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Renate Habets Die rote Lene Roman

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Renate Habets

Die rote Lene

Roman

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© by ALCORDE VERLAG, Essen 2013 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Hans-Joachim Pagel, Essen Satz und Layout: ALCORDE VERLAG, Essen Schrift: Bembo 11/13,5 Papier:Werkdruck 90 g/qm, bl. weiß, 1,7,5 fach Volumen Umschlaggestaltung: ALCORDE VERLAG, Essen unter Verwendung eines Gemäldes von Renate Habets Gesamtherstellung: CPI-Quantum Druck, Leck ISBN: 978-3-939973-14-0

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Wir sichern uns die Heimat nicht durch den Ort, wo, sondern durch die Art, wie wir leben.

Georg Baron von Ă–rtzen

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ie immer sitzt sie in der viertletzten Bank links, dort wo die Frauen sitzen, ganz am Rand. Jeden Tag sitzt sie dort, seit achtundzwanzig Jahren, als sei dies der Ort, an den sie gehört, der für sie vorgesehen ist. Alt ist sie geworden, und alt fühlt sie sich auch. Alles fällt ihr schwerer als früher, allein kann sie die Arbeit nicht mehr bewältigen, ihre Bewegungen sind langsamer geworden und ihre Gedanken auch. Meist geht sie nach der Mittagszeit mit unsicher gewordenen kleinen Schritten das kurze Stück die Hauptstraße hinauf, steigt die drei Stufen zur Kirche empor, betritt diese durch die etwas quietschende Seitentür und steuert ihren Platz an, dort am Rand. Ihr kommt es vor, als habe sie ihr ganzes Leben dort gesessen, vierundsiebzig Jahre lang, nur dass es diese Kirche damals ja noch gar nicht gegeben hat. Und doch scheint er ihr so passend, dieser Ort, an dem sie sitzen muss, wann immer es ihr möglich ist. Dort ist sie willkommen, nur dort, denn zur Messe sucht sie die Kirche ja nie auf, nicht mehr seit …, aber daran mag sie gar nicht denken. Aus ihrer Schürzentasche zieht sie den Rosenkranz: fünfzig weiße Perlen, fünf weitere, die wie Granat leuchten. Sie muss lächeln, als sie die kleine Kette mit dem silbernen Kreuz und den drei Kügelchen berührt, an der das tägliche Gebet beginnt. Klaas hat gewusst, dass Granat ihr Lieblingsstein ist, und er hat ihr geschrieben, der Papst habe diesen Kranz gesegnet, für sie, die Schulfreundin, an die er immer denke und für die er bete dort in dem fernen Rom, das schon so lange seine Heimat ist. In die Erinnerung verloren senkt sie ihren Kopf mit dem stumpfweißen Haar, wie es ehemals 7


Rothaarigen zu eigen ist, zu den Perlen, lässt ihren Zeigefinger zärtlich über eine der roten gleiten, immer wieder, hin und zurück, und versinkt in ihren Gedanken, eine ganze Weile lang. Erst als ein plötzlicher Sonnenstrahl – es ist bedeckt und grau dort draußen – sie trifft, schaut sie auf, schlägt das Kreuzzeichen und beginnt mit dem Glaubensbekenntnis, ganz selbstverständlich und ihr durch die tägliche Gewohnheit tief vertraut. Dabei heftet sie ihren Blick auf das zweite Fenster links vom Altar, dessentwegen sie so häufig hier weilt, das sie immer anschauen muss, wenn sie den Rosenkranz betet. Dort ist sie, die Patronin der Kirche, Maria, die Gottesmutter mit ihrem Sohn, der aufrecht auf ihrem linken Arm sitzt. „Ejentlich geht dat gar net“, hat Louise gesagt, als die Fenster vor über dreißig Jahren geweiht wurden, „dat Kend müsste fallen. Su hält mer keen Kind!“, aber das ist ihr, Lene, egal. Wichtig ist nur, dass Mutter und Kind beisammen sind auf diesem Fenster, umrahmt von dem Gotteshaus und sechs Engelchen. Drei, die an einer Feldsteinmauer lehnen, wie sie im Dorf so häufig sind, scheinen neugierig wie kleine Kinder, die verstohlen etwas beobachten, was sie nicht kennen. Lene hat immer lächeln müssen, wenn sie in diese gespannten Gesichtchen schaute. Noch besser aber gefallen ihr die drei anderen, der kleine Flötist zu Marias Seiten und die beiden zu ihren Füßen. Stets hat sie gedacht, dass diese drei so fröhlich musizieren, weil der Sohn geboren ist, „den du, o Jungfrau, in Bethlehem geboren hast“, ihr Lieblingsgeheimnis. Ganz versunken schlägt der eine die Trommel mit seinen Schlägeln, hin und her, weiß und schwarz, immer im Wechsel, während der andere auf der Kniegeige fiedelt: „Nun singet und seid frohohoh“ tönt es in ihr. Als sie Klaas davon erzählt hat – bei ihm hat sie keine Scheu, ihm kann sie fast alles erzählen, er verdammt nie –, hat dieser laut gelacht, ihr erklärt, die „Kniegeige“ heiße Viola da Gamba, sie ein „Närrchen“ genannt, etwas von „zu viel Geschichten“ gemur8


melt und ihr das rote Haar verstrubbelt, so dass auch sie lachen musste. Das hatte sie damals fast nie getan, gelacht, dafür war alles zu schwer, zu unverständlich, zu bedrückend. Es wollte auch niemand mit ihr lachen, damals, als sie seit gerade einmal vier Jahren wieder in Mittelhof war, eine Fremde in der Heimat, nicht willkommen, gemieden, misstrauisch beäugt. Nur der Madonna war sie willkommen gewesen, das hatte sie immer gewusst, auch wenn sie sich lange nicht getraut hatte, zu ihr zu gehen. Und so saß sie auch heute, wie jeden Tag, den Rosenkranz murmelnd, an ihrem Platz dort am Rande.

Klaas Es ist seltsam, aber immer, wenn ich an Lene denke, steigt dieses Bild in mir auf, damals im Herbst 1897 oder 98. Wir müssen wohl acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Im Herbst hatten wir Kinder immer ein wenig mehr Zeit für uns, da die Ernte eingefahren war und die Felder und Wiesen nicht mehr allzu großer Aufmerksamkeit bedurften. In diesen Wochen hüteten wir Kinder nur das Vieh auf den Weiden und überboten uns darin, wer des Abends das schönste Feuer machen könnte. So muss es auch an diesem Tag gewesen sein, an den ich mich so lebhaft erinnere. Wie so oft hatte ich, der einsame Junge aus Neudorn, mich den anderen Kindern in Mittelhof angeschlossen und sie und das Vieh auf den Teufelsbruch begleitet. Während die Kühe weideten – sie fanden noch genug Nahrung dort –, hatten wir begonnen, kleine Zweige und Blätter zu sammeln. Außer mir und Lene waren noch Stürmers Louise und zwei weitere Mädchen zugegen, etwas jünger als wir drei. Unter dem dunklen Herbsthimmel schwärmten wir Fünf also aus, möglichst viel brennbares Material zu der Stelle zu schaffen, wo unser 9


Feuer lodern sollte, höher als das der anderen. Ich war bis an den Waldrand gegangen, weil ich mir dort trockene Ästchen erhoffte, und näherte mich auf dem Rückweg den vier Mädchen, die mitten auf der Wiese standen, weit genug von dem weidenden Vieh entfernt, um es nicht zu schrecken. In meiner Abwesenheit hatten sie einen riesigen Haufen von trockenen Blättern zusammengesucht, gelb, rot, orange, grün und braun, den sie zu einer Pyramide aufgeschichtet hatten. Louise hielt den großen Korb, in dem sie gesammelt hatte, noch in den Händen und schaute mir erwartungsvoll entgegen, was ich wohl brächte, während das größere der beiden anderen Mädchen mit Schwung noch eine Handvoll Blätter auf die Pyramide warf. Neben ihr stand die Kleinste, nicht braunhaarig wie die beiden größeren, sondern blond, und blickte ganz versonnen, selbstvergessen einen angebissenen Apfel in der Hand, auf die aufgetürmten Blätter, die fast so hoch waren wie sie selbst. Diese drei dunkel und einfach gekleideten Mädchen – lange dunkle Flachsröcke, gestrickte schwarze oder blaue Jacken darüber – bildeten einen Halbkreis um unsere Pyramide, die gleich aufglühen sollte. Außerhalb dieses Halbkreises, etwas nach links versetzt, stand Lene in ihrem gewohnten rotbraunen Kleid, einen Stecken in der Hand, mit dem sie wohl das Material zusammen gescharrt hatte. Nachdenklich blickte sie irgendwohin, ich weiß nicht zu sagen, was sie sah, aber sie schien nicht auf die Pyramide zu schauen, die die Aufmerksamkeit der anderen gefesselt hatte. Und in diesem Augenblick erhellte sich der bisher dunkle Himmel durch ein paar abendliche Sonnenstrahlen, die Lene trafen, die dort außerhalb des Kreises stand. Ihr glattes rotes Haar, das sie zu dieser Zeit kurz trug, leuchtete auf, ihre ganze Gestalt schien in Licht gehüllt, bis sich dann wieder Dunkelheit über die Gruppe senkte. Ich weiß nicht, was ich empfunden habe, ich weiß nur, dass sich mir dieses Bild so eingeprägt hat, dass es immer 10


wieder aufsteigt, wenn ich an Lene denke. Ich nehme an, dass wir unser Feuer entzündet haben, die vier Mädchen und ich. Wahrscheinlich hatten wir auch Kartoffeln mitgenommen, die wir in die Glut schoben und später genüsslich aßen. Und wahrscheinlich haben wir auch an diesem Abend laut und fröhlich das Lied gesungen, das wir stets sangen, wenn wir das Vieh beim abendlichen Glockenläuten heimwärts trieben: Hemo! Hemo! Modder, schmer mr en Dong! Kloppen mir off d’n Müllesteen, Loofen de Köh all’ no hem. Hemo! Hemo! Modder, schmer mr en Dong! Dieses Lied sang ich auch immer vor mich hin, wenn ich mich dann in der Dunkelheit auf meinen langen Heimweg machte, den steilen Weg abwärts die Grabigshardt entlang, durch Grabigshütte, dann den stetig ansteigenden Weg durch die Wiesen am Hümmerich bis Neudorn, wo ich mit meinen Eltern wohnte. Diesen Weg werde ich auch an jenem Abend gegangen sein, von dem ich erzählt habe. Lange war dieses Bild in mir versunken, bis es irgendwann einmal wieder in mir aufstieg. Sicherlich war ich auch sehr empfänglich für dieses Erlebnis. Heute weiß ich, dass das, was Lene und mich verband und heute noch verbindet, unsere jeweilige Andersartigkeit war. Die „ruure Lene“, wie sie gerufen wurde, der „Rotschopf“, „Feuerkopf“, „Fuchs“ war anders. Wer hatte schon rote Haare in Mittelhof? Und wer im Westerwald hieß Klaas, wie ich? Damals lebten meine Eltern erst seit kurzer Zeit mit mir in der Abgeschiedenheit Neudorns, wo kaum einmal jemand hinkam und wo es heute, im Jahre 1963, immer noch kein fließendes Wasser gibt. Wir lebten in einem winzigen Lehmkotten: Küche und zwei kleine Kammern. Um das 11


