten, presst er die Lippen fest zusammen und schluckt seinen Schmerzensschrei regel­ recht herunter. Nur mit Mühe hält er sein Gleichgewicht.

An eine schnelle Flucht ist nicht mehr zu denken.

Hermann und Klara eilen zu Hilfe, versuchen ihn zu stüt­ zen, rutschen aus und fallen hin. Alle drei liegen auf dem Boden. Die Nässe durchdringt jählings ihre Kleidung, während sich die harten Schritte des schwergewichtigen Uniformierten unaufhaltsam nähern. Wie ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln beugt er sich über sie, bereit seine Beute zu ergreifen. „Aufstehen und mitkommen. Das ist Diebstahl. Ihr gehört vors Militärgericht.“ Klara legt schützend ihre Arme um die Kinder. Trotz allem ist sie auch irgendwie erleichtert, dass dieser Kerl deutsch spricht. „Er wird uns am Ende doch laufen lassen“, hofft sie. „Er kennt doch die Not seiner Lands­ leute.“ Alle anderen, die kurz zuvor noch neben ihnen von den Waggons gesprungen sind, sind plötzlich wie vom Erd­ boden verschluckt. Mit einem langgezogenen Pfeifton setzt sich der Güterzug zischend und fauchend wieder in Bewegung. „Lass sie laufen, das sind doch noch Kinder“, bettelt Klara immer wieder. „Wir geben ja alles zurück.“ „Wer klaut, muss dafür auch gerade stehen“, zischt der Dicke zurück. Gierig ergreifen seine breiten Hände den Sack, in dem sich gerade einmal drei kleine Kohlebro­ cken und vier Briketts befinden. Gleichzeitig schiebt er Klara in ein Bahnwärterhäuschen. „Ihr kommt auch mit”, zischt er die Jungs an.

Mit verzerrtem Gesicht humpelt Horst hinterher und wird dabei, so gut es geht, von Hermann gestützt. Im Innern der Blechbude ist es fast so kalt und zugig wie draußen.

Erpressung „Was wollen Sie von uns?“, fragt Klara und drückt die Kinder wieder dicht an ihren Körper. Der Mann in der grauen Uniform grinst. „Naja“, wispert er. „Ich bin ja kein Unmensch. Ihr könnt euch freikaufen. Vielleicht sehe ich dann von einer Anzeige beim Militärgericht ab.“ „Freikaufen!“, sagt Klara entsetzt und hätte am liebsten laut aufgeschrien. „Womit denn? Wir haben doch selber nichts.“ „Wenn du mir deine Bezugsmarken gibst, könnte ich mich überreden lassen, von einer Strafe abzusehen.“ „Die habe ich erst gestern eingetauscht“, antwortet sie entsetzt. „Umso besser“, grinst der Wärter. „Dann kannst du deine Strafe in Naturalien bezahlen.“ Klara wäre dem Kerl fast an die Gurgel gesprungen, doch sie fühlt sich unterlegen und wehrlos. „Los, geh nach Hause und hole alles. Wehe, du versuchst mich zu hintergehen“, sagt er im Befehlston. „Dann siehst du deine Kinder nicht mehr wieder.“ Er wartet auf irgendeine Reaktion. „Du hast die Wahl, entweder du tust, was ich dir sage, oder ich melde euch alle drei bei der Militärpolizei.“ Von außen nähern sich Schritte. Nervös richten sich die Augen des Mannes auf die Eingangstür. Nur einen Wimpernschlag später wird sie hart aufgestoßen und mehrere britische Soldaten stürmen herein.

Die Briten „Hands up“, ruft einer. Mit einer schnellen Drehung versucht der vermeintliche Wärter zu fliehen, doch ehe er sich versieht, packen die Engländer zu und drängen ihn in eine Ecke. Durch den Aufprall des schweren Körpers vibrieren die dünnen Blechwände derart, dass ein Fens­ ter zu Bruch geht. Die Briten schimpfen und schieben ihren Gefangenen durch die Tür ins Freie.

Von Klara und den Kindern nehmen sie kaum Notiz. Erst als sie ihre verdutzten Gesichter und den Kohlensack sehen, dreht sich ein Soldat um und sagt in gut verständ­ lichem Deutsch: „Ihr habt gestohlen, eigentlich müssten wir euch auch mitnehmen. Aber dieser Verbrecher ist wichtiger. Also macht, dass ihr verschwindet.“ Klara versucht noch einige Kohlenstücke zu retten, doch er geht rigoros dazwischen und reißt den Sack an sich: „Das könnte dir so passen.“ Wie versteinert steht sie da und sieht die Soldaten mit­ samt Kohlesack und dem angeblichen Bahnpolizisten im stärker werdenden Schneefall verschwinden. Wer er wirklich war und was aus ihm wurde, hat Klara niemals erfahren.

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der LAden von josée hümpel-langen

Es war ein wunderbares Geschäft. Wenn die Tür aufging, bimmelte es.

Eine Glocke von feinem Klang sagte: „Jetzt bist du da, warte eben, setz dich auf den knarrenden Stuhl und ruhe dich aus. Frau Rosenbaum kommt gleich, sie nimmt gerade die frischen Brote aus dem Backofen und holt Reisig für das nächste Feuer.

Warte, sie kommt.“

Die Fotos auf diesen und auf den nächsten beiden Seiten machte Josée Hümpel-Langen 2010 anlässlich der Ausstellung „WUND, WUNDER“ von Gerhard Pelzer in der Citykirche in Mönchengladbach.

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Ich könnte höchstens die zwei Kümmel­brote und die süßen Brezeln schon für Samstag vorbe­reiten.

Vielleicht auch noch die Honigtaler und den Früchtekuchen, die halten sich bis zum Fest, aber die Torten ... das wird nicht gelingen, dafür ist es zu warm. Montag bleibt mein Geschäft zu.“ Sie holte ein großes braunes Stück Pappe unter der Theke mit dem Pflaumenkuchen hervor und schrieb in schwungvollen Buchstaben und mit fester Hand:

Sehr verehrte Kundschaft, am Montag geschlossen. Dienstag bin ich wieder da.

Ihre Konditorin und Bäckermeisterin Anna Rosenbaum

Ich sah Frau Rosenbaum, sie schob die Back­ bleche hin und her. Sie hatte immer gute Laune und schlanke, flinke Hände; sie sang.

Für diese Stimme würde ich sterben. Ich wollte sie nie, nie im Leben vergessen. Frau Rosenbaum trat durch die offenstehende Back­stubentür in den Laden, wischte ihre bemehlten Hände an der großen weißen Schürze ab und schaute mich an. „Na, Bub, hast du Hunger, möchtest du eine Brezel oder ein Plätzchen oder ein Stück Mohn­ striezel?“ Ich schaute sie, wie jedes Mal, staunend an. „Ja, Frau Rosenbaum, sehr gerne, es schmeckt immer so gut. Meine Mutter schickt mich; ich soll eine Bestellung aufgeben, für Montag.

Bitte, hier ist der Zettel.“

Chaim, wer war das? Ein Verwandter, ein Freund? Ich traute mich nicht zu fragen, sah ihr hübsches Gesicht, ihre Augen wurden plötzlich sehr traurig. Sie reichte mir ein extra großes Stück Mohnstriezel und sagte: „Kopf hoch, junger Mann. Lass es dir schmecken“. Sie schaute mir lange zu, als ich in den köstlich duftenden Kuchen biss, der in dem Steinofen mit der schweren gusseisernen Tür gebacken war.

Am Samstag holte mein Vater die zwei frischen Kümmelbrote, das Pfund Brezeln, die Honigtaler und den Früchtekuchen für das Fest. Sie rochen wunderbar.

Ich schob das kleine Stück Papier mit der energischen Handschrift meiner Mutter über die Theke. Frau Rosenbaum nahm den Zettel und las ihn sorgfältig. Er war ziemlich lang. „Feiert ihr das Fest Montag?“, fragte sie. „Ich glaube ja.“

Frau Rosenbaum stellte das Schild behutsam vor die Apfel­taschen ins Schaufenster, so dass jeder es lesen konnte.

Frau Rosenbaum kehrte nie mehr in ihren Laden zurück. Auch nicht am Dienstag.

