Kiesel zum Gedenken

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Renate Habets

Kiesel zum Gedenken Erz채hlungen

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Inhalt

Vorwort 6 „Jakob, dein Sohn“ 11 Das Glück mit Friedel 17 Samuel aus dem Elsass 27 Aaron in der Neuen Welt 35 Endlich einmal wichtig 43 Die Buße 49 Chanukka 57 Alles hat seine Richtigkeit 65 „Die Russen“ 71 Die Frau des Bruders 79 John, the Luftmensch 85

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Vorwort Bei meinen Besuchen auf dem jüdischen Friedhof am Blomericher Weg in Ratingen-Hösel stellte ich mir mehr und mehr die Frage, wie das Leben derjenigen ausgesehen hatte, deren Grabsteine ich vor mir sah, wer es war, der dort seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Ihnen, deren Namen kaum leserlich und deren Geschichten vergessen sind, wollte ich ein Gesicht geben. Dabei wollte ich nicht erzählen, was war – die Geschichten sind nicht dokumentarisch. Sondern ich wollte erzählen, wie es hätte sein können. Dabei fühlte ich mich durchaus der historischen Wahrheit verpflichtet, recherchierte sorgfältig, erfand aber dennoch die einzelnen Geschichten, erlebte sie schreibend nach. So ist der Name des 1786 ersten dort Bestatteten, Samuel ben Benjamin, zwar historisch, und dieser stammt auch tatsächlich aus dem Elsass, das ist bekannt, aber die Erklärung dafür, wie er nach Kettwig gelangt sein könnte, ist meine Erfindung. Auch sind den Geschichten keine bestimmten Grabsteine zuzuordnen, was die Fotografien nahe legen könnten, sondern ich habe mich beim Schreiben zunehmend von der konkreten Anschauung gelöst und allgemein Menschliches umkreist. Jeder Grabstein könnte für jeden Menschen stehen. Die Erzählungen zeigen Möglichkeiten jüdischen Lebens in einer fast ländlichen Kleinstadt im Laufe des 19. Jahrhunderts und handeln von Menschen jüdischen Glaubens mit all dem,

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was Menschen ausmacht: Trauer, Hoffnung, Liebe, Engherzigkeit, Tod, Schmerz, Freude, Druck, Glauben und Aufbegehren. Es wird erzählt, was geschehen kann: von Eltern, die ihre Kinder nicht verstehen; von Müttern, die an ihren unehelichen Kindern zerbrechen; von Jungen und Mädchen, die sich falsch verlieben; von dem Ende einer Hoffnung, als der Sohn stirbt, oder von dem Erfolg, der mit dem Glauben an sich selbst Hand in Hand geht. Sie erzählen von Reich und Arm, von Mann und Frau, von Alt und Jung, bemühen sich, jedem in einer solchen kleinen Stadt eine Stimme zu geben. Aber sie erzählen auch von den Erfahrungen, die den jüdischen Menschen stark zu eigen sind: Verfolgung und Ausgrenzung. Und so verstehe ich diese Erzählungen als ein Stück Erinnern an Menschen jüdischen Glaubens, die einst in Deutschland lebten und nicht mehr sind, unbekannt, vergessen – ob in Kettwig vor der Brücke oder anderswo. Elf Erzählungen sind es geworden, weil das Kaddisch, das jüdische Totengebet, elfmal gesprochen wird – elfmal Erinnerung an den Verstorbenen, elfmal Erinnerung an die Frauen und Männer, Jungen und Mädchen, die im 19. Jahrhundert irgendwo in einer kleinen deutschen Stadt lebten, hier verkörpert in Kettwig vor der Brücke, und nahezu vergessen – nur: „Kiesel zum Gedenken“ – auf einem Friedhof ruhen, nicht nur demjenigen am Blomericher Weg. Renate Habets Duisburg, im Herbst 2012

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Der gute Ort: beschattet von Buchen, weitab, Grabsteine im Gras, bemoost, verwittert, zwischen raschelnden Blättern, Anemonen und Schnee, unlesbar die Schrift, kaum erahnbar – und doch: Kiesel zum Gedenken An wen?

