Dinslaken_KochKulturGeschichten

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Esskultur— damals in Dinslaken

Esskultur – damals in Dinslaken Erlebtes und Überliefertes

Gisela Marzin Van boteren, kese, salt, alie ind hanich Was aßen die Dinslakener im Mittelalter?

Der Dinslakener Dichter Constantin Möllmann Gedichte von Constantin Möllmann Historische Gasthäuser in Dinslaken Inge Litschke Früher in Lohberg: Rübenkraut, Schmalz, Kaninchenbraten

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Margarete Böing Abendessen im Haus des Doktors ter Ponten

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Sepp Aschenbach Die Küche der jüdischen Bürger

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Inge Litschke Trümmer, Not und Nahrungsmittel Überlebensarbeit von Dinslakener Frauen in der ersten Nachkriegszeit

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Margarete Federkeil Gaitzsch Falsches Korn und Falscher Fisch Eine Erinnerung aus Hungerjahren

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Pastor Bernhard Kösters Die gemeinsame Mahlzeit in einer christlichen Familie

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Margarete Federkeil Gaitzsch Im Namen des Vaters

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Ronny Scheider Tischgebete

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Gisela Marzin

Van boteren, kese, salt, alie ind hanich1 Was aßen die Dinslakener im Mittelalter?

Im Kopiar der Dinslakener Stadtrechte gibt es ein Verzeichnis der auf dem Dinslakener Markt im Jahr 1502 verkauften Waren.2 Dort findet man ein Angebot, das von Lebensmitteln bis hin zu Leder, Harnisch und Tuch reicht. Das Verzeichnis, im Originaltext Register genannt, wurde erstellt, um die “tzise” festzulegen. Tzisen sind die Abgaben, die dem Bürgermeister, den Schöffen und dem Rat der Stadt zustanden, wenn die Waren auf dem Markt in Dinslaken von auswärtigen Händlern verkauft wurden. Das ist zwar noch kein Rezept für die Köstlichkeiten, die auf einer Dinslakener Feuerstelle schmurgelten, aber wir haben schon mal die Zutaten, die den mittelalterlichen Dinslakener Bürgern zur Verfügung standen: Bier, Butter, Käse, Salz, Öl, Honig, Heringe und Bücklinge, Weizen und Roggen sowie Fleisch. Die Waren wurden meist als Tonne oder als halbe Tonne, oder als Sack, zum Beispiel beim Salz, angeliefert. Getreide wurde ebenfalls in einem Malter oder in einem Fass gemessen, verkauft wurde es dann in einem Scheffel. Ein Dinslakener Malter waren 10 507 Kubikzoll oder vier Scheffel. Die öffentliche Waage befand sich direkt am Markt. Ein Waagemeister war dafür zuständig, dass recht gewogen, die festgelegten Gebühren eingezogen und dem Bürgermeister weitergeleitet wurden. Zu dieser Speisenauswahl kam sicherlich das eine oder andere Kraut aus dem eige214

nen Garten hinzu, außerdem im Sommer und Herbst Zwiebeln, Kohl und Pastinaken sowie an Obst Äpfel, Birnen, Pflaumen und diverse Beerenfrüchte. Als Fleisch kam, wenn überhaupt, vermutlich Geflügel auf den Tisch. Fisch dagegen gehörte schon aus religiösen Gründen zur Nahrung. Er konnte sowohl auf dem Markt erworben als auch im Rotbach gefangen werden. Es stimmt nicht, dass die Menschen im Mittelalter ständig am Rande einer Fleischvergiftung schwebten. Die Dinslakener wussten sicherlich im Allgemeinen sehr gut, was bekömmlich war, und hüteten sich nicht nur vor wirklich verdorbenem Fleisch, sondern besonders auch vor rohem Wasser aus dem Rotbach oder den Brunnen der Nachbarschaften. Stattdessen tranken sie gelegentlich Wein, wesentlich häufiger aber das nahrhafte Bier, das sie zum Teil selbst brauten. Brot, Getreidebrei, Schmalz und auch Wurst zählten zwar zu den alltägliche Speisen, doch Kochbücher standen im Mittelalter nur den Bessergestellten, den Adeligen und reichen Bürgern, zur Verfügung; wie die durchschnittlich ungebildete Bevölkerung in der Stadt und auf dem Land sich ernährte, kann deshalb nur vermutet werden. Überliefert ist im “Buch von guter spise” ein Rezept für einen Deutschen Brei, auch Blamensier genannt3:


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15. Jahrhundert wird mit Reismehl, gekochtem und gehacktem Hühnerfleisch, Schmalz, Zucker und Veilchen zusammen gekocht. Dieses oder ein variiertes Rezept für diesen süßen, später auch salzigen, nahrhaften Brei findet sich in verschiedenen mittelalterlichen Rezepten. Mal wird die Mandelmilch mit Wein zubereitet, mal wird der Zucker durch Gewürze und Zwiebeln ersetzt.4 “Wilt du machen einen blamensier, wie man sol machen einen blamenser. Man sol nehmen zigenin milich und mache mandels ein halp phunt. einen virdunc ryses sol man stozzen zu mele, und tu daz in die milich kalt, und nim eines hunes brust, die sol man zeisen und sol die hacken dor in. Und ein rein smaltz soll man dor in tun. Und sol ez dor inne sieden. Und gibs im genuc und nime es denne wieder. Und nim gest zzen violn und wirfe den dor in. Und einen vierdunc zuckers tu man dor in und gebs hin.” Es handelte sich um eine Mandelmilch aus geriebenen Mandeln und Ziegenmilch, sie

Anmerkungen 1 Es handelt sich hier um Butter, Käse, Salz, Öl und Honig. 2 Stadtarchiv Dinslaken, Kopiar 1412–1689. 3 Hajek, H. (Ed.), Texte des späten Mittelalters. Heft 8, Berlin 1950, S. 15. 4 Johanna Maria von Winter, Kochen und Essen im Mittelalter, in: Mensch und Umwelt im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1989, S. 96.

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Der Dinslakener Dichter Constantin Möllmann 1788 — nach 1864

Im Jahr 1788 wird in der Stadt Dinslaken, in der es zu der Zeit etwa 880 Einwohner gibt, ein Junge in eine liebevolle Familie hineingeboren: Constantin Möllmann. Doch mit sechs Jahren fällt ein Schatten auf seine glückliche Kindheit. Constantin erkrankt an den Blattern, heute besser bekannt als Pokken, und verliert durch diese schwere, meist tödlich verlaufende Krankheit sein Augenlicht. Dass Constantin Möllmann uns trotzdem ein 170 Seiten umfassendes Bändchen mit überwiegend Gedichten, aber auch Rätseln und Charaden als Lebenswerk hinterlässt, verdanken wir seiner Familie, die sich liebevoll um ihn kümmert, und dem Prediger Nebe, der sich einige Jahre des Jungen annimmt. Die heute vorhandenen vielfältigen Hilfsmittel standen dem blinden Kind nicht zur Verfügung. Die Blindenschrift zum Beispiel wurde erst 1825 entwickelt. Die erste öffentliche Blindenanstalt in Deutschland wurde 1806 errichtet. Bildung konnte ihm also nur durch Vorlesen vermittelt werden. Selbst schreiben konnte er nicht. Wenn man sich diese Situation vor Augen führt, hatte ein sechsjähriger blinder Junge in der Kleinstadt Dinslaken keine besonders guten Entwicklungschancen. Allerdings wurde im Allgemeinen bei Blinden dem Musikunterricht besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Außer der Familie unterrichtete der Dinsla-

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kener Prediger Nebe den jungen Möllmann. Er “weckte sein schlummerndes Talent zur Dichtkunst” und formte sein “rohes Dichtertalent”. “Die Erklärung herrlicher Bibelstellen, besonders die morgenländische Poesie, setzte mich oft in die süssesten Gemütsbewegungen …”, schreibt Möllmann in seinem Gedichtbändchen. Dieser Unterricht endete, als Nebe zur Regierung nach Minden versetzt wurde. Wie die Poesie, so trug auch ihre “unterhaltungsreiche Schwester, die Musik, zur Verschönerung” seines Lebens bei. Schon als Kind spielte er nach dem Gehör, doch unter Anleitung Geige. Der Unterricht, den er in Dinslaken erhielt, entsprach bald nicht mehr den Erfordernissen des Jungen. Erst als ein namentlich ungenannter Musikfreund “amtshalber“ in Dinslaken lebte, gab er dem jungen Constantin als Freund der Familie Klavierunterricht. Doch auch dieses Vergnügen endete bereits nach einem Jahr, durch die Versetzung dieses Freundes. Wenig später verbringt Constantin Möllmann “ein Jahr genussreich und nützlich“ in einer musikliebenden Hausgesellschaft in Düsseldorf. Danach realisiert er seinen Plan, selbst Musikunterricht in Dinslaken zu erteilen. Nach anfänglichen Vorurteilen wird sein Unterricht gut angenommen. Er entwirft sogar ein eigenes Lehrbuch mit Übungsstücken, die zum Teil eigene Kompositionen sind.


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19. Jahrhundert Ähnlich ergeht es ihm mit seinen Gedichten. Er wird immer häufiger zu Feierlichkeiten, für private und offizielle Anlässe um einen gereimten Beitrag gebeten. Die Gedichte kommen offenbar gut an, und 1823 erscheinen sie gesammelt in einem Gedichtband zum ersten Mal. Der Band erlebte mindestens drei Auflagen in verschiedenen Verlagen. Mit seinen Gedichten trifft der Lyriker Constantin Möllmann den Ton der Zeit. Sie sind geprägt von tiefer Religiosität und Demut, von Empfindsamkeit für die Natur und die Menschen. Trotz seiner Behinderung spiegeln sie eine große Lebensfreude. Als er 1815 eine Lobeshymne auf den Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. (reg. 1797–1815) verfasst, setzt ihm dieser als Geschenk eine jährliche Pension aus. In den Gedichten spiegelt sich Möllmanns Leben. So finden sich Gedichte an Dinslakener Mädchen (die Namen sind jeweils abgekürzt) oder für den Prediger Nebe. Es sind Gedichte über Freud und Leid, zum Beispiel zum Tod eines Vaters oder zu einer Hochzeit. Meist lassen sich die bestimmten Personen gewidmeten Gedichte nicht mehr zuordnen. Auflösen ließ sich überraschend die Namenskürzung in dem Gedicht “An den blinden Tonkünstler S. K. in Corbach”. Es richtet sich an den Musiklehrer Samuel Katz, der 1836 in Corbach verstarb. Er war der Sohn des Corbacher Schutzjuden Leffmann

Katz. Die Familie Katz gehörte zu den wohlhabenderen Familien in der Stadt. Ob sich Katz und Möllmann in Düsseldorf kennen gelernt haben, ist so wenig bekannt wie die Entstehungszeit des Gedichts. Zu einem unbekannten Zeitpunkt zieht Möllmann nach Wesel. Vielleicht hängt es mit diesem Umzug zusammen, dass sein Buch 1838 eine Neuauflage bei Ed. Klönne in Wesel erfährt. 1858 wohnt er mit seiner Nichte Julie de Brun auf der Hohe Straße im Haus Nummer 472. Möllmann arbeitet auch hier als Musiklehrer. 1864, im Alter von 76 Jahren, meldet er sich nach Essen ab. Dort verliert sich seine Spur. Gisela Marzin

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Constantin Möllmann

Fromme Empfindung. (Mein erstes Gedicht.) Ich will Dich jetzt, o Gott! erhöhen; Du bist mein Gott, Du bist mein Leben, Und jede Wohlthat kommt von Dir! Dir dankt mein freudiges Gemüthe Für Deine unermess’ne Güte, O, unvergesslich ist sie mir! Herr, keine Stunde ist vergangen Und es entfloh’ kein Augenblick, Darin ich nicht von Dir empfangen Ein neues unverdientes Glück.

Erndte-Lied. “Wie freundlich lächelt sie uns jetzt entgegen Mit ihren holden Gaben, die Natur! Wie herrlich prangt mit ihrem Muttersegen Jetzt jeder Baum und jede Saatenflur! Seht, wie die Erndte in den Feldern reifet. Und wie sich dort die goldne Aehre neigt, Und wie der Zweig, mit Früchten überhäufet, Sich von dem hohen Wipfel niederbeugt. Hört, wie sie jetzt zu unsern Ohren hallen Die ländlichen Gesänge, wie die Höhn, Wie rings die Thäler und die Lüfte schallen Vom Sichelklang und Jubelsangsgetön. Du Mächtiger! der Alles rief zum Leben, Der Du mit Fruchtbarkeit die Erde füllst, Der Du dem Saamenkorn den Keim gegeben, Der Du das Korn in seine Windeln hüllst; Du, der Du sendest Regen, Thau und Winde, Und jeder Pflanze Nahrungssaft verleihst, O, sei gepriesen! du mein Lied verkünde Laut Seinen Ruhm! lob’ ewig Ihn, mein Geist!

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Räthsel. Es herrschen in der Welt zwei Mächte, Die schwerlich eine Macht besiegt; Und wagt mit ihnen in Gefechte Der grösste Held sich auch, — er kriegt Umsonst, wenn er nicht ganz erliegt. Wir Alle stehen von der Wiege Bis an das ferne, kühle Grab, Stets unter ihrem Herrscherstab. Oft zwingen sie das Volk zum Kriege, Oft wenden sie ihn mächtig ab. Sie fordern Steuer, doch wir haben Dazu den Maassstab in der Hand, Wir bringen ganz verschied’ne Gaben, Gewählt nach dem verschieden Stand. Ein Jeder kennet die Gesetze, Die noch kein weiser Mann verwarf, Sie wollen keine grossen Schätze, Nein, nur den täglichen Bedarf; Doch den verlangen sie auch scharf. Auch keiner von den Unterthanen, Reich oder arm, gross oder klein, Bleibt steuerfrei, und täglich mahnen Sie den Tribut von jedem ein, So viel, so wenig er mag sein. Dass sie zuweilen fürstlich hausen, An reich besetzter Tafel schmausen, Ist wahr; doch diesen Ueberfluss Verlangen sie nur von den Reichen, Und nicht von mir und meines Gleichen.

Sagt, ob man das nicht loben muss? Sie zechen auf ganz eigne Weise, Mir däucht, sie kämen drob in Zank, Der Eine nimmt allein die Speise, Der Andre nimmt allein den Trank; Doch hiervon schweige meine Leier, Die ich gestimmt, als ihr Getreuer, Zu ihrem Preis, zu ihrem Dank. Denn wisst, der Menschheit nur zum Segen Bestiegen sie den Herrscherthron; Sie treiben uns auf tausend Wegen Zu Einem Ziel, zu Einem Lohn. Dass freilich viele thöricht klagen, Als herrschten sie, uns nur zu plagen, Sei euch zu wissen noch vergönnt. Nun, denk’ ich, werdet ihr mir sagen, Wie man die beiden Herren nennt. Ihr sinnet lang’, sinnt ihr noch länger, Erbitt’ ich Wein mir, Brod und Wurst! Denn wisset, diesmal singt der Sänger Nur für den Hunger und den Durst.