Häuschen herum hatte meine Mutter einen Gemüsegarten angelegt, in dem sie mehr schlecht als recht versuchte, zu unserem Lebensunterhalt beizutragen. Aber ihre Hände, die das Klavierspielen und Kalligraphieren gewöhnt waren, sträubten sich gegen die Garten- und Hausarbeit. Das hatte sie nie gelernt, aber nun musste sie es tun, nun, da sie diese Mesalliance mit diesem „hergelaufenen holländischen Kerl“ eingegangen war, der mein Vater wurde. Meine Eltern hatten mir seit frühester Kindheit erzählt, wie sehr sie sich geliebt, dass es sie wie ein Strahl getroffen hatte, als sie einander zum ersten Mal in Köln auf der Straße gesehen hatten. Ein „coup de foudre“, so nannte es meine Mutter immer lächelnd, und dagegen habe eben nichts geholfen, nicht der Widerstand ihrer Familie, nicht die Verbote, nicht die Enterbung. Und eines Tages war sie schwanger gewesen mit mir. Sie hatte ihren Holländer heimlich geheiratet, und sie mussten Köln und ihrer Familie den Rücken kehren. Irgendwann waren sie auf ihrer Wanderung hier im Westerwald gelandet, hatten den Kotten gemietet, in dem wir nun wohnten, und mein Vater hatte begonnen, in der Grube Friedrich als Bergmann zu arbeiten. Natürlich hätten sie es einfacher gehabt, wenn sie nicht gerade nach Neudorn gezogen wären, aber die Abgeschiedenheit dort hatte sie angezogen. Sie wollten für sich sein. Nie mehr wollten sie die Ablehnung der anderen Menschen erfahren. Und so nahm mein Vater alle Unbill in Kauf, machte sich tagtäglich auf den langen Weg zur Grube und zurück und lebte mit „meinen Liebsten“, der Mutter und mir, hier in dieser Einsamkeit. Ein weiteres Kind hatten sie nicht mehr bekommen, so dass alle ihre Hoffnungen auf mir ruhten, dem sichtbaren Zeichen ihrer Liebe. Auch ich liebte sie sehr, aber ich war immer ein einsames Kind, bisher nirgendwo zu Hause gewesen, nur umgeben von diesen beiden, die einander alles bedeuteten. So war auch ich unendlich erleichtert, dass sie beschlossen, in Neudorn zu bleiben, so lange es ihnen ge12


geben werde, denn das gab mir endlich die Möglichkeit, Kameradschaften mit anderen Kindern zu schließen. Das aber war sehr schwierig. Allein schon mein Name, Klaas, machte mich verdächtig. „Wo kömmst du dann herr?“ war die erste Frage, die mir ein rotwangiger kräftiger kleiner Bursche stellte, als Lehrer Schmidt, der damals die Unterstufe betreute, mich vorstellte. Wo kam ich „dann herr?“, diese Frage trieb mir das Blut in den Kopf, und hochrot vor Verlegenheit stand ich vor mindestens fünfzig Augenpaaren, die mich neugierig musterten. Ich wusste ja nicht, wo ich herkam, wir waren kaum sesshaft gewesen, aber das konnte ich diesen Bauernkindern, die von den umliegenden Höfen stammten, doch schlecht mitteilen. So senkte ich nur beschämt den Kopf und stolperte der freien Hälfte der letzten Bank zu, die der Lehrer mir anwies. Und dieses Stigma, nicht zu wissen, woher ich komme, schleppte ich seit meinem ersten Schultag mit mir herum. Die anderen wussten so genau, dass sie aus Durwittgen, Steckenstein, Blickhauserhöhe, Mittelhof, Krombach oder Röttgen kamen, dort hatten bereits ihre Eltern, Großeltern und wahrscheinlich auch deren Eltern gewohnt. Ich aber kam aus dem Nirgendwo, hatte eine Mutter, die kaum jemand je sah, und einen Vater, der ein ganz merkwürdiges Deutsch sprach. Auch mein strohblondes widerspenstiges Haar unterschied mich von ihnen, diesen Jungen und Mädchen, die jeden Vormittag von acht bis ein Uhr in dem großen Schulsaal an der Hauptstraße mehr oder weniger intensiv lernten. Mir machte das Lernen Spaß, und obwohl ich vorher nie eine Schule besucht hatte, war ich meinen Mitschülern in kürzester Zeit voraus. Lesen und Schreiben hatte ich von der Mutter gelernt. Keine meiner vielen Kinderfragen war jemals unbeantwortet geblieben, so dass ich ein weit umfangreicheres Wissen über die Welt hatte als die Dorfkinder, die sich dafür viel besser in allen Fragen von Flora und Fauna auskannten. 13


Die ersten Schultage waren schwierig für mich, auch, weil ich es ja gar nicht gewöhnt war, immer von so vielen Menschen umgeben zu sein und inmitten all des Lärms, der starken Gerüche und des vielen Neuen, das ich zu sehen bekam, auszuharren. Erst ganz allmählich klärten sich mir die einzelnen Namen und die Gesichter dazu, konnte ich eine gewisse Ordnung all dieser mich überwältigenden Sinneseindrücke herstellen. Und irgendwann fiel mir das schmale kleine Mädchen auf, das am Rande der dritten langen Schulbank saß, in die sich sechs Mädchen teilten. Sie wirkte ganz in sich gekehrt. Ihre Stimme hatte ich auch nach drei Wochen noch nie gehört. Und dann kam diese Pause. Ich besuchte mittlerweile ungefähr fünf oder sechs Wochen die Schule in Mittelhof, war höflich und freundlich allen gegenüber, hielt mich aber zurück, weil ich erfahren hatte, wie schnell die gute Laune des kleinen rotwangigen Johannes, der so etwas wie der Anführer in der Unterstufe war, in Aggressivität und Gewaltbereitschaft umschlagen konnte, wenn man nicht nach seiner Pfeife tanzte. Er war der älteste Sohn des Hofes von Roddern, und manch einer hatte sich eine blutige Nase geholt, wenn Johannes’ Herrschaftsansprüchen nicht bereitwillig Folge geleistet wurde. So lange ich ihm keinen offenen Widerstand leistete, so lange konnte ich hoffen, Ruhe vor ihm zu haben. Das hatte die Mutter mir erklärt, und bis dahin war ich gut mit diesem Rat gefahren. An diesem Spätsommertag – die Luft war noch lau, der Himmel licht und blau – hatte uns der Lehrer wieder einmal für eine Pause „an die frische Luft“ geschickt, wie er zu sagen pflegte. Und so bewegten wir uns rund um das ehemalige Bauernhaus, in dem sich unten die Schulstube und oben die Kammern der Lehrer Contzen und Schmidt befanden, ein jeder nach seiner Art. Einige Jungen tobten schreiend über die Dorfstraße und ließen ihre Kräfte ins Kraut schießen nach diesen langen Stunden des ungewohnten 14


Stillsitzens. Andere kickten Steine zwischen sich hin und her oder kletterten auf die Feldsteinmauer, die das Gehöft umgab, und kauten genüsslich ihre Butterbrote oder bissen in einen Apfel. In eine Ecke des Grundstücks hatten sich die Mädchen zurückgezogen, schwatzten, kicherten, einige banden Blumenkränze, die sie einander quietschend aufs Haar setzten, und ließen keinen Jungen in ihre Nähe. Ich stand allein in meine Gedanken verloren am anderen Ende des Grundstücks, zur Straße hin, als sich plötzlich ein höllischer Lärm erhob. Aufblickend sah ich, dass die Jungenschar sich zusammengerottet und einen Kreis gebildet hatte. Lauthals skandierte sie irgendetwas, erst nur vereinzelte Stimmen, dann immer mehr, rhythmischer werdend und akzentuierter. Und nun verstand ich auch, was sie schrien: „Rübenkopf“, kam es von der einen Seite des Kreises, „Rotfuchs“ von der anderen, hin und her, bis aller Stimmen sich vereinigten und „Hex! Hex!“ schrien, „Lene Hex, Hex!“. Den Stimmführer gab Johannes, der auf- und abspringend das Tempo der Rufe vorgab und immer schneller wie ein Derwisch wurde, bis das „Hex! Hex!“ stakkatoartig ertönte. „Hex! Hex! Hex! Hex!“ Als sich der Kreis ein wenig öffnete, konnte ich von der abseitigen Stelle aus, an der ich mich befand, erkennen, dass in seiner Mitte das kleine Mädchen stand, dessen Stimme ich noch nie gehört hatte. Aufrecht und ruhig stand sie da, ihr kurz geschnittenes rotes Haar glänzte in der Sonne, der Rock des rotbraunen Kleids, das sie immer trug, bauschte sich leicht im Sommerwind. Ihren Kopf hielt sie ganz aufrecht, was mich sehr verwunderte, hätte ich ihn an ihrer Stelle doch sicherlich zur Erde geneigt, aber nein, sie hielt ihn aufrecht und schaute. „Hex! Hex!“ Sie schaute. „Hex! Hex!“ Sie schaute immer noch, geradeaus, und ließ den Blick nicht sinken. Von hinten ertönte eine Stimme, die ich als diejenige der couragierten Louise erkannte: „Hürt off! Hürt off!“, aber die Jungen schrien weiter. Ich ging einen Schritt auf 15


die Gruppe zu und sah, dass Lene, die in deren Mitte stand, niemanden Bestimmten anschaute, sondern einfach geradeaus, standhaft geradeaus, tapfer und unbeirrbar. Irgendwann muss ich in ihren Gesichtskreis getreten sein, denn die Szene zog mich wie magisch an, und das war der Augenblick, in dem ich spürte, dass sie mich wahrnahm. Ich lächelte ihr zu, ganz einfach, ich musste diesem Mädchen zulächeln, das da so einsam den Spöttern die Stirn bot. Ich lächelte ihr zu, ein Einsamer dem Einsamkeitskameraden. Sie schien zu verstehen, was ich ihr mitteilen wollte, denn ihr bisher unbewegtes Gesicht verzog sich ein wenig, der kurze Anflug eines Lächelns glitt über ihre Züge, dann schaute sie wieder wie vorher ins Nirgendwo. Louise machte dieser Szene energisch ein Ende, indem sie sich vor Johannes aufbaute, die Arme in die Seiten stemmte und ihn anbrüllte: „Hür endlich off! Ich saan et soss!“ Da auch die anderen Mädchen sich nun dem Kreis näherten, trollten die Jungen sich einer nach dem anderen, und es kehrte wieder Ruhe ein. Später erfuhr ich, dass die Rothaarige die Lene sei, „de ruure Lene vun de Häh“, einem Bauernhof ganz abseits und einsam gelegen, den ich in den kommenden Jahren noch oft besuchen sollte. Die Lene sei „komisch“ und sie sei eine Hexe, das sehe man an den roten Haaren. Alle Rothaarigen seien Hexen, das wisse doch jeder! Und ich schämte mich, dass ich nicht den Mut hatte zu widersprechen. Denn ich wusste ganz genau, dass das „Stuss“ war, so hatte die Mutter es genannt, als ich ihr von der Szene erzählte, die mich tagelang beschäftigte. Seit diesem Tage gab es so etwas wie eine Beziehung zwischen der Lene und mir, obwohl es eine ganz behutsame Annäherung zweier Außenstehender war, die miteinander nicht mehr allein sind. Zunächst tauschten wir nur hin und wieder ein Lächeln aus, standen wohl auch einmal des Morgens kurz beieinander, ehe der Lehrer uns in die 16