Sie schaute nachdenklich. „Montag..., Montag ist ausnahmsweise Ruhetag, dann kommt Chaim. Es geht wirklich nicht. Wir müssen etwas Wichtiges besprechen Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Nein, es geht nicht, Bub, so leid es mir tut.

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70 Jahre danach GEDICHTE UND GEDANKEN VoN JoSéE HüMPEL-LANGEN grau

auschWitZ hierhin fahren nicht vergessen nicht vergessen wollen über den boden gehen die luft einatmen neu werden umdenken darum

ankunft wo bin ich angekommen kommt man hier jemals an? fährt man hier jemals weg? hier bleibt der mensch der abgrund, das entsetzen das abgestumpftsein das abgrundsein immer

zahlen, blöcke, häuser häuser, blöcke, zahlen mein haus ist gottverlassene leere zahlen, blöcke, zahlen ich höre nichts ich höre nichts nichts als grau

ohnE titEl in einem polnischen cafe trinken sie leise einen espresso doppio essen ein stück mohnkuchen lachen, wie damals die juden

Josée Hümpel-Langens Vater war im niederländischen Widerstand. Ihre Mutter arbeitete im Krieg in einem Krankenhaus in Rotterdam. Dass diese wehrlos zusehen musste, wie Patienten deportiert wurden, hat sie zutiefst erschüttert. Sie erlebte auch das Rotterdamer Bombardement.

Josée Hümpel-Langen ist seit 1968 mit einem Bundeswehroffizier verheiratet. Im Sommer 2010 fuhr sie mit einer Gruppe für einen einwöchigen Aufenthalt nach Auschwitz.

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GEDIchTE

brillen brillen runde brillen kleine brillen kleine runde brillen mit gläsern hunderte, tausende, verrostete, verrottete verbogen, verheddert, verformt ohne gläser mit glas bügellos ich höre den quietschenden zug das öffnen der klappen sehe die menschen sehe

am fenster stehen am fenster stehen die luft im stickigen raum verlassen atmen frische atmen tröstlich ist der wind der regen sie leben beleben den tod heben den tod auf einen augenblick

birkenau

die bäume dunkeln schwarz und der wald bleibt stumm keinen vogel, keine stimme, keinen ton die stille, die stille die stille geht um ich lausche dem wald und der wald ist ganz stumm die stille, die stille geht um

erinnerung ich weiß nicht, ob ich die türme behalten will die teiche, die wiesen, die blumen oder das duftende heu vielleicht vielleicht nur die wolken oder den wind nicht die schienen, die rampe die koffer, die haare, die haare die nicht, nein die nicht ich weiß nicht, ob ich die wolken behalten will oder vielleicht vielleicht, nur den wind die wolken, den wind ich denke an das kind das kleine gekrümmte mit angewinkeltem bein und ich suche den wind denke an das kind ich weiß nicht ob ich die wolken behalten will oder vielleicht, vielleicht, nur den wind

o. ein sonniger tag in o es ist fünf sie trinken einen kaffee spielen ein spiel zwischen rosafarbenen torten das radio spricht polnisch, ich verstehe nichts auch nicht, wenn die uhr schlägt es ist sieben noch immer sitze ich hier und verstehe nicht

gedichte

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Meine aufzeichnungen basieren auf den Erinnerungen des damals (1944) achtj채hrigen M채dchens (links).

Mit hilfe meines Bruders Leo, heute 82 Jahre alt, konnte ich einige Einzelheiten erg채nzen.

Kriegskindheit

im erkelenzer Land VoN GERTA GoRMANNS

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ZEIT

Als die Alliierten von westen her vorrückten, verlagerte sich das Kriegsgeschehen auch in den Kreis erkelenz. Der Geschützdonner war so laut, dass man kaum schlafen konnte. wehrmachtssoldaten mit ihrer Feldküche wurden auf unserem hof in houverath einquartiert. sie versorgten ihre Kameraden mit essen, die an der Rurbrücke in hilfarth in stellung lagen. in dieser Zeit (Oktober/november 1944) häuften sich die todesnachrichten von jungen soldaten, die wir kannten. schließlich gab die Verwaltung am 29. september 1944 wegen der heranrückenden Front den Räumungsbefehl. Das betraf auch uns.

evakuierung Mehrere Tage wurde die Evakuierung vorbereitet.

Zwei Pferdekarren wurden mit Heuleitern vergrößert und mit Planen überspannt. Möbel wurden aufgela­ den, zwei Schweine geschlachtet und in Holzfässer auf den Karren eingepökelt. Bettzeug, Wäsche und Kleidung wurden sorgfältig verpackt und verstaut.

Wir Kinder waren verstört, alles war so hektisch. Die letzte Mahlzeit vor unserem Abmarsch ist mir noch gut in Erinnerung. Meine Eltern und wir sechs Kinder im Alter von vier, sechs, acht, zehn, elf und dreizehn Jahren aßen schweigend. Als das Dankgebet gesprochen war, schaute unser Vater in die Runde und weinte und wir alle mit ihm. Als wir uns etwas beruhigt hatten, sagte Mutter: „Kommt, lasst uns einen Rosenkranz beten, auf dass wir zusammenbleiben und hoffentlich gesund zurückkommen.“ In Waldbröl bei Onkel Ferdinand, einem Vetter meines Vaters, der dort Pfarrer war, sollten wir eine Bleibe finden. Ein Militärlaster brachte in einer Nacht­ und Nebelaktion unsere Mutter mit den vier Jüngsten und Tante und Onkel in einer Schwarzfahrt dorthin. Vater hatte sie mit zwei Schweinen und Kühen bezahlt. Ehe er mit den beiden ältesten Brüdern aufbrach, war er noch einmal auf dem Hof. Es ging dort fürchterlich zu. Eine neue Einheit war eingerückt (Organisation Todt), die hatte unser Vieh auf bestialische Weise abgeschlach­ tet, erzählte er uns. Am 06. Dezember 1944 verließ ein Treck, zu dem auch unsere zwei Pferdefuhrwerke gehörten, die Heimat. Sie brauchten bis Waldbröl über eine Woche.

wohnungssuche Bei unseren Verwandten, die schon andere Flüchtlinge aufgenommen hatten, konnten wir nicht bleiben. Mut­ ter ging deshalb von Tür zu Tür, um eine Wohnung für uns zu finden. Als sie abends müde und verzweifelt ins Pfarrhaus zurückkehrte und noch immer nichts gefunden hatte, meinte sie: „Ich bin ja stolz und froh, dass ich euch habe, aber wenn ich um eine Unterkunft bitte und sagen muss, wir haben sechs Kinder, dann fühle ich mich, als hätte ich einen Strick um den Hals.

Ich bekomme immer die gleiche Antwort: Für so vie­

Bombenkrieg in erkelenz 08. okt. 1944 Erster Bombenteppich auf Erkelenz 06. Dez. 1944 Erneut schwerer Angriff auf Erkelenz 23. Febr. 1945 Der „Schwarzer Freitag“ – ein Bombenhagel zerstört die Innenstadt von Erkelenz le haben wir keinen Platz. Und das eine Woche vor Weihnachten!“ Wieder einmal klopfte unsere Mutter an eine Tür. Wieder hieß es: „So viel Platz haben wir nicht.“ Sie wollte sich schon enttäuscht abwenden, als die Großmutter der Familie, die in einem Sessel neben dem Ofen saß, zu ihren Töchtern sagte: „Lasst die Frau herein und räumt die gute Stube aus. Platz hat im ganzen Dorf niemand, also machen wir Platz.“ Unsere Mutter kam überglücklich zurück zu uns. Am nächsten Tag fand sie auch noch einen Stall für unse­ re Pferde. Und als der Vater mit den beiden Jungen endlich erschöpft in Waldbröl ankam, war die Freude riesengroß. Es wurde gelacht, geweint und erzählt. Wir waren gesund und wieder beisammen. Am nächsten Tag zogen wir in unsere neue Bleibe bei Familie Happ in Rossenbach ein. Für fünf Monate war dies nun unser Zuhause.

weihnachten 1944 in der notunterkunft Unsere Eltern und wir sechs Kinder wohnten in einem einzigen Zimmer. 25 Quadratmeter für acht Personen.

Rückblickend ist es fast unvorstellbar. Hier wurde ge­ kocht, gebacken, gegessen und geschlafen. Wir hatten zwei Betten, die große Bank aus unserer Küche, einen Tisch und vier Stühle von zu Hause mitgebracht.