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Horst Depner

Historische Gaststätten

Horst Depner, der Besitzer dieser Karten, sammelt nicht nur Raritäten – er selbst ist unter den Dinslakenern eine Rarität. 1937 in Dinslaken geboren, arbeitete er als Maschinenbautechniker bei Pintsch-Bamag und entwickelte bereits früh eine ausgeprägte Sammelleidenschaft, zunächst (und immer noch) sämtliche Leistungsdaten des Sportvereins DIN 09, danach Briefmarken, dann ab 1980 sämtliche Postkarten aus Dinslaken, inzwischen über 3500 an der Zahl, aus denen wir die folgenden Gaststättenbilder entnommen haben.

Hotel-Restaurant Brauer, 1910

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Gaststätte Franziskaner Hackfort, Duisburger Str. 29, 1923


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20. Jahrhundert Heute umfasst seine Sammlung alles, was Dinslaken betrifft: Teller, Becher, Orden und Vereinsabzeichen und vieles mehr.

Gasthaus zum Städt. Viehhof, Innenansicht, 1927

Gartenwirtschaft “Zur Börse” 1909

Horst Depner vor einem kleinen Teil seiner Sammlung

Im Krug um grünen Kranz Hiesfeld, 1913

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Inge Litschke

Früher in Lohberg: Rübenkraut, Schmalz, Kaninchenbraten

Am 30. Dezember 1905 wurde durch notariellen Akt die Gewerkschaft Lohberg gegründet, nachdem deren Vorstandsmitglieder August, Josef und Fritz Thyssen bereits um die Jahrhundertwende mit dem Ankauf von Grund und Boden für ein Bergwerk am Fuße des Lohbergs begonnen hatten. Als dann ab 1907 die Gefrier- und Abteufarbeiten für die Schächte Lohberg 1 und 2 anliefen, bedeutete dies zugleich den Auftakt zu einer demographischen, wirtschaftlichen, städtebaulichen und sozialen Entwicklung, die ein Jahrhundert lang und mehr die Geschichte und das Gesicht Dinslakens prägen und verändern sollte: Es setzte ein Zustrom großer Menschenmassen in die behagliche bäuerliche Landschaftsidylle unterhalb des Oberlohbergs ein, der die Schaffung von viel Wohnraum erforderlich machte. Diese Notwendigkeit führte zur Errichtung der von Ideen der Gartenstadtbewegung inspirierten Bergarbeiterkolonie Lohberg, die wegen ihrer beeindruckenden architektonischen Gestaltung seit 1988 unter Denkmalschutz steht. Die Zuwanderer, die hier Arbeit, Brot und eine neue Heimat für sich und ihre Familien zu finden hofften, kamen vor allem aus dem Osten, insbesondere aus den damaligen preußischen Ostprovinzen Ostund Westpreußen, Posen und Schlesien, aber auch aus dem niederrheinischen und 222

Die Autorin: Dr. Inge Litschke hat sich in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten und Aufsätzen mit der lokalen und regionalen Sozialgeschichte ihrer Heimat befasst. Bekannt geworden ist die gebürtige Lohbergerin vor allem durch ihr 1993 erschienenes Buch Im Schatten der Fördertürme. In dem nachfolgenden Beitrag, einer überarbeiteten und gekürzten Fassung ihres 1996 im Jahrbuch des Kreises Wesel erschienenen Aufsatzes, gibt sie einen Einblick in die Küche und Esskultur der Lohberger Bergmannsfamilien aus den Anfängen der Lohberger Bergarbeiterkolonie. angrenzenden westfälischen Raum, von der Saar und Mosel, aus dem Hannoverschen, aus Hessen, Sachsen und Bayern. Auch viele Ausländer suchten auf dem neuen Bergwerk Arbeit, darunter vor allem polnische und tschechische Zuwanderer, aber auch Österreicher, Jugoslawen, Holländer und Ungarn. Da die Kolonie im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Nichts heraus auf der “grünen Wiese” errichtet wurde, musste man für die Bewohner eigene Sozial-, Kultur- und Versorgungseinrichtungen schaffen. So entstanden nach und nach Schulen, Kindergärten und Kirchen, eine Arztpraxis, eine Polizeistation, eine Poststelle, ein Kasino, Wirtshäuser, eine Metzgerei,


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20. Jahrhundert

Koloniehaus mit Bogeneingang, Schlepperstraße.

mehrere Einzelhandelsgeschäfte und eine Konsumanstalt, die eine Lebensmittelabteilung, eine Fleischerei und eine Manufakturwarenabteilung in sich vereinte. Ab 1916 wurde wöchentlich zweimal Wochenmarkt abgehalten.

Angleichung der Lebensformen Wo viele Menschen aus aller Herren Ländern zusammenkommen, bringen sie auch ihre unterschiedlichen Sitten, Traditionen, religiösen Bekenntnisse, politischen Einstellungen, persönlichen Neigungen und Interessen mit. Erstaunlicherweise führten das enge Zusammenleben in der Kolonie und die für alle zuziehenden Familien gleichen Lebensbedingungen aber schon bald zu einer allmählichen Angleichung der Lebensformen und zur Übernahme von

Ernährungsgewohnheiten ihrer neuen Heimat. Bald hielten auch in Lohberger Küchen Panhas, Reibekuchen und Dicke Bohnen mit Speck Einzug und gehörten niederrheinische Eintopfgerichte zum festen Kochrepertoire aller Lohberger Hausfrauen, Gerichte, die den Frauen aus den östlichen Herkunftsgebieten vorher nicht einmal dem Namen nach bekannt gewesen waren.1 Die billigere Kartoffel verdrängte als Grundnahrungsmittel die Mehlspeisen der aus Süddeutschland, Österreich und Böhmen stammenden Familien.2 Aber auch einige landsmannschaftliche Speisen wurden weiter zubereitet und zum Teil von Nachbarinnen aus anderen Herkunftsgebieten übernommen. Manche dieser Gerichte aus der alten Heimat waren vor allem an Feiertagen ein fester Bestandteil des Speiseplans. Zu den Gerichten, die den Wechsel in die Bergarbeiterkolonie überstanden, gehörten unter anderem der böhmische Apfelstrudel, der sächsische Christstollen, die schlesischen Mohnklöße, schwarzsauer Gänseklein bei den Familien aus Pommern, Borschtsch, Bigos und Schur (Szur)3 bei oberschlesischen und polnischen Familien sowie die jeweils besonderen Mehl-, Kartoffel- oder Semmelklöße der entsprechenden Herkunftsgebiete.

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Inge Litschke

Früher in Lohberg: Rübenkraut, Schmalz, Kaninchenbraten

Drei Generationen einer Lohberger Bergmannsfamilie auf dem Hof des Hauses Schlepperstraße 45 im Jahre 1933.

Subsistenzproduktion Da die Löhne der Bergarbeiter im Vergleich zu den Lebensmittelpreisen knapp bemessen waren – ein Bergarbeiter bekam im Jahre 1925 einen Monatslohn von 149,70 Reichsmark ausbezahlt4 –, war die Subsistenzproduktion ein unabdingbarer Bestandteil des Lebensunterhalts. Möglichkeiten dazu bot die großzügige Ausstattung der Wohnungen, zu denen Keller, Trockenboden, Garten sowie ein Stall gehörten, in dem Schweine, Ziegen, Schafe, Hühner und Kaninchen gehalten werden konnten. 224

»Wir haben immer zwei Ziegen, zwei Schweine, Gänse, Hühner und Kaninchen gehalten und 40 Ruten5 Land für Gemüse und Viehfutter bearbeitet. Alle Kinder mussten im Haus, im Stall und im Garten helfen«6, berichtete eine Lohbergerin, Jahrgang 1901, eines von neun Kindern eines Lohberger Kohlenhauers. Andere Familien bewirtschafteten nur den Hausgarten, kein zusätzliches Pachtland, hielten nur ein Schwein oder die als Bergmannskuh bekannt gewordene Ziege, manchmal auch Schafe, fast immer ein paar Kaninchen und Hühner. Die Fülle dessen, was in den Gärten und auf dem Pachtland angebaut wurde, reichte von Beerenobst über Viehfutter (Rüben, Futterkohl, Roggen) und Kartoffeln bis zu Gemüsesorten wie Melde7, Spinat, Mangold, Kopf- und Schnittsalat, Stielmus, Dicke Bohnen, Kohlrabi, Möhren, Erbsen, Busch- und Stangenbohnen, Zwiebeln, Gurken, Kürbis, Porree, Sellerie, Rote Bete, Wirsing, Weiß-, Rot- und Grünkohl. Auch an Kräutern fehlte es nicht: Petersilie, Schnittlauch, Dill, Bohnenkraut, Liebstöckel und Pfefferminze gehörten zum festen Bestand. Manche Gemüsesorten wurden sofort verzehrt, andere kamen sowohl frisch als auch erst später in konservierter Form auf den Tisch. Dasselbe gilt für die Fleischprodukte: Kaninchen, Hühner und Gänse wurden kurz vor dem Verzehr geschlachtet. Kaninchen


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Ziegenprämierung in Lohberg Anfang der 1950er Jahre.

Rückseite eines Koloniehauses mit Balkonen und angebauten Ställen, Sohlenstraße.

waren beliebte Festtagsbraten, kamen jedoch auch manchmal sonntags auf den Speiseplan. Hühner wurden vor allem der Eier wegen, weniger als Schlachtgeflügel gehalten. Alte Hennen landeten im Suppentopf. Bei den pommerschen Familien war besonders die Gänsehaltung beliebt, und zwar des Gänsebratens, der Eier und vor allem auch der wertvollen Federn wegen, die an Winterabenden gesplissen wurden. Was die größeren Tiere, in erster Linie das Schwein, aber auch Ziege und Schaf nach dem Schlachten an Fleisch und Fett lieferten, wurde bevorratet. Allerdings hielt man Ziegen und Schafe nicht hauptsächlich wegen des Fleisches, sondern als Milchlieferanten, um unabhängig von der

teuren Kuhmilch, die von mehreren Milchbauern per Pferd und Wagen in die Kolonie gebracht und auf der Straße lose verkauft wurde, die Familie mit Milch zu versorgen. Was der eigene Garten nicht hergab, wie zum Beispiel Pilze, besondere Beeren und Kräuter für Tees, bot in reicher Fülle die Natur. Eine besondere Vorliebe der Lohberger galt den Waldbeeren, den Heidelbeeren. Viele fuhren zum Beerensammeln mit ihren Fahrrädern, bepackt mit Blecheimern, Körben und Wolldecken, in den Reichswald bei Kleve “in die Waldbeeren”, wie es hieß. Nach mehrstündiger Radfahrt wurde die Nacht im Wald verbracht, danach vom Morgengrauen an gesammelt und am späten Nachmittag die Heimfahrt angetreten. Die Waldbeeren wurden sowohl frisch und roh verzehrt als auch auf Pfannkuchen gegeben, eingekocht und zu Marmelade verarbeitet. 225


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Inge Litschke

Früher in Lohberg: Rübenkraut, Schmalz, Kaninchenbraten Vorratswirtschaft Vorräte anzulegen war nicht wie heute in Zeiten des stets Verfügbaren und Überflusses ein Luxus, sondern schiere Notwendigkeit. Deshalb verbrachten in allen Lohberger Haushalten die Bergmannsfrauen oft mehr Zeit mit dem Haltbarmachen von Nahrungsmitteln als mit der Zubereitung von Mahlzeiten. Wie die Ausstattung eines Haushalts hinsichtlich der Bevorratung von Lebensmitteln beschaffen war, geht aus den Aufzeichnungen der sechsköpfigen Familie Kresse hervor. Deren Aufstellung verzeichnet für Dezember 1943 einen Einkochapparat, 80 Einkochgläser (gefüllt), 40 Einkochgläser (leer), 20 Zentner Kartoffeln, 3 Steintöpfe, gefüllt mit Sauerkraut, Salzgurken, Schnippelbohnen.8 Um Lebensmittel haltbar zu machen, wurden folgende Verfahren genutzt: • Einkellerung und Einlagerung: Pro Person wurden im Herbst drei Zentner Kartoffeln eingekellert, Möhren in Sand gebettet, Rote Bete und Sellerie eingelagert, kurzfristig auch Weiß- und Rotkohl. Grünkohl und Porree überwinterten im Freien. • Einkochen (Sterilisieren): Eine Ausrüstung zum Einkochen (Kessel, Thermometer, Einsätze, Klammern, Gläser, Gummiringe) dürfte in keinem Haushalt gefehlt haben. Eingekocht wurden Fleisch und Wurst aus der Hausschlachtung, Obst und Gemüse. • Trocknen: Durch Trocknung wurden Hülsenfrüchte, Zwiebeln, Kräuter und Pilze, manch226

Kohlhobel, wie ihn die Lohberger Haushalte von Haushaltswarengeschäften ausliehen, um große Mengen Weißkohl für die Herstellung von Sauerkraut zu hobeln. Museum Voswinckelshof.

mal auch Obst haltbar gemacht. Erbsen und Bohnen wurden anschließend in Dosen, Zwiebeln nach dem Abtrocknen des Lauches in Körben oder aufgehängten Zwiebelsäckchen aufbewahrt. Pilze schnitt man in Stücke, die dann auf Fäden gezogen und zum Trocknen aufgehängt wurden. Dörrobst wurde entweder an der Luft oder im geöffneten Backofen hergestellt. • Haltbarmachung mit Zucker: Dieses Verfahren wurde vor allem bei der Herstellung von Marmeladen und Gelees angewandt. • Einlegen in Essiglösung: Durch Einlegen in konzentrierte Essig- oder Essig-Zucker-Lösung wurden Essiggurken und -zwiebeln, Essigpflaumen und -birnen hergestellt, Rote Bete und Kürbis haltbar gemacht. Den Gurken und Zwiebeln wurde meist Salizylsäure


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als weiteres Konservierungsmittel zugesetzt. Pflaumen und Birnen erhielten ein in Rum getränktes Cellophanblatt als Abdeckung. • Einlegen in Wasserglaslösung: Dieses Verfahren wurde zum Haltbarmachen roher Eier angewandt. Durch die Wasserglaslösung bilden sich unlösliche Salze, die die Poren der Eierschale verschließen. • Konservierung mit Hilfe von Mikroben: Mit Hilfe der Milchsäuregärung wurden Sauerkraut, milchsaure Gurken (sogenannte Salzgurken), saure Schnippelbohnen und manchmal auch saures Stielmus hergestellt. Es gab wohl kaum einen Lohberger Haushalt, in dem es nicht selbstgemachtes Sauerkraut gegeben hat. Meist wurde pro Haushalt ein Zentner Weißkohl verarbeitet. Haushaltswarengeschäfte verliehen große Kohlhobel. Auf diesen wurde der Kohl in feine Streifen geschnitten und danach mit Salz in Steintöpfen eingestampft und zu Sauerkraut vergoren. • Pökeln und Räuchern: Pökeln (Haltbarmachen mit Salz und Salpeter im Pökelfass) und Räuchern waren bei der Hausschlachtung unverzichtbare Konservierungsverfahren (s. u.). • Aufbewahren in Fett: Dieses Verfahren wurde ebenfalls zur Haltbarmachung von Fleisch aus der Hausschlachtung angewandt (s. u.).