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ANMERKUNGEN

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„Jakob, dein Sohn“

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ie Kerzen waren schon weit heruntergebrannt, als endlich aus dem Nachbarzimmer der erlösende Schrei er-

tönte. Dünn zwar, quäkend, aber es war deutlich eine Kinderstimme, die dort ihren Protest erhob, dass man sie ins Leben befördert hatte. Judith saß mit einem aufgeschlagenen Buch am Küchentisch, hatte aber nur so getan, als würde sie lesen, während sie ängstlich nach nebenan lauschte. Nun blickte sie erleichtert auf und zu ihrem Vater hinüber, der auf der Bank am Ofen saß und sich immer wieder mit einem großen Tuch den Schweiß von der Stirn wischte, obwohl der Herd es kaum schaffte, gegen die eisige Winterkälte, die durch die Fensterritzen hereindrang, anzukommen. Der Vater erwiderte ihren Blick mit einem leichten, unsicheren Lächeln, als glaube er noch nicht an das, was ihm der Kinderschrei zu verheißen schien. Gerade noch rechtzeitig hatte er es zu der Geburt seines Kindes geschafft, trotz der verschneiten Wege, die es ihm und seinem Gefährt schwer gemacht hatten. Aber nun war er zu Hause. In Kettwig vor der Brücke stand das kleine Fachwerkhaus, in der Gasse, die zu der Ruhr hinunterführte, unweit der Landsberger Straße. Wie üblich war er die ganze Woche als Händler unterwegs gewesen mit seinen Messern, Scheren und Nägeln, mitunter bis ins Unterfränkische, aber am Freitagabend kehrte er stets regelmäßig zu den Sabbatvorbereitungen nach Hause zurück. Noch

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keinen Sabbat hatten sie ohne ihn feiern müssen, erinnerte sich Judith. Nur mit ihm war es schön, pflegten sie einander zu sagen, die Mutter und sie. Heute jedoch war er mitten in der Woche zurückgekehrt. Er hatte seinen Handelsweg abgekürzt, weil er bei der Mutter hatte sein wollen, deren Stunde nahte. Und da saßen sie nun in der Küche, die beiden, Vater und Tochter, hörten den Schrei des Neugeborenen und lächelten sich zu, immer befreiter, je kräftiger das Kind seine Stimme erhob. Nach einer Weile öffnete sich die Tür der Schlafstube, und eine breithüftige, hoch gewachsene Frau trat ein, nickte mit dem Kopf und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Da lag die Mutter im Bett, blass, erschöpft, wie Judith auf den ersten Blick bemerkte, aber mit einem Lächeln im Gesicht, wie sie es noch nie bei ihr gesehen hatte, so strahlend, dass ihr ganz warm ums Herz wurde. In ihrem Arm ruhte ein fest gewickeltes Baby, dessen runzlige Züge noch den Ärger über die vorangegangene Anstrengung widerspiegelten. Dieses reichte sie nun dem Vater, der sich leise und ehrfurchtsvoll dem Bett genähert hatte, mit den Worten: „Jakob, ein Sohn!“ Mehr sagte sie nicht, nur diese drei Worte, aber sie ließen Judith den kalten Winter und die ausgestandene Angst vergessen. Und dann reichte der Vater ihr, der Dreizehnjährigen, das Bündel, und es fühlte sich warm an in ihrem Arm. Sie blickte auf ihn nieder, ihren kleinen Bruder, auf den die Familie so lange hatte warten müssen. Es hatte die Mutter viel Kraft gekostet, Judith das Leben zu schenken. Für weitere Kinder hatte sie nicht mehr gereicht. Nie mehr hatte die Mutter ein Kind austragen können, bis dieses sich anmeldete, da war sie bereits vierzig Jahre alt und hatte längst schon die Hoffnung

