JOHANNES LAUTEN ER MUSS WACHSEN
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Johannes Lauten
ER muss wachsen Erfahrungen im Johannes-Evangelium Ăœbertragung des Johannes-Evangeliums aus dem Griechischen und sechzehn Betrachtungen
Editio n Wege Edition or de V erl ag erlag alcor orde Verl im alc 3
Für die Zeichnung auf dem Einband und die Erlaubnis zum Abdruck der beiden Kohlezeichnungen auf den Seiten 10 und 84 danken wir der Essener Künstlerin Gabriele Schulten.
© 2012 alcorde Verlag, Essen Layout und Einband: Wolfgang F. Stammler Gesetzt aus der Trump Mediaval 10/14,2pt Titelbild: Gabriele Schulten Korrekturen: Hans-Joachim Pagel Gesamtherstellung: cpibooks, Leck ISBN 978-3-939973-31-7
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INHALT Vorwort 6
Teil 1 übertragung des johannes-evangeliums 9 Teil 2 erfahrungen im johannes-evangelium 83 Wer ist der Schreiber des Johannes-Evangeliums? 85 Der Jünger, den der Herr liebte 92 Begegnungen mit Christus 99 Gottes Fragen an den Menschen 111 Vom Geheimnis der Mitte 118 Die Kunde vom Werden 124 Noch Nicht 129 Vom Wirken der Gnade 138 Vom Werden des Menschensohnes 144 Ich Bin 153 Der Weg Jesu Christi zum Kreuz 166 Ein Osterweg 176 Christus, der Kommende 182 Bleibet in mir und ich bleibe in euch 192 Der Mensch – eine Wohnstatt Gottes 198 Glauben und Erkennen 205 5
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VORWORT Das Johannes-Evangelium als das Evangelium des Logos, des schöpferischen Weltenwortes, hat eine besondere Stellung im Kanon der vier Evangelien. Es ist in mancherlei Hinsicht nicht nur besonders genau in der Beschreibung der irdischen Gegebenheiten und der historischen Einzelheiten, sondern ist in seiner Verdichtung der Ereignisse des Lebens und Wirkens Jesu Christi und durch die Fülle der mitgeteilten Worte und Reden Jesu unmittelbare Offenbarung der zentralen Gestalt unseres Glaubens: des Christus Jesus, unseres Herrn. Die griechische Sprache, in der dieses Evangelium bei seiner Entstehung niedergeschrieben wurde, hatte in sich die Möglichkeit, den Übergang von der geistigen Intention des Schreibers zu einer verbindlichen Wortgestaltung sehr differenziert mitzuvollziehen. Viele oft gebrauchte Worte haben eine weit gefächerte Bedeutungsvielfalt. Erscheint auch der Text in seiner Gestaltung oft einfach, so erfordert das einzelne Wort doch immer besondere Beachtung wegen seiner Vielschichtigkeit. So kann z. B. das Wort Doxa übersetzt werden mit Vorstellung, Meinung, Erwartung, Einbildung, Wahn, Beschluss, Lehrsatz, Ansehen, Ehre, Ruhm, Traumbild, Offenbarung u. a. Damit wird deutlich, dass jede Übersetzung aus dem Griechischen in eine heutige Sprache einer Exegese gleichkommt und ein Wagnis ist, dem sich jeder Übersetzer stellen muss. 7
Der Logos, der Geistgehalt der Welt, wurde Mensch und wurde im Menschen gesprochenes, hörbares, schriftlich fixierbares Wort. Das war seine erste „Übersetzung“. Das Ziel jeder Übersetzung muss es sein, den Christus Jesus, den Logos, als lebendig schaffendes und gegenwärtiges Wesen erlebbar zu machen. Die hier vorgelegte Übersetzung möchte allen eine Hilfe sein, die sich mit dem Johannes-Evangelium verbinden wollen, sei es im eigenen Lesen oder als Inhalt geistiger Schulung, sei es als Brücke zu denen, die uns in den Tod vorangingen. Auch die nachfolgenden Beiträge sind nicht als Kommentar gedacht, sondern beschreiben Erfahrungswege, die man im Johannes-Evangelium gehen kann, wenn man einzelnen Motiven oder einer Fragestellung nachgeht. Sie können anregen, sich die vielfältige Landschaft des Johannes-Evangeliums zu erschließen und eigene Forschungswege zu begehen, deren es gewiss noch viele zu diesem einzigartigen Text gibt. Sollte sich beim Lesen eine innere Bestätigung der Nähe des Christus ergeben oder eine Annäherung an sein gegenwärtiges Heilswirken erlebbar und der Ernst eines zeitgemäßen Christseins spürbar werden, dann entspräche das der Intention des Autors. Johannes Lauten