Schweinehaltung und Hausschlachtung Wer ein Schwein hielt, dieses schlachtete und das Fleisch weiterverarbeitete, hatte auf vieles zu achten. Das begann bereits beim Kauf der Ferkel, die kräftig und gesund und möglichst gegen Rotlauf, eine meist tödliche Infektionskrankheit der Schweine, geimpft zu sein hatten. Ställe, in denen es Rotlauf gegeben hatte, “wurden gemieden wie die Pest”9. Ein alter Aberglaube verbot, dass die Nachbarn das neue Ferkel bei der ersten Begutachtung lobten; denn das hätte, so glaubte man, dem Tier Unglück und Krankheit gebracht. Lobten sie es doch, so wurde hinter ihnen ausgespuckt, um das Unheil abzuwenden. Vor dem Kauf eines neuen Schweins wurde der Stall gründlich geschrubbt, meist auch gekälkt und anschließend mit Stroh ausgelegt. Gefüttert wurden die Schweine mit Kartoffeln, Runkelrüben, Kartoffelschalen und sämtlichen Küchenabfällen. Selbst das Spülwasser wurde verwendet, man rührte damit das Futter an. Auch Sauerfutter, das manche Haushalte nach dem Schlachten bis zum Kauf eines neuen Ferkels aus Kartoffelschalen herstellten, wurde dem Schwein gegeben. Bei anderen Familien wiederum war dieses Sauerfutter verpönt, weil es entsetzlich stank. Geschlachtet wurde im Herbst, in manchen Familien auch noch einmal im Frühjahr. In 227


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Inge Litschke

Früher in Lohberg: Rübenkraut, Schmalz, Kaninchenbraten

der Kolonie gab es meist einige Bergleute, die vor ihrer Tätigkeit beim Bergbau als Metzger gearbeitet hatten oder, wenn sie vom Land kamen, Kenntnisse über Hausschlachtung mitbrachten. Nach dem Töten des Schweins durchtrennte der Metzger die Halsschlagader des Tieres, wobei es die ungeliebte Aufgabe der Bergmannsfrauen war, das auslaufende Blut aufzufangen und zu rühren, damit es nicht verklumpte und zur Herstellung von Blut- und Grützwurst verwendet werden konnte. Anschließend wurde das ausgeblutete Tier in einer Wanne gebrüht, entborstet und anschließend mit dem Kopf nach unten auf eine Leiter gehängt. Danach schnitt der Metzger es von oben bis unten auf, weidete es aus, reinigte die Därme und stülpte sie dabei um. Jetzt zeigte sich am aufgeklappten “Schweinchen auf der Leiter”, wie das Tier nun genannt wurde, ob das Schwein gut gefüttert worden war. Geprüft wurde durch Anlegen der Hand an die Speckschicht. Waren die Speckseiten nicht mindestens eine Handbreit hoch, dann hatten vor allem die Nachbarn, bei denen ein fetteres Schweinchen auf der Leiter hing, nur Geringschätzung für das Tier übrig und machten abfällige Bemerkungen. Weiterverarbeitet bzw. gegessen werden durfte das Fleisch erst nach Freigabe durch 228

den Trichinenbeschauer. Er kam zur Untersuchung auf Trichinenbefall mit einem Mikroskop ins Haus und besah an unterschiedlichen Körperstellen des Tieres entnommene Proben. War alles einwandfrei, dann wurde das Fleisch gestempelt und damit zum Verzehr freigegeben. Nach der Freigabe ging es ans Weiterverarbeiten und Wursten. Alles wurde verwendet: Magere Fleischstücke wurden angebraten und als späterer Sonntagsbraten eingekocht; aus Flomen, dem Bauchfett, wurde Schmalz ausgelassen; Kopf und Pfötchen wurden zu Sülze verarbeitet; das gebratene Hirn galt als Delikatesse; Innereien kamen, soweit sie nicht als gebratene Leber, saure Nierchen oder Lungenhaschee sofort gegessen wurden, zusammen mit Fleisch und Speckstückchen in die Wurst. Hergestellt wurden Leber- und Blutwurst, Mettwurst, Grützwurst, Semmelwurst und Schwartemagen. Die Wurstmasse wurde zum Teil in Gläser gefüllt und eingekocht, zum Teil aus dem Wurstvorsatz des Fleischwolfs in die gereinigten und umgestülpten Därme gepresst. Die Würste wurden in einem großen Kessel gekocht. Geplatzte Würste waren einerseits ein Verlust an Schlachtgut, andererseits machten sie die Wurstbrühe besonders nahrhaft und schmackhaft. Diese Brühe wurde mit Buchweizenmehl zu Panhas10 ver-


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arbeitet, aber auch eingekocht, um später als nahrhafte Grundlage für Eintopfgerichte zu dienen. Besonders aufwendig war die Konservierung der Speckseiten und des Schinkens. Sie wurden zunächst gepökelt und nach Entnahme aus dem Pökelfass erst getrocknet, dann geräuchert. Der Lohberger Bergmann Heinrich Freischmidt, Jahrgang 1870, hatte in seinem Keller eine Räucherkammer angelegt. Gegen ein geringes Entgelt, meist in Form von Geräuchertem, besorgte er das Räuchern für die Koloniebewohner. Dazu setzte er Sägespäne vom Holzplatz der Zeche und Wacholderzweige ein. Nicht nur Speck und Schinken, sondern auch die Würste ließ man räuchern, um sie haltbar zu machen. Große Sorgfalt wurde darauf verwandt, Schinken und Speckseiten vor Madenbefall zu schützen. Sie wurden in Nesselsäckchen gesteckt und ebenso wie die geräucherten Würste an luftiger und trockener Stelle in der Wohnung aufgehängt, meist unter der Decke eines Innenflurs. Auf eine ganz besondere und heute kaum noch bekannte Art wurden Koteletts über längere Zeit frischgehalten. Nachdem man sie unpaniert von beiden Seiten kräftig und gut durchgebraten hatte, schichtete man sie nach dem Abkühlen abwechselnd mit Schmalz in einen Steintopf und deckte sie

mit einer dicken Schicht Schmalz ab. Den krönenden Abschluss der Tage des Schlachtens und Wurstens, die vor allem für die Frauen sehr arbeitsaufwendig waren, bildete das Schlachtfest: ein üppiges Mahl, bestehend aus Fleisch, Wurst, Klößen und geschmortem Sauerkraut, zu dem häufig auch Freunde, Nachbarn und Verwandte eingeladen wurden. Bei allen, die mit Kartoffelschalen und anderen Küchenabfällen zur Fütterung des Schweins beigetragen hatten, bedankte man sich mit etwas Wurstbrühe und einem Stückchen Wurst, Speck oder Fleisch. Diese kleinen Gaben herumzutragen war Aufgabe der Kinder.

Mahlzeitenordnung, Mahlzeiten, Speisen und Getränke Wichtigste Elemente jeder Mahlzeitenordnung sind Raum und Zeit. Als Raum für die Einnahme der Mahlzeiten stand der Bergmannsfamilie nur die Wohnküche zur Verfügung. Sie war der Alltags- und Feiertagsraum, in dem sich das Leben abspielte. In der Küche wurde das Essen vorund zubereitet, am Küchentisch wurde gegessen und wenn die Wohnung keine zusätzliche Spülküche hatte, wurde in der Wohnküche auch gespült und gewaschen. Selten waren werktags bei den einzelnen Mahlzeiten alle Familienmitglieder zusammen. Die zeitliche Folge der Mahlzeiten und 229


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Inge Litschke

Früher in Lohberg: Rübenkraut, Schmalz, Kaninchenbraten

die Zusammensetzung der Tischgemeinschaft hingen von den Schulzeiten der Kinder und von der jeweiligen Schicht des Bergmanns ab, der fast immer Wechselschicht hatte. Bei Frühschicht standen die Männer bereits um kurz vor 5.00 Uhr auf, aßen ein Schmalz- oder Rübenkrautbrot und tranken eine Tasse Malzkaffee, der in einer Kanne hinten auf dem Küchenherd stand und meist noch lauwarm war. Da es in allen Haushalten nur Kohlenherde gab, in denen nach Entnahme der Asche das Feuer jeden Morgen neu angezündet werden musste, war es im allgemeinen zu zeitaufwendig, schon vor der Frühschicht frischen Kaffee zu kochen. In manchen Familien geschah dies aber doch, wenn auch die Frau aufstand und den Mann versorgte. Gegen 5.15 Uhr verließen die Männer die Wohnung, da sie um 6.00 Uhr umgezogen unter Tage vor Ort oder vor Stein die Arbeit aufnehmen mussten. Für die “Dubbelpause”11 nahm jeder Bergmann seine mit Malzkaffee gefüllte Kaffeepulle mit und ein Paket Schmalz-, Schinken- oder Wurstbrote, manchmal auch Käsebrote, eingewickelt in Zeitungspapier. Ein beliebter Brotbelag waren auch übrig gebliebene Reibekuchen vom Abend vorher, seltener Bratkartoffeln. Arbeiter des Tagesbetriebes nahmen an Stelle von Butterbroten auch einen gefüllten Henkelmann mit, für den es in der Nähe des Kesselhauses eine Aufwärm230

Lohberger Kumpel unter Tage.

möglichkeit gab. Für unter Tage war der Henkelmann ungeeignet. Die Kinder verzehrten das erste Frühstück vor Schulbeginn; ob es ein zweites gab, ein Schulbrot, hing von der wirtschaftlichen Situation der Familie und den Neigungen der Kinder ab. Inzwischen brannte ein Feuer im Herd, und es gab frisch gebrühten Malzkaf-


Esskultur— damals in Dinslaken

fee mit Milch und Zucker, für kleinere Kinder auch warme Milch. Milch und Zucker gab die Hausfrau für alle sofort in die Kanne, um sicherzustellen, dass niemand zuviel davon verbrauchte. Meist strich sie auch für alle Familienmitglieder die Brote. Zum Frühstück waren das Schmalzbrote oder Brote mit Margarine und Rübenkraut, Marmelade oder Kunsthonig. Wenn nichts anderes da war, durften sich die Kinder auch etwas Zukker auf das mit Margarine bestrichene oder auf das nur angefeuchtete Brot streuen. Was so gut wie nie fehlte, abgesehen von Zeiten der Hungersnot, waren der Schmalztopf und das Glas mit dem lose gekauften Rübenkraut. Erst wenn die Kinder das Haus verlassen hatten, kam auch die Mutter zu ihrem Frühstück, das dem der Kinder entsprach; Bohnenkaffee leistete sie sich allenfalls sonntags. In der Frühschichtwoche stand das Essen auf dem Tisch, wenn die Kinder aus der Schule kamen. Für den Vater, der gegen 14.45 Uhr von der Arbeit zurück war, wurde das Essen auf dem nicht direkt befeuerten Teil des Herdes warmgehalten. Dies bereitete bei Eintopfgerichten keine Schwierigkeiten. Bei getrennt gekochten Speisen wurden für ihn die Kartoffeln neu gekocht und auch Salat frisch angemacht.

Wenn eben möglich wurden für die Zubereitung der Speisen die selbst produzierten Nahrungsmittel eingesetzt. Montags kamen meist die Reste vom Sonntagsessen auf den Tisch. Samstags gab es ein Eintopfgericht, häufig Erbsen-, Bohnen-, Linsen- oder Graupensuppe. Aber auch an den übrigen Wochentagen wurde mindestens noch einmal ein Eintopfessen zubereitet, sei es als Gemüsesuppe oder als fester Gemüseeintopf. Die Eintopfgerichte wurden mit Mettwurst oder Schweinefleisch gekocht und zur Erhöhung des Nährwerts nach dem Garwerden immer mit ausgelassenem Speck abgerundet. Eierspeisen, Frikadellen, Innereien, Bratwurst jeweils mit Gemüse oder Salat gehörten zum Kochrepertoire aller Bergmannsfrauen, und mindestens eines dieser Gerichte wurde während der Woche zubereitet. Beliebt waren auch Reibe- und Mehlpfannekuchen. Freitags kam die Fischfrau in die Kolonie, und es wurde in vielen Familien – auch aus religiösen Gründen12 – Fisch verzehrt. Meist wurde für das Mittagessen Bratfisch, seltener Kochfisch zubereitet. Da Heringe billig waren, wurden sie gleich in größeren Mengen gekauft, sowohl grüne Heringe als auch Salzheringe.13 Pellkartoffeln mit eingelegtem Hering oder Brathering wurden gerne gegessen, 231


Esskultur— damals in Dinslaken

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Früher in Lohberg: Rübenkraut, Schmalz, Kaninchenbraten

Gefäß zum Einlegen von Salz- und Bratheringen. Museum Voswinckelshof.

obwohl ihnen das Odium des Armeleuteessens anhing. Sättigungsgrundlage fast aller warmen Gerichte war die Kartoffel. Sie wurde als Salz-, Pell-, Stampf- und Bratkartoffel zubereitet und zu Reibekuchen und Klößen verarbeitet. Nudeln wurden als Sättigungsbeilage zum Hauptgericht nicht verwendet, Suppennudeln für die sonntägliche Rindfleischsuppe meist selbst hergestellt. Reis wurde nur als Milchreis serviert und gelegentlich als Einlage in Hühnersuppe. An Werktagen gab es weder Vorsuppe noch Nachtisch. Nachmittags war es üblich, Kaffee zu trinken. Zu dieser Zwischenmahlzeit gab es Brot mit Schmalz oder Rübenkraut und dazu Malzkaffee mit Milch und Zucker, der in einer Blechkanne immer hinten auf dem Kü232

chenherd als Getränk bereitstand. Hatte der Vater Frühschicht, konnte auch er an dieser Mahlzeit teilnehmen. Trotzdem war die Familie dabei selten zusammen, weil die Kinder meist eine Schnitte Brot auf die Hand erhielten, die sie dann draußen verzehrten. Hatten sie Durst, so tranken sie ebenfalls Malzkaffee, oder sie hielten einfach den Mund unter den Wasserhahn und tranken Leitungswasser. In der Frühschichtwoche war dann die Familie gegen 19.00 Uhr beim Abendbrot vereint. Häufig aß man die aufgewärmten Reste vom Mittagessen. Eintopfgerichte wurden gleich in solcher Menge gekocht, dass auch für abends noch etwas übrig blieb. Zu jener Zeit wusste man in den Bergarbeiterfamilien noch nichts über eventuelle Nährstoffverluste durch das Aufwärmen. Oft gab es abends Milchsuppe und Bratkartoffeln. Zur Herstellung der Milchsuppe wurde die Milch mit Mehlklümpchen, Haferflocken, Grieß, Sago oder Puddingpulver angedickt. Für die Bratkartoffeln verwendete die Hausfrau Reste der Salzkartoffeln vom Mittagessen, Pellkartoffeln oder rohe Kartoffeln. Brot, Wurst, manchmal auch Käse kamen vor allem samstags und sonntags auf den Abendbrottisch. Hatte der Vater Mittagschicht, dann musste das Mittagessen für ihn um 12.00 Uhr fertig sein und für die Kinder warmgehalten werden. Das Abendbrot nahmen Mutter und