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auf einen Sohn aufgegeben. Und nun hatte sie ihn ihm geschenkt, Jakob, ihrem Mann, dem sie herzlich zugetan war. Hatte er doch stets so selbstverständlich für sie und die Tochter gesorgt und nie erkennen lassen, dass er sich mehr Kinder, ja, dass er sich einen Sohn wünschte. Mit einem liebevollen Blick umfing sie die Drei, ihre Familie. Dann schloss sie die Augen, um sich auszuruhen. In Judith hatte sie in den nächsten Tagen eine willige Helferin. Diese Tochter war ein Geschenk des Himmels, hübsch, aufmerksam, hilfsbereit, klug, das hatte sie immer gedacht, auch in den Zeiten, als sie sich nach einem Sohn sehnte. Nun kümmerte sich diese liebevoll um den kleinen Bruder, wusch ihn ab, wechselte die Tücher, zog ihm vorsichtig die Jäckchen über, die sie beide gehäkelt hatten, und wiegte ihn in ihren Armen, während sie ein Wiegenlied summte. Für Judith war es die schönste Zeit ihres Lebens. Endlich war sie nicht mehr das einzige Kind in der Familie, das hatte sie sich so gewünscht. Alle anderen in der Nachbarschaft hatten Geschwister, viele zumeist, nur sie war mit den Eltern allein, behütet wie ein Schatz. Wenn die anderen Mädchen darüber klagten, dass sie zu wenig Zeit hätten, immer müssten sie sich um die Kleineren kümmern, dann hatte sie diese beneidet, war ihnen zur Hand gegangen und hatte sich dabei immer vorgestellt, es sei ihr kleiner Bruder, den sie gerade versorgte. Und nun war es wirklich ihr kleiner Bruder! Alles, was sie an Liebe zu geben hatte – und sie hatte viel zu geben! –, erfuhr dieser, jede Handbewegung, die sie für ihn machte, kam einer Liebkosung gleich, nichts war ihr zu viel. Emsig half sie der Mutter, die sich noch sehr schwach fühlte, auch bei den Vorbereitungen zu dem Fest, das zu Ehren der

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Beschneidung des Kleinen stattfinden sollte. Am Donnerstag, acht Tage nach seiner Geburt, sollte es geschehen. Nachbarn und Freunde wollten kommen und mit ihnen feiern – feiern nicht nur die Brit Mila, wie der „Bund der Beschneidung“ auf Hebräisch heißt, sondern dass Ruth in ihrem Alter – denn man empfand sie als alt – fast wie durch ein Wunder noch einen Sohn geboren hatte. Und so musste man die Speisen zubereiten, die es geben sollte, koscher natürlich. Dabei packte Judith kräftig mit an, doch nicht ohne immer wieder zu dem großen Weidenkorb zu laufen, in dem das Baby schlief, und ihm über das Bäckchen zu streicheln oder auch nur zu schauen, ob es ihm gut ging, während die Mutter sie sanft lächelnd beobachtete. An der Beschneidung selbst durften die beiden nicht teilnehmen. Sie saßen mit den anderen Frauen in der Küche rund um den eichenen Tisch, nachdem das Kind in einer feierlichen Zeremonie über mehrere Stationen endlich an den Paten übergeben worden war, der in der Stube nebenan in einem eigens für ihn aufgestellten Sessel saß. Sie horchten hinüber. Und Judith schien es, als schaue die Mutter angespannt und auch ein wenig ängstlich, als fürchte sie den kleinen Schmerz, den das Baby trotz des Tropfen Weines dabei empfinden würde. Und dann brachte ihr der Vater den Sohn zurück, der nun einen Namen trug: Isaak. Dieses Fest war der letzte schöne Tag in Judiths Leben während der vielen Jahre, die danach kommen sollten. Nie wieder sollte sie so glücklich sein wie an dem Tag, als ihr kleiner Bruder seinen Namen bekam: Isaak, der Lachende. Zwei Tage später war das Kind unruhig, schlug mit den kleinen Händchen und hatte ein heißes Köpfchen. Man ließ die Heb-

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amme kommen, die Tee empfahl, und als es nicht besser davon wurde, machte sich Ruth am nächsten Tage auf, den Arzt aufzusuchen, der am Ende der Landsberger Straße wohnte. Der aber konnte nichts für das Kind tun. Ein Fieber hatte es ergriffen, dem es, schwach wie es war, nichts entgegenzusetzen hatte, so dass es am fünften Tage nach seiner Beschneidung starb. Man begrub es während eines Schneesturms in der linken oberen Ecke des Friedhofs und setzte ihm einen kleinen Stein, damit man sich erinnere an Isaak, Ruths und Jakobs Sohn und Judiths Bruder, der nicht einmal zwei Wochen auf dieser Welt hatte bleiben dürfen, obwohl er doch so sehr geliebt wurde von den Seinen. Die Mutter war seit diesem Tage eine andere, und damit veränderte sich auch das Leben der Tochter. In das Haus, in dem früher Lachen und Fröhlichkeit zu Hause waren, kehrte nun tiefe Trauer ein, eine Trauer, die Jakob ratlos machte. Und so begann er nach einiger Zeit, länger auszubleiben und nicht mehr des Freitagabends zurückzukehren. Ruth sprach kaum noch. Die meiste Zeit saß sie, in sich versunken, in der dunkelsten Ecke der Stube, die Hände im Schoß verschränkt, wenn sie gerade nicht weinte und nicht wieder aufhören konnte. Judith, auch sie voller Trauer um den kleinen Isaak, versuchte alles, um die Mutter ins Leben zurückzuführen, aber es gelang ihr nicht. Kein Sabbat wurde mehr gefeiert, kein Pessach, kein Jom Kippur. Trauer hatte sich eingenistet unter dem Dach des Fachwerkhauses, bis auch Judith erstarrte und ihre Lebensfreude verlor. Isaak, der sehnlich Erwartete, hatte nicht leben dürfen, und so verlosch mit ihm auch das Leben seiner Familie.

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Das Glück mit Friedel

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er größte Tag seines Lebens war der einsamste. An dem Tag, als Erzherzog Ferdinand Maximilian zum Kaiser

von Mexiko ausgerufen wurde, stand er neben seiner Braut. Nur diese war ihm geblieben, auf alles andere hatte er verzichten müssen, auf wirklich alles. Er war „über den Jordan gegangen“, es hatte sein müssen, aber es war schwer, immer noch. Vor drei Jahren hatte alles begonnen. Damals hatte sich der zwanzigjährige Frieder an einem Sommerabend wieder einmal aufgemacht, hinunter zu den Wiesen an der Ruhr. Futter für die Hühner wollte er holen, so hatte er den Eltern gesagt. Mitunter brauchte er das, dieses Allein-Sein, das wussten auch die Eltern, die einander nur anlächelten, wenn ihr Ältester „Hühnerfutter holen“ ging. Aber die sieben Geschwister, die außer ihm mit den Eltern unweit des Gebetshauses in dem mit Schiefer verkleideten kleinen Gebäude lebten, ließen immer wieder das Gefühl der Enge in ihm aufkommen, und dann musste er raus, runter zur Ruhr oder in die bewaldeten Hügel oberhalb Kettwigs. Heute war er wieder einmal zum Fluss gegangen, war zunächst schnell ausgeschritten und hatte sich nun unter einer großen Weide am Ufer niedergelassen, einen Grashalm zwischen den Zähnen, und blickte sinnend über das recht schnell dahinfließende Wasser. Gut ging es ihm, das wusste er, hatte er doch Arbeit und die

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Liebe seiner großen Familie, für die er, der Erstgeborene, eine tiefe Verantwortung fühlte. Sehr früh schon hatte er begonnen, dem Vater in der Metzgerei zu helfen, und es hatte ihm Spaß gemacht, all das zu lernen, was man über die Tiere, das Schächten und das Schlachten wissen musste. Sein Vater Isaak war ein angesehener Metzger, weit über die jüdische Gemeinde hinaus, auch Christen aus Kettwig und Laupendahl kamen und kauften bei ihm. Die Geschicklichkeit und Sorgfalt hatte er an den Sohn weiter gegeben, der ihm mittlerweile eine große Hilfe war. Dieser schaute nun auf, über die Wiesen hin, und sah eine junge Frau auf sich zukommen, von Mintard her. Bei ihm angekommen, lächelte sie, und da traf es ihn. Dieses Lächeln! Er hätte sich nicht dran satt sehen können. Er nickte ihr zu, und weil er sie noch nicht gehen lassen wollte, fragte er, woher sie denn komme. Eine Tante hatte sie besucht, erfuhr er nun, die krank war und in Mintard wohnte. Der hatte sie Essen gebracht, Brot, Schinken und eine gute Rinderbrühe, damit sie wieder zu Kräften komme. Das erklärte auch den Korb, den sie über den Arm gehängt mit sich führte und den sie nun neben ihn stellte. Sie griff hinein, holte zwei rotbackige Äpfel hervor, von denen sie ihm einen reichte, und ließ sich dann wie selbstverständlich im Gras neben ihm nieder. So saßen sie nun nebeneinander, kauten ihren Apfel, schauten über das Wasser der Ruhr, und manchmal machten sie einander auf etwas aufmerksam, das sie sahen: ein schnell dahin treibendes Zweiglein, eine Entenmutter mit ihren Küken, ein Blatt. Stundenlang hätte er so neben ihr sitzen können, in dieser Ruhe, dem Frieden und der Selbstverständlichkeit des Beieinanders. Nach einer Weile erhob sie sich, griff nach ihrem Korb

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und wollte davongehen, doch nicht ohne ihn verstohlen zu mustern. Dieser heimliche Blick gab ihm den Mut, schnell zu fragen, ob sie denn öfter hier vorbei komme oder ob sie weit weg wohne. Nein, entgegnete sie, sie wohne dort drüben in Kettwig, gleich hinter der Brücke. Und sie müsse übermorgen zur Tante, da komme sie hier wieder vorbei. Nickend bestätigte er, dass er das Gesagte – und auch das Ungesagte, dies besonders – verstanden habe, und ließ sie gehen. Übermorgen brauchten sie auch Hühnerfutter, das wusste er jetzt. Und sie sollten viel davon brauchen, auch dann noch, als die Tante längst genesen und Friedel, so hieß sie, immer noch einen Spaziergang nach Mintard machte, denn man könne ja die alte Frau nicht sich selbst überlassen. Drei „zufällige“ Male mussten sie sich treffen, bis sie sich endlich ihre Namen sagten. Wie sehr hatten sie darüber gelacht, als sie merkten, wie gleich diese klangen, fanden dies aber auch irgendwie bedeutungsvoll: Friedrich und Friederike oder Frieder und Friedel. Dass er diesen Namen trug, verdankte Frieder seinem Vater Isaak. Denn dieser hatte sich bei der Geburt seines ersten Kindes gegen seine Frau Channa durchgesetzt, die lieber einen traditionellen Namen wie Ruben oder auch Isaak für den Jungen gewählt hätte. Aber, so argumentierte der frisch gebackene Vater, sie seien Juden, die in Deutschland lebten, und deshalb sollten alle seine Kinder, die der G’tt Jisraels und Channa ihm wohl hoffentlich noch schenken würden, deutsche Namen tragen. Und so hatte sein Ältester bei der Beschneidung den Namen Friedrich Isaak erhalten, aus dem sehr bald Frieder geworden war. Meist trafen sie sich an der alten Weide, denn die war weit genug von Frieders Zuhause entfernt. Er wollte nicht, dass man

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ihn mit Friedel sah. Das war seine Sache, redete er sich ein, wusste er doch genau, dass die Eltern mit diesen Treffen wohl nicht besonders einverstanden gewesen wären, hätten sie davon gewusst. Von der Weide aus gingen sie kilometerweit durch die Wiesen, am Fluss entlang, gegen Werden zu oder in die Wälder oberhalb der Ruhr. Zuerst sprachen sie nur miteinander, doch dann hatte er wie zufällig ihre Hand genommen und nicht mehr losgelassen. Und als sie das eine ganze Weile geduldet hatte, ja einmal sogar nach seiner Hand fasste, als er ihre nicht schnell genug ergriff, wagte er es, ihr seinen Arm um die Schulter zu legen und sie auch einmal ganz verstohlen an sich zu ziehen und sie leicht zu drücken. Er war verzaubert von ihr, von ihrem Lächeln, ihrer Offenheit, ihrer Lebendigkeit und von der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Freude an dem Zusammensein mit ihm zeigte. Es war so gar nichts Falsches oder Gespreiztes an ihr. „Nur noch dieses eine Mal“, sagte er sich immer wieder, wenn sie ein neues Treffen verabredet hatten, „nur noch dieses eine Mal“, denn er wusste, dass er das besser nicht getan hätte, dass es Schwierigkeiten geben würde, je mehr er sich an Friedel gewöhnte. Dass er Jude war, hatte er bisher verschwiegen, das würde sie gewiss abschrecken, dachte er, und war ganz verblüfft, als es dann ganz anders kam. Eines Tages – sie kannten einander nun ein Jahr – wollte Friedel mit ihm tanzen gehen, drüben in Kettwig, an einem Samstagabend. Zu gerne wäre er mit ihr gegangen, hätte sich mit ihr gedreht und in der Öffentlichkeit gezeigt. Aber das konnte nicht sein, und das sagte er ihr auch schweren Herzens. Als sie ihn daraufhin fragte, ob er sich nicht mit ihr zeigen wolle, ob sie nicht gut genug für ihn sei, brach es aus

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ihm heraus. Er könne am Samstag nicht weggehen, da müsse er zu Hause bleiben bei seiner Familie, da sei Sabbat. Und als sie ihn fragend anblickte, erzählte er ihr, dass er Jude sei und dass die Juden den Sabbat heiligen müssten. Als sie neugierig wissen wollte, was das bedeute, berichtete er vom Freitagabend, an dem er, seine sieben Geschwister und die Eltern nach dem Besuch des Gebetshauses sich jedes Mal um den riesigen Küchentisch versammelten, nach dem Entzünden des Leuchters Segenssprüche sprächen und gemeinsam die Schabbat-Brote verzehrten. Danach gebe man sich dann der Sabbat-Muße hin, keine Arbeit dürfe getan werden, nicht einmal das Feuer werde angezündet, wenn es erloschen sei. Mit großen Augen blickte Friedel ihn an, während er erzählte, gespannt, wissbegierig, aber nicht den geringsten Funken Abwehr in den Augen, wie er befürchtet hatte. Und das war der Augenblick, in dem er sie zu sich heran zog, fest beide Arme um sie schloss und sie zum ersten Male küsste. Er beschloss, sich den Schwierigkeiten zu stellen, die auf ihn zukommen würden. Zunächst erzählte er der Mutter, er habe eine junge Frau kennengelernt, ob er sie mal zum Essen mitbringen könne. Freudig nahm diese seinen Arm und fragte, woher das Mädchen denn komme. „Von jenseits der Ruhr“ war die Antwort des Sohnes, die ihre Freude jäh erlöschen ließ. „Von jenseits der Ruhr?“, fragte sie zurück, als müsse sie sich verhört haben, und als der Sohn bestätigend nickte, wandte sie sich ab und meinte, sie müsse mit dem Vater sprechen. Sie tat es noch am selben Abend, wobei sie nicht versäumte, ihm unter Tränen vorzuwerfen, dass es dieser deutsche Name sei, der diesem Skandal den Weg bereitet habe. Dem Sohn wurde mitgeteilt, er dürfe die Freundin nicht

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mehr sehen, das müsse er versprechen. Eine solche Beziehung könne zu nichts führen, zu gar nichts, zumindest zu nichts Ehrenhaftem. Auf nichts anderes ließ der Vater sich ein, obwohl Frieder alles versuchte, ihm Zugeständnisse abzuringen. Für eine Ehe komme ausschließlich eine Jüdin in Frage, nicht aber eine Frau von jenseits der Ruhr. Schweren Herzens machte er sich auf den Weg, Friedel von dem Entschluss seines Vaters zu berichten, fest entschlossen, das Verbot einzuhalten, so schwer es ihm auch fallen würde. Als er Friedel jedoch auf sich zulaufen sah, strahlend, mit diesem Lächeln, das er so sehr liebte, wusste er, dass er nicht auf sie würde verzichten können, nicht auf immer. Und daher beschlossen die beiden, dass sie, um der Ruhe in Frieders Familie willen, sich zwar eine Weile nicht sehen würden, aber schreiben wollten sie einander. Ein Astloch der alten Kastanie auf der Landsberger Straße sollte ihr Briefkasten sein. Währenddessen sollte Frieder versuchen, die Eltern umzustimmen, damit diese Friedel doch wenigstens einmal kennenlernten. Und wenn das geschähe, das versicherte er ihr, würden sie sich gewiss umstimmen lassen, da sei er ganz sicher. Sehr bedrückt verabschiedeten sie sich an diesem Abend voneinander, schworen sich aber ewige Liebe. Und wirklich sahen sie sich mehrere Wochen lang nicht, sondern trugen nur viele, viele Briefe zu der alten Kastanie, die etwas außerhalb des bewohnten Gebietes stand. Diese konnte Frieder bei seinen Botengängen unauffällig aufsuchen, denn er stand unter scharfer Beobachtung seiner Eltern. Auch den Geschwistern hatte man aufgetragen, auf sein Tun zu achten. Sobald er sich auch nur wenige Schritte von der Familie entfernte, schlug

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ihm deren Misstrauen entgegen, und es war ihm schier unerträglich. Noch unerträglicher aber war ihm, dass er Friedel nicht sehen, nicht berühren und nicht mit ihr sprechen konnte, und als er das Gefühl hatte, man beobachte ihn nicht mehr so streng, da schlug er ihr ein Treffen vor, ein kurzes nur, aber länger könne er es nicht mehr ohne sie aushalten. Und nun trafen sie sich wieder, ganz heimlich, weit entfernt von Frieders Zuhause, oft nur für wenige Minuten, aber sie spürten, dass sie ohne den anderen nicht sein konnten. Zwar plagte den jungen Mann das schlechte Gewissen den Eltern gegenüber, weil er sein Versprechen gebrochen hatte, aber das hob die Freude an Friedel fast auf. Nach mehr als zwei Jahren waren sie einig, dass sie zusammen bleiben wollten, irgendwie musste das gehen, und dann nahm die junge Frau ihn auch mit zu ihren Eltern, als ihren zukünftigen Ehemann, wie sie ihnen gesagt hatte. Herzlich und wie selbstverständlich nahmen diese ihn auf als den Mann, den die Tochter liebte. An seinem Judentum nahmen sie keinen Anstoß. Als er dann jedoch am sonntäglichen Mittagstisch – zu Hause hatte er sich mit einer langen Wanderung durch die Wälder entschuldigt – vor dem Teller mit Aal saß, den man eigens für den Gast zubereitet hatte, würgte es ihn doch heimlich ein wenig. Meerestiere ohne Schuppen waren ihm verboten, von Kindheit an hatte er das gelernt. Aber dann schob er die anerzogenen Bedenken beiseite. Hier wurde er aufgenommen, wie er war, und wenn seine Eltern das mit seiner zukünftigen Frau nicht ebenso taten, dann musste er eben sehen, wie er hier zurechtkam. Sein Entschluss war gefasst, Friedel und er würden heiraten, und wenn es nach jüdischer Sitte nicht ging, dann eben nach

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christlicher. Und so nahm er sich eines Sonntags ein Herz und führte seine Verlobte – denn als solche betrachteten sie sich mittlerweile – zum Haus seiner Eltern, um sie ihnen vorzustellen. Sie gaben Friedel zwar die Hand, waren aber so abweisend und kalt ihr gegenüber, dass er seine warmherzige Mutter und den sonst so aufgeschlossenen Vater nicht wieder erkannte und den Besuch sehr bald abbrach. Noch am selben Abend teilte er beiden mit, dass er gehen werde, wenn er Friedel nicht heiraten dürfe – und so geschah es dann auch. Ohne Abschied verließ er seine Familie und wurde mit Friedel an dem Tag getraut, als der Erzherzog Ferdinand Maximilian zum Kaiser von Mexiko ausgerufen wurde. Das junge Ehepaar zog nach Werden, wo Frieder eine Arbeit bei einem christlichen Metzger gefunden hatte, der sehr zufrieden mit der Leistung seines jüdischen Gesellen war. Friedel hatte ihm vorgeschlagen, sie werde die jüdischen Speisevorschriften beachten, aber dies lehnte er ab. Wenn seine Frau bei den Juden nicht willkommen war, dann wollte auch er mit ihnen nichts zu tun haben, auch wenn ihm dies fast das Herz zerriss. Friedel und er lebten glücklich miteinander. Ihr einziger Kummer war nur, dass die junge Frau nicht schwanger wurde. Als sich dann aber nach vier Jahren das ersehnte Kind ankündigte, da glaubte er sich endlich am Ziel seiner Träume. Doch wie grausam war das Erwachen. Kurz nach der Geburt, noch im Wochenbett, starb seine Liebste. Und wenig später folgte ihr auch der Sohn. Als seine Mutter und sein Vater eines Tages vor der Tür des kleinen Hauses standen, das er mit Friedel bewohnt hatte, entschloss er sich, nach Kettwig vor der Brücke zurückzukeh-

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ren. War doch dort, trotz allem, seine Heimat. Viele Jahre später heiratete er eine junge jüdische Frau, die ihm vier Kinder gebar. Zufrieden lebten sie zusammen. Das Glück aber mit Friedel vergaß er nie.

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