Schulstube holte. Gesprochen haben wir damals, soweit ich mich erinnere, eigentlich nie miteinander, wir nahmen nur durch Gesten und Lächeln den Kontakt zueinander auf. Dann schenkten wir uns Äpfel, Beeren oder tauschten die Schulbrote, obwohl auf beiden das gleiche war: Butter und manchmal auch Marmelade. Ganz heimlich taten wir dies, als müssten wir es vor den anderen verbergen, und das war gewiss auch besser so. Es hat wohl Wochen gedauert, bis wir zum ersten Mal miteinander sprachen, und ich weiß noch, wie erstaunt ich über Lenes Stimme war: merkwürdig tief für ein solch kleines Mädchen, etwas rau. Sie sagte wenig. Ich erzählte mehr, denn ich hatte ein seltsames Vertrauen zu ihr gefasst, und sie hörte zu, wenn ich von den Wanderungen mit meinen Eltern berichtete, von dem Leben, das wir Drei geführt hatten, ehe wir uns in Neudorn niederließen, den Städten und Flüssen, den Menschen und Ereignissen, die ich gesehen hatte. Und ihr konnte ich auch erzählen, dass ich lernen wollte, viel lernen, und dann wollte ich etwas ganz Großartiges tun, etwas, das anderen Menschen hilft. Das war damals mein Lebensentwurf, auch wenn ein Kind gar nicht weiß, was dieses Wort bedeutet. Lene staunte. Mit weit aufgerissenen Augen saß sie neben mir im Gras, ihren rotbraunen Rock um sich gebreitet, hörte mir zu und konnte es nicht fassen. Was es alles gab auf der Welt! Aber Mittelhof sei auch „schüen“. Hier fühlte sie sich zu Hause, auch wenn die anderen ihr das Leben oft schwer machten. Über die Schikanen in der Schule wollte sie nicht sprechen. Sobald ich darauf kam, lenkte sie schnell auf etwas anderes über, fragte nach meinem früheren Leben, und ich erzählte, sofort erzählte ich und wie unter einem Zwang. Zum ersten Mal hatte ich jemanden für mich, der gleichaltrig war. Bisher hatte ich ja nur das Leben mit meinen Eltern gekannt. Ja, so war das mit der Lene damals, als wir uns in der Schule kennen lernten und stark zueinander hingezogen 17


fühlten, der „Klaas von Nirjendwo“ und „de ruure Lene“. Irgendwann nahm sie mich dann auch zum ersten Mal mit in „de Häh“, den Ort, an dem sie mit ihrer Familie lebte. Jüngstes Kind von Sechsen war sie, das hatte sie mir erzählt, sonst aber nur sehr wenig. Dass der „Opa“, der Vater des Vaters, mit auf dem Hof lebte, wusste ich, war aber überhaupt nicht auf diesen kantigen Zweiundachtzigjährigen vorbereitet, der mit finsterem Blick und in stets gebückter Haltung des Sommers auf der Bank neben dem Hauseingang und im Winter neben dem Ofen in der Küche saß und alles im Blick zu haben schien, was um ihn herum geschah. Von ihm ging etwas Bedrohliches aus, so empfand ich es als der Knabe, der ich war, als ich ihm meine rechte Hand hinstreckte, wie mich die Mutter gelehrt hatte, um ihn zu begrüßen. Weder nahm er die Hand noch schaute er mich an, sondern brummelte irgendetwas vor sich hin, das nicht sehr einladend klang. Schnell zog Lene mich fort von ihm in den Stall, wo sie mir zunächst die fünf Kühe zeigte, die die Familie hielt, und liebevoll jede einzelne begrüßte und ihr über den Kopf strich. Als ich zögerte – Tiere war ich nicht gewohnt, obwohl wir jetzt seit einem halben Jahr auf dem Lande wohnten –, nahm sie wie selbstverständlich meine rechte Hand, legte sie auf die Blesse einer Rotbraunen und hielt sie dort sanft fest, als wollte sie mir zu verstehen geben, mir könne nichts geschehen. „Dat ess Rosi“, meinte sie nur, als sei damit alles gesagt, ließ meine Hand los, kraulte den Nacken des Tieres und murmelte beschwörend auf es ein. Ich staunte. Hier im Stall, das war eine neue Lene für mich. Eine, die sprach und fröhlich lachte, von allen tierischen Bewohnern des Hofes willkommen geheißen zu werden schien, selbst die Hühner versammelten sich um sie, als sie mit lockendem Rufen zu dem Geviert ging, das rechts neben dem Wohnhaus deren Revier bildete. Auf der anderen Seite wachte bellend und knurrend an der Feldsteinmauer, die den Garten von dem 18


Hof abgrenzte, angebunden an seiner Hütte, der große und gefährlich aussehende Schäferhund, der in Lenes begrüßender Umarmung zum Schoßhund wurde. Das laute „Loss ess!“ einer hart klingenden Frauenstimme ließ Lene zwar kurz zusammenzucken, aber dann setzte sie ihr Streicheln unverdrossen fort. Wie ich später erfuhr, fand die Mutter Lenes Tierliebe „üwwertriwwen“, ein Hund sei zum Aufpassen da und eine Kuh zum Milchgeben, „esu ess et!“. Das Fachwerkhaus der Familie kam mir damals – verglichen mit unserem kleinen Kotten – riesig vor, war aber für die große Familie, der es Unterkunft bot, recht eng. Die Haustür auf der Giebelseite führte in einen langen Flur mit mancherlei bäurischem Gerät, von dem aus man auf der rechten Seite in die Küche, auf der linken in „de Stuff“ gelangte. Hinten schlossen sich die Ställe, Futter- und Vorratskammer an. Über eine steile Stiege gelangte man in die schmalen Kammern der ersten Etage, die zum Schlafen und zum Aufbewahren der Feldfrüchte, der geräucherten Schinken und Würste dienten. Alle Fenster waren klein, so dass es im Haus immer dämmrig war, genau wie bei uns in Neudorn. Durchzogen waren alle Räume vom Geruch der Kühe, Schweine und Hühner, des Heus, das oberhalb der Ställe gelagert wurde, und des gärenden Viehfutters, das mir immer ekelhaft „stinkig“ vorkam, was Lene, sonst Gerüchen gegenüber empfindlich, überhaupt nicht wahrnahm, war sie daran doch von Kindesbeinen an gewöhnt. Hinter dem Hause – abgetrennt durch die lange Feldsteinmauer – lag der Garten, ein Paradies. Leicht hügelig erstreckte er sich über die ganze Länge des Gehöfts. Kräuter- und Gemüsegarten lagen unmittelbar in seinem Schatten, ordentliche kleine Beete, durch niedrige Buchsbaumhecken voneinander getrennt, und dahinter begann Lenes Paradies, wie sie später, im Rückblick auf ihre Kindheit, stets zu sagen pflegte, „min Paradies“. Nicht gleich bei meinem ersten Besuch, der im Spätherbst stattfand, son19


dern erst im darauf folgenden Sommer, als ich bereits viele Tage und auch Nächte in „de Häh“ verbracht hatte, zeigte sie mir ihren Lieblingsplatz. Einen ihrer Lieblingsplätze, wie mir heute klar ist, den anderen hat sie mir nie verraten, den hat ein ganz anderer als ich kennen lernen dürfen und für seine Zwecke benutzt. Aber ich bleibe bei dem Sommertag unserer Kindheit, an dem Lene, geheimnisvoll lächelnd, mir nach der Arbeit im Stall, die uns beiden übertragen worden war – auf einem solch kleinen Hof arbeiten alle mit, auch die schulpflichtigen Kinder –, winkte, ich solle ihr folgen, unbemerkt von den anderen und schnell. Wir hasteten barfuss über den Hof, vorbei an der Hundehütte, und liefen in den Garten. Eilig öffnete Lene das niedrige Holztürchen, das Gemüse und Kräuter von den Wiesen und dem Obstgarten trennte, und stürmte hügelan, so flink, dass ich ihr kaum folgen konnte. Mitunter war sie so schnell, dass kaum ein anderes Kind es mit ihr aufnehmen konnte. Ihr rotbrauner Rock flatterte, und die beigefarbene Bluse, die sie heute dazu trug, rutschte aus dem Rockbund, so dass sie den Blick auf ein schon recht dunkelweiß aussehendes Unterhemd frei gab. Birnen-, Quitten-, Pflaumen-, Kirsch- und Apfelbäume standen verteilt auf diesen Wiesen, die sich aufwärts in Richtung „Stuhl“ zogen, aber Lene hielt sich bei ihnen nicht auf, sondern verschwand hinter einer Hügelkuppe. Und dann sah ich ihn, Lenes Lieblingsplatz, sie sah ich nicht mehr. In einer kleinen Senke, die sich vor mir aufgetan hatte, stand ein riesiger Apfelbaum mit mächtiger Krone, die dicken Äste breit ausgestreckt, das grüne Laub bis fast zum Boden. So weit war ich noch nie in die Tiefen des Gartens gelangt und stockte nun, als ich den Baum in all seiner Majestät – ja, Majestät, anders kann ich es nicht ausdrücken – dort unter mir stehen sah. „Kumm!“, hörte ich ein Locken und noch einmal: „Kumm!“ Und da rannte ich los, bis ich atemlos an dem Stamm ankam und irgendwo über mir einen sich bewegenden rotbraunen 20


Fleck wahrnahm. Beim nächsten „Kumm!“ versuchte ich den niedrigsten Ast zu ergreifen und mich daran hochzuziehen, was mir gar nicht so leicht fiel, war ich doch mit meinem Kopf immer flinker und geschickter als mit meinen Händen. Irgendwie gelang es mir, und endlich erreichte ich etwa in der Mitte des Stammes die Astgabelung, in der Lene es sich bequem gemacht hatte und von der aus sie mir eine Hand zur Hilfe entgegen streckte. Froh, es geschafft zu haben, ließ ich mich auf der anderen Seite des Stammes nieder und blickte empor. Nur Grün sah ich, lauter Grün, dicht, den blauen Sommerhimmel konnte ich nur ab und zu einmal durchblitzen sehen. Und hier, an diesem Nachmittag, erzählte Lene mir, der Baum sei ihr Freund. Keiner komme auf der Suche nach ihr so weit in den Obstgarten, hier vermute sie keiner. Also sei sie sicher hier, „vor allen und vor allem“, sagte sie fast heftig, ohne zu erklären, was sie damit meine, wie ja Erklären sowieso nicht Lenes Sache war, nie. Verstand man sie, war es gut, tat man es nicht, kümmerte sie sich nicht darum. Ich hatte das Glück, sie meist zu verstehen, und war deshalb ihr Freund, wie dieser Baum, der sie vor allem Feindlichen beschützte. Das hätte ich auch allzu gerne getan, konnte es aber nicht, als es darauf ankam, und das schmerzt mich noch heute. Ich habe nicht verstanden, dass sie alles zu dem Fremden hinzog, vielleicht mochte ich sie auch mit niemandem teilen, mag sein, aber hätte ich es wirklich verhindern können? Zu allen Jahreszeiten fühlte sich Lene zu diesem Baum weit ab von dem Haus hingezogen: in der Blütenpracht des Frühlings, der Reife des Sommers, der Buntheit im Herbst und der asketischen Schönheit des Winters, die mir am besten gefiel. Entweder saß sie hoch oben in der Astgabelung, in der wir an jenem Sommertag gehockt und erzählt hatten, oder sie lag unter ihm im Gras und schaute in die Blätter über ihr. Es konnte auch geschehen, dass sie auf ihn zueilte und seinen Stamm umarmte, auch wenn sie ihn natürlich 21


nicht ganz umgreifen konnte, mächtig wie er war. Ich weiß, dass er ihre Tränen sah, aber daran hat sie mich nie Anteil nehmen lassen. Sie blieb allein, wenn sie weinte. Wir beide haben viel Zeit bei diesem Baum verbracht, stahlen uns fort zu ihm, wann immer wir einige Minuten erübrigen konnten – auf einem Bauernhof gibt es viel zu tun, da gibt es keine Zeit für einen selbst, wie ich sie gewöhnt war, weil meine Eltern alles taten, um meine Studien zu unterstützen. Auch sah ich meine Mutter mitunter tatenlos auf der Bank vor unserem Kotten sitzen, in ihre Gedanken verloren. So habe ich Lenes Mutter nie gesehen. Deren Hände ruhten nie, weder im Sommer noch im Winter, weder des Tages noch in der Dunkelheit. Lenes Familie lernte ich auch dadurch näher kennen, dass mir ihr Vater, dem ich bei meinen Besuchen so gut wie möglich zur Hand ging, sagte, ich könne im Winter, wenn der Weg nach Neudorn kaum zu bewältigen war, bei ihnen übernachten, in einer der oberen Kammern stehe immer eine leere Bettstatt, ich solle meine Eltern fragen, ob sie damit einverstanden seien. Und so wurde es allmählich zu einer Selbstverständlichkeit, dass ich, wenn der Schnee allzu hoch lag, um mich durch die Grabigshardt zu kämpfen, in „de Häh“ blieb, selbst der Vater blieb die eine oder andere Nacht dort, wenn er aus der Grube kam. Das waren die Tage, an denen man kaum bis zu dem Gehöft von Lenes Eltern vordringen konnte und der Schulsaal recht leer blieb, weil die Kinder, die von weit her kamen, die Schneemassen nicht bewältigen konnten. Lene und ich gingen dann die Hauptstraße hoch bis zu der Kreuzung, an der später die Kirche gebaut wurde, wandten uns dort nach rechts und stapften den kleinen Weg zum „Stuhl“ hoch. Den Pfad, der zum Quadenhof führte, ließen wir rechts liegen und kämpften uns durch die Schneemassen bis zur Anhöhe hinauf, von der aus man Mittelhof unter sich liegen sieht. Dort mussten wir uns nach rechts wenden und noch 22