Essen, im Herbst 2012
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1 Ăœbertragung des Johannes-Evangeliums
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1,1–14
I
m Urbeginne war das Wort, und das Wort war bei Gott, und ein Gott war das Wort. Dieses war im Urbeginne bei Gott. Alles ist durch dasselbe geworden, und auĂ&#x;er durch dieses ist nichts von dem Entstandenen geworden. In diesem war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis; aber die Finsternis hat es nicht begriffen. Es ward ein Mensch, gesandt von Gott, mit seinem Namen Johannes. Dieser kam zum Zeugnis, auf dass er Zeugnis ablege von dem Lichte, auf dass durch es alle glauben sollten. Er war nicht das Licht, sondern ein Zeuge des Lichtes. Denn das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, sollte in die Welt kommen. Es war in der Welt, und die Welt ist durch es geworden, aber die Welt hat es nicht erkannt. In die einzelnen Menschen kam es, aber die einzelnen Menschen, die Ich-Menschen, nahmen es nicht auf. Die es aber aufnahmen, die konnten sich durch es als Gottes Kinder offenbaren. Die seinem Namen vertrauten, sind nicht aus Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches und nicht aus menschlichem Willen, sondern aus Gott geworden. Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Lehre gehĂśrt; die Lehre 11
1,14–26
von dem eingeborenen Sohn des Vaters, erfüllt von Hingabe und Wahrheit. Johannes legt Zeugnis für ihn ab und verkündet deutlich: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird derjenige kommen, der vor mir gewesen ist, denn er ist mein Vorgänger. Denn aus dessen Fülle haben wir alle genommen Gnade über Gnade. Denn das Gesetz ist durch Moses gegeben, die Gnade und die Wahrheit aber sind durch Christus entstanden. Gott hat niemand bisher mit Augen geschaut; der eingeborene Sohn, der im Innern des Weltenvaters war, er ist der Führer in diesem Schauen geworden.
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Und dies ist das Bekenntnis des Johannes, als die Juden aus Jerusalem Priester und Tempeldiener zu ihm sandten, um ihn zu fragen: Wer bist du? Und er verleugnete sich nicht, sondern sagte mit großem Ernst: Ich bin nicht der Christus. Und sie fragten weiter: Wer bist du denn? Bist du Elias? Und er sagte: Das bin ich nicht. Bist du der Prophet? Er entgegnete: Nein. Da sprachen sie zu ihm: Wer bist du? Wir müssen Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du über dich selbst? Er sprach: Ich bin die Stimme, die in der Einsamkeit ruft: Ebnet des Herrn Weg. So sprach Jesajas, der Prophet. Die Boten kamen aus den Reihen der Pharisäer, und sie fragten ihn weiter und sagten: Aus welcher Kraft taufst du, wenn du nicht der Christus, nicht Elias und nicht der Prophet bist? Johannes antwortete ihnen und sprach: Ich taufe euch im Wasser, doch der nach mir kommt, 12
1,26–39