Abends wurde umgebaut. In dem einen Bett schliefen die Eltern, in dem anderen drei von uns. Die Bank mit dagegen gestellten Stühlen bildete die Schlafstatt für die anderen drei. Und in diesem Zimmer hat uns, wie durch ein Wunder, das Christkind gefunden. Als wir am Weihnachtsmorgen aufwachten, stand in ei­ ner Zimmerecke ein geschmückter Tannenbaum mit Krippenfiguren aus Pappe, und darunter lagen kleine Geschenke. Mit einem Trick hatten die Eltern und der

ZEIT

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Auch in unserer neuen Bleibe gab es immer wieder Fliegeralarm und schwierige Situationen zu bestehen.

Schließlich wurde Vater zum Volkssturm einberufen.

Eine Übung hat er mitgemacht, dann bekam er eine schwere Furunkel-Entzündung. Eine sehr vernünftige Ärztin hat ihn daraufhin krankgeschrieben. Damit war seine „militärische Laufbahn“ zum Glück beendet.

Gerta mit Eltern und Geschwistern

älteste Bruder es geschafft, die Überraschung unbe­ merkt zu organisieren. Trotz der widrigen Umstän­ de verstanden es unsere Eltern, uns ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. Wir waren zusammen, sangen Weihnachtslieder und Tränen glitzerten in unseren Augen. Zusammen stapften wir später durch den Schnee zur Weihnachtsmesse ins drei Kilometer entfernte Nachbardorf Ziegenhart.

Die Quartiergeber Unsere Gastgeber, eine Familie mit sechs Erwachsenen und zwei Kindern, waren meistens sehr nett, besonders die Oma und die beiden Mädchen Margret und Trudi, vier und sechs Jahre alt, mit denen wir oft spielten.

Wir erzählten ihnen natürlich von unserem Dorf und unserem Hof, wie schön alles sei. Und wir träumten von baldiger Heimkehr. Eine der Tanten konnte mich manchmal ärgern: „Ihr könnt nicht mehr nach Hause zurück, ihr müsst für immer hier bleiben. Bei euch in Houverath ist alles kaputt, da kann man nicht mehr leben.“ „Wenn unser Haus kaputt ist, können wir auch im Hühnerstall wohnen, der ist groß genug und aus richtigen Steinen gebaut, und er hat ganz viele Fenster“, gab ich weinend ganz entrüstet zurück. Ich war gerade neun Jahre alt geworden.

Hunger brauchten wir nicht zu leiden, wir hatten ja genug Vorräte mitgenommen. Unsere beiden Pferde, Flora und die hochtragende Stute Lia, durch den Win­ ter zu füttern war schwierig. Wir Kinder hingen sehr an den Pferden, waren sie doch das Einzige, was von unserem Viehbestand in der Heimat übrig geblieben war. Sie sollten uns ja auch wieder nach Hause brin­ gen. Um Heu und Stroh zu bekommen, boten wir die Arbeitsleistung der Tiere an. Die Aufträge reichten von Mist- und Jauchefahren bis zum Transport von Kohle­ zuteilungen. Im Frühjahr halfen die Pferde bei der Feldarbeit. Fünf Stunden Arbeit mit zwei Pferden für ein Bund Heu oder Stroh.

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Manchmal sahen wir auf der nahegelegenen Landstraße Soldatenkonvois fahren. Die Männer sahen abgekämpft und müde aus. Doch einmal, es war fast Frühjahr, fuhren mehrere Autos mit Jungen, kaum älter als unsere Brüder, in Hitlerjugenduniformen vorbei. Sie sollten noch als Flakhelfer eingesetzt werden. Die meisten von ihnen schienen sich zu freuen, sie sangen voller Inbrunst: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen …“. Es ist mir nicht bekannt, wie viele dieser Jungen zuletzt noch für Führer, Volk und Vaterland gestorben sind.

Ein Herz für Kinder Eine ganz besondere Frau gab es in Rossenbach: „Kleins Lenchen“. Ich sehe sie noch vor mir, klein von Gestalt, mit leicht gebückter Haltung, etwas gehbehindert. Aus ihrem gutmütigen Gesicht strahlte immer ein freund­ liches Lächeln. Sie war ein Engel für alle Kinder im Dorf. Sie nahm uns mit in ihr kleines Haus, das sie mit ihrem Bruder und ihrer Schwester bewohnte. Sie las uns Geschichten vor, sie sang, spielte und betete mit uns. Sie hatte eine Dose mit Resten von vielen Buntstiften, eine Rarität, und Papier zum Bildermalen. Sie bastelte mit uns aus Resten Buntpapier kleine Osterkörbchen. Vor allem – sie hatte Zeit und ein offenes Ohr für uns; wir fühlten uns wohl bei ihr. Wenn die anderen Erwachsenen vor lauter Sorgen und Ängsten keine Zeit und Geduld für uns hatten, bemühte sie sich, uns ein Stückchen un­ beschwerte Kindheit zu erhalten.

Die Kuh Luzie

Das Kriegsende

Zurück in Houverath

Endlich – am 9. April 1945 – rollten in Rossenbach ame­ rikanische Panzer ein. Die Soldaten wurden als Befreier begrüßt. An allen Häusern hingen weiße Tücher.

Endlich erreichten wir am 30. April überglücklich unsere Heimat. Als Erster begrüßte uns auf unserem Hof unser schwarzer Kater. Er hatte die fünf Monate gut überstanden und wich nun nicht mehr von unserer Seite. Wochenlang bestand eine wichtige Beschäftigung darin, Schutt wegzuräumen und Steine abzuklopfen. In unserer Scheune hatte Vater vor der Evakuierung einige Zentner Kartoffel eingelagert. Darüber waren Futterrü­ ben geschichtet. Wir fanden sie unter dem Schutt und hatten dadurch Pflanzkartoffel. Familie Püllen hatte für uns schon Hafer eingesät. Dafür wäre es inzwischen zu spät gewesen. Felder und Garten wurden bestellt, und bald gab es wieder Obst und Gemüse. Die hochtragende Stute Lia hat ihr Fohlen bekommen. Wegen einer schwe­ ren Kolik musste das Pferd notgeschlachtet werden. Und das Fleisch wurde unter Aufsicht auf unserem Hof ver­ kauft (kiloweise). Wir Kinder saßen mit unserer Mutter drinnen und weinten. Lia hatte uns doch in der schweren Zeit treue Dienste getan. Ihr Fohlen hat überlebt.

Sofort bereiteten meine Eltern die Heimfahrt vor, und schon am 11. April verließen wir Rossenbach. Es war eine Reise mit vielen Hindernissen. Immer wieder Kontrollen, Entlausungen und Zwangspausen wegen Brücken, die gesprengt oder gesperrt waren. Wenn Papa seine Papiere zeigte, sagten die Amerikaner: „Bauer, schnell!“ Sie wussten offenbar, dass es Zeit war für die Frühjahrsbestellung auf unseren Feldern. In Niederpleis mussten wir mehrere Tage pausieren. Beim Spielen auf der Straße habe ich dort zum ersten Mal einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe, einen amerikanischen Solda­ ten, gesehen. Er war sehr freundlich zu uns und hat uns Kindern Schokolade geschenkt.

Von einer Bäuerin in Spurkenbach hatte unser Vater eine Kuh gekauft, die hat die ganze Rückreise mitgemacht.

Machten wir abends Rast, hat Mama die Kuh gemolken und dann bei fremden Leuten gefragt, ob wir bei ihnen auf dem Herd eine Milchsuppe kochen dürften. Eine junge Mutter, die mit ihren zwei kleinen Kindern eben­ falls auf der Heimreise war, bekam häufig auch etwas davon. In Houverath hat die Kuh Luzie noch viele Kälber geboren und viel Milch gegeben.

Gerta Gormanns wurde

1936 in Erkelenz-Houverath geboren, ist mit einem Landwirt verheiratet und hat vier Kinder und sechs Enkelkinder.

Im FAUST-Gasthörer­programm der Hochschule Niederrhein erfüllte sie sich ihren lebenslangen Traum vom Lernen.