mehr als einen Kilometer hügelabwärts zunächst durch Wiesen, dann durch ein kleines Wäldchen und endlich an den Hecken vorbei, die dem Gehöft den Namen gegeben hatten, wandern, bis wir in „de Häh“ ankamen. Leichter war es, wenn an diesem Tage ein Fuhrwerk bereits einen Weg gebahnt hatte, dann konnten wir versuchen, in den Karrenspuren zu gehen und schneller vorwärts zu kommen. Ich war dann immer froh, wenn wir in der Küche an dem wuchtigen Holztisch mit den anderen saßen, Berge von Bratkartoffeln vertilgten, unter die mitunter kräftig Speck gemischt worden war. Danach half ich allzu gerne im Stall mit aus, denn dann fühlte ich mich all denjenigen zugehörig, die „de Häh“ ihr Zuhause nannten, eine dieser vielen kleinen Bauernschaften, wie es sie am Ende des 19. Jahrhunderts so häufig im Westerwald gab und der ich mich dank Lene zugehörig fühlen durfte für viele Jahre.

Lene „Et ess doch nur wirrer en Mädchen“, hat der Großvater gesagt, als ich am 25. Februar 1889 geboren wurde, zweimal hat er es gesagt: „Et ess doch nur wirrer en Mädchen“, und alle haben gewusst, was er von mir hielt. Und meine Brüder haben laut gesungen: „Müller, Müller, mahle, die Jongen kosten nen Taler, die Mädchen kosten nen Taubendreck, die fihrt ma mit der Schubkarr weg“: Das hat den Dreien Spaß gemacht, denn der Großvater hat laut gelacht – bestimmt hat er gelacht dabei, das hat er immer getan, wenn einer mich schlecht machte – und der Vater hat auch nicht widersprochen. Das hat er nie getan, weder der Mutter noch dem Großvater gegenüber, der immer noch das Sagen auf dem Hof hatte. Vierundsiebzig Jahre ist er damals gewesen und vierundachtzig ist er geworden. Das war für mich uralt. Furchtbare Angst habe ich vor ihm gehabt, wenn er draußen auf der Bank oder in der Ofenecke 23


saß und mir mit grimmigem Blick nachsah. Ich habe es nie verstanden, wenn er etwas zu mir sagte, seine Stimme polterte und knarzte so, da habe ich immer einen Schrecken bekommen und bin ganz schnell weggelaufen. Am schlimmsten war es, wenn er manchmal nett zu mir war und mich zu sich heranzog. Immer roch er schrecklich nach Schnupftabak, und lange graue Haare wuchsen ihm aus der Nase. Die musste ich immer anstarren und konnte nicht wegsehen, wie angewachsen stand ich dann vor ihm und ekelte mich. Ganz selten strich er dann mit seiner großen schwieligen Hand über meine Haare, murmelte „Feuerkopf“ oder „Hexe“ und schob mich fort. Dann bin ich immer ganz schnell in den Stall oder zu meinem Baum gelaufen, da war ich sicher, da kam er nicht hin. Ich war das sechste Kind in unserer Familie, das am Leben blieb. Drei ältere Brüder, Albert, Peter und Johann, und zwei ältere Schwestern, Rosa und Maria, gehörten noch zu unserer Familie. Die Mutter war schon neununddreißig Jahre alt, als ich auf die Welt kam. Mit mir hatte sie gar nicht mehr gerechnet, hat sie mir einmal erzählt. Nach dem Johann, der sieben Jahre älter war als ich, wollte sie eigentlich kein Kind mehr, fünf waren genug, und es gab ja auch viel Arbeit. Aber dann bin ich eben doch noch gekommen, so hintendrein, und dann noch auf Matthias! Nicht „nur ein Mädchen“, sondern auch noch ein „Matthias-Kind“, das war arg. Vor den Matthias-Kindern fürchteten sich alle ein wenig, sie waren ihnen nicht geheuer, denn sie konnten „Dinge sehen“. Im Dorf hat man immer erzählt, dass eine am 25. Februar geborene Frau irgendwo bei Wissen ein Feuer vorhergesagt hatte, eine andere hatte die schwere Erkrankung ihres Mannes gesehen. Und sie konnten genau sagen, wer im nächsten Jahr sterben würde, wenn sie die Mitternachtsstunde ihres Geburtstages auf dem Friedhof verbrachten. Ob das stimmt, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich mich 24


unheimlich gefürchtet habe, als Peter, der Bruder, mit dem ich es am wenigsten konnte, mich dazu gezwungen hat, eine Nachtstunde auf dem Kirchacker in Mittelhof zu verbringen. Fünf oder sechs Jahre alt muss ich gewesen sein, als er mich in einer Nacht geweckt und nach draußen gebracht hat. Es lag noch Schnee, und ich erinnere mich daran, dass der Weg von „de Häh“ nach Mittelhof ganz schwierig war. Immer wieder bin ich ausgerutscht, und immer wieder hat er mich hochgezerrt und weitergezogen. Das Tuch, das er mir gegen die Kälte gegeben hatte, rutschte dauernd runter, ich weinte und mir war kalt. Ich wollte wissen, was er vorhat, aber er sagte nichts, sondern guckte nur grimmig und rief: „Komm! Komm!“ Als wir dann auf dem Friedhof angekommen sind, hat er unter einem Baum einen Sack hingelegt, mich darauf geschubst und ist weggegangen. Ich sollte eine Stunde dort sitzen bleiben. Es war furchtbar. Rund um mich herum die Dunkelheit, schwarze Grabkreuze, die halb vom Schnee verdeckt waren, und tiefe Stille. Ich hörte nichts und fürchtete mich sehr. Am Anfang weinte ich noch vor mich hin und zappelte auf dem Sack herum, aber allmählich wurde ich immer stiller und bewegte mich auch nicht mehr, ich habe einfach die Augen zugemacht, an Rosi gedacht und bin ganz starr geworden. So konnte mich keiner sehen und fortholen, einfach nur dasitzen und nicht mehr da sein. Damals habe ich zum ersten Mal gespürt, dass niemand einem etwas tun kann, wenn man „fortgeht“, starr wird. Das habe ich noch oft im Leben gebraucht, immer, wenn es ganz furchtbar wurde, bin ich „fortgegangen“, auch damals in der Schule, als Klaas mich angelächelt hat, der ist bis zu mir durchgekommen, deshalb ist er auch mein Freund geworden. Wie lange Peter mich auf dem Friedhof hat sitzen lassen, weiß ich nicht, aber irgendwann ist er gekommen und war furchtbar erschrocken, weil ich mich nicht bewegt habe, als er mich geschüttelt hat. Immer fester hat er an mir rumgezupft, aber ich 25


habe die Augen nicht aufgemacht und mich kein bisschen geregt. Und da hat er Angst bekommen. Er hat mich hochgehoben, seine dicke Jacke um mich gepackt und mich nach Hause getragen. Im Flur sind wir dem Vater in die Arme gelaufen, der im Stall nach einer Kuh geschaut hatte. Nur wenige Worte haben genügt, dass der Vater verstanden hat. Peter wollte ausprobieren, ob das stimmt mit der Matthiasnacht auf dem Friedhof. Viel gesagt hat der Vater nicht, sondern einfach ausgeholt und dem Bruder eine Ohrfeige versetzt, die sich gewaschen hatte. Einundzwanzig Jahre war er damals alt, aber das hat er sich gefallen lassen müssen. Mich hat der Vater in sein Bett gebracht, die Mutter hat heißen Holundersaft und Milch mit Honig geholt, ein dickes Federbett haben sie über mich gedeckt und aufgepasst, ob ich wieder anfing zu sprechen. Lange hat es gedauert, bis ich die Augen aufgemacht und Arme und Beine bewegt habe, sie hatten schon gedacht, es sei vorbei mit mir. Selbst die Mutter, die sonst sehr zurückhaltend war und uns Kinder kaum jemals angefasst hat – es sei denn, um Ohrfeigen zu verteilen –, hat mir immer wieder über die heiße Stirn gestrichen, mein Haar beiseite geschoben und meine kalten Hände mit ihren eigenen gewärmt. Am nächsten Morgen ist es mir schon viel besser gegangen, und außer einer Erkältung ist mir äußerlich wenig geschehen. Peter bin ich aus dem Weg gegangen, wo es nur ging, denn sonst setzte es oft eine Kopfnuss von ihm, weil „die Hex“ schuld daran war, dass der Vater ihm eine gehörige Standpauke gehalten hatte. Diese Geschichte habe ich auch Klaas nie erzählt, der mochte Peter sowieso nicht, weil der immer so gepoltert hat und überall den Wortführer spielte. Als der Bruder ihm gesagt hat, dass die Mutter vor meiner Geburt einen Fuchs gesehen hat und ich deshalb rote Haare habe, hat er nur den Kopf geschüttelt und ist weggegangen. Aber alle haben es immer wieder gesagt, und da habe ich geglaubt, dass es gestimmt hat. Woher hätte ich denn sonst 26


meine roten Haare gehabt? Niemand in unserer Familie hatte rote Haare, niemand im ganzen Dorf hatte rote Haare, und ich hatte noch kein Kind mit einem Schopf wie meinem gesehen. Louise, die war blond, die hatte Zöpfe, so wollte ich sein, und die anderen waren braun oder ganz dunkel, aber keine rot. „De ruure Lene“ war ich, „de ruure Lene von de Häh“. „De Häh“ habe ich geliebt, liebe sie immer noch, auch wenn ich dort seit vielen Jahren nicht mehr gewesen bin, nicht mehr hin darf, der Bruder würde mich wegschicken. Sie liegt versteckt etwas außerhalb des Dorfes, auch heute noch. Den Weg dorthin kann ich mit geschlossenen Augen gehen: vom „Stohl“ her etwas abwärts, vorbei an dem Wäldchen, den Hecken, und dann liegt sie da mitten in den Wiesen, die nach Mittelhof hin abfallen. Dicke Feldsteinmauern schützten unseren Hof, hier konnte mir nichts Böses geschehen, so ist es mir immer vorgekommen, hier waren Rosi und die anderen Kühe, der Hofhund, die Hühner, der Garten mit dem Gemüse und dann der mit den vielen Obstbäumen. Und an seinem Ende stand „mein“ Baum, mein lieber alter dicker Apfelbaum, der mir immer so riesig vorgekommen ist, weil meine kleinen Arme kaum ein Viertel des Stammes umfassen konnten. Zu ihm bin ich immer gelaufen, seit ich mich frei auf dem Hof bewegen konnte, wenn ich traurig oder fröhlich oder nichts von beidem war. Bei der Taufe in Wissen – unsere Kirche gab es damals noch nicht – bin ich wie alle Kinder dreimal mit Weihwasser besprengt worden und habe den Namen Magdalene erhalten. Mutters Bruder aus Durwittgen und Vaters Schwester aus Grabig standen Pate, gefeiert wurde auch wie bei jeder anderen Taufe, und nun musste ich nur noch groß werden. Wo Fünfe groß geworden waren, würde auch ein sechstes noch aufwachsen, und wie die Geschwister lag ich, solange ich noch nicht habe laufen können, auf einer De27