wirkt schon in eurer Mitte und ihr erkennt ihn nicht; unwürdig bin ich, ihm die Riemen seiner Schuhe zu lösen. Dies geschah in Bethanien jenseits des Jordan, wo Johannes weilte und taufte. Am folgenden Tage sah er Jesus auf sich zukommen und sprach: Merket auf, er ist das Lamm Gottes, das die Schuld dieser Welt auf sich nimmt. Er ist es, von dem ich sagte: Nach mir kommt derjenige, der vor mir gewesen ist, denn er ist mein Vorgänger. Auch ich kannte ihn nicht; doch ich bin gekommen und taufe im Wasser, damit er offenbar werde seinem Volke Israel. Und Johannes erhob seine Stimme und sprach: Ich sah den Gottesgeist in der Gestalt einer Taube herabkommen aus den Geisteswelten, und er blieb bei ihm. Auch ich kannte ihn nicht, aber der mich aussandte, die Menschen im Wasser zu taufen, der sprach zu mir: Du wirst den Gottesgeist herniedersteigen sehen und bleiben bei dem, der mit dem Heiligen Geist taufen wird. Ich habe es gesehen, und ich trete dafür ein: Dieser ist der Sohn Gottes. Am folgenden Tage stand Johannes wieder mit zweien seiner Jünger zusammen, und als er aufblickte, sah er Jesus vorüberwandeln. Da sprach er: Sehet hin, er ist das Lamm Gottes. Als die beiden Jünger diese seine Worte vernahmen, folgten sie Jesus nach. Da wandte sich Jesus ihnen zu, schaute sie an und sprach zu denen, die ihm folgten: Was suchet ihr? Sie sprachen zu ihm: Meister, wo finden wir dich? Er sprach: Kommt, und ihr werdet sehen. Sie gingen mit und erkannten, wo er verweilte; den ganzen Tag blieben sie bei ihm. Es war um die zehnte Stunde.
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1,40–51
Einer der beiden, der die Kunde von Johannes gehört hatte und ihm gefolgt war, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der begegnete als Erstem seinem eigenen Bruder Simon, und er sprach zu ihm: Wir haben den Messias, das heißt übersetzt den Christus, gefunden, und er führte ihn zu Jesus. Jesus schaute ihn an und sprach: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen, das ist der Fels. Beim Anbruch des nächsten Tages wollte Jesus nach Galiläa wandern und traf Philippus; und Jesus sprach zu ihm: Folge mir. Philippus stammte aus Bethsaida, der Heimat des Andreas und Petrus, und er suchte Nathanael auf und sagte zu ihm: Wir haben ihn gefunden, den Moses im Gesetz und den die Propheten verkündet haben: Es ist Jesus, der Sohn Josephs aus Nazareth. Doch Nathanael entgegnete ihm: Aus Nazareth? Wie kann von dorther das Heil kommen? Philippus antwortete ihm: Komm und sieh. Jesus nahm im Geiste wahr, welchen Weg Nathanael zu ihm ging, und sprach: Sehet, er ist in Wahrheit ein Israelit; sein Geist ist lauter. Da sagte Nathanael zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Noch ehe Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum saßest, nahm ich dich wahr. Nathanael antwortete ihm: Meister, du bist in Wahrheit der Sohn Gottes, du bist der König Israels. Jesus antwortete ihm und sprach: Ist dir dein Wissen zum Glauben geworden, weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah? Von nun an wird sich dir Größeres offenbaren. Amen, die Wahrheit sage ich euch: Die Geisteswelten werden sich vor euren Augen auftun, und ihr werdet sehen, wie die Engel Gottes sich erheben und herniedersenken über dem Menschensohn. 14
2,1–13
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Am dritten Tag ward eine Vermählung gefeiert in Kana in Galiläa, und die Mutter Jesu war unter den Gästen. Auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit geladen. Und als es ihnen an Wein mangelte, sprach die Mutter zu Jesus: Sie haben keinen Wein. Und Jesus sprach zu ihr: Was soll durch mich und was durch dich geschehen, o Frau? Noch ist meine Stunde nicht gekommen. Da sprach die Mutter zu den Dienern: Was er euch auch sagen mag, tut es. Es standen dort sechs steinerne Wasserkrüge nach der Vorschrift der jüdischen Reinigung. Sie fassten jeder zwei bis drei Maß. Jesus sprach zu ihnen: Füllet die Krüge mit Wasser. Und sie füllten sie bis an den Rand. Und er sprach weiter zu ihnen: Schöpfet nun daraus und bringet es dem Speisemeister, und sie brachten es ihm. Als der Speisemeister das Wasser kostete, das zu Wein geworden war, rief er den Bräutigam