Gerta Gormanns

Allmählich normalisierte sich das Dorfleben. Doch für viele Menschen kamen noch harte Zeiten. Wir selber litten keine Not, wir hatten ja zu essen und konnten den zahlreichen Bittstellern, die täglich an unsere Tür klopften, stets etwas geben.

Noch im Sommer 1945 öffnete die Schule wieder ihre Pforten. Wir hatten aber zunächst ständig neue Lehrer.

Ein Jahr später, am 28. April 1946, haben meine Schwes­ ter und ich dann voller Freude das Fest der Heiligen Kommunion zu Hause gefeiert. Es war das erste große Familienfest nach dem Krieg. Ein Treffen mit vielen Tanten, Onkeln, Vettern und Cousinen. Alle waren dankbar, die furchtbare Kriegszeit überlebt zu haben.

Und sie ließen sich den Festtagsbraten und zum Kaffee den leckeren Kuchen – natürlich von Mama selbst ge­ backen – schmecken.

2015 erschien ihr Buch „3 Leben – Erinnerungen – Erzählungen – Gedichte“, in dem sie über ihre drei Leben als Kind, junge Frau und Groß­ mutter erzählt.

3 Leben

Pro BUSINESS Verlag ISBN: 978-3-86386-868-0 9,90 €

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KoPFWEIDEN AM NIEDERRHEIN VoN CHRISTA DEGEMANN Knorrige Kerle mit gespenstigen Schöpfen stehen zusammen im Wind Der Strom leckt launisch am Wurzelgeflecht Bizarre Gebilde Der Flut preisgegeben Alte Gesellen spüren den Frühling Spreizen die Triebe der Sonne en entgegen Und krallen sich fest Im Kieselsand

WINDGENEIGT VoN UDo HoUBEN eine zerzauste weide lehnt sich in den wind knorrig fest steht ihr stamm in den feuchten wiesen geduldig steht auf einem bein der graue reiher

fotos // pixabay.com // CC0

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GEDIchTE

Wenn ich einen Standpunkt hätte könnte ich aufrecht stehen Wenn ich einen Standpunkt hätte wäre ich in Form Wenn ich einen Standpunkt hätte könnte ich weiter sehen Wenn ich einen Standpunkt hätte entspräche er der Norm?

mückenmobile von udo houben eine fängt an zwei machen mit vier kommen hinzu sie schwingen auf und nieder

Wenn ich einen Standpunkt hätte wo wäre der Grund?

Wenn ich einen Standpunkt hätte wie wäre sein Gesicht?

Wenn ich einen Standpunkt hätte wem täte ich ihn kund?

Wenn ich einen Standpunkt hätte wo läge sein Gewicht?

zehn reigen sich ein bewegen sich hin und her tanzen im sonnenlicht alle sind gekommen keine mehr fehlt sie schweben im tanz bis der sonnenstrahl bricht

Standhaft von Gertud Grins

Wenn ich einen Standpunkt hätte gehörte dazu Mut? Wenn ich einen Standpunkt hätte wäre er auch wahr?

Wenn ich einen Standpunkt hätte lebte ich dann gut?

Wenn ich einen Standpunkt hätte drohte mir Gefahr wenn ich einen Standpunkt hätte?

Trost von Elke Roob Dass wir zu zweifeln wagten an der Friedfertigkeit unserer Henker, nahmen diese uns so übel, dass sie uns töteten.

Zumindest brauchen wir jetzt mit unserer Schuld nicht mehr zu leben.

gedichte

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Ich habe nicht geschrieben. Ich will keine verlogenen Urlaubsgrüße aus dem schönen Siorapaluik an irgendwen senden, nur weil hier das nördlichste Postamt der Welt – ein einsamer Briefkasten – im Reiseführer angepriesen wird.

Die „Rembrandt van Rijn“ tanzt auf dem Wasser wie ein Streichholz. „Dreimast-Segler“ – pah. Sie ist ein Spielball der Wellen. Erneut packt sie der Wind, schleudert die alte Dame von Wellenberg zu Wellenberg ins Wellental. Der Käpt’n hält sie auf Kurs, der Motor treibt sie nach Norden.

Wieder und wieder hebt sie auf und ab, auf und ab. Es reißt mich von den Beinen. Wo finde ich Halt? Alles schaukelt, der Boden, die Wände, das Bett. Mein Kopf birst, mein Darm revoltiert, mein Magen stülpt sich um. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr.

„Warum nur habe ich diese Grönland-Reise auf einer Segelyacht gebucht?“

Ich schwanke, fange mich, wanke, sinke aufs Bett.

Es schaukelt – hin und her. Am Bullauge gurgelt das aufgepeitschte Meer. Der Mittelmast ächzt.

Jammervoll lausche ich dem Sound der Motoren.

Sie stampfen und dröhnen ununterbrochen. Der Wind kennt kein Pardon. Haltsuchend schaue ich mich um. Mitternachtslicht durchwebt die Kabine.

Ich leide, leide qualvoll, versuche zu schlafen.

Lieben Babys wirklich das Schaukeln der Wiege?

Wer hat sie danach gefragt?

Der Mut hat mich verlassen. Das bin nicht mehr ich, die da in der Kabine liegt und stöhnt. Warum habe ich mich verleiten lassen, hierhin zu reisen? Was will ich auf dem arktischen Meer? Wie konnte ich so vermessen sein zu glauben, die See sei meine Verbündete? Der Schiffsgong ertönt. Ich erhebe mich. Finde mich auf dem Kabinenboden wieder. Mein Mann Dieter steht mir bei, hilft mir zurück aufs Bett. Der Kopf will bersten. Der Kabinenluft, Gerüche geladen, fehlt Sauerstoff.

„

Grönlands Nordosten ist nichts für Landratten und Angsthasen.

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Wann können wir endlich an Land? Ich schlafe ein.

Der Schlaf schützt mich. Alpträume martern mich.

Ich erwache. Trockener Gaumen. Der bittere Geschmack auf der Zunge ist gallegleich.

Kreislaufkollaps – unheilvolle Wirkung der Medikamente gegen Seekrankheit.

Grönland Segelexpedition nach Thule text von Gertrud grins fotos von Gertud & dieter grins

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Landgang Inzwischen sind die Zodiacs wieder einsatzbereit. Der Sturm hatte die Holzplanken beider Beiboote zerschlagen.

Landgang ist angesagt. Ich rüste mich dafür mit warmer Kleidung: Mütze, Regenhose, zwei Paar Socken, Gummistiefel. Darüber die Schwimmweste, Handschuhe und Kamera nicht vergessen. Ab ins Boot. Wir knattern zum Strand. Am Ufer kein Steg. Wir gleiten ins Wasser, stapfen an Land, sind in Qaanaaq.

Der Nieselregen stört wenig. Grönlands Küsten-Tundra ist weglos. Naturbelassene Natur. Die Pflanzenpolster haben sich mit Schmelz- und Regenwasser vollgesogen. Die Gummistiefel bewähren sich. Bald erkenne ich, wo ich weniger einsinke. Hier ein Fels, dort eine Krüppelweide oder ein besonders hohes Polster. Anstrengend, aber erholsam.

Kein Schwanken mehr. Eher schwebend schreite ich auf festem Grund ins Himmelsgrau.

Wir sind in Uummannaq, besser be­­­kannt als Alt-Thule. Ein verlas­senes Dorf. Die Bewohner wurden 1953 zwangs- umgesiedelt, weil die Amerikaner in Thule einen Militärstützpunkt errichten wollten, der heute noch genutzt wird.

Inzwischen darf das verlassene Dorf wieder von Touristen besucht werden.

150 Kilometer entfernt liegt Neu-Thule (Qaanaaq).

Die Fläche der Gemeinde ist so groß, wie es die alte Bundesrepublik war. Auf dieser Fläche leben ca. 800 Menschen. Es sind Polar-Inuit, die mit den kanadischen Inuit verwandt sind.

Die nördlichste Siedlung der Gemeinde ist Siorapaluk (41 Einw.), die südlichste Sassivik, d.h. der Ort, wo man Eisen1) fand. Die Distanz zwischen den Siedlungen beträgt 360 km.

1 // Das tellurische Eisen stammt von Meteoriten, die hier einschlugen. Der US-Amerikaner Robert Peary ließ allerdings einen 34 Tonnen schweren Meteoriten in die USA schaffen.