cke in der Küche, immer in der Nähe der Mutter, die dort ein Auge auf mich haben konnte, oder sie hat mich in einem kleinen Weidenkorb, manchmal auch in einem hölzernen Schaff, in den Garten neben sich gestellt oder mit in den Stall genommen, wenn sie die Kühe melken musste oder ausmistete. Und wenn sie keine Zeit hatte, darauf aufzupassen, dass ich geschützt war, dann waren Rosa und Maria zur Stelle, die damals ja noch bei uns zu Hause gewohnt haben und neben ihren täglichen Pflichten auch immer wieder das „Kindhüten“ übernahmen. Ich kann mich erinnern, dass ich viel allein war, sobald ich etwas größer war. Oft habe ich mit einem Stock, auf dem oben eine Kartoffel steckte und um den ich ein Tuch gebunden hatte, irgendwo im Haus oder draußen gesessen, den Stock hin und her bewegt und gesungen: „Heia bom beio, was rasselt im Stroh, ’s Kätzchen muss sterben, die Mäuschen sind froh.“ Er ist mein Kind gewesen, und ich habe ihm das Wiegenlied gesungen, damit er gut schlafen konnte. Das hat mir gut gefallen. Viel später dann hat mir die Patin eine Puppe mitgebracht, die sie in Wissen gekauft hatte und die ich nie aus den Augen gelassen habe. Viele Stunden lang habe ich des Winters in der Küche mit ihr gespielt und dabei den Großvater ganz vergessen, der am Ofen seinen Schnupftabak kaute und ab und zu einen schwarzen Strahl in den kleinen Napf neben ihm spuckte. Viel schöner aber war es doch, wenn der Winter zu Ende war, draußen, wo ich frei herumlaufen konnte. Immer allein, denn Johann, der mir im Alter nächste Bruder, war ja sieben Jahre älter und bereits fest in die Arbeiten auf dem Hof eingebunden. Im übrigen hätte er mit „de ruuren Lene“ nichts anfangen können, die war ja nur ein Mädchen! Bis Klaas mein Freund wurde, war ich – außer in der Schule – nie mit Gleichaltrigen zusammen. Ich hab so auf dem Hof gelebt, wie alle Kinder auf den benachbarten Bauernhöfen lebten. Es war ja nicht einfach 28


und viel zu tun, so dass alle mit anpacken mussten und den ganzen Tag über beschäftigt waren. So konnte sich auch keiner um mich kümmern, und ich habe mich immer sehr gewundert, wenn Klaas von seiner Mutter erzählt hat, wie sie mit ihm gesungen, ihm vorgelesen und ihm immer alles erklärt hat, was er hat wissen wollen. Meine Mutter war ganz anders als sie. Nie hat sie mich geherzt oder gar auf den Schoß genommen – das haben nur Rosa und Maria getan, wenn sie guter Stimmung waren. Sie war eine strenge Frau mit einer lauten, harten Stimme, und sie ließ uns nichts durchgehen. Auch ihr bin ich lieber aus dem Weg gegangen, wie dem Großvater. Nur der Vater hat mir manchmal über den Kopf gestrichen, „Feuerkopf“ oder „Rotschopf“ gemurmelt und mich nie „Hex“ genannt, wie die anderen es so oft taten. Wenn sie über mich sprachen, haben sie nur selten von der Lene, öfter von der Hex gesprochen und sich über meine roten Haare lustig gemacht. Ich hab es gar nicht anders gekannt, das war eben so – und es war auch so, dass ich früh habe mithelfen müssen in Haus, Stall und Garten: Beim Kochen habe ich der Mutter oder den Schwestern all das gereicht, was sie brauchten, sie haben mir gezeigt, wie man Strümpfe stopft und näht, ich habe die schmutzigen Schwänze der Kühe festgehalten, damit sie den Melkenden nicht um die Ohren flogen, Hofhund und Hühnern habe ich ihr Fressen gebracht, Eier gesucht, Unkraut gezupft, Beeren gepflückt und in der großen Blechkanne gesammelt. Und je älter ich wurde, umso mehr Pflichten habe ich übernommen. Verwöhnen gab es bei uns nicht, dagegen waren die Eltern ganz eingestellt. Die liebste Arbeit war für mich das Viehhüten. Da konnte ich draußen sein, die Kühe zu weitab gelegenen Weiden treiben, laufen und tollen. Und ich konnte auf der Wiese in der Sonne liegen, in den blauen Himmel schauen oder die vorbei fliegenden Wolken anschauen und ihnen Namen geben: die dicke Bertha, der große Fisch, das 29


krumme Messer, der zerdetschte Ball, das Mäuschen. Nur die Kühe waren bei mir, haben beim Grasen geschmatzt, haben mir ihren Atem ins Gesicht geblasen, wenn ich mich an sie schmiegte, manchmal gemuht – schön war das. In die Schule ging ich weniger gern, und außer Stürmers Louise, die immer nett zu mir war und nie „ruure Lene“, „Rotschopf“ oder Ähnliches rief, habe ich die anderen Kinder nicht gemocht. Und dann kam Klaas in unsere Schule, und da wurde alles besser, er ist mein Freund geworden, und ich war nicht mehr allein wie bis dahin. Oft ist er bei uns gewesen, er mochte es, wenn alle um den großen Tisch in der Küche saßen, der Vater am Kopfende, die Mutter nahe dem Herd. Auf der Bank quetschten sich die Brüder, der älteste neben dem Vater, wir Mädchen saßen auf der anderen Seite, manchmal aßen auch noch Tagelöhner bei uns, die in der Erntezeit halfen. Sie saßen dann am untersten Ende des Tisches. Nach dem Tischgebet haben alle sich aus der großen Schüssel bedient, die in der Mitte stand. Klaas hat sich immer sehr gewundert, dass das so gut geklappt hat. Keiner hat in der Schüssel herumgerührt, sondern jeder nahm von der ihm nächsten Stelle aus. Die Mutter hat stets darauf geachtet, dass niemand zu schnell aß, langsam und bedächtig sollte ich kauen, hat sie immer gesagt, denn: „Wer zum Essen keine Zeit hat, der ist ein fauler Mensch“, heißt es bei uns. Viel geredet haben wir nicht beim Essen, und darüber staunte Klaas am meisten. Denn die Drei in Neudorn sprachen viel, wenn sie endlich beisammen waren. Die Abendmahlzeit war ihre „Plauderstunde“, wie Klaas’ Mutter das nannte. Wo so viel gearbeitet werden musste wie auf unserem kleinen Hof, war nur wenig Zeit zum Reden. Wir haben nicht einfach in der Küche den Wasserhahn aufdrehen können – das habe ich in Köln zum ersten Mal staunend gesehen – oder den Schalter anknipsen. Das Wasser haben wir aus dem Brunnen geholt, und das war ein ganzes Stück 30


Weg, den wir die Kannen und Bottiche zu schleppen hatten. Lange hat es gedauert, bis alle Häuser in Mittelhof an die Wasserleitung angeschlossen waren. Als ich zurückkam, war es günstig für mich, dass ich direkt gegenüber dem Brunnen auf der Hauptstraße wohnte, da hatte ich es nicht so weit, allein wie ich war. Wenn Klaas bei uns übernachtet hat, haben wir uns abends immer einen Platz in der Küche am Herd gesucht und unsere Schulaufgaben gemacht, denn er war dann der einzige warme und heimelige Ort in „de Häh“. Wenn es ganz eisig kalt war, hat mir die Mutter oder eine der Schwestern auch einmal einen Stein ins Bett gelegt, um den sie ein Handtuch gewickelt und den sie vorher im Backofen erwärmt hatte. Und im Winter haben die Brüder dann abends beim Schein der Petroleumlampe auch immer wieder von der Dilldappenjagd erzählt. Seltsame „Dierer“ waren das, die gab es nur bei uns. Jagen konnte man sie nur bei tiefster Dunkelheit, denn tagsüber ließen sie sich nicht blicken. In Höhlen lebten sie, aus denen man sie herauslocken musste, mit lautem „Hi-u-wi-hiu-i“. „Hi-u-wi-hiu-i“, rief dann der erste, und „Hi-u-wi-hiu-i“ fielen die anderen ein, auch die Schwestern. Immer lauter und immer unheimlicher wurde das Schreien, wurde zum Heulen. Dann ist einer der Brüder aufgesprungen und gebückt durch die Küche geschlichen, wie wenn er ein Tier hat jagen wollen. Von draußen in „der Diele“ hat er sich einen Sack geholt und einen Knüppel geschwungen dabei. „Hi-u-wi-hiu-i“ hat es durch die Küche getönt, dass ich ganz bang und erschrocken war. Und wenn ich dann in der dunklen Kammer im Bett lag, allein, da sah ich sie vor mir, wie sie langsam auf mich zukrochen, erst auf dem Bauch, dann haben sie sich aufgerichtet und waren riesengroß: „Dierer“ mit langen Zähnen, die aus einem aufgerissenen Maul geschaut haben. Die weißen Augen haben in der Finsternis geblitzt, und ihre Pfoten haben sie nach mir ausgestreckt, um mich mit 31


sich zu holen in die dunklen Höhlen. Vor Grauen hab ich die Augen nicht zumachen können, sondern musste sie immer anstarren. Die Angst hat mich gelähmt, und ich bin im Bett stundenlang wach gelegen und hab gezittert und geschwitzt. Wahre Qualen hab ich ausgestanden. Aber es ist auch passiert, dass ich es nicht ausgehalten hab, wenn die Dilldappen nach mir griffen, und dann hab ich laut geschrien, durchdringend, dass sie es in der Küche gehört haben. Meist ist dann die Mutter gekommen, hat die Kerze in der Hand gehalten und wollte nach mir schauen und mich beruhigen. Aber ich hab immer nur „die Dierer, die „Dierer“, „se kummen“, „se kummen“ herausbringen können und vor Angst schrecklich geschluchzt. Die Mutter ist dann oft ganz ungeduldig mit mir geworden, hat das Federbett an allen Seiten festgesteckt und „schloof“ gesagt und ist rausgegangen. Ich habe dann wieder in der Dunkelheit gelegen, mich nicht getraut zu schreien, nur leise vor mich hin geweint. „De Hex söit Jespenster.“ Für die Geschwister war das der Beweis, dass ich mit den Spukgestalten im Bunde stand, das tun schließlich alle mit roten Haaren. Als der Großvater dann im Mai 1899 gestorben ist, haben alle es schon vorher gewusst, weil ich „so komisch“ geguckt hatte. Immer wenn ich „so komisch“ guckte, passierte etwas Schreckliches. Das letzte Mal hatte Albert sich das Beil ins Bein gehauen, davor war das Kälbchen gestorben oder es hatte einen furchtbaren Donnerschlag getan. Außerdem hatte der Hund schon Tage vorher geheult und Raben waren um das Haus geflogen. Dabei hatte gar nichts darauf hingewiesen, dass es mit dem Großvater zu Ende ging. Er war auf seiner Bank und in seiner Herdecke immer älter und krummer geworden, hatte nur noch wenig gesprochen und war in den letzten beiden Tagen seines Lebens im Bett geblieben. „Möh“ sei er, hatte er gesagt, und dann war er am Morgen des dritten Tages einfach nicht mehr aufgewacht. Alle haben sich um sein Bett versammelt und Gebe32