Esskultur— damals in Dinslaken

Kinder vor dem Zubettgehen der Kinder ein. Für den Vater wurden die Reste vom Mittagessen oder die Bratkartoffeln am späten Abend noch einmal aufgewärmt. Nur in der Nachtschichtwoche konnten Mittagessen und Abendbrot von der ganzen Familie gemeinsam eingenommen werden. Am Sonntag endlich entfielen alle zeitlichen Zwänge der Schichtarbeit und Schulzeiten. An diesem Tag war die ganze Familie bei den Mahlzeiten vereint – und dass es ein besonderer Tag war, merkte die Familie spätestens am besseren bzw. besonderen Essen. Dafür waren besondere Vorbereitungen nötig, die schon am Samstag begannen: Das Fleisch für das Mittagessen wurde angebraten, und aus einer größeren Menge Mehl, meist aus fünf Pfund, wurde Hefeteig hergestellt und zu einem großen Stuten und zu Hefekuchen verbacken. Gelegentlich, besonders für Festtage, wurden auch Tortenböden und Rodonkuchen mit Backpulver als Teiglockerungsmittel gebacken. Da es jedoch leichter war, im kohlebeheizten Küchenherd mit Hefegebäck gute Backergebnisse zu erzielen, überwog der Einsatz von Hefe. Blechweise wurden Streuselkuchen, Käsekuchen, Mohnkuchen, Bienenstich und dem Obstangebot der Jahreszeit entsprechende Obstkuchen gebacken. Den vorbereiteten Stutenteig brachten viele Familien zum Bäk-

ker und ließen ihn dort abbacken. Und sonntags gab es dann zum Frühstück Stuten und Hefekuchen und zum Nachmittagskaffee wieder Hefekuchen. Das sonntägliche Mittagessen bestand immer aus drei Gängen: zuerst Rindfleischsuppe mit selbstgemachten Nudeln; danach Braten mit Klößen, Bratensoße und geschmortem Sauerkraut oder anderer Gemüsebeilage; und zum Schluss ein köstlicher Nachtisch (zum Beispiel Schokoladenpudding14 mit Vanillesoße, Vanillepudding mit Himbeersirup, Götterspeise oder Kompott).

Esskultur Sowohl die Auswahl und Zusammenstellung von Nahrungsmitteln und deren Zubereitung als auch die Tischkultur, das heißt der Aufwand an Geräten und Geschirr, der Gebrauch von Messer und Gabel, das Decken des Tisches, das Anrichten der Speisen, die Verhaltensweisen bei Tisch, die Dauer des Essens, sind Merkmale von Esskultur. Diese Merkmale waren noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus wesentlich stärker schichtenspezifisch ausgeprägt als heute. Betrachtet man die Tischkultur der Lohberger Bergmannsfamilien, so erkennen wir deutliche Unterschiede zwischen einer Alltags- und einer Festtagskultur. Gewöhnlich – auch sonntags – wurde ohne Stofftischdecke am Küchentisch, der mit einem 233


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Früher in Lohberg: Rübenkraut, Schmalz, Kaninchenbraten

Mit Kohle befeuerter Küchenherd, der – meist jedoch ohne Aufsatz – in kaum einem Lohberger Haushalt gefehlt haben dürfte. Museum Voswinckelshof.

Wachstuch überzogen war, gegessen. Zu den Brotmahlzeiten kamen als Geschirr lediglich Kaffeetassen auf den Tisch; der Gebrauch von Untertassen und Desserttellern war nicht üblich. Die Hausfrau strich und belegte die Butterbrote auf einem Holzbrett oder Teller und reichte sie den Familienmitgliedern auf die Hand. Das Mittagessen und das warme Abendbrot wurden aus dem tiefen Teller (Suppenteller) gegessen, sonntags 234

zuerst die Suppe, dann der Hauptgang aus demselben Teller. Den Nachtisch verzehrte man aus einem Glasschüsselchen. Außer Salat und Nachtisch, die in Schüsseln angerichtet und aufgetragen wurden, nahm man sich alle anderen Speisen direkt aus den Töpfen, die auf den Tisch gestellt wurden, auf den Teller. Auch der Gebrauch eines Messers beim Essen war nicht üblich, was auch nicht nötig war, da das Fleisch vor dem Essen kleingeschnitten wurde. Gegessen wurde entweder mit dem Löffel oder nur mit der Gabel. Da Kinder folglich das Essen mit Messer und Gabel nicht erlernten, hatten sie später häufig Probleme, wenn sie bei Einladungen oder beruflichen Anlässen mit den Essgewohnheiten anderer sozialer Schichten konfrontiert wurden. Dies heißt jedoch nicht, dass man in den Bergarbeiterfamilien nicht auch auf Tischmanieren achtete. So war es verpönt, bei Tisch zu schmatzen, zu schlabbern, zu rülpsen oder die Ellbogen auf den Tisch zu legen. Und klar war: Gegessen wurde, was auf den Tisch kam; und was auf den Tisch kam, bestimmte die Hausfrau. An Werktagen wurde auf langes Verweilen und auf Gespräche bei den Mahlzeiten kein Wert gelegt. Die Hausfrau trachtete eher danach, dass die Familie zügig aß und die Küche schnell wieder in Ordnung gebracht werden konnte. Zum einen wurde der Küchentisch nach den Mahlzeiten für verschie-


Esskultur— damals in Dinslaken

Hochzeitsfeier der Eheleute Schwartz im Jahre 1930. Im Hintergrund das Elternhaus von Frau Schwartz geb. Golawski auf dem Johannesplatz.

dene Arbeiten gebraucht, zum Beispiel Nähen, Bügeln, Essensvorbereitung, Hausaufgaben. Zum anderen war es üblich, den Herd, den Stolz der Hausfrau, nach dem Kochen des Mittagessens bald zu scheuern, damit er wieder in Glanz erstrahlte. Dies war eine mühsame Prozedur und eine der wenigen Hausarbeiten, die manchmal auch der Mann ausführte.

Noch weit anders als an Werktagen und gewöhnlichen Sonntagen, wenn die Familie unter sich war, sah der äußere Rahmen der Mahlzeiten an Fest- und Feiertagen aus, wenn Gäste bewirtet wurden. Die Bergmannsfamilien liebten ihre Feste und wussten sie zu feiern, die Feste im Jahresablauf, die Vereinsfeste und die Familienfeste wie Taufen, Kommunionen und Konfirmationen und vor allem die Hochzeiten. Da wurde mit Hilfe von Nachbarn und Verwandten ge235


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Früher in Lohberg: Rübenkraut, Schmalz, Kaninchenbraten

backen und gekocht, um üppige Mahlzeiten auf den Tisch zu bringen; und die Familie scheute sich nicht, dafür Schulden zu machen.15 An solchen Tagen kamen das sogenannte “gute” Kaffee- und vielleicht sogar Essservice, meist Hochzeitsgeschenke, die immer geschont wurden, auf den Tisch, und die Haushalte halfen einander mit Mobiliar, Tischwäsche, Geschirr und Bestecken aus. Schließlich wollten sich die Hausfrauen gut präsentieren und den äußeren Rahmen der Mahlzeiten so gestalten, wie sie es bei Nachbarinnen gesehen oder im hauswirtschaftlichen Unterricht erlernt hatten. Und hatten sie vor ihrer Ehe als Dienstmädchen in einem bürgerlichen Haushalt in der Stadt gearbeitet, so orientierten sie sich häufig an den dortigen Gepflogenheiten.

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Wenn wir auf die Menschen in Lohberg in der Zeit von 1907 bis 1950 zurückschauen, so sehen wir das Bild einer Bevölkerung, der es mit unermüdlicher Arbeit und oft unter großen Mühen, aber auch mit großem Geschick und vielen Kenntnissen über die Herstellung von Nahrungsmitteln für den eigenen Bedarf und deren Bevorratung und Verwendung gelang, die Ernährung ihrer Familien sicherzustellen und abwechslungsreich zu gestalten. Als ab 1950 die Löhne im Bergbau deutlich schneller stiegen als der Preisindex für die Lebenshaltung, kehrte bescheidener Wohlstand in die Lohberger Bergarbeiterhaushalte ein. Der Anbau eigenen Gemüses und die Haltung von Hausvieh spielten zunehmend eine geringere Rolle; auch kam hinzu, dass in den nachgewachsenen Generationen das Interesse daran sank und viele Familien die Kolonie verließen und in Neubaugebiete am Rande Lohbergs zogen, in denen Gartenbau und Viehwirtschaft nicht mehr möglich sind. In die frei gewordenen alten Koloniewohnungen zogen immer mehr türkische Familien, deren Ernährungsverhalten stark von den Vorschriften des Islams bestimmt ist. Eine Angleichung der Ernährungsgewohnheiten der unterschiedlichen Bevölkerungsteile, wie sie zu Anfang dieses Jahrhunderts in der Kolonie stattfand, ist bisher kaum erkennbar.


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Anmerkungen 1 Brepohl, W., Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-West-Wanderung, Recklinghausen 1948, S. 191. 2 Zum Verzehr von Mehlspeisen in Süddeutsch land und Österreich vgl. Teuteberg, H. J., Wiegelmann, G., Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 266 ff. 3 Borschtsch ist eine Suppe aus Rindfleisch, Weißkohl und roten Rüben. Bigos ist ein Sauerkrauteintopf mit Fleisch, Wurst und geräuchertem Speck. Schur (Szur) besteht aus Stampfkartoffeln mit Zwiebeln und geräuchertem Speck, über die eine würzige Buttermilchsoße oder Sauerteigsoße gegeben wird. Siehe auch das Rezept von Frau Helga Hutmann, Seite 40 in diesem Buch. 4 Vgl. Litschke, I., Im Schatten der Fördertürme, Duisburg 1993, S. 50. 5 Gemeint sind Quadratruten. Die Rute ist ein altes deutsches Längenmaß. 1 rheinische Rute = 3,766 m. 6 Ludmilla Laskawi, geb. Hejduk, Jahrgang 1901. 7 Die (Garten-)Melde, eine schon aus römischer Zeit bekannte Gemüsepflanze, wird ähnlich wie der Spinat gezogen und zubereitet. 8 Vgl. Litschke, I., Im Schatten der Fördertürme, Duisburg 1993, S. 59. 9 Erna Klein, geb. Freischmidt; Martha Schwartz, geb. Golawski, Jahrgang 1911. 10 Gericht aus Wurstbrühe und Buchweizenmehl, das zu einer festen Masse gekocht und nach dem Erkalten in Scheiben gebraten oder auch ungebraten allein oder auf Brot gegessen wird. 11 Dubbel = zur Schicht mitgebrachtes Butterbrot. Vgl. Werkzeitschrift der Hamborner und der Friedrich Thyssen Bergbau AG (Hrsg.), ABC für Bergleute, Hamborn 1954, S. 15.

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Im Gedenken an Karfreitag war und ist es auch heute noch in vielen christlichen Familien üblich, anstatt Fleisch Fisch zu essen. 13 Nach Erna Klein kosteten Mitte der zwanziger Jahre 33 Salzheringe 1,– RM. 14 Die korrekte Bezeichnung Flammeri wurde in Lohberg nicht verwendet. 15 Zum Schuldenmachen für Hochzeitsfeiern vgl. auch Husmann, H., Lebensformen und ihr Wandel beim Arbeiter in Hamborn, Diss. Mainz 1952, S. 89 ff.

Quellen Gespräche mit Lohberger Bergmannsfrauen der Jahrgänge 1901 bis 1930. Brepohl, W., Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-West-Wanderung, Recklinghausen 1948. Fischer-Eckert, L., Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland, Hagen 1913. Husmann, H., Lebensformen und ihr Wandel beim Arbeiter in Hamborn, Diss. Mainz 1952. Litschke, I., Im Schatten der Fördertürme, Duisburg 1993. Teuteberg, H. J., Wiegelmann, G., Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung, Göttingen 1972.

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Esskultur— damals in Dinslaken

Margarete Böing

Abendessen im Haus des Doktors ter Ponten Auszug aus dem 1915 im Verlag Reißner in Dresden erschienenen Roman “Kämpfer” von Margarete Böing, dessen Handlung sich in Dinslaken im Jahr 1911 abspielt Als Doktor ter Ponten in sein Eßzimmer trat, sah er mit Vergnügen den freundlichen Schein, den die Hängelampe auf den Tisch warf, auf dem das einfache kalte Abendessen ihn und die Schwestern, die in dem halbdunklen Nebenzimmer ihre behagliche Schummerstunde gehalten hatten, erwartete. Anna, die ältere, eine stattliche Erscheinung, hatte große Ähnlichkeit mit ihm und dieselbe fast griechische Linie von Stirn und Nase. Nur sprühte aus ihren Augen ein noch recht lebhaftes Temperament. Die jüngere Schwester dagegen war zart, schmächtig und kränklich. Sie hatte ein sanftes, stilles Wesen, und ihre hellblauen Augen sahen sinnig und wie mit Kinderblicken in die Welt. Sie konnte niemandem ein böses Wort sagen und keinem Bedürftigen eine Bitte abschlagen; oft mußte sie mildern und wieder gut machen, wenn Anna auffahrend und heftig andere hart angelassen hatte, allzu ungeduldige Patienten, säumige Dienstboten oder anspruchsvolle Nachbarn. Trotz ihrer primitiven Einrichtung war die Eßstube eine Sehenswürdigkeit. An den weißgetünchten Wänden hingen dicht nebeneinander in schlichten braunen Rahmen alte Stiche, die zum Teil die Reformatoren darstellten, zum Teil Medizinprofessoren der reformierten Universität Duisburg aus der letzten friderizianischen Zeit, in der bereits des Doktors Urgroßvater dort Medizin studiert und promoviert hatte. Der große Spiegel zwischen den Fenstern trug als Bekrönung seines breiten schwarzen Rahmens zwei goldene Schwäne. Große braune