Ein herber Verlust für die Inuit. 2 // Ruinen von Kingigtorsuaq. 3 // Aasiat war Ausgangs- und Endpunkt unserer Segeltour. Der kleine Hafen liegt am südlichen Ausgang der Disko-Bucht.

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Sommer in Grönland Die Sonne zeigt sich sporadisch. Es gibt sie also noch, nur Mut! Der Wind ebbt ab.

Das Meer verstummt. Ich erwache zu neuem Leben. „Wie geht’s?“ Was soll ich sagen? Es ist erträglich. Wir freuen uns.

Der Dreimaster steuert zurück nach Süden. Wir müssen noch einmal hinaus aufs offene Meer. Noch einmal schlägt der Wind zu. Ich liege flach, sehne mich nach Hause.

Dann schlägt das Wetter um. Endlich Sommer in Grönland. Ich fühle mich von Tag zu Tag besser. Der Appetit ist wieder da. Wo zaubert unser Koch die frischen Lebensmittel her? Er verwöhnt uns. An Bord haben sich zwanglose Tischgemeinschaften gebildet. Wir sitzen alle im selben Boot. Einundzwanzig Passagiere, zwei dänische Reiseleiter und die Crew, die nun endlich die Segel setzen kann.

Ein großes Vergnügen für uns, harte Arbeit für die Mannschaft. Wir nähern uns kalbenden Gletscherzungen und können auf den Bergrücken das Inlandeis erkennen. Wir umrunden gravitätisch schwimmende Eisberge und gleiten vorbei an bizarr geformten Kolossen. Das Licht, das Spiel des Lichtes auf Wasser und Eis verzaubern mich. Die Stimmung steigt.

Die nächsten Regentage ertrage ich ganz gelassen. Die Hauptsache ist, wir kommen an Land, können wandern und Besichtigungen machen. Wir segeln mit dem Wind. Unsere Nussschale im arktischen Meer schaukelt, sie schaukelt beträchtlich, schaukelt sacht. Ich halte stand.

Im Zodiac setzen wir in Upernavik erneut an Land. Jeder etwas größere Ort hat eine Fischfabrik, in den kleineren ist der „Alles-was-du-brauchst-Laden“ das größte Gebäude. Um weiteres Abwandern zu verhindern, sind die Preise in allen Geschäften gleich – egal, wie hoch die Kosten für die Anlieferung der Waren sind.

Land und leute Die Friedhöfe sind bunt geschmückt.

Plastikblüten mit Netzen geschützt trotzen dem Wind. Viele junge Männer sind verstorben. Ihre Selbstmordrate in Grönland ist überdurchschnittlich hoch.

Die Holzhäuser der Grönländer liegen malerisch in den Buchten und an den Hängen. Kommt man näher, wünscht man, der Schnee hätte den Unrat zugedeckt, der herumliegt. Wir schauen beim Füttern der Huskys zu. Die Schlittenhunde liegen angebunden, meist etwas vom Haus entfernt, im Dreck. Stolz und stark sehen sie nicht aus, jetzt im Sommer.

Ihre Zeit ist der Winter.

Mit den Inuit kommen wir nicht ins Gespräch. Ihre Muttersprache ist Grönländisch (Kalaallisut), die erste Fremdsprache ist Dänisch, denn von 1933 bis 2009 wurden sie von den Dänen regiert.

Und noch heute ist die dänische Krone gültiges Zahlungsmittel. Englisch sprechen wenige.

Dass die Wikinger im 14. Jahrhundert den Weg nach Grönland fanden, dafür glaubt man Beweise2) zu haben. Dass die Wale die grönländischen Gewässer lieben, das konnten wir selbst sehen.

Welche Aufregung, wenn es hieß: Wale in Sicht! Wale, auf zwei Uhr! Wale in Sicht!

Auf der Svartenhuk Halbinsel gibt es tatsächlich Moschus Ochsen. Mit dem Fernglas können wir zwei Herden ausmachen. Das Wandern durch die Tundra hat sich gelohnt. Wir freuen uns.

Die verlassene Minenstadt Qullisat an der Nordküste der Disko-Insel ist fotografisch ein Höhepunkt. Was haben die Grönländer nicht alles zurückgelassen, als sie wegzogen, weil das Kohlebergwerk geschlossen wurde und es keine andere Verdienstmöglichkeit gab. Wir streifen drei Stunden durchs Dorf und können uns kaum trennen. Dabei erwarten uns am Nachmittag die Eisberge der Disko-Bucht. Eisberge, und noch mehr Eisberge, im Sonnenlicht, unter dunklen, drohenden Wolken und vor der untergehenden Sonne.

Licht & Eis Kaum ist sie am Horizont versunken, steigt sie erneut auf, lässt die Giganten strahlen und bersten. Krachend. Die Eisberge tanzen, suchen nach einem neuen Gleichgewicht. Ich habe es gefunden. Aber mir läuft die Zeit davon.

Seit ich die Natur genießen kann, will ich von den Qualen der Seekrankheit nichts mehr wissen.

es hat sich gelohnt Jetzt, wo das Wetter mitspielt, verblassen die Sturm- und Regentage. Wir sind zurück in der Disko-Bucht und genießen den Sonnentag in Godhavn. Morgen werden wir in Aasiat3) eintreffen und nach 18 Tagen unser schwankendes Quartier verlassen. Es hat sich gelohnt, so tönt es mehrheitlich von den Mitreisenden.

Und für mich ?

Für mich war es schrecklich-schön, arktisch-teuer und kraftzehrend, an schlechten Tagen ein Gefängnis, an guten ein behaglicher Hort. Das arktische Meer strapaziert das Gleich­gewichtsorgan über alle Maßen, wenn es mit einer Segelyacht durchkreuzt wird. Grönlands Nordosten ist nichts für Landratten und Angsthasen.

„

Das arktische Meer strapaziert das Gleich­gewicht­sorgan über alle Maßen, wenn es mit einer Segelyacht durchkreuzt wird.

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Was haben die Vereinigten Staaten von Amerika gemeinsam mit Myanmar und Liberia?

Nicht das Metermaß

Eine kurze Frage und eine etwas längere Antwort von Walter Elschenbroich Von den 193 Staaten, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, haben 190 Staaten das metrische System übernommen, nur die USA, Myanmar und Liberia nicht. Wenn man nicht genau wüsste, dass die Vereinigten Staaten zu den technisch fortschrittlichsten Staaten überhaupt zu zählen sind, könnte man annehmen, sie wären in ihrer Entwicklung etwas zurückgeblieben.

Davon kann natürlich keine Rede sein, obwohl ich glaube sagen zu können, dass es der amerikanischen Werkzeugmaschinenindustrie besser ergangen wäre, hätte man sich in den 1970er Jahren, wie u.a. Großbritannien1) und Kanada2) es gemacht haben, für die Umstellung auf die metrischen Maße und Gewichte entschieden, denn das Beharren auf dem „Inch“- (Zoll-) System stellt für deren Produkte ein starkes Exporthindernis dar.

Wir verdanken diese großartige Vereinheitlichung wohl hauptsächlich der Aufklärung, die Ausgang des 17. Jahrhunderts in den vereinten sieben niederländischen Provinzen(auch Generalstaaten genannt) u.a. von Grotius, Spinoza und in Großbritannien von Locke, Hume und Newton ausging. Es bedurfte aber noch einer Revolution (der französischen) und eines autoritären Staatsmannes (Napoleon), um sie in Kontinentaleuropa zur Akzeptanz zu bringen. Die im Zuge der Aufklärung entstandene Pariser Académie des sciences3) hatte ein starkes Interesse an einer Vereinheitlichung der Messsysteme. Sie konnte sich aber im feudalistisch geprägten Frankreich gegen die Grundherren, Zünfte und Amtspersonen nicht durchsetzen.