te gesprochen, auch ich war dabei. Zehn Jahre alt war ich mittlerweile, hatte aber noch nie einen Verstorbenen gesehen. Während alle ihr „vergebe auch unsern Schuldigern“, „voll der Gnaden“ und „der für uns Blut geschwitzet hat“ murmelten, starrte ich ihn an, den alten Mann, der mir solche Angst eingeflößt hat. Ganz verrunzelt und klein war sein Gesicht geworden, still hat er auf seinem Bett gelegen. Er ist mir vorgekommen wie meinesgleichen, eher ein Kind denn ein Vierundachtzigjähriger. Der Kragen des weißen Hemdes hing ihm viel zu weit um den Hals, der gute schwarze Anzug, den er nur zur Kirche getragen hat, war zu groß. Am besten erinnere ich mich an seine Schuhe, schwarz, blank geputzt. Ich habe gar nicht verstehen können, warum die frisch geputzt worden waren. Er brauchte sie doch nicht mehr. Im Totenzimmer wurden nun die Fenster dunkel verhängt, die Uhr wurde abgestellt und ein Licht entzündet. Und dann haben sie drei Tage lang die Totenwache gehalten, die Brüder und Schwestern, Vater und Mutter, die Männer und Frauen aus Mittelhof. Wenn einer starb, waren sie immer alle da, die Nachbarn. Einmal bin ich, als keiner in dem Zimmer war, eingetreten und habe von der Tür aus – weiter hinein habe ich mich allein nicht getraut – auf den Großvater geschaut, der alles Furchterregende verloren hatte und dort einsam auf seinem Bett aufgebahrt lag. Und dann habe ich sie gesehen, die langen grauen Haare, die ihm aus der Nase kamen, und da musste ich ganz schnell weglaufen, weil mich so gegraust hat. Sechs Männer haben ihn dann von „der Häh“ in seinem Sarg fortgetragen hin zum Kirchhof. Bis zum „Stohl“ trugen sie ihn auf den Schultern, dann haben sie ihn auf eine einfache Schlagkarre gelegt und durch Mittelhof gefahren bis hin zu seinem Grab. Wir, seine Familie, sind dicht hinter dem Sarg gegangen. Erst kamen der Vater und die Mutter, die Onkel und die Tanten, dann wir, die Enkel, und alle haben schwarze Kleidung angehabt, auch ich. Mir hat Rosa, 33


die älteste Schwester, aus einem langen Rock, der einmal Großvaters Frau gehört hatte, die ich gar nicht mehr gekannt habe, ein Trauerkleid genäht bis weit über die Waden herab, mit einem runden Kragen und kleinen schwarzen Knöpfen an den Ärmeln. So war ein Stück von der Großmutter bei der Beerdigung ihres Mannes, habe ich gedacht, als wir so langsam hinter der Karre herschritten. Die Patin aus Grabig hat laut geweint, die ist immer „su üwwertriwwen“, aber auch der Vater hatte Tränen in den Augen, als der Sarg ins Grab gelassen wurde, das habe ich genau gesehen. Klaas war auch mit seiner Mutter und seinem Vater gekommen, das habe ich schön gefunden. Anschließend sind wir alle in „de Häh“ zurückgegangen, das Haus, in dem Großvater vierundachtzig Jahre lang gelebt hatte und dann gestorben war. Dort haben wir beieinander gesessen in der „Stuff“, die wir nur ganz selten betreten haben, und haben das Totenmahl gehalten.

Peter Die Lene war immer „annerscht“, immer! Viel zu alt war die Mutter, geschämt hab ich mich, als sie mit ihrem dicken Bauch durch das Dorf gelaufen ist. Da musste das Kind ja verrückt werden. Und vorher hatte die Mutter von vielen Fischen geträumt. Das ist immer ein schlechtes Zeichen. Ich weiß noch, wie das war, damals, am 25. Februar 1889. Ein Schneesturm war, als das Kind kam, die Hebamme ist kaum durch die Verwehungen gekommen. Ich hab gewusst, dass das nicht gut ausgeht mit der Lene. Und ich hab recht behalten. Meinen Hof betritt sie nicht, da sei Gott vor! „Leihe keinem Gottlosen deine Hand, so dass du durch dein Zeugnis einen Frevel unterstützt.“ So steht es in der Bibel. Und so ist es. Sie ist meine Schwester nicht mehr. Diese rothaarige Hexe! Sechzehn bin ich in dem Jahr geworden, und in Blick34


hausen ist ein Kalb mit zwei Köpfen geboren. Ja, sie ist eine Hexe, auch wenn der Vater das nie hat glauben wollen. Ich habe sie doch da sitzen sehen, um Mitternacht auf dem Kirchhof. Jeder hätte sich gefürchtet dort. Sie nicht. Sie ist nur da gesessen, still und starr. Wer weiß, was sie gesehen hat. Auf jeden Fall ist drei Tage später Brücks Otto in „de Krombich“ gestorben, ganz plötzlich, sein Pferd hat ihn getreten. Nur dreiundvierzig Jahre alt ist er geworden, drei Kinder hat er zurückgelassen. Und dann ist im Sommer der Blitz in unseren Birnbaum gefahren, die Ernte ist schlecht gewesen, und die Nüsse im Herbst waren hohl. Da war Hexerei im Spiel, das hab ich immer gesagt. „Et ess doch nur en Dittzjen“, hat der Vater gesagt, „ein kleines Kind.“ Immer hat er das gesagt, wenn die Lene „annerscht“ war. Und „annerscht“ war sie, ganz „annerscht“. Vier Jahre war sie oder so, da hab ich gemerkt: Die ist verrückt. Sie war mit der Mutter im Stall gewesen. Die hatte die Kühe gemolken, und Lene hat neben dem Schemel gestanden und zugeguckt. Dann haben die beiden die Kannen in die Milchkammer gebracht, und da hat es plötzlich einen Schlag getan, und dann ist der Regen losgegangen, und es wurde ganz dunkel. „Et wor am drätschen“, wie wir sagen, platschnass ist man geworden, wenn man noch nicht im Haus war. Die Mutter hat schnell alle Fenster und Türen verrammelt, und wir sind alle in die Küche gekommen. Da ist der Mutter plötzlich aufgefallen, dass die Lene nicht da war. „Wo ess dat Könd?“, hat sie gefragt und dann im ganzen Haus gesucht. In der Milchkammer, im Stall, im Keller, Lene war nirgendwo. Und plötzlich haben wir – ich war mit suchen gegangen – einen lauten Schrei gehört aus der Küche. Rosa stand am Fenster und hat den Zeigefinger ausgestreckt: „Do!“, hat sie gerufen, immer wieder: „Do!“ Draußen, mitten auf dem Hof, stand die Lene und ließ sich nass regnen. Das Gesicht hat sie nach oben gehalten, die Arme ausgestreckt, ganz still ist sie dagestanden. Die Mutter 35


ist rausgerannt, „Lene!“, hat sie gebrüllt, und die Lene hat den Kopf gedreht und sie angelächelt. Gelächelt hat die, mitten im Regen, pladdernass. Schimpfend hat die Mutter sie reingezerrt, sie geschüttelt und ihr die nassen Kleider vom Leib gezogen. Und Lene hat nur laut gelacht und „schüen“ gesagt. Immer wieder hat sie das gesagt. Wenn das nicht verrückt ist! Überhaupt hat sie nie im Haus sein mögen, immer ist sie rausgelaufen, und wenn wir sie gesucht haben – und das haben wir oft –, war sie irgendwo ganz weit hinten in den Wiesen, oder sie hat in der äußersten Ecke des Gartens gehockt – da, wo die Büsche ganz hoch standen – oder sie war im Stall und sprach mit den Kühen. Ja, das habe ich selbst gehört, sie hat mit den Tieren gesprochen. Eines Tages war die Rosa ganz unruhig, sie hat ein Kalb getragen, und das hat sie verrückt gemacht. Sie hat den Kopf immer hin und her geworfen, mit den Füßen gestampft und wollte nichts fressen. Der Vater hat sich große Sorge um sie gemacht. Und da ist die Lene gekommen – noch keine zehn Jahre ist sie damals alt gewesen – und zu der Rosa gegangen. Sie hat an der Kette gerasselt, mit der die festgebunden war, und hat auf sie eingesprochen. Ich hatte mich hinter der Wand zum Schweinekoben versteckt und konnte nicht hören, was die Lene gesagt hat. Nur ihre Stimme hab ich hören können. Ganz viel hat sie auf die Kuh eingeredet. Und dabei hat sie doch sonst kaum gesprochen, mit uns fast nie. Nur mit dem Lümmel aus Dorn, der immer mit ihr rumgezogen ist, mit dem hat sie geredet und – „mit de Köh“. Dann ist es ruhig geworden, und als ich um die Ecke geschaut habe, stand sie da, hatte ihren Kopf an Rosas gepresst, streichelte sie und murmelte etwas vor sich hin. Zaubersprüch, ich bin sicher, sie hat Zaubersprüch gemurmelt, die kleine Hexe. Denn warum sonst sollte die Kuh so ruhig geworden sein? Sie hielt den Kopf ganz still, stampfte nicht mehr mit den Füßen und hat nach einiger Zeit, als die 36


Lene sie losließ, zu fressen angefangen. War das nicht komisch, wo sie vorher doch nichts hat fressen wollen, als ich es versucht habe? Dann hat die Lene sie noch einmal zwischen den Hörnern gekrault, und als sie rausging, hat Rosa laut gemuht, den Kopf gedreht und hinter ihr her geschaut. Beim Fressen! Das tun die Tiere doch nicht! Und da habe ich sicher gewusst – eigentlich habe ich es ja immer gewusst, seit ihrer Geburt –, dass das alles nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Die Lene hat Sprüch gesagt, und dann ist was passiert. Immer hat sie Sprüch gesagt, zu „dean Dieren, dean Bööm, dean Blomen“, mit allen hat sie gesprochen, nur mit uns nicht, ihrer Familie. Bei uns hat sie nur gesessen, geguckt – wie die geguckt hat, ganz unheimlich konnte einem da werden! – und nur „Jo“ und „Nä“ gesagt. Dann ist sie wieder rausgelaufen, in den Regen, den Sturm, den Schnee, alles war ihr recht, „je oller dat Werrer, je doller“. Wie oft hat die Mutter nach ihr gerufen, wenn sie helfen sollte. Bei uns hat jeder mit anpacken müssen, „schaffen“, nur die Lene war oft verschwunden, hat sich gedrückt. Ist mit dem Klaas rumgezogen. Der hat ihr noch mehr Unsinn beigebracht, „de Basduur“, der „hät keenen Aasch en dea Botze“, „annerscht“ war der auch. Mich hat es nicht gewundert, als das passiert ist mit der Lene damals, ich hab es kommen sehen. Aber das hat der Vater nicht hören wollen, dabei hab ich doch recht behalten. Schon ganz früh hab ich gewusst, dass es ein böses Ende nehmen wird mit der Hexe, der „ruuren“. Wie die sich immer hatte mit ihrem Tuch, schon als ganz kleines Kind hat sie immer ein Tuch um den Hals haben wollen. Und wenn ich ihr das weggezogen habe – man wird einander doch mal ärgern dürfen unter Geschwistern –, dann hat sie laut gebrüllt: „Meng Schmiesjen, meng Schmiesjen“, als hätte man ihr weiß Gott was angetan! Und dann ist sie mit ihren „Nerzschmiesjen“ angekommen – 37


Nerz um den Hals! Vornehm! – und als man ihr den weggezogen hat, hat sie nicht mehr schreien können, nur weinen. Ja, Hochmut kommt vor dem Fall, sag ich immer. Hätte sie nicht wie Maria und Rosa nach Karseifen oder „in de Brändemich“ heiraten können und „Könner großziehen“? War ihr nicht gut genug! Wer heimlich aus „de Häh“ fortschleicht, der braucht nicht mehr angekrochen zu kommen. Die kommt mir hier nicht rein, die nicht, die Hexe!