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Nußbaumschränke mit alten Schnitzereien zierten die Längswand des Zimmers; der Glasschrank an der inneren Seite zeigte kostbare Delfter Teller, geschliffene Gläser und Meißener Porzellan, als wertvollsten und eigenartigsten Inhalt aber zahlreiche alte Tassen in Rokoko-, Empire- und Biedermeierstil, bemalt mit Versen, Blumen und den Namen der Geschenkgeber, mit Tauf- und Heiratsdaten, so daß man durch ihr Studium wie in einem Gothaischen Almanach einen kleinen Überblick erhielt über die angesehensten Familien der Stadt während der letzten drei Generationen. Um den großen eckigen Tisch in der Mitte herum standen einfache, weidengeflochtene Stühle, die im Laufe der Jahre so abgenutzt waren, daß ihre Beine kürzer geworden waren. Diese drolligen verkürzten Stuhlbeine galten in Rheinstaden für die größte Eigentümlichkeit der ter Pontenschen Eßstube, in der seit mindestens sechzig Jahren kein Stück erneuert oder hinzugekommen war. Still und heimlich war’s im Zimmer trotz der unverhängten Fenster nach der großen seitlichen Einfahrt hinaus, die das Doktorhaus von der Nachbarschaft trennte. Es war eine alte Sitte des Hauses, daß man nach Tisch ein wenig schaukeln und balancieren durfte. So lehnten die Schwestern auch jetzt sich auf ihren Stühlen zurück, daß die Lehnen an den Wandschränken ihren Stützpunkt fanden und nur die Hinterbeine der Stühle auf der Erde standen. Alle alten Freunde, die aus- und eingingen, machten diese Exerzitien mit, in vergnüglicher


Esskultur— damals in Dinslaken

Jahrhundertwende Erinnerung an ihre Kindertage, wo sie es schon ebenso gemacht hatten. Manche besaßen eine besondere Geschicklichkeit darin, möglichst waghalsig herumzuwippen. Dabei ließ sich der Doktor von seinen Schwestern erzählen, was am Nachmittag vorgefallen war. Der neue Landrat war dagewesen, um ihn in einer städtischen Angelegenheit zu sprechen. Sie hatten ihm den Garten gezeigt, über den er der Bewunderung voll gewesen war. Den müsse seine Frau sehen; was könne sie da alles lernen und nachher auf dem Löwenkamp anwenden! Als ter Ponten dann an seinem Arbeitstische saß und die Notizen über seine Krankenbesuche durchsah, war er nicht recht bei der Sache. Immer wieder sah er sinnend in den Lampenschein, und seine Gedanken weilten auf dem benachbarten Kastell, wo übermorgen seine geliebte Renate eintreffen sollte. Endlich räumte er Notizbuch und Krankenberichte beiseite, trennte sich für heute von seinem Beruf und stieg hinauf in sein Musikzimmer, die sogenannte blaue Stube. Da stand der schöne Bechstein-Flügel, den er sich erst vor wenigen Jahren hatte anschaffen können. Auf dem kleinen Tisch daneben lagen mehrere Bände Beethovenscher Sonaten. Er schlug einen davon auf und ließ sich am Flügel nieder. Wie versunken in eine andere Welt hielt er Zwiesprache mit dem Gewaltigen, vergaß alles um sich her und war dem Irdischen entrückt. Seiner Seele Flügel breiteten sich aus und trugen ihn in selige Höhen hinauf. So spielte er lange.

Dann ließ er die Hände von den Tasten gleiten, lehnte sich zurück und atmete tief auf. Es dauerte eine Weile, bis seine Seele sich völlig zurückfand … Es war schon spät geworden, und in den Häusern gegenüber war das Licht längst erloschen. Der Mond stand hoch am Himmel über dem Kirchturm und warf freundliches Licht in die kleine winklige Straße mit den Giebelhäusern und Erkern und den Bänken vor den Türen. Die Neuausgabe des Romans ”Kämpfer” wird im Spätherbst 2006 im alcorde Verlag Essen erscheinen.

Das Haus Dr. ter Pontens (Bildmitte), der in Dinslaken als Dr. Böing sehr bekannt war.

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Sepp Aschenbach

Die Küche der jüdischen Bürger

Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts lebten in Dinslaken über 300 jüdische Bürger. Sie waren hauptsächlich Geschäftleute und hatten gute Kontakte zu ihren nichtjüdischen Nachbarn. Ältere Dinslakener erzählen, dass sie bis Anfang der dreißiger Jahre selbstverständlich bei jüdischen Geschäftsleuten einkauften. Die jüdischen Familien in Dinslaken waren in ihrer Haltung traditionell. Das heißt, sie lebten nach den jüdischen Speisegesetzen. Sie unterschieden bei den Speisen zwischen koscher (eigentlich: kascher = tauglich) und trefe (taref = nicht geeignet).

Koschere Nahrung Koscher ist das Fleisch von Rind, Schaf und Geflügel, und Fisch und darf verzehrt werden. Trefe dagegen ist das Fleisch von Schwein und Kaninchen, aber auch von Meerestieren ohne Schuppen (Hummer, Krabben u. ä.). Sein Genuss ist untersagt. Diese Unterscheidung beruht auf der Bestimmung von Leviticus (3. Mose) 11 und Deuteronomium (5. Mose) 14. Strikt verboten ist der Genuss von Blut. Hier gibt es in Genesis (1. Mose) 9,4 und 5 ein ganz strenges Verbot. Aus diesem Verbot folgt zunächst das rituelle Schlachten (das Schächten). In der jüdischen Gemeinde in Dinslaken gab es dafür einen offiziell zugelassenen Schächter. Es war Hellmann, der bis zu seiner Emigration 1937 hier lebte. Seine Aufgabe war es, mit einem besonderen Messer die Tiere mit einem Schnitt durch die Halsschlagader zu töten. Das Tier sollte keine Schmerzen empfinden und das Blut möglichst schnell abfließen. Kein Rest davon sollte im

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Der Autor Sepp Aschenbach wurde 1941 in Anholt/Westfalen geboren. Nach dem Studium der Theologie in Münster und Bonn war er Pfarrer in Dortmund, Schwerte und von 1977 bis 2002 an der Friedenskirche in Dinslaken. Er ist verheiratet und hat drei Kinder und ein Enkelkind. Er wohnt in Dinslaken-Eppinghoven. Seit seiner Pensionierung beschäftigt er sich mit der Geschichte der früheren jüdischen Gemeinde in Dinslaken.

Körper zurückbleiben. Auf die Schächtung folgte eine gründliche Fleischbeschau. Damit sollte verhindert werden, dass Fleisch von kranken Tieren gegessen wurde. Bei der Zubereitung in der Küche musste das Fleisch dann gesalzen und gewässert werden, damit auch die letzten Reste Blut herausgezogen wurden.

Trennen von Fleisch und Milch (basser we chalaw) Ein weiteres Grundprinzip der jüdischen Küche ist die strikte Trennung zwischen Fleisch- und Milchprodukten (basser we chalaw = fleischig und milchig). Grund dafür ist auch hier eine biblische Bestimmung (2. Mose 23,19 oder 5. Mose 14,21). So gibt es in der jüdischen Küche jeweils besondere Töpfe, besonderes Geschirr und Besteck für Fleisch- und Milchprodukte. Sie werden in unterschiedlichen Schränken aufbewahrt. Für die Zubereitung der Speisen zum Pessachfest ist noch einmal ein dritter Satz Haushaltsgeräte notwendig. Von dieser Ordnung war die Küche der jüdischen Bürger in Dinslaken bestimmt. Viele Ge-


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Das Schabbat-Mahl

Kiddusch-Becher. Alte Synagoge Essen

richte, die in nichtjüdischen Familien selbstverständlich sind, waren in jüdischen Familien unbekannt, zum Beispiel alle Speisen aus Schweinefleisch, Hasenbraten und alle Gerichte, die aus Fleisch zusammen mit Milchprodukten zubereitet wurden (zum Beispiel Fleisch mit Käse überbacken). Selbst ein Wurstbrot mit Butter als Brotaufstrich war nicht möglich, da Butter ein Milchprodukt ist. Als Brotaufstrich wurde deswegen meist Margarine verwendet, die von den jüdischen Bürgern Dinslakens bei der Firma van den Berg bezogen wurde.

Besondere Speisen gibt es (wie auch in nichtjüdischen Familien) am Sabbat (Schabbat) und an den Festtagen. Der Schabbat, der wöchentliche Ruhetag, hat in den jüdischen Gemeinden eine besondere Bedeutung. An diesem Tag denken die Menschen an die Vollendung der Schöpfung durch Gott. Alles soll zur Ruhe kommen, denn Gott ruhte am siebten Tag der Schöpfung. Die Frau des Hauses zündet die beiden Schabbat-Kerzen an und segnet sie, da mit den Kerzen die Sorgen der Woche dahinschwinden. Zu diesem Anlass wird der Tisch festlich gedeckt. Das traditionelle Schabbat-Mahl beginnt nach dem Kiddusch (Segen) mit zwei Laiben Brot, den Challot (Schabbat-Broten). Die Anzahl erinnert an die zweifache Portion Manna, welche den Israeliten während ihrer 40jährigen Wüstenwanderung zuteil wurde (siehe 2. Mose 16,22ff). Die Form der Challot gleicht der der normalen Weißbrot-Zöpfe, die bei jedem Bäcker erhältlich sind. Traditionell wird hierbei eine Challah mit Sesam und eine mit Mohn verwendet. Beim Backen der Challot wird keine Milch, aber viel Ei verwendet. Deswegen werden sie im Englischen auch als Egg Breads bezeichnet. Man kann dieses Brot so auch zu den Fleischgerichten essen, die am Schabbat üblich sind. Tscholent, auch Chamin oder Tschulent ge241


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Sepp Aschenbach

Die Küche der jüdischen Bürger

nannt, bezeichnet eine Reihe von Gerichten der jüdischen Küche, die sich dadurch auszeichnen, dass sie bei kleinstem Feuer über viele Stunden hinweg geschmort oder gedünstet werden. Die Entstehung dieser Gerichte ist durch die jüdischen Sabbat-Gesetze bedingt, die es einem frommen Juden nicht gestatten, am Sabbat ein Feuer anzuzünden. Sie erlauben aber die Nutzung eines bereits brennenden Feuers. So kennt die jüdische Küche eine Vielzahl von Gerichten, die vom späten Freitagnachmittag bis Sabbatmittag vor sich hinschmoren können. Es gibt eine Reihe von Tscholent-Variationen aus Fleisch, Getreide und Gemüsen sowie einer Kombination von Mehlklößen und Dörrobst. Der Gefilte Fisch (Gefüllter Fisch) ist ebenfalls ein Schabbat-Gericht. Es handelt sich dabei um eine Art Fischpastete. Die Zubereitung ist aufwendig und beginnt am Vortag: Ein Karpfen oder Zander wird geputzt und ausgenommen und der Kopf abgetrennt. Dann werden vom Bauch her die Gräten am Rückgrat vorsichtig durchgeschnitten, ohne dass die Haut verletzt wird. Das Fleisch wird aus der Haut gelöst und sorgfältig von allen Gräten befreit. Es wird durch den Fleischwolf gedreht und mit Zwiebeln, Knoblauch, Mandeln, Matzebröseln, Eiern und Gewürzen vermengt. Mit dieser Farce wird nun die Fischhaut gefüllt und wieder verschlossen. Danach wird der gefüllte Fisch in einem vor242

bereiteten Fond aus Wasser und Wurzelwerk pochiert. Der fertige Fisch wird mit dem reduzierten und gesiebten Fond übergossen, der schnell geliert. In Ländern mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil wie zum Beispiel den USA bekommt man Gefilte Fisch auch fertig zubereitet im Glas. Als traditionelle Vorspeise beim Schabbat-Mahl wird er wegen des Ruhegebots (samstags darf auch kein Feuer entzündet werden) freitags zubereitet und kalt serviert. Dazu werden “Roter Kren”, eine Mischung aus geriebenem Meerrettich und geriebener Roten Bete, und ein spezieller Hefezopf, Barches bzw. Challah, gereicht.

Das Pessachfest Besondere Speisen gab es dann vor allem am Pessachfest. Das jährlich im Frühjahr gefeierte Fest, das an die Befreiung der Israeliten aus der Knechtschaft in Ägypten erinnert, dauert acht Tage. Doch nur am ersten und letzten Tag wird nicht gearbeitet. Verboten ist an allen Tagen des Pessach der Verzehr von Gesäuertem. Der biblische Grund für diese Vorschrift ist, dass Israel bei seinem Aufbruch aus der Knechtschaft aufgrund der Eile den vorbereiteten Teig ungesäuert abbacken musste. Deshalb wird vor dem Pessachfest das Haus von allen Resten des Gesäuerten gereinigt. Eine besondere Reinigung erfährt der Ofen, in dem das Jahr über das Brot gebacken wurde. Die Mazzen zu Pessach (ungesäuer-


Esskultur— damals in Dinslaken

tes Brot), bei deren Zubereitung das Mehl nur wenige Minuten mit Wasser in Berührung kommen darf (sie sind mit unserem Knäckebrot vergleichbar), werden in besonders dafür bestimmten Bäkkereien zubereitet. Die DinslaKiddusch-Kelch. Alte Synagoge Essen kener jüdischen Bürger bezogen die Mazzen zu Pessach aus der Mazzenfabrik Gebr. Markus, Burgsteinfurt. Der Abend des ersten Pessachtages ist der Sederabend (Seder = religiöse Tischordnung). Der Tisch ist festlich gedeckt. Speisen von symbolischer Bedeutung werden serviert: • ungesäuertes Brot (Mazzen) als Symbol der Eile, in der die Juden aus Ägypten geflohen sind; • Salzwasser als Symbol des Weinens über die Zerstörung des Tempels. Auf einem besonderen Teller, dem Sederteller, befinden sich folgende Speisen: • Karpass = Sellerie (Eppich, Petersilie oder Kartoffeln) als Frucht der Erde;

• Maror = ein Bitterkraut, und Meerrettich als Zeichen der Bitterkeit der Knechtschaft in Ägypten; • Charosset = eine Mischung aus Äpfeln, Nüssen oder Mandeln, mit ein wenig Wein zusammengeknetet, mit Zimt bestreut, als Symbol für den Lehm, aus dem die Hebräer in der Knechtschaft Ziegel herstellen mussten; • Zeroah = ein gerösteter Lammknochen, der an die biblische Vorschrift der Opferung eines Pessachlamms im Jerusalemer Tempel erinnert; • Beitzah = ein gesottenes Ei, als Zeichen für die Gebrechlichkeit menschlicher Geschicke, aber für die menschliche Fruchtbarkeit; • Chazereth = hat praktisch dieselbe Bedeutung wie Maror; daher darf man auch dieselbe Gemüseart benutzen, es wird jedoch nicht gegessen. Meist gab es in den Familien einen besonderen, kostbaren Sederteller, auf dem diese symbolischen Speisen aufgetragen wurden. Eine ehemalige jüdische Bürgerin (Beate Stern de Neuman, Mexiko) berichtet, dass es in ihrer Familie eine Sederschüssel aus Zinn gab, die in der Familie vererbt wurde und aus dem Jahre 1765 stammte. Die Lebensmittel, die zu Pessach übrig blieben, darunter auch Brot, das nicht vernichtet wurde, wurden in einem Zimmer verschlossen und symbolisch an nichtjüdische Nachbarn verkauft. So schreibt Therese Kugelmann, geb. Mose: 243


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Sepp Aschenbach

Die Küche der jüdischen Bürger

Seder-Teller. Alte Synagoge Essen

“Wir verkauften Fritz Betten den Schlüssel (des Zimmers mit den Lebensmitteln), und er gab uns etwas Geld dafür. Nach dem Fest kauften wir den Schlüssel für eine kleines Aufgeld zurück.” So war es auch im Waisenhaus und bei der Familie Hellmann und sicher auch sonst noch üblich.

Zwei Rezepte aus der jüdischen Küche Bagel Ein Bagel ist ein handtellergroßes ringförmiges Gebäck aus Hefeteig. Der Teig wird zuerst gekühlt, am nächsten Tag in Wasser gekocht und dann gebacken. Diese Prozedur bewirkt einen besonderen Geschmack, der 244

von Bagel-Liebhabern sehr geschätzt wird. Die Herstellung an zwei aufeinanderfolgenden Tagen machte es möglich, den Bagel auch am Schabbat frisch zuzubereiten, indem man den vor dem Schabbat bereiteten Teigling aus dem Kühlkeller holte und durch das Kochen zu neuem Leben “erweckte”. Der Name “Bagel” leitet sich von Bejgel für Gebogenes oder den Steigbügel ab, dessen Form er nachempfunden ist. Die Bagels werden pur (mit Mohn oder Sesam bestreut) oder mit süßen (Zimtrosinen, Blaubeeren, Schokolade) oder herzhaften (Käse) Zutaten gebacken. In Restaurants werden sie auch aufgeschnitten und mit Salaten, Frischkäse und/oder Aufschnitt gefüllt serviert. Rosenkonfitüre Rosenkonfitüre ist eine Konfitüre, die aus Blütenblättern von Rosen, vor allem denen der Sorte Rosa centifolia, gekocht wird. Zur Herstellung wird ein Sirup aus Zucker und Wasser gekocht, in den die Rosenblätter eingestreut werden. Die Flüssigkeit verfärbt sich daraufhin zuerst grünlich violett, nimmt nach dem Hinzufügen von Zitronensäure jedoch einen leuchtenden, durchscheinend rubinroten Ton an. Durch Variieren der Zutaten können verschiedene Rosenkonfitüren und -gelees zubereitet werden. Traditionell wird Rosenkonfitüre im Sommer zu einem Glas kaltem Wasser genossen und im Winter statt Zucker im Tee verwendet.


Esskultur— damals in Dinslaken

Weitere Rezepte Die jüdische Küche ist beeinflusst von der Küche des Nahen Ostens, aber auch der des Balkans, Galiziens, Russlands, Spaniens und Portugals. So gehören beispielsweise zur jüdischen Küche eine Anzahl kalter Vorspeisen, die ursprünglich nahöstlicher Herkunft sind. Knoblauch (shumim), Lauch und Zwiebeln haben eine große Bedeutung. Daneben gibt es viele andere schmackhafte Gerichte, zum Beispiel Teiglach, Pflaumenzimmes, Rigelach, Kichlach, Mazza Knödel, Knisches. Entsprechende Rezepte können auf der Internetseite der Jüdischen Gemeinde BochumHerne-Hattingen (www.jg-bochum.de/Jüdische Küche) abgerufen werden. Literatur: Salcia Landmann, Bittermandeln und Rosinen. Die berühmtesten Rezepte der Jüdischen Küche, München 1984.

Jüdischer Tischsegen Vor jeder regulären Mahlzeit, die man immer mit Brot beginnt, wäscht man sich und spricht dann die besondere Segnung. Diese Zeremonie wird auf den König Salomo zurückgeführt. Man schneidet oder bricht ein Stück Brot, tunkt es in Salz, und spricht den Segensspruch über das Brot: Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der hervorbringt Brot aus der Erde

Nach der Mahlzeit folgt der Tischdank, das ‚Benschen‘ (von benedicere): Lob IHM, seinem Namen Lob. Lob nun, ja Lob dir o Gott, Unser Gott und König des All du. Der lädt seine Welt all Tage Zu Mahle In Liebe, in Güte und Milde. Brot teilt er aus unter all Geschöpf, Denn ohn’ Ende liebt er. Und aus seiner großen Güte Mangelte nimmer noch mangelt uns Speise zu jeglicher Zeit, Um seines Namens Größe. Denn er speist und pflegt alle Welt, Tut wohl aller Welt, Und richtet Speise allem Geschöpf, Das ER erschuf. Lob drum, ja Lob dir, o Gott, der speist das All. So danken wir dir, Gott unser Gott, Daß du beschieden unsern Vätern Land schön, fruchtbar, weit, Und heraus uns geführt, Gott unser Gott, aus Ägypterland, Und uns erlöst aus dem Diensthaus, Und für den Bund, den ins Fleisch du uns prägtest, Und für dein Gesetz, das du uns lehrtest, Und für deine Ordnung, die du uns kundtatst, Und für dein Leben, deine Liebe, deine Güte uns vergönnt, Und für den Tisch, den du uns deckst. Und bist unser Pfleger immerfort, Jeden Tag, allzeit, alle Stunde.

An verschiedenen Festtagen und Sabbaten folgen hierauf besondere festspezifische Gebete. Quelle: Leo Hirsch: Jüdische Glaubenswelt. Gütersloh 1966. S. 63 — 65

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Inge Litschke

Trümmer, Not und Nahrungsmangel Überlebensarbeit von Frauen in der ersten Nachkriegszeit1

Mangelernährung In den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam es wie im gesamten Industriegebiet so auch in Dinslaken und Umgebung zu großen Versorgungsengpässen. Besonders katastrophal war die Ernährungssituation.2 Im Juni 1945 lag der Kalorienwert der laut Lebensmittelkarten der Bevölkerung zustehenden Lebensmittel in der britischen Besatzungszone bei 1470 kcal pro erwachsene Person und Tag und damit um mehr als 1000 kcal unter dem Wert, den der Völkerbund 1935 für einen Menschen mit leichter Tagesarbeit als unbedingt erforderlich angegeben hatte. Die Wirklichkeit sah allerdings noch elender aus; denn zur Verteilung an die Bevölkerung gelangten noch weit geringere Mengen.3 Konkret hieß das, dass etwa in Dortmund (für Dinslaken liegen leider keine Zahlen vor) im April 1947 die tatsächliche Lebensmitteltagesration für ein Kleinstkind einen Kalorienwert von 944 kcal (Sollwert = 1250 kcal) hatte, für einen Jugendlichen 1059 (Sollwert = 1958 kcal) und für den sogenannten Normalverbraucher 865 (Sollwert = 1559 kcal. 4 Und um die entsprechenden Lebensmittel zu erhalten, mussten die Menschen stundenlang Schlange stehen. Das war eine Strapaze, der sich in erster Linie die Frauen unterzogen. Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung 246

bestand aber aus medizinischer und ernährungswissenschaftlicher Sicht nicht nur aufgrund des zu geringen Energiegehalts, sondern auch wegen der einseitigen Zusammensetzung der Nahrung. Da man versuchte, dem Hunger mit der Zuteilung größerer Rationen an Brot und Kartoffeln zu begegnen, überwogen kohlenhydratreiche Nahrungsmittel; hingegen mangelte es sehr an fett- und proteinhaltiger Nahrung. Viele Monate lang erhielt die Bevölkerung – wenn überhaupt – nur gelbes Maisbrot zu essen.5 Die Menschen waren zwar froh, wenn sie etwas Essbares kaufen konnten, freundeten sich aber mit Aussehen und Geschmack dieses meist klebrigen Brotes nie an. Auch unter ernährungswissenschaftlichen Gesichtspunkten war die einseitige Ernährung mit Maisbrot bedenklich, da dem Mais die wichtige Aminosäure Tryptophan fehlt und dieser Mangel zu Anämie (Blutarmut) und Pellagra (Ernährungsmangelkrankheit) führen kann. Hauptursachen für die katastrophale Unterversorgung der Bevölkerung waren die schleppend anlaufende und unzureichende Produktion von Nahrungsmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs, vor allem aber das darniederliegende Verkehrs- und Transportwesen und der Zusammenbruch der regulären Märkte. Transportmittel und -raum


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Nachkriegszeit

schäfte auch der Betriebe – Kohlen gegen Kartoffeln, Nägel gegen Speck – waren gang und gäbe.

Hamsterfahrten

Beim Bombenangriff auf Lohberg am 22. Januar 1945 zerstörtes Koloniehaus am Johannesplatz

waren durch Kriegseinwirkungen vernichtet, Brücken zerstört. Auch in Kreis und Stadt Dinslaken waren Straßen infolge von Bomben- oder Granateinschlag unpassierbar oder unter Trümmern begraben; Bahnhofsanlagen und Eisenbahngleise in Dinslaken waren durch Bomben zerstört worden. Auch wenn als erstes – auch für den Personenverkehr – der Güterbahnhof an der Gasstraße, der heutigen Gerhard-MalinaStraße, wieder in Betrieb genommen wurde, so gelangten – wenn überhaupt – landwirtschaftliche und industrielle Produkte in viel zu geringer Menge und nur unter größten Schwierigkeiten ins Industriegebiet an Rhein und Ruhr und landeten häufig auf Schwarzmärkten statt in den leeren Regalen der Geschäfte. Der Schwarzhandel blühte, Tauschge-

Hamstern auf den Bauernhöfen der näheren und weiteren Umgebung, Schlangestehen nach Lebensmitteln, Wasserholen an den wenigen intakten Hydranten, notdürftiges Ausbessern der beschädigten Wohnungen, zum Beispiel durch Vernageln der scheibenlosen Fenster mit Pappe oder dem Sperrholz von Möbelrückseiten, gehörten zu den wichtigsten und zeitaufwendigsten Arbeiten, um zu überleben. Diese Überlebensarbeit zur Bewältigung des Alltags war mehr als mühsam und bedeutete ein zusätzliches Maß an Hausarbeit vor allem für die Frauen. Zwar brachten sich auch die Männer in diese Arbeiten ein – zeitweise betrug die Zahl der Fehlschichten im Bergbau über 20 Prozent! –, doch lebenswichtiger, als Geld zu verdienen, für das es ohnehin nichts zu kaufen gab, war es, Hamstertouren zu unternehmen, Allerdings durfte die Zahl der “Willkürlichen”6 eine gewisse Höhe nicht überschreiten, da sonst die fristlose Entlassung gedroht hätte. In vielen Familien waren die Männer jedoch gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft geraten, oder sie gingen der Erwerbsarbeit nach. Frauen dagegen waren, dem damaligen Rollenverständnis entsprechend, allein für die Hausarbeit zuständig und hatten den Alltag zu organisieren. 247


Esskultur— damals in Dinslaken

Inge Litschke

Trümmer, Not und Nahrungsmangel

Wie hat man sich solche Hamsterfahrten vorzustellen? Um Kartoffeln zu hamstern, fuhren Männer und Frauen in stets überfüllten Zügen ins Oldenburgische. Wir Frauen unternahmen Hamstertouren auf alten, mit Pressluftschläuchen aus der Grube bereiften Fahrrädern. Dabei kamen uns die Lage Dinslakens am Rande des Industriegebiets, die Nähe der Dörfer und auch Kontakte zu Bauernfamilien zugute, bei denen Frauen, vor allem viele Bergmannsfrauen, vor der Heirat gearbeitet hatten. Diese Frauen halfen dann bei “ihren” Bauern gegen Bezahlung in Naturalien beim Rübenhacken und bei Erntearbeiten. In Hiesfeld, Bruckhausen, Voerde und Hünxe sammelten vor allem Frauen und Kinder Kartoffeln und Ähren von den abgeernteten Feldern. Auch der Tauschhandel gehörte zu den Hamstertouren. So wurden viele, sogar kaum entbehrliche Teile des Hausrats – vom Betttuch bis zum Kochtopf – gegen Esswaren getauscht. Besondere Tauschmittel besaßen die Bergleute. Dies waren die Schnaps-, Zigaretten- und Kaffeezuteilungen, die sie von der Werksleitung als Anreize zur Produktionssteigerung erhielten, außerdem die ebenfalls vom Betrieb zur Verfügung gestellten Grubenschuhe und vor allem die Deputatkohle. Es war zwar mit Strafandrohung des Kohlenentzugs verboten, Deputatkohle zu 248

verkaufen oder zu tauschen, aber jeder tat es, und jeder wusste es, und viele profitierten davon. In etlichen Lohberger Haushalten wurde nachts sogar Schnaps “schwarz” gebrannt, um ihn später auf den Hamsterfahrten gegen Lebensmittel bei den Bauern abzugeben. Zum Hamstern in den weiter nördlich von Bruckhausen und Hünxe gelegenen Gemeinden wie Brünen, Marienthal und Dingden fuhren auch häufig Jugendliche aus Lohberg mit – so wie ich –, oft mit einem Sack Kohlen als Tauschmittel auf dem Gepäckträger. In der Regel wurden die Kohlen auf den verschiedenen Bauernhöfen in kleineren Portionen gegen Milch eingetauscht. Die Milch wurde literweise in mehrere Flaschen oder in eine große Korbflasche gefüllt und im Fahrradkinderkörbchen nach Hause transportiert. Zu Hause wurden aus der Milch von den Frauen Suppen gekocht sowie Quark und kleine Mengen Butter hergestellt. Wer vorher als Magd oder Dienstmädchen in Haushalten gearbeitet hatte, die sich aus Eigenanbau und Viehhaltung selbst versorgt hatten, konnte nun seine dort erworbenen Kenntnisse anwenden. Diese Fahrten in die entlegeneren Gemeinden waren lohnender, weil die entfernteren Gebiete weniger überlaufen waren. Andererseits waren diese Touren wesentlich


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schwerer zu bewältigen, weil zwischen Hünxe und Krudenburg die Brücken über den Wesel-Datteln-Kanal und die Lippe kurz vor Ende des Krieges gesprengt worden waren. Wegen geöffneter Schleusen war der Kanal fast leergelaufen, und so mussten Fahrrad, Tausch- und Hamstergut die steile, steinige Böschung hinab- und wieder hinauftransportiert und das Kanalbett selbst auf den Trümmern der zerstörten Brücke durchschritten werden. Die Lippe wiederum konnte zunächst nur auf zwei schmalen, durch eine Lücke voneinander getrennten Planken überquert werden, die auf Pontons lagen. Auf dem einen schwankenden Steg bewegten wir Personen uns, auf dem anderen führten wir die beladenen Fahrräder neben uns her. Natürlich blieben Stürze nicht aus. Dabei kam es zu unfreiwilligen Bädern in der Lippe und – was noch schlimmer war – zum Verlust von Tausch- und Hamstergut. Eine Lohbergerin erlitt sogar einen tödlichen Unfall durch Ertrinken. Nach einigen Monaten schließlich übernahmen Fähren den Transport über den Kanal und die Lippe bis zum Wiederaufbau der Brükken. Mir sind diese strapaziösen Fahrten, an denen ich mich als Fünfzehnjährige auf einem mit Pressluftschläuchen bereiften Fahrrad beteiligte, noch gut in Erinnerung. Als ich

einmal mit meinem vollbeladenen Fahrrad von einer solchen Hamstertour, die ich zusammen mit meiner Tante unternommen hatte, zurückkehrte, platzte auf der Höhe des Hünxer Berges am Weißen Haus, als Lippe und Kanal schon überwunden waren und die Zeche in Sichtweite lag, eine Zehnliterflasche, und die gehamsterte Milch lief auf der Straße den Berg hinab. Der Anblick war nach der aufgewendeten Mühe so demoralisierend, dass Tante und Nichte anschließend weinend am Straßenrand saßen. Wir Frauen unternahmen diese Hamsterfahrten in den ersten Nachkriegsmonaten immer mindestens zu zweit und waren bemüht, vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause zu sein. Der Grund war die Bedrohung, die für die Bewohner und Besucher der ländlichen Gebiete von befreiten Fremdarbeitern ausging, häufig von Leuten, die vorher auf den Bauernhöfen der Umgebung gearbeitet und mit den Familien, die sie später überfielen, an einem Tisch gegessen hatten.7 Bewaffnete Militärpolizei der Alliierten griff nach einiger Zeit ein und bereitete den Überfällen ein Ende.

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Trümmer, Not und Nahrungsmangel

Selbstversorgung Um in diesen Zeiten zu überleben, war es mit dem Hamstern, dem Sammeln und dem Arbeiten gegen Bezahlung in Naturalien nicht getan. Selbstversorgung war das oberste Gebot der Stunde, und dies bedeutete wieder ein zusätzliches Maß an Arbeit für die Frauen. Jedes verfügbare Fleckchen Garten- und Ackerland wurde zum Anbau von Kartoffeln und Gemüse genutzt. Eine Verordnung der Militärregierung verbot das Bukweitenpannekuk Twee Eetlöpel Bukweitenmehl Bottermelk (för en deckflösigen Deeg) een Ei (een klein Ei för eenen Pannekuk) Salt, Olli oder Schmalt gerökert dörwassen Bugspeck in Schiewen Bukweitenmehl met Bottermelk anrühren. Salt on Ei dronderrühren, tien Minutten quellen looten. Olli oder Schmalt in en Pann heet wonnen looten. Deeg dönn dröwer ütreen stricken. Van beide Siejen backen. Lore Schmitz

Anpflanzen von Gurken, weil diese, wie es hieß, für die Ernährung wenig nützlich seien.8 Auch die Geflügel- und Kaninchenhaltung gewann an Bedeutung und wurde in noch größerem Umfang als während des Krieges betrieben, und wo die Verhältnisse 250

es erlaubten, besann man sich wieder auf die Schweinehaltung, die sich ab 1939 rückläufig entwickelt hatte, nachdem das Schlachten zu einer Kürzung der auf Lebensmittelkarten zugeteilten Fleischrationen geführt hatte. Auch wenn alle dieselbe Not litten, Männer, Frauen und Kinder, so lag die Hauptlast dieser immensen Überlebensanstrengungen bei den Frauen. Sie waren es, die nicht nur die Nahrungsmittel beschaffen, sondern das Wenige auch einteilen und mit einem aus der Not geborenen Erfindungsreichtum und mit Geschick zubereiten mussten. Da wurden zum Beispiel Buchweizenpfannkuchen auf der bloßen Herdplatte und Reibekuchen in Lebertran, den es auf ärztliche Rezepte für Kinder manchmal in der Apotheke gab, gebacken; Mehlschwitzen wurden fast ohne Fett aus selbst hergestelltem Mehl zubereitet, für das zunächst Ähren gelesen und die gewonnenen Körner in der Handkaffeemühle gemahlen wurden; Marmelade wurde aus Wildfrüchten, vor allem aus Holunderbeeren, hergestellt, die mit eben diesem Mehl angedickt wurden; aus Wasser, Mehl und gerösteten Zwiebeln wurde ein “Schmalz” genannter Brotaufstrich gekocht.


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CARE-Pakete Ein wenig besserten sich die Verhältnisse in den Bergarbeiterfamilien, als ab Ende 1946, Anfang 1947 an Belegschaftsmitglieder auf der Zeche Butterbrote und eine warme Eintopfmahlzeit ausgegeben sowie CARE-Pakete9 verteilt und das System der sogenannten Bergmannspunkte eingeführt wurden.

Jungmädchengruppe der evangelischen Kirchengemeinde Lohberg mit Gemeindeschschwester Annchen in der Vorweihnachtszeit 1947 im Obergeschoss des nach der Zerstörung der Gemeindeeinrichtungen zum Gemeindezentrum umfunktionierten NSV-Kindergartens. Einige Mädchen tragen selbstgestrickte Kniestrümpfe, zum Teil aus zusammengefügten Reihgarnfäden. In den Händen halten sie Gläschen mit Plumpudding aus einem CARE-Paket, das die Gemeinde bekommen hatte.

Viele Bergleute brachten die Butterbrote, statt sie während der Arbeitspause zu essen, ihren Kindern mit. Auch die Eintopfsuppe wurde in Wehrmachtskochgeschirren nach

Hause getragen und mit Wasser und ein paar Kartoffeln zu einer Mahlzeit für die Familie verlängert. Im Rahmen des Systems der Bergmannspunkte erhielten Bergbaubeschäftigte Sonderbezugsmarken, für die Nahrungs- und Genussmittel, Kleidungsstücke und Gegenstände des täglichen Bedarfs erworben werden konnten. Es waren jedoch nicht in erster Linie humanitäre Gründe, weshalb CARE-Pakete, Mahlzeiten und Sonderbezugsmarken verteilt wurden. Vielmehr sollten sie – ebenso wie die Zuteilung von Schnaps, Zigaretten und Kaffee – als Anreize dafür dienen, die darniederliegende Kohleproduktion zu steigern, die sich nicht nur negativ auf den Wiederaufbau der Industrie, sondern vor allem katastrophal auf die Hausbrandversorgung der gesamten Bevölkerung in den besonders kalten Nachkriegswintern auswirkte. Es stimmt daher nicht, dass – wie heute häufig vermutet – CARE-Pakte generell an alle Haushalte ausgegeben wurden. Die unter Tage Beschäftigten erhielten jeweils ein ganzes CARE-Paket, Belegschaftsmitglieder des Tagesbetriebes bekamen den halben Inhalt eines Paketes. Auch in die Regelung für Bergmannspunkte wurden nur die Arbeitnehmer der Zeche einbezogen. Die Zuteilung erfolgte nach Tätigkeitsmerkmalen, abgestuft nach der Schwere der Arbeit. Die Haushalte, die nicht mit dem Bergbau verbunden waren, erhielten weder CARE-Pake251


Esskultur— damals in Dinslaken

Trümmer, Not und Nahrungsmangel

te noch Sonderzuteilungen. Sie waren auf die Solidarität von Verwandten, Freunden und Nachbarn angewiesen oder auf den sporadischen Einbezug in die Verteilung von Auslandsspenden durch Kirchengemeinden und Wohlfahrtsorganisationen. Aber auch solche Spenden kamen nicht regelmäßig und erreichten bei weitem nicht alle Notleidenden.

Schulspeisung Einen bedeutenden Beitrag zur Vermeidung von Unterernährung leistete die Schulspeisung, die am 1. Februar 1946 einsetzte und fast allen Schülerinnen und Schülern der Dinslakener Schulen zugute kam.

Ausgabe der Schulspeisung 1946 vor dem Keller des am 23. März 1945 vollkommen zerstörten Jungengymnasiums in Dinslaken (heute Theodor-HeussGymnasium). An der Wand sind deutlich die Einschlaglöcher von Geschossen und Bombensplittern zu erkennen.

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Wegen der katastrophalen Ernährungssituation erhielten die Schulkinder – ähnlich wie in den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg – täglich eine warme Mahlzeit in der Schule. Diese Schulkinderspeisung, wie die offizielle Bezeichnung lautete, wurde bis Anfang 1949 fortgesetzt.10 In der Johannesschule in Lohberg wurden die Mahlzeiten vom Hausmeister in einem 300 Liter fassenden Kessel zubereitet.11 In der Lohberger Marienschule kochten Frau und Tochter des Rektors die Speisen: “Gekocht wird in dem Waschkessel des Rektors L... Frau und Tochter übernahmen ehrenamtlich die mühsame Arbeit. Da der Kessel sehr dünn und voll-

Sommer 1947, Verzehr der Schulspeisung

ständig ungeeignet ist, brennt die Suppe oft an oder wird halbgar an die Kinder verabfolgt. Abhilfe tut dringend not.”12 Den Schulen wurden Lebensmittel und die


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zugehörigen Rezepturen, an die sie sich bei der Zubereitung der Mahlzeiten zu halten hatten, vom Landesernährungsamt Nordrhein-Westfalen über den Stadtdirektor der Stadt Dinslaken zur Verfügung gestellt.13 Die Schulakten der Marienschule enthalten zum Beispiel Speisezettel und Kochanleitungen für Grießbrei mit Rosinen, Brötchen mit Brühe, Nudeln mit Ei und Fleisch, Grießbrei mit Marmelade, Haferflockenbrei mit Rosinen, Weizenflockenbrei mit Rosinen und Obstkompott. Kinder von Selbstversorgern waren auf Anordnung der Militärregierung von der Speisung ausgeschlossen.14 Ab Dezember 1947 waren auch Lehrkräfte nicht mehr teilnahmeberechtigt.15 Im Juni 1948 wurde diese Bestimmung dahingehend modifiziert, dass “nach Sicherstellung der Speisen für die Schulkinder die Lehrpersonen in beschränktem Maße … an der Speisung teilnehmen” konnten.16 Der Wiedereinbezug in die Schulspeisung wurde von der Lehrerschaft, die “bei schmaler Kost aufopferungsvoll” arbeitete17, sehr begrüßt. Die Leistungen, die Lehrerinnen und Lehrer in der ersten Nachkriegszeit vollbrachten, verdienen ohnehin eine besondere Erwähnung. Die Schulchronik der Johannesschule spricht von einer gewaltigen Aufbauarbeit, die von ihnen zu bewältigen war, und von ihrem nicht nachlassenden Bemühen, sich “verantwortungsbewusst und

vertrauensvoll … in dem ungeheuren Trümmerfeld, räumlich, materiell und pädagogisch gesehen, zurechtzufinden”.18

Lebensfreude Trotz der unermesslichen und immer wieder neuen Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Alltags und der Versorgung der Familie, an denen der Bekleidungsmangel, die Sorge um die Kinder, der Wohnungsmangel und die schlechten hygienischen Bedingungen keinen geringen Anteil hatten, gehörten zum unerschütterlichen Überlebenswillen von Frauen – auch und gerade – das Suchen, Schaffen und Verbreiten von Lebensfreude. Ohne sie war ein Leben inmitten der

Fröhliche Abiturfeier. Abiturienten 1950 des damaligen Naturwissenschaftlichen Gymnasiums Dinslaken (heute Theodor-Heuss-Gymnasium) mit Lehrern.

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Trümmer, Not und Nahrungsmangel

Spannung zwischen dem ständigen Gefordertsein und der drohenden Resignation unerträglich. Neuen Lebensmut, um mit den Widrigkeiten fertig zu werden, schöpfte man einzig aus der Lebensfreude. Oftmals waren es Kleinigkeiten, die diese Lebensfreude bewirken konnten. Im Folgenden seien einige, aus heutiger Sicht vielleicht nur bescheidene Beispiele solcher Lebensfreude genannt, deren Bedeutung aber für Menschen in einer Zeit extremer Trostlosigkeit als sehr groß anzusehen ist: So buken wir Mädchen und Frauen zu besonderen Anlässen Kuchen aus selbst hergestelltem Mehl und geriebenen Möhren oder fabrizierten in der Vorweihnachtszeit Marzipan aus geriebenen Pellkartoffeln, etwas Zucker und Mandelaroma. Wir besuchten auch Varieté-Aufführungen, die in den wenigen unzerstörten Sälen stattfanden, etwa im Ledigenheim in Lohberg und bei Baßfeld in Bruckhausen. Wir gingen in Tanzkurse, die schon ab Frühjahr 1946 angeboten wurden, und putzten uns für den Mittel- und Abschlussball heraus, häufig mit Kleidungsstücken, die wir aus gefärbten Betttüchern, Wolldecken oder Wehrmachtsuniformen angefertigt hatten. Wir vergnügten uns an heißen Sommertagen im Freibad in Hiesfeld und schwammen im Rhein. Wir besuchten auch ohne männliche Begleitung Sport- und Tanzveranstaltungen und feierten Karneval in selbst hergestellten Kostümen. 254

Ja, wir konnten uns über alles, was über den grauen Alltag hinausging, herzlich freuen, und immer waren wir bemüht, festliche und fröhliche Anlässe als etwas Besonderes zu betrachten und mit dem Wenigen, das uns zur Verfügung stand, das Leben etwas schöner zu machen.

Junge Mädchen im Sommer 1947 in zweiteiligen, aus Betttüchern selbstgeschneiderten Strandanzügen, die damals als sehr ”gewagt” galten.


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Anmerkungen und Quellen 1

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Der nachfolgende Beitrag ist eine gekürzte und für diese Veröffentlichung überarbeitete Fassung des 2001 in dem Sammelband “Der andere Blick. FrauenLeben in Dinslaken” erschienenen Aufsatzes der Autorin “Überlebensarbeit von Frauen in der ersten Nachkriegszeit”, der jedoch die Überlebensarbeit nicht auf den Bedarfs bereich Ernährung beschränkt, sondern auch auf die Bereiche Wohnen, Kleidung, Hygiene, Sexualität und die besondere Notlage von Kindern eingeht. In ihren Ausführungen stützt sie sich auf ihre grundlegende Arbeit “Im Schatten der Fördertürme”, Duisburg 1993, S. 165–168, außerdem auf ihre Erinnerungen an das Leben in der ersten Nachkriegszeit sowie auf Gespräche mit Lohberger Bergmannsfrauen, die damals die Überlebensarbeit für sich und ihre Familien geleistet haben. Vgl. Dittgen, W., Der Übergang; Bd. 13 der “Dinslakener Beiträge”, hrsg. vom Verein für Heimatpflege “Land Dinslaken” e. V., Dinslaken 1983; Nienhaus, A., 50 Jahre Katholische Kirchengemeinde St. Marien Dinslaken-Lohberg, Dinslaken 1966, S. 45; Wagemann, K., Die Stunde Null – 40 Jahre danach, Duisburg 1984, S. 30 ff.; zur Ernährungskatastrophe im Nachkriegsdeutschland vgl. auch Kleßmann, Ch., Die doppelte Staatsgründung, Darmstadt 1984, S. 46 ff.; Zischka, A., War es ein Wunder? Hamburg 1966, S. 77 ff. Vgl. Wollasch, H.-J., Humanitäre Auslandshilfe für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Freiburg i. Br. 1976, S. 22. Vgl. ebenda, S. 23. Dieses Maisbrot erhielten wir angeblich aufgrund eines Übersetzungsfehlers. In einer an die USA gerichteten Bitte um Getreidelieferungen wurde das deutsche Wort “Korn” mit “corn” übersetzt, und unter “corn” wird in den USA Mais verstanden. (Aus einer Radiosendung über die Nachkriegszeit; Sender und Sendedatum nicht mehr bekannt.) Umgangssprachliche Bezeichnung für Schichten, an denen der Arbeiter willkürlich und unentschuldigt der Arbeit fern blieb. Nach Angaben der Bäuerin Irma L. aus Damm, Kreis Wesel, Jahrgang 1904. Über diese Übergriffe gibt es

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einen erschütternden Bericht des damaligen, von der Besatzungsmacht für den Ortsteil Lohberg eingesetzten Bürgermeisters Franz Stehr, in dem er die Militärregierung um Eingreifen und Abstellen der Missstände bittet. In dem Bericht ist die Rede von Raubüberfällen, schweren Köperver-letzungen, Morden und Plünderungen auf Bauernhöfen in Bruckhausen und Voerde und von mehrfachen Vergewaltigungen der dort lebenden Mädchen und Frauen. Als Täter werden Russen und Polen genannt. Eine Kopie dieses Berichtes vom 28. 6. 1945 befindet sich im Besitz der Verfasserin. O. V., “Der Aufbau war hart – Josef Schmitz berichtet”, in: Neue Ruhrzeitung vom 20. 03. 1995. Im Frühjahr 1946 gründeten 22 für die Auslandshilfe registrierte Wohlfahrtsorganisationen in den USA eine gemeinnützige Gesellschaft, die Cooperative for American Remittences to Europe (CARE), mit der sie einen Weg zur unmittelbaren Hilfe von Mensch zu Mensch eröffnen wollten. In der britischen Besatzungszone trafen die ersten CARE-Pakete im Oktober 1946 ein. Vgl. Wollasch, H-J., 1976, S. 59 f. Vgl. Schulchroniken der Marienschule und der Johannesschule, 1946–1949, und Schulakten der Marienschule. Schulchronik der Johannesschule, 1947. Schulchronik der Marienschule, 1946. Vgl. Speisezettel in den Schulakten der Marienschule. Vgl. Der Stadtdirektor der Stadt Dinslaken, Abt. 20, an den Rektor der Marienschule. Betr.: Neuordnung der Schulspeisung und Teilnahme der Lehrpersonen an der Speisung; Dinslaken, 8. 12. 1947; Schulakten der Marienschule. Vgl. ebenda. Als Grund wird in dem Schreiben angegeben, dass der Oberkreisdirektor die Zahl der teilnahmeberechtigten Kinder für den Kreis Dinslaken auf 9600 begrenzt habe, die tatsächliche Teilnehmerzahl sich aber auf 11 200 belaufe. Der Stadtdirektor, Abt. 20, an den Rektor der Marien-Schule. Betr.: Schulspeisung; Dinslaken, 22. 6. 1948; Schulakten der Marienschule. Schulchronik der Johannesschule, 1948. Ebenda, 1945/46.

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Esskultur— damals in Dinslaken

Margarete Federkeil Gaitzsch

Falsches Korn und Falscher Fisch Eine Erinnerung aus Hungerjahren

Nach dem Krieg führte die Nahrungsknappheit regelrecht zum Kampf ums tägliche Brot. Für Maisbrot wurde schon im Morgengrauen vor den Bäckereien angestanden. Es heißt, dass wegen eines Übersetzungsfehlers (Korn gleich corn) Mais statt Weizen oder Roggen in Hilfslieferungen aus den USA nach Deutschland gekommen war. Auf dem Schwarzen Markt wurde alles, was nicht niet- und nagelfest war, gegen Lebensmittel eingetauscht. Der Schwarze Markt war verboten. Ich hatte als Kind sonderbare Phantasien darüber und war erstaunt und erleichtert, als mein Vater mich einmal auf mein Drängeln hin mitnahm. Er hatte in Zeitung gewickelten Tabak dabei. Die Tabakblätter hatte er unterm Fenster auf Schnüren getrocknet. Er war sehr froh gewesen, für den Krüllschnitt eine überaus kostbare Schneidemaschine ausgeliehen zu bekommen. Der Marktplatz war schwarz vor Menschen. Vielleicht heißt er deshalb “Schwarzer Markt”, dachte ich. Mein Vater sprach mit einem Mann. Plötzlich hatte er ein Päckchen in der Hand und der Mann das Päckchen von meinem Vater. Dann gingen wir schnell wieder weg. In dem Päckchen war ein Stück Speck. Eine Kostbarkeit! Viele gingen bei den Bauern hamstern. 256

Sämtliche wertvollen Stücke, die die Menschen noch gerettet hatten, wurden gegen Getreide, Kartoffeln, Obst und Gemüse eingetauscht. Als absoluter Luxus wurden Eier, Fleisch und Fett gehandelt. Es ging die Rede, dass den Bauern nur ein Perser im Kuhstall noch fehle. Rübenkraut wurde ein wichtiger Bestandteil der Nahrung. Es wurden Kochkessel voll Zuckerrüben auf den Herd gestellt. Sie mussten lange kochen. Der dabei aufgestiegene süßliche Geruch ist mir heute noch gegenwärtig. Kann sich in unserer Überflussgesellschaft jemand vorstellen, wie köstlich damals eine trockene, mit Rübenkraut vollgesogene Scheibe Brot schmeckte? Ein winziges Stückchen Leberwurst, das man ergattert hatte, wurde, in geröstetes Mehl eingerührt, mit Wasser aufgefüllt und möglichst mit Majoran gewürzt, zu einem Topf voll leckerem Aufstrich. Der Einfallsreichtum der Hausfrauen war unerschöpflich. “Stopfer” nannte man den Aufstrich, der nur dann hergestellt werden konnte, wenn etwas Fett vorhanden war zu einer Mehleinbrenne, die mit viel Wasser aufgekocht wurde. Ich erinnere mich, einmal eine Kartoffel gefunden zu haben, die jemand wohl aus sei-


Esskultur— damals in Dinslaken

Nachkriegszeit

Die Autorin Margarete Federkeil Gaitzsch wurde in Duisburg geboren und lebt seit 1978 in Dinslaken. Der Schulzeit folgten nahezu fünf Jahre lang Reisen und Aufenthalte in Südeuropa, Großbritannien und Amerika. Sie war zeitweise Hotelangestellte in London und Köchin in San Francisco und unternahm ausgedehnte Reisen durch die USA, Kanada, Mexiko und Hawaii. Danach war sie in Duisburg Sprachlehrerin bei Berlitz für Englisch und Deutsch für Ausländer. Nach Heirat und Geburt einer Tochter war sie bis zum Berufsende Schulsekretärin in Duisburg-Walsum. Intensive Beschäftigung mit Literatur. Eigene Texte entstehen schon früh. Ihre Gedichte sind in diversen Anthologien sowie in eigenen Sammlungen und bibliophilen Ausgaben veröffentlicht. Mit Lesungen und Rezitationen ist sie an Rhein und Niederrhein, in Norddeutschland und in Basel aufgetreten.

nem Hamstersack verloren hatte. Ich hatte ein Vermögen gefunden! Zu Hause wurde sie hauchdünn geschält und in hauchdünne Scheibchen geschnitten. Sie wurden auf der blanken Herdplatte geröstet, gesalzen und von der Mutter möglichst gerecht unter uns Kindern verteilt. Als Finder bekam ich ein Scheibchen mehr als die anderen. Danach haben wir noch die gerösteten Kartoffelschalen verzehrt. Als es wieder Kartoffeln gab, wurde die “Zuselsuppe” erfunden, das waren in kochendes Wasser geriebene rohe Kartoffeln.

Dann wieder wurden geriebene Kartoffeln gut ausgedrückt zu länglichen Klößen geformt, in Fischtran gebraten und kühn zu falschen Fischen deklariert. Sogar in Essig wurden sie eingelegt. Es gibt eine Anekdote in unserer Familie, wonach ein nichtsahnender Gast die Mutter gefragt hatte, wie sie es nur fertiggebracht habe, den Fisch so völlig grätenfrei zu servieren. In der Schule gab es täglich die Schwedenspeise aus großen Kanistern. Auch wenn uns die seltsam pappigen Gerichte nicht schmeckten, wir wurden gesättigt. Und einmal in der Woche gab es die von allen herbeigesehnte Nudelsuppe – eine Delikatesse! Ich habe nie wieder eine dermaßen umschwärmte Mahlzeit genossen. So haben wir die Hungerjahre überlebt. Als plötzlich das neue Geld in den Händen der Menschen war, wurde beim Einkauf zuallererst ans Essen gedacht. Die Mütter waren selig, für ihre Familien wieder richtig kochen zu können. Sie hatten’s nicht verlernt.

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Esskultur— damals in Dinslaken

Pastor Bernhard Kösters

Die gemeinsame Mahlzeit in einer christlichen Familie

In meinem Elternhaus begann das gemeinsame Mittagessen mit dem Tischgebet. Die Regel lautete: “Wenn es etwas Warmes gibt, wird gebetet!” Diese Gepflogenheit habe ich bis heute beibehalten. Vorbeterin war Mutter. Später wir Kinder. Was mir nicht so behagte, war der “Vorführeffekt”, wenn Gäste anwesend waren. Die sagten dann: “Bernhard kann aber schon gut vorbeten”, oder etwas Ähnliches. Mit der Begründung des Tischgebetes war man sehr drastisch. So sagte man zum Beispiel: “Nur Tiere gehen ohne Gebet an den Trog!” Das Gebet vor und nach dem Essen halte ich nach wie vor für sehr sinnvoll. Gott und den Menschen zu danken ist eine Lebenseinstellung. Sie besagt: Was ich bin und was ich habe, ist nicht selbstverständlich. Es ist mir weitgehend geschenkt!

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Danken hängt mit Denken zusammen. Natürlich ließen wir uns beim Essen Zeit. Die Köchin wurde hin und wieder gelobt. Nicht zu oft! Denn leckeres Essen empfanden wir als selbstverständlich. Mutter kochte gut. Übrigens: Gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Verwöhnt wurden wir nicht. Wenn Mutter ein neues Brot anschnitt, machte sie zuerst mit dem Messer ein Kreuz darauf. Später, in jugendbewegter Zeit, stellten wir gelegentlich einen leeren Stuhl an den Tisch. Er sollte die Anwesenheit Christi symbolisieren gemäß dem Wort: “Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.” Er war aber auch ein Zeichen der Gastfreundschaft. Denn als Tischgemeinschaft waren wir nie eine “geschlossene Gesellschaft”, sondern immer offen für Gäste.


Esskultur— damals in Dinslaken

Margarete Federkeil Gaitzsch

Im Namen des Vaters

In unserer Familie wurde gebetet, am Morgen nach dem Aufstehen, am Abend vor dem Zubettgehen, am Mittag vor und nach dem Essen. Wir machten jedes Mal das Kreuzzeichen “Im Namen des Vaters” … Die Gebete waren mir vertraut, sie waren mir aber nicht immer ganz geheuer. Wie versteht ein Kind die Muttergottes auf dem Thron? Ganz einfach. Wurden wir Kinder doch selber auf den “Thron” gesetzt, wenn wir “mussten”. Aber was sind “Schuldi”, die man gern haben soll? Und warum beten alle “Dank dir, Gott, für deine Gaben”, wenn es doch Gabeln heißt, nur wie geht es dann weiter? “Dank dir, Gott, für deine Gabeln, die wir gesund genossen habeln?” So muss es heißen – trotzdem ist es komisch, weil die andern immer “haben” sagen, was ja nicht richtig sein kann. Man muss dann immer ganz leise das Richtige sprechen. Mein Vater kam aus russischer Kriegsgefangenschaft ausgemergelt nach Hause. Es gab nicht viel zu essen. Trotzdem wurden die bekannten Tischgebete gesprochen. Und meine Mutter hat ihn wieder “aufgepäppelt”.

Die Zeit der Gefangenschaft lag noch nicht lange zurück, als meine Mutter nach Oldenburg fuhr, auf Hamsterfahrt zu dem Bauern, wo sie als Kind in den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg evakuiert gewesen war. “So, jetzt koche ich mal für euch”, sagte mein Vater. Und davon handelt das folgende Gedicht: Im Namen des Vaters Esst sagt er die köstliche Suppe aus Wasser mit Fischgrat und Kopf die wir in Russland nicht halb so gut und auch nur an besonderen Tagen genossen denn die Zunge bewahrt die Erinnerung daran ihr nun teilhaben sollt in meinem Namen (Der Vater hat dann doch nicht darauf bestanden, dass wir die Suppe essen. Aber wir mussten einen Löffel davon probieren und hatten verstanden, warum.)

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Esskultur— damals in Dinslaken

Werner Persy Manna-Fenster Stadtkirche

Tischgebete Zusammengestellt von Pfarrer Ronny Schneider

Vor dem Essen Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit, du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt, nach deinem Wohlgefallen. Psalm 145,15–16

Zwei Dinge, Herr, sind not, die gib nach deiner Huld: Gib uns das täglich Brot, vergib uns unsre Schuld. Vater, segne diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise. Von deiner Gnade leben wir, und was wir haben, kommt von dir. Drum sagen wir dir Dank und Preis, tritt segnend ein in unsern Kreis. O Gott, von dem wir alles haben, wir danken dir für diese Gaben, du speisest uns, weil du uns liebst. O segne auch, was du uns gibst. Herr, wir wollen bei dem Essen nicht die Hungernden vergessen. Hilf, dass wir auf dieser Erden Boten deiner Liebe werden. 260


Esskultur— damals in Dinslaken

Speisungs-Fenster Stadtkirche

Nach dem Essen Danket dem Herrn; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich. Psalm 106,1

Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von dir; Dank sei dir dafür. Dir sei, o Gott, für Speis und Trank, für alles Gute Lob und Dank. Du gabst, du willst auch künftig geben. Dich preise unser ganzes Leben. Amen. Wir wollen danken für unser Brot. Wir wollen helfen in aller Not. Wir wollen schaffen; die Kraft gibst du. Wir wollen lieben; Herr, hilf dazu. Wir danken dir, Herr Jesus Christ, dass du unser Gast gewesen bist. Bleib du bei uns, so hat’s nicht Not, du bist das wahre Lebensbrot. Dir sei, o Gott, für Speis und Trank, für alles Gute Lob und Dank. Du gabst, du willst auch künftig geben. Dich preise unser ganzes Leben. Amen.

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