An einer Änderung der regional unterschiedlichen Maße und Gewichte bestand kein Interesse, obwohl es im Frankreich des Ancien Régime etwa 1.000 Maßeinheiten mit über 250.0004) lokalen Abweichungen gab. Nachdem die Nationalversammlung während der Revolution die Kirchengüter enteignete und die Privilegien des Adels und der Zünfte abschaffte, gaben die Wissenschaftler zu bedenken, dass mit der Revolution und der Proklamierung der Menschenrechte die Gelegenheit für eine Universalisierung der Maße und Gewichte gegeben sei. Es war der Mathematiker Marie Jean Caritat, Marquis de Condorcet, der dem Präsidenten der Nationalversammlung und späteren Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand vorschlug, den Abgeordneten eine Vereinheitlichung der Maße und Gewichte zur Abstimmung vorzulegen. Dies geschah im März 1790, und schon am 8. Mai stimmte die Nationalversammlung zu und beauftragte die Académie des sciences mit der Entwicklung eines einheitlichen Systems. Das System sollte auf vier Prinzipien beruhen: 1. Das neue Maß sollte ausschließlich von der Natur und der Vernunft autorisiert sein.

2. Alle weiteren Maß- und Gewichtseinheiten mussten auf dem Grundmaß, dem Meter, basieren.

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3. Dezimale Unterteilung der Einheiten.

4. Alle Untereinheiten sollten systematische Namen erhalten.

Zu 1.: Ein aus der Natur übernommenes unveränderliches Grundmaß machte es unabhängig von Eigeninteressen einzelner Personen, Parteien oder Nationen und konnte somit für alle Gültigkeit erlangen. Die Wissenschaftler beschlossen, den Erdumfang als von der Natur gegebenes Maß zu Grunde zu legen. Sie bestimmten den zehnmillionsten Teil des über Paris führenden Viertel-Längenkreises (die Distanz vom Nordpol zum Äquator) als Grundeinheit zu nehmen.

In Anlehnung an das griechische Wort „metron“ für „Maß“ taufte im Mai 1790 der Mathematiker Auguste-Savinien Leblond das neue Längenmaß „mètre“5) – „Meter“.

Zur exakten Bestimmung seiner Länge bedurfte es der genauen Vermessung einer Teilstrecke eines Längenkreises. Mit dem so gewonnenen Messergebnis konnte durch Hochrechnung die Distanz vom Pol zum Äquator ermittelt werden. Der Meridianabschnitt von Dünkirchen über Paris nach Barcelona wurde für die Vermessung bestimmt und die Astronomen Pierre-François Méchain und Jean-Baptiste Delambre mit der Vermessung beauftragt. Delambre übernahm die Teilstrecke von Dünkirchen nach Rodez im Südwesten Frankreichs und Méchain die Strecke von Rodez nach Barcelona. Mittels Triangulation6) wurden Einzelabschnitte zwischen auf der Strecke liegenden markanten Punkten vermessen. Mit einem Repeti­tionskreis (auch Bordakreis genannt)7), der mit zwei gegeneinander verschiebbaren Fernrohren ausgestattet das Anvisieren jeweils zweier anderer Messpunkte vom eigenen Messpunkt aus ermöglicht, wurde der Winkel der dazwischenliegenden Strecke ermittelt. Das wiederholte sich über alle Teilstrecken, womit am Ende alle Winkel bekannt und die Seitenlängen der Dreiecke zu errechnen waren. Mit der gesamten Vermessung waren die beiden Astronomen sechs Jahre beschäftigt.8) Zu 2.: Aus dem Längenmaß über die Volumenbestimmung eine Gewichtseinheit zu finden, war neu und revolutionär. Das Gramm (g) definierten die Wissenschaftler als einen Kubikzentimeter Regenwasser bei 4°C (maximale Dichte) bzw. das Kilogramm als ein Kubikdezimeter =1.000g = (1kg) als einen Würfel mit einer Kantenlänge von 10cm.

Zu 3.: Auf der Basis der Zahl zehn, dem Dezimalsystem, beruhten nun alle Teile und Vielfachen von Maßen und Gewichten, eine deutliche Vereinfachung gegenüber den alten Maß- und Gewichtseinheiten, wie z. B.:

// 1 Meter = 100 Zentimeter und 1.000 Meter = 1 Kilometer

statt // 12 Zoll = 1 Fuß, 3 Fuß= 1 Yard, 1.760 Yard = 1 Meile Nicht zu reden von den unterschiedlichsten Gewichtseinheiten in Pound, Stone, Scheffel etc.

Zu 4.: Die systematischen Namen lassen die zugrunde liegende Ableitung von einem Längenmaß oder Gewicht und sein Verhältnis zur Basisgröße erkennen wie z.B. beim Kilometer und Kilogramm das jeweils Tausendfache der Basis Meter oder Gramm oder bei Millimeter und Milligramm das Tausendstel eines Meters oder eines Gramms.

Die Mitglieder der Académie des sciences wünschten sich von Anfang an, dass sich neben Frankreich viele andere Länder für die metrischen Maße und Gewichte entscheiden würden.

Aber das monarchistische Ausland misstraute generell Ideen aus dem revolutionären Frankreich, und selbst bei der französischen Bevölkerung stieß man auf massiven Widerstand, als am 1. Juli 1794 von heute auf morgen der provisorische Meter9) eingeführt wurde. 1812 nahm Napoleon das metrische System teilweise wieder zurück.1840 wurde es dann erneut und endgültig eingeführt.

Infolge der Napoleonischen Kriege wurde das metrische System auch in den von Frankreich besetzten Gebieten eingeführt, aber es gab ähnlich große Widerstände zu überwinden wie in Frankreich. Mit den Niederlagen Napoleons in den Jahren 1814/15 wurden in vielen der ehemals französisch besetzten Gebiete die alten Maße und Gewichte wieder eingeführt. Eine Ausnahme stellte Rheinland-Pfalz dar, aufgrund seines regen Handels mit Frankreich.

Erst im Jahr 1868 übernahm der Norddeutsche Bund die französischen Maße und nach der Reichseinigung 1872 führten nach und nach die anderen Regionen des deutschen Reiches

das metrische System ein und wurden Gründungsmitglied der Internationalen Meterkonvention. Das in Sèvres bei Paris angesiedelte Internationale Büro für Maße und Gewichte (IBMG) überwacht seither die Einheitlichkeit des metrischen Systems.

Im Jahr 1960 erweiterte man es zum Internationalen Einheitssystem (SI) mit den sechs Basisgrößen: // Meter für die Strecke

// Kilogramm für das Gewicht

// Sekunde für die Zeit

// Ampere für die Stromstärke

// Kelvin für die Temperatur // Candela für die Lichtstärke. // Das Mol, die Stoffmengenangabe für chemische Reaktionen, folgte 1973.

Bei einer Überprüfung des Meters durch das IBMG stellte man fest, dass den Herren Méchain und Delambre ein Fehler bei der Vermessung des Erdmeridians unterlaufen war, der Meter ist 0,2 mm zu kurz festgelegt worden. Diese Genauigkeit mit Messmitteln des 18. Jahrhunderts erreicht zu haben, ringt einem ein gehöriges Maß an Respekt ab.

Seit 1983 ist die Länge des Meters nicht mehr durch den Meridian bestimmt, sondern von der Strecke, die das Licht in einem Vakuum in 1/299 792 458 Sekunden zurücklegt, womit der Meter so lang bleibt, wie er vor 200 Jahren festgelegt wurde.

Für Benjamin Franklin, den Literaten, Wissenschaftler und Politiker, der in diplomatischer Mission für die neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika von 1776 bis 1785 in Paris tätig war, war die Zeit noch nicht gekommen. Als von der Aufklärung inspirierter Mitgestalter der Unabhängigkeitserklärung (Declaration of Independence) hätte er sicherlich das metrische System in den USA eingeführt, hätte es schon zur Verfügung gestanden. Heute muss die Bevölkerung von fünfzig Bundesstaaten überzeugt werden, eine Mammut-Aufgabe mit riesigen Kosten.

Aufgrund der weltweiten Vernetzung der Automobilhersteller hat sich ein doppelter Standard für technische Zeichnungen etabliert, in dem alle Maße in Inch und Millimeter angegeben werden, sozusagen eine schleichende Teil-Metrifizierung durch die Hintertür.