Louise Ein bisschen merkwürdig war sie schon, die Lene. Gemocht habe ich sie, immer, verstanden aber nie. Und am Ende ist sie mir fremd geworden, sie, die im selben Jahr wie ich geboren war und aus demselben Dorf wie ich kam. In Mittelhof sind wir aufgewachsen, sie „en de Häh“, dort, wo der Weg nicht mehr weiter führte. Man konnte nur zurückgehen. Ich „auf dem Sturm“, mitten im Dorf, auf der Kuppe, wo der Wind so zupackte und alles herumwirbeln ließ, dort ist mein Elternhaus, in dem eine Zeitlang auch unterrichtet wurde. 1889 stand es noch ziemlich einsam dort oben, das Fachwerkhaus an der Betzdorfer Landstraße, der Garten zum Dorf hin, die Scheune hinter dem Haus in Richtung Teufelsbruch. Heute liegt es gegenüber der Kirche, dem Jugendheim und dem Pfarrhaus, und man kann sich gar nicht mehr so recht vorstellen, wie das früher war, als die „Stürmers“ – so wird unsere Familie seit alters genannt – allein dort lebten. Wie Lene war auch ich das jüngste Mädchen in der Familie, hatte aber noch einen Bruder, der ein Jahr nach mir geboren war. Acht Kinder waren wir, zwei mehr als in Lenes Familie. Ja, das war damals so üblich, dass man viele Kinder hatte. Mein Vater führte eine kleine Bauernschaft, die aber die große Familie nicht ernährte, so dass zwei meiner Brüder in der Grube Friedrich und in Niederhövels arbeiteten. 38


Beide waren wir, die Lene und ich, in dem bitterkalten Winter des Jahres 1889 geboren, in dem der Schnee so hoch lag, dass die Menschen noch lange davon erzählten. Ich kam im Januar auf die Welt, und Lene war ein „Matthiaskind“, worüber die meisten im Dorf spekulierten. Mir war das egal, mich interessierte nur, dass wir fast gleichaltrig waren. Dass ich einen Monat älter und damit klüger als sie war, habe ich immer scherzhaft betont, aber ich habe sie durch den Vorsprung auch nicht davor bewahren können, dass sie sich so unglücklich machte. Aber das war viel später, als wir schon lange nicht mehr zur Schule gingen und uns seltener sahen als früher. Als eines der jüngeren Kinder in der Familie genoss ich sehr viel Freiheit und war oft im Dorf unterwegs, schon als ganz kleines Kind. Mir konnte dort ja nichts passieren, deshalb machte die Mutter sich auch nie Sorgen, wenn ich mich wieder einmal auf den Weg machte in die Küchen, Ställe oder Gärten der anderen Höfe. Von klein auf habe ich mit jedem, so hat man es mir erzählt, gesprochen, neugierig Fragen gestellt, und überall fühlte ich mich willkommen. Jeder kannte mich – „Stürmersch Lowisschen ess do“ – und wenn es an die Mahlzeiten ging, war für mich auch immer etwas übrig. So bin ich dann auch eines Tages bis „en de Häh“ gekommen, ein recht weiter Weg vom Dorf aus. Lenes Mutter war so ganz anders als meine eigene, schroff und streng, wo meine gütig und entgegenkommend war. Vor ihr habe ich mich immer ein bisschen gefürchtet. „De ruure Lene“, wie sie überall wegen ihrer roten Haare genannt wurde – so etwas hatte ich noch nie gesehen, wunderbar fand ich sie, nicht so langweilig wie meine „mäuseköttelbraunen“, wie Mattjöh sie immer genannt hat, ach, Mattjöh! –, mochte ich, auch wenn sie kaum sprach. Aber sie konnte so gut zuhören, wenn ich erzählte. Und ich erzählte eigentlich immer. Alles, was ich erlebte, musste ich mitteilen. Damals, ehe wir in die Schule gingen, saß ich oft 39


mit ihr auf der Wiese im Obstgarten, auf dem Stroh im Kuhstall oder hinter den Hecken, die dem Hof ihres Vaters den Namen gegeben hatten. Ich erzählte, sie hörte zu. Mit großen Augen schaute sie mich an, schien ganz gebannt, lächelte hin und wieder, fürchtete sich auch schon einmal, wenn ich aus „der großen, weiten Welt“ berichtete, von Eisenbahnen und Städten, Kaisern und Warenhäusern. Darüber wusste ich von Peter, der das alles gelesen und mir erzählt hatte. Er war mir der liebste meiner Brüder. Wann immer ich konnte, versuchte ich, mit ihm zusammen zu sein. Peter hieß auch einer von Lenes Brüdern, aber der war so ganz anders als meiner. Ich fand, er schikanierte sie immer, ganz versteckt. Sie schien ihn nicht zu mögen, ging ihm aus dem Weg, wann immer das möglich war, aber sie sprach nicht darüber. Ich verstand das auch so, ich mochte ihn ebenfalls nicht, er war mir ein bisschen unheimlich. „Mein“ Peter also hatte mir all das erzählt, mit dem ich vor Lene ein wenig angab. Sie aber schien viel mehr zu interessieren, was im Dorf passiert war, wer was getan oder gesagt hatte, welche Tiere geboren waren und ob die Salben meiner Mutter Hartwichs Bertha geholfen hätten. Als wir in die Schule kamen, sahen wir uns weniger. Da waren so viele andere Kinder, dass ich die stille Lene fast ein wenig vergaß. Wegen ihrer roten Haare hatte sie es nicht leicht, wurde mit Spottnamen gerufen und auch schon einmal „Hexe“ genannt. Dabei habe ich zwar nicht mitgemacht, aber ich habe sie auch nicht wirklich davor geschützt. Und dann hatte sie ja auch Klaas. Ich weiß noch genau, wie er zu uns in die Schule kam. So strohblondes Haar hatte ich noch nie gesehen, und er sprach so „annerscht“. Nie hat er gelernt, wie wir zu sprechen, das wollte seine Mutter nicht, und dann ist er ja auch so weit weg gegangen. Irgendwann hat seine Freundschaft mit Lene begonnen, ich weiß nicht, wann. Man sah die beiden plötzlich immer öfter beieinander stehen in den Pausen, sie 40


zeigten sich ihre Schiefertafeln und teilten die „Schuldong“. Weil Klaas in Neudorn wohnte – das ist ein weiter Weg bis Mittelhof, besonders im Winter –, ist er dann öfter in „de Häh“ geblieben, und dann haben wir auch miteinander die Kühe gehütet oder bei der Ernte geholfen, und ich habe gesehen, dass Klaas ein ganz feiner Kerl war, der auch anpacken konnte. Ein paar Mal bin ich mit Lene bei ihm in Neudorn gewesen. Seine Mutter habe ich bewundert. Sie war, trotz aller Arbeit, so vornehm, ganz anders als unsere Mütter, wusste so viel von der Welt, konnte Klavier spielen, Französisch sprechen, auch tanzen, wie sie erzählte. Oh, so wollte ich auch werden, genau so wie Klaas’ Mutter, das war mein innigster Wunsch. Lene schien sich eher vor ihr zu fürchten, obwohl sie doch immer freundlich zu ihr war, aber sie war ihr fremd, sehr fremd. Als Klaas dann nach Wissen in das „Haus Schmitz“ auf das Gymnasium ging, blieben Lene und ich in der Mittelhofer Schule zurück und schlossen uns wieder enger aneinander an. Zeit hatten wir ja nur wenig, denn für uns Kinder vom Land war es selbstverständlich, dass wir früh Pflichten übernahmen. Und je älter wir wurden, desto mehr Zeit verbrachten wir mit Arbeit, auch als wir noch zur Schule gingen. Im Winter war es etwas ruhiger, da saßen wir dann oft beieinander in der warmen Küche, wir Frauen und Mädchen stopften, strickten oder webten, die Männer saßen dabei, rauchten ihre Pfeifen, redeten. Oft sangen wir auch, und es war immer sehr gemütlich. Lene kam häufig von „de Häh“ zu uns herüber „auf den Sturm“, saß dann mit am Herd, wärmte sich ihre klammen Finger, lächelte bei den Geschichten der Brüder, lachte auch einmal hell auf und schien sich bei uns sehr wohl zu fühlen. Wohler auf jeden Fall als zu Hause, wo sie still und in sich gekehrt blieb. Sie fiel auf bei uns in der Küche. Ihr rotes Haar leuchtete auf im Schein der Petroleumlampe oder wenn eine meiner Schwestern das Holz im Ofen schürte, und ihre Haut war 41


so viel heller als meine. Wie habe ich sie darum beneidet! Ich hätte gerne wie sie ausgesehen. Und als wir älter wurden und sie immer schöner – ja, sie war schön, anders kann ich es nicht sagen –, blickte oft einer meiner Brüder sie lange an. Besonders Joseph, dem jüngsten, schien sie es angetan zu haben. Der musste sie immer anstarren, und wenn ich ihn dabei erwischte und grinste, bekam er einen roten Kopf und schaute so auffällig weg von ihr, dass ich mir sicher war, dass er sie mochte. Ob Lene ihn überhaupt bemerkte, weiß ich nicht, denn wir haben nie über Josephs Neigung gesprochen – selbst ich traute mich nicht, sie konnte da „komisch“ sein –, zu erkennen gab sie nichts. Ihr Kopf war wie meiner über die Arbeiten gebeugt, die sie mitgebracht hatte. Später am Abend begleitete sie dann meist einer der Brüder mit einer Laterne bis kurz vor ihren elterlichen Hof. Dass er ganz mitkam, wollte sie nicht. Sie bedankte sich stets höflich für die Begleitung, haben sie erzählt, und eilte dann ins Haus. Wenn ich an diese Jahre denke, in denen wir noch in die Schule gingen, dann waren sie eigentlich immer gleich: Säen, Wachsen, Ernten waren der Alltag, Lichtmess, Ostern, Pfingsten, Erntedank und Weihnachten die Höhepunkte. Bei der Ernte mussten wir Kinder auch mit auf das Feld, wo ja eigentlich nur Männerarbeit war. Aber dann sammelten wir die am Boden liegenden Ähren auf, halfen beim Binden der Garben und saßen des Abends hoch auf dem Wagen, der mit dem geernteten Getreide heimwärts fuhr. Auch beim Dreschen leisteten wir Handlangerdienste, ebenso beim Schlachten, das Lene zu fürchten schien. An diesen Tagen war sie immer verschwunden. Alle anderen Arbeiten, zu denen wir herangezogen wurden, schienen ihr Freude zu machen. Mir ging es da ganz anders. Als ich älter wurde, war mir alles zu eng in Mittelhof. Ich hätte mich gerne woanders umgesehen und Neues kennen gelernt. Mich beschäftigte die Frage, ob das Leben woanders genau 42


wie bei uns sei, und wenn es das nicht war, wollte ich es erleben. Davon wussten nur Peter, dem es ähnlich wie mir ging, und Lene, die das gar nicht verstehen konnte. Sie fand es „schüen“ in Mittelhof. Was mich störte, war für sie reizvoll: Alles war überschaubar, bekannt, absehbar. Sie hätte es sicher damals niemals so ausgedrückt, aber gefühlt hat sie so. Ein Höhepunkt in unserem Kinderleben war die feierliche Einsegnung unserer neuen Kirche am 15. Juli 1897. Vorher hatten wir stets den beschwerlichen Weg nach Wissen zur Pfarrei vom hl. Kreuz über den „Stuhl“ und Oberkrombach auf uns nehmen müssen. Bei Wind und Wetter sind wir diesen Weg gegangen, bei heißer Sonne und kaltem Wind, bei Schnee und Eis. Geburt, Erstkommunion, Firmung, Hochzeit, Tod, alles führte uns nach Wissen, immerhin weit über eine Stunde entfernt. Und so hatten die Menschen aus Blickhäuserhöhe und dem Elbergrund beschlossen, es müsse eine eigene Kirche her, die nach vielen Querelen dann endlich 1897 geweiht wurde. Wir hatten den Bau gut von unserer Küche aus beobachten können, denn die neue Kirche entstand „auf dem Sturm“ in Mittelhof, unserem Haus genau gegenüber. An diesem sommerlichen Donnerstag, an dem die „feierliche Benediktion“ stattfand – so viel Latein müsse auch für die Unterstufe sein, fand Lehrer Schmidt –, kamen von überall her Menschen: den Berg hinauf von Altenbrendebach, Oberhombach, Bodenseifen, Grabig, Dorn, Steckenstein und Blickhausen, den „Stuhl“ herunter von Oberkrombach und Karseifen, vom Teufelsbruch aus Durwittgen, und alle trugen ihre besten Kleider. Die weißgelben Fahnen wehten in der sommerlichen Brise vor dem knallblauen Himmel, und alles sah sehr festlich aus. Wir Kinder waren schrecklich aufgeregt. War das doch ein Ereignis, das es in unserem kleinen Dorf noch nie gegeben hatte! Und dann noch direkt vor unserer Haustür! Ich mus43