In Marmor gemeißelt: Ein historischer Standard-Meter aus dem 18. Jahrhundert in der Rue de Vaugirard in Paris (Foto: wikipedia, LPLT, CC BY-SA 3.0) Fußnoten 1 // Mit Ausnahme der Straßenbeschilderung // 2 // Englisch: metrification // 3 // Gegründet zur Zeit Ludwig XIV. von Jean-Baptiste Colbert // 4 // Zupko, Ronald, Edward: Revolution in Measurement. Western European Weights and Measures since the Age of Science. The American Philosophical Society 1990, Band 186 // 5 // In Anlehnung an das griechische Wort „metron“ für Maß // 6 // Wikipedia: Die Triangulation (Aufteilen einer Fläche in Dreiecke und deren Ausmes­sung) ist das klassische Verfahren der Geodäsie zur Durch­führung einer Landesvermessung // 7 // Wikipedia: Bordakreis //8 // P.M. Magazin 04/2015: Das Maß der Revolution. Wie das metrische System Europa im 18. Jahrhundert einheitliche Maße und Gewichte bescherte.// 9 // Die Berechnung des Meridian durch Méchain und Delambre war noch längst nicht abgeschlossen

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Dä kleene clevere Koalemann

Eine geschichte in Mönchengladbacher mundart von georg nowak

foto // karsten paulick // pixabay.com // CC0

Vörije Wäak woar esch beem Frisör. Esch moß noch jet waade. Et woar’er noch eene vörr mech.

Wi esch nu do eso soat on wadde, ki’ek esch mesch en di Friseerstu’ev noch ens öm. Du soach esch en ön Hött enne staatse Dri’enstool stonn, wo di Puute drenn sitte, wenn di de Plümm jeschni’e krije.

Dat Besongije an dä Stool woar dä Pädskopp möt di twai Jriffe wi be’ij e Schokkelpäid. Wi esch dann nu an de Re’ij woar on kenne angere Kond mi’e möt­ hüere koss, vrorde esch dä Frisör, of hüützedaach di Äldere möt di Blaare noch küeme, öm denne de Hoore schni’e de loote. Esch köß mesch vüerstelle, dat be’ij all di Fresu’ere, di mer be’ij dat jonge Völlekske sütt, di Äldere dat selev maake.

Jo, minde minne Frisör, dat möt dä Kengerhoor­ schnett, dat höd nojeloote. Vör Joore wü’er dat noch angesch jewäß, wi hä d’r Salong noch om Statiunswääsch jehatt höd. Do wüer döks et sams­ tes morijes di janze Stuev voll Blaare jewäß. Di hödde dann och noch Spelldenge van de Heem mötbrait on döks wüer et drüever on dronger jejange. Een Ki’er do wüer et öm jenoch jewäs on hä wüer laut wu‘ede. Laut höt hä jebölekt: „Wenn er net op de Stell hösch sett, dann schmiit esch öch allemoale erut.“ On op ens woar et muksmäuskes stell jewäß. On dann – op een Ki’er – melde sech dä Kleen van dä Koalemann vam Hamere on sait: „Nä, nä, dat dees du net, söß wüeds du hüüt der janze Daach niks verdeene.“

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Mundart

Do woar jo jet dran. Ävel do bösde doch platt, wat sonne kleene Tubak van de Heem all en enne Geschäfshuushalt mötkritt. „Dat esch dänne Kleene di Waak anjesait hod, dat hat waal jeholepe. Allemoale hantse dann noch de Hoore jeschni’e kräje“, sait minne Frisör. Ävell wat wüete hüüt waal di Alde deheem sare, wenn di Blaare vör lau beem Frisör jewäß wüere on vertald hödde, waröm dä Frisör se jelöff höd „D’r osse kann et net jewäß senn. Dä Doll sall mar di eruutschmiite, di sech net beneäme könne. Wenn dä opjerechde Jekk möt di Blaare net parat kütt, da modde wer vör osse Kleen maar enne angere Frisör sööke.“ Wenn oss dat vröer als Blaare passeert wüer on mr wüere onjeschoare no heem komme on di Alde hödde jehu’et, dat dä Frisör oss erutjeschmi’ete höt, esch jlööv, mer hödde se och noch jeklatsch kre’aje.

Döks kütt ör hüüt noch eene van di Tubakke van vör Joare on let sech di all langsam jrau on dönn wuade Plüm schni’e. Wat dä dann waal denk, wenn dä dä Dri’enstool möt dä schönne Pädskopp süt.

Statiunswääsch // Stationsweg, Straße in Mönchengladbach-Venn.

Hamere // Hamern, Ortsteil von Mönchengladbach

Gedichte in Mundart VOn ruDOLF sOus

su’emmerr-Morejje sommermorgen so als ob bäume, sträucher und blumen zum Leben soeben erschaffen wurden und wachsen, ++ als hätte es all das gestern nicht gegeben, so als ob die sonne zum ersten Mal aufging. so als ob gar nichts alt wär‘ und nachts nur verborgen und in eben diesem Augenblick erst an seinen Platz gestellt, so malte sich das Licht an einem sommermorgen die Welt so, als würde sie niemals alt. so, als hätten all die Orte gestern nicht bestanden wie neu gebaut, so fein, sauber und schön, als seien nicht Jahre darüber hinweg gegangen, so, als ob nichts aufgeweicht und verschlissen sein könnte, als gäb es nie ungemach und not und sorgen, als wäre alles gut, wär niemals schlecht, so holte sich die sonn‘ an einem sommermorgen die Welt heraus aus Dunkelheit und nacht.

Als ob der Wind nicht auch mal bedrohlich werden könnte, betastet er die blätter, fast schüchtern und scheu, als würde er das bedrohliche für immer lassen.

Der Wind scheint auch noch jung zu sein und neu. einen solchen Morgen kannst du nur dann erleben, wenn du dich ihm hingibst und es dir vorkommt, als hätte es dich selbst gestern nicht gegeben und gerade dieser Tag auch dein erster wär.

So wie Boom on Strüük on Bloome all ett Le‘äve jraad nu jebo’are wo’at on waaße ding, als höddett jeßßterr all datt nett jejje’äve, wie wenn de i’eschte Ki’err de Sonn opjing.

So wie wänn janix alt wü’err on neits maar veborejje on jraat derr Oorebleck i’esch an sin Plaatz jestallt, so mohlde sesch datt Leet an enne Su’emmerrmoreejje de Wält eso, äs wo’at die nie ennß alt. Äs hödde all die Ö’etterr jeßßterr nett jestange wie nöö jebboot, so pück on pront on schön, äs wään nett Jo’are wü’erre drü’evverr he’err jejjange, wie wänn nix mangeß köß on verrschli’ette senn. Äs wü’erre nie ennß Onjemmaak on Nu’ett on Sorrejje, on wie wänn alleß joot wü’er nie ennß schleit, so hollde sesch de Sonn ann enne Su’emmerrmorejje de Wält erruut uut Donkellheet on Neit.

Wie wänn derr Wengk och nett ennß köß bedräulisch we’äde, taaß dä de Blaar, jerraadesso wie blü’ell on schöö, äs leet hä allwill datt Bedräulije jewe’äde.

Derr Wengk schink och noch jong de senn on nöö.

E sonne Morejje kannsde janz maar dann errle’äve, wänn de desch vottjöfs on ett kütt desch vü’er, äs höddett och desch sälevverr jeßßterr nett jejje’äve, on jraat dä Daach och dinne i’eschte wü’er.

Jeder Mundartautor hat im Laufe der Zeit seine eigene Schreibweise entwickelt. Im Bemühen, die Aussprache der Wörter im schriflichen Text kenntlich zu machen, haben sich unverbindliche Regeln entwickelt. So will Rudolf Sous das kurz gesprochene „e“, wie am Ende von „böse“, dadurch erkennbar machen, dass er den nachfolgenden Konsonanten verdoppelt. Das führt den Leser des Mundarttextes dann häufig zu dem Fehlschluss, es handele sich um Schreibfehler.

Man muss sich also „einlesen“. Die Mühe lohnt sich. Halblautes Lesen erleichtert das Verständnis der Texte. Wundern Sie sich also nicht, wenn am Ende eines Wortes zweimal „ß“ aufaucht. Auch verwendet der Autor Ausdrücke aus dem „Altplattwortschatz“ – Wörter, die heute leider nicht mehr gebräuchlich sind.

Die sinngemäße übersetzung der Gedichte dient dem Verständnis und ist mit dem Autor abgesprochen. foto // larisakoshkina // pixabay.com // CC0

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Gedichte in Mundart VOn ruDOLF sOus

Dä tiet mot senn die Zeit muss sein Die Ameisen hatten sich eine straße gemacht.

Durch den ganzen Garten entlang der Lingusterhecke vom Grünkohl den Weg hinauf und auch wieder zurück und durch die Hecke aufs nachbargrundstück. ich sah sie dann wieder auf dem Tannenzweig. einigen war etwas zum schleppen aufgepackt oder andere ohne Last waren auch in Hast, hier etwas aufzunehmen, da etwas abzulegen. und immer geschwind, in großer eile und flott.

Man sah es sofort: Die Tierchen haben’s eilig. sie haben es eilig mit dem Arbeiten, Laufen, schleppen.

Als ob sie nicht auf beinen, sondern auf rädchen laufen, so geht es über steinchen oder daran vorbei, durch Grassoden, an stöckchen entlang mit der raserei, immer geschäftig, zu Gange und keine Zeit.

Der Weg ist für eine Ameise lang und weit.

Aber beim größten Fleiß, der größten eile, eine sache war den Tierchen nicht zu viel: so oft sie einem anderen begegneten, hatten die alle die Gewohnheit, kurz inne zu halten, mal eben stehen zu bleiben, sich zu betasten und den kopf zu reiben.

Das konnte hundertmal in der Minute geschehen; die Zeit war da, sie fügten sich darein. nun weiß ich nicht, warum Ameisen das tun, ob sie eine sprache haben, so dass sie sich verstehen, was und wie viel sie sich erzählen können.

Aber, dass sie sich einen winzigen Augenblick gönnen, einen kleinen Augenblick in der größten eile für andere Ameisen, das ist ihnen nie zu viel.

Was mag es sein? ist es geschwind nur ein Wort?

Man weiß es nicht, aber es ist sicherlich nichts böses, was die sich ohne Worte und sprechen sagen, wenn sie sich im Vorübergehen auf das köpfchen schlagen. so eilig hat es scheinbar eine Ameise nicht, dass sie keine Zeit für andere Ameisen hätte.

De Söököhß hodde sesch enn Stro’at jemäck, Janz du’er derr Jaad lanß de Lijusterhäck, vam Kü’ell derr We’äsch errop on ooch wi’er trök on du’er de Häck beem Nobberr op ett Stöck.

Esch so’ach se dann wi’er op dä Dänne­Tack, de’ell jätt vörr de schleepe opjepack off loßßeß Liefs wo’arenerr och am ve’äje, heej jätt de krieje, doh jätt afdele’äje.

On allwill schwind, enn jru’ette Ill on flök.

Merr so’ach ett jau: Die De’erkeß handett dröck.

Se handett drök möt werrecke, loope, schleepe.

Wie wann se nett op Been, op Rätscheß leepe, so jeedett ü’everr Stennkeßß of verrbeej, du’err Röösch, lans Stäckskeßß möt die Rohsereej, allwill schaffaan, op jangk on kenne Tiet.

Dä We’äsch eß vörr e Söökohß lang on wiet.

Maar, beej derr jröddsde Vließ, de jröddsde Ill, ee Denge wo‘ar de De’errkeßß nie de völ: So dökeßß die e anger Ohß bejännde hodde die allemo’ale die Jewände jätt enndehalde, jüß enns stonn de blieve sesch de betaaste on derr Kopp de rieve.

Datt kooß honderrt mo’al op de Minütt jeschenn; dä Tiet wo’ar doh, doh scheggden se sesch drenn.

Nu weedesch nett waröm datt Söököhß donnt, of die en Spro’ak hannt, datt se sesch verrstonnt, watt on wievöl die sesch verrtelle könne.

Maar, datt se sesch e Oorebleckske jönne, e Oorebleckske, allwill enn de jröddsde Ill vör anger Söököhß, datt eßß nie de völ.

Watt mach ett senn? Esett maar schwind e Wo’at?

Merr weedett nett, maar sescherlesch nett ko’at watt die sesch o’ane Wö’ett on Kalle saare, wänn se sesch we’äschjangs op ett Köppke schlaare.

So ielisch haddet schingks e Söököhß nett, daddett kenn Tiet vör anger Söököhß hött.

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MuNDarT

Gedichte in Mundart VOn ruDOLF sOus

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kinder sie sind im Haus von morgen.1) Da kannst du nie hinein. es bleibt für dich verborgen, du bekommst es nie zu sehen.

Du kannst die baustelle zur Verfügung stellen und alles bereit machen.

Aber du kannst nicht bestimmen, was für ein Haus einmal darauf steht.

Du musst zwar dafür sorgen und gut darauf achten, dass man das Land von morgen auch noch bebauen kann.

Doch wenn sie leben sollen, dann kommt einmal der Tag, dass sie nach morgen wollen.

Dann lass sie ohne Zwist ziehen, denn mit dem Haus von morgen hast du nichts mehr zu tun.

Dann musst du andere sorgen und ungemach bestehen.

Du gabst deinen kindern Leben, aber nicht deines gabst du mit.

Dein Herz, das darfst du geben, aber deine Gedanken äußern darfst du nicht.

Kenger Se sennd dem Huuß van Morrejje.

Doh kannß Du nie errenn.

Ett bliff vör desch verborrejje, du kreßß ett nie de senn.

Du jo’afs dinn Puute Le’äve maar nett ett dinne möt.

Di Hatt, datt dorrfsde je’äve, maar dinn Jedanke nett.

Du kanns de Booställ bränge on maake alleßß jreet.

Maar kannsde nett bevenge watt vörr e Huuß drop steet.

Merr weet bee all die Sorrejje, die merr sesch maake deet nix van datt Huuß van Morrejje noch nett ennß wo ett steet.

Du moß waal dohvü’er sorrejje on düschdisch Eitop hann datt merr dä Jronk van Morrejje och noch beboohe kann.

Drömm lott de Kenger vaare doh, wo „die“ modde hin.

Waal sennd van desch die Blaare, maar sennd se drömm nett dinn.

Maar, wänn se le’äve solle, dann kütt op ennß dä Daach datt se noh Morrejje wolle.

Dann lott se möt Verdraach.

Die sennd emm Huuß van Morrejje.

Doh kanns du nix van hann on janix drenn besorrejje.

Noch nett ennß drööme vann!

Dänn möt datt Huuß van Morrejje haß du nix mie de donn.

Dann mot merr anger Sorreje on Onjemaak bestonn.

Man weiß bei all den sorgen, die man sich macht, nichts von dem Haus von morgen, noch nicht mal, wo es steht.

Drum lass die kinder fahren dahin, wohin sie müssen.

Zwar sind von dir die kinder,2 aber drum sind sie nicht dein besitz. sie sind im Haus von morgen.

Von dem kannst du nichts haben und auch nichts drin besorgen. noch nicht mal davon träumen!

1 // Gleichbedeutend mit „sie sind im Haus der Zukunft“.

2 // unsere Vorfahren haben im Zusammenhang mit Personen kein Personalpronomen verwendet. eine Person kann man nicht besitzen! Man erkundigte sich z. b.: „Wie jeet et de Vrau?“ beim Vater erkundigte man sich nach den kindern: „Wie jeet et de kenger?“ oder „Wat maake de kenger?“ Aber wenn man sich bei der Mutter nach den kindern erkundigte, fragte man auch schon mal: „Wie jeet et dinn kenger?“ – quasi als Teil der Mutter durch schwangerschaft und Geburt.

MIuNDarT

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Hochschule Niederrhein Kompetenzzentrum „Ressourcenorientierte Alter(n)sforschung - REAL“ Sigrid Verleysdonk-Simons (v.i.S.d.P.)

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Nächster Redaktionsschluss: November 2015

Nächste Ausgabe: Februar 2016

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zwischentöne

Schriften des Kompetenzzentrums Ressourcenorientierte Alter(n)sforschung – REAL Band 3 Der zielfreie Weg Spiritualität des Älterwerdens

ISBN 978-3-933493-36-1, 158 Seiten, 10,00 €

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Band 4 Was erhält Menschen gesund?

Physische, psychische und soziale Faktoren von Gesundheit ISBN 978-3-933493-42-2, 183 Seiten, 10,00 €

Beide Bände sind über den Buchhandel oder direkt im FAUST-Büro erhältlich. Studierende und Gasthörer können die Bücher zum Preis von 7,00 € im FAUST-Büro (Tel.: 02161 / 1865661) erwerben.

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