terte die anderen Mädchen, die sich mit mir an den Stufen zur Kirche versammelt hatten, wo wir gemeinsam mit den Jungen den Dechanten Lückerath empfangen sollten, der aus Oberlahr kommen wollte. Man stelle sich vor! Ein echter Dechant bei uns in Mittelhof! Alle sahen dem Anlass entsprechend frisch gewaschen aus, die Haare in feste Zöpfe gezwungen oder lockig zusammengebunden, nur Lene fiel aus der Reihe. Sie trug ihr Haar zu dieser Zeit noch kurz geschnitten. Alle vier Wochen wurde es ihr von der Mutter gekürzt. Wir alle trugen dunkle Kleider – neue bekamen wir nicht, sie wurden aus alten mehr oder weniger kunstvoll zusammengenäht und mussten lange halten – und ich war ganz glücklich, als ich sah, dass ich die einzige war, bei der vom Halsausschnitt bis zur Taille kleine Volants angebracht waren. Meine Schwester Lenchen war eine hervorragende Schneiderin und mir herzlich zugetan. Sie erfüllte immer meine Sonderwünsche, wenn es ihr möglich war. So standen wir also an jenem Donnerstag an der Treppe und bildeten Spalier, als der Dechant „in vollem Ornat“ – das flüsterte Klaas uns zu, der kannte solche Wörter – an uns vorüberschritt, begleitet von dem Bürgermeister und allem, was in Mittelhof und Umgebung Rang und Namen hatte. „Großer Gott, wir loben dich“, schmetterten die Männer und Frauen von „Cäcilia“, dem Kirchenchor, der eigens zu diesem Zweck gegründet worden war. Weihrauch stieg auf, der Chor sang sein gesamtes Repertoire, und viele Reden wurden gehalten: wie der Kapellenbauverein gegründet und der Baufonds durch die Jagdpacht gestärkt worden war, welche Unwägbarkeiten den Bau fast verhindert hätten und wie er dennoch gelungen sei. Und dann wurde natürlich gedankt, allen, ob anwesend oder nicht. Dem Pastor Bamberg von Wissen, unserem Lehrer Conzen, Adam Kölzer von Altenbrendebach, Johann Höfer von Dorn und vielen anderen. Natürlich vergaß man „unseren Fürschten“ nicht – der war nicht gekommen –, er hatte den 44


fürstlich Hatzfeld’schen Steinbruch unentgeltlich zur Verfügung gestellt, und die Wissener Hüttenwerke hatten den Bausand gestiftet. Alle klatschten und freuten sich und feierten, den ganzen Tag lang, dass nun an jedem Sonntag in Mittelhof eine heilige Messe gelesen würde. Lange noch haben wir über diesen Tag gesprochen, der sich so sehr unterschied von all denjenigen, die wir kannten, durchlebten und dabei älter wurden, bis dann auch für die Lene und mich der Tag kam, an dem wir die Schule verließen. Nun waren wir endgültig keine Kinder mehr, sondern übernahmen die Aufgaben, die alle Frauen seit jeher erfüllt hatten. Zumindest für Lene galt das. Sie war nun ganz eingebunden in den Arbeitstag auf „de Häh“. Morgens früh um vier Uhr stand sie auf, nahm sich den Eimer aus der Kammer und ging zum Melken in den Stall oder auf die Weide. Danach musste gebuttert werden, im Garten gegraben, gepflanzt oder gejätet, die täglichen Hausarbeiten waren zu verrichten, und zur Erntezeit ging sie auch mit auf das Feld. Im Herbst waren bei jedem Wetter die Kartoffeln zu ernten, eine mühselige Arbeit. Da lag man oft im Regen auf den Knien, hatte sich Säcke als Schutz umgebunden und suchte die Knollen mit Händen, dick und rot vor Kälte, die Röcke waren an den Knien durchgeweicht. Diese Arbeit wiederholte sich Jahr für Jahr. „Jo“, hat Lene später einmal, als wir beide schon länger in Köln wohnten, gesagt, „esch han nix jeliert, esch wur deheem jebrucht.“ Da ging es mir viel besser. Ich hatte drei ältere Schwestern, die der Mutter halfen, die alltägliche Arbeit zu bewältigen, und deshalb durfte ich „was lernen“. Der Vater hatte mit dem Wirt des Gasthofs „Zur Post“ in Wissen gesprochen, ob er „ein Mädschen für alles“ brauchen könne, und der konnte! So verließ ich mit vierzehn Jahren also Mittelhof, um nach „Wessen“ zu gehen. Ich war die erste in der Familie, die „den Sturm“ gegen eine andere Bleibe tauschte, denn ich sollte die Woche über eine kleine Kammer mit einem an45


deren Mädchen teilen, das wie ich im Gasthof alles das lernen sollte, was man zum Haushalt-Führen benötigte. Mir kam es damals vor, ich zöge in die weite Welt, als ich mit dem Vater über „den Stuhl“ durch Schönstein nach Wissen ging, ein paar Sachen in ein Bündel gepackt und überglücklich. Ich wollte die Welt sehen, der erste Schritt war getan! So kam es, dass ich Lene nur noch selten sah, denn ich war nur an meinen freien Sonntagen zu Hause. Es muss damals recht einsam um sie geworden sein. Klaas war in Wissen auf dem Gymnasium und hatte sich entschieden, nach dem Abitur nach Köln in das Priesterseminar an der Marzellenstraße zu gehen, und er kam nur ganz selten nach Neudorn oder nach Mittelhof. Dass er „Basduur“ werden wollte – so erzählten es die Leute im Dorf und waren plötzlich stolz auf ihn –, hat mich sehr gewundert. Studieren, ja, das passte zu ihm – aber Priester? Ob Lene von seinen Plänen gewusst hat, kann ich nicht sagen, denn sie hat mir keine Antwort gegeben, als ich sie danach fragte. Wir beide saßen damals in einer Wiese oben am „Stuhl“ und schauten auf Mittelhof herunter. Von dort aus konnte man unser Haus liegen sehen, gegenüber die Kirche, alles von der Sonne beglänzt und ganz friedlich in der sonntäglichen Stille. „Schüen“, sagte Lene leise, „ganz schüen es dat.“ Ja, ich fand es auch schön – ich liebe mein Heimatdorf auch heute noch, wo ich schon so lange weg bin –, aber bei Lene klang es so, als wünsche sie sich nichts mehr, als hier in der Sonne zu sitzen und auf Mittelhof zu blicken, weiter nichts. Ich habe sie danach gefragt, und sie hat es mir bestätigt, dass die „schüensten“ Augenblicke in ihrem Leben seien, wenn sie draußen sein könne, in den Wiesen und Wäldern um das Dorf herum, das sei „schüen“. Und das war der Augenblick, in dem sie aus mir hervorbrach, die Sehnsucht, das alles hinter mir zu lassen und fortzugehen, weit fort, in die Stadt. Ich wollte nicht Tag für Tag säen, ernten, wieder säen 46


und wieder ernten. Hier im Dorf kannte ich alles und jeden, aber ich wollte mehr sehen, mehr Menschen kennen lernen. Eines Tages wollte ich aufbrechen und schauen, was in der Welt auf mich wartete. Irgendwo wartete etwas, da war ich ganz sicher. Der „Gasthof zur Post“ war ein erster Schritt, aber ich würde weiter fort gehen als nur bis Wissen und nicht hier im „Bouerndorf“ verkümmern. Und ganz gewiss würde ich keinen Bauernjungen heiraten, nicht einmal Brücks Friedrich, der mir ein wenig den Hof machte und dessen braune Locken mir auch gefielen. Nein, heiraten würde ich den nicht, stieß ich so heftig hervor, als müsse ich mich selbst überzeugen. Und überhaupt, seit mein Lieblingsbruder Peter und seine Toni 1906 nach Köln gegangen waren und mein Patenkind mitgenommen hatten, wusste ich, dass ich auch nach Köln wollte, irgendwann und irgendwie! Lene hat mir zugehört, mich mit weit aufgerissenen Augen angeschaut, fast ein wenig ängstlich, und hat nach einer langen Weile nachdenklich den Kopf geschüttelt. „Nä, dat wär nix für misch“, hat sie gemurmelt. Sie freue sich, wenn das Getreide aus dem Korn wachse und die Wiesen nach dem Schnee grün würden. Das warme Fell der Kühe und das Gackern der Hühner würde ihr fehlen, wenn sie wegginge, auch der Geschmack der Milch, die man sich direkt aus dem Euter in den Mund spritzt. All das Riechen und Sehen und Fühlen. Das kenne sie, und das sei „schüen“. Und am meisten würde sie „mengen Platz“ vermissen, wobei sie mir nicht verriet, wo der denn sei. Ich dachte an unseren „Platz“ oben am „Stuhl“. Ja, und „Kenner“ wolle sie haben, „viele Kenner“. Sprachlos habe ich die Lene angestarrt. So kannte ich sie ja gar nicht, so heftig, so bestimmt. Von den Menschen hat sie nicht gesprochen, aber das ist mir nicht aufgefallen, damals.

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Rudi „Sie ist wunderschön“, dachte ich, als ich sie zum ersten Male sah, dort oben, hoch über Mittelhof, an dem alten Hexentanzplatz. Ihr langes rotes Haar, das sie offen trug, sprühte in der Sonne. Inmitten der vielen bunten Sommerblumen lag sie bäuchlings im Gras, stützte den Kopf mit beiden Händen und schaute angestrengt vor sich hin, als ob sie etwas intensiv beobachte. Die nackten Beine hatte sie in die Luft gestreckt. Später habe ich erfahren, dass sie den Weg eines kleinen Käfers verfolgte, ihre „zweitliebste“ Beschäftigung, die liebste war „Wolken gucken“. Sie war so vertieft, dass sie meine Schritte wohl überhört hatte, wahrscheinlich waren sie auch durch das Gras gedämpft worden. Als mein Schatten auf sie fiel, schreckte sie zusammen, ließ ihre Beine zu Boden fallen und blickte fast etwas ängstlich schräg zu mir hinauf. „Guten Tag“, sagte ich und zog den Strohhut, der meinen Kopf gegen die Sonne schützte. Schnell rollte sie sich seitwärts und setzte sich auf, wobei sie sorgsam darauf achtete, ihren verschlissenen rotbraunen Leinenrock über die nackten Füße zu ziehen. Wie ein ertapptes Kind saß sie dort und blickte mich nur stumm an. „Guten Tag“, versuchte ich es noch einmal und behielt dieses Mal meinen Hut gleich in der Hand. Wieder keine Antwort. Nur eine leichte Röte flog über die helle Haut ihres Gesichts, aber sie wandte die Augen auch nicht ab. Mein Gott, war es schön, dieses Geschöpf, das so eins mit der Natur zu sein schien, die es umgab. „Die muss ich malen“, schoss es mir durch den Kopf. Das Mädchen oder die junge Frau – ich konnte ihr Alter nur ganz schlecht einschätzen – hatte den Kopf nun abgewendet und zupfte an den langen Ärmeln ihrer hellgrauen Bluse herum, zog sie herunter, schob sie dann wieder ein wenig nach oben und schloss die beiden Bänder am Hals. Ich zeigte auf eine Stelle, etwas von ihr entfernt, und fragte, ob es ihr etwas ausmache, wenn ich mich dort niederließe. Ein kurzes Nicken nur, wie bei einem Kind, das ich als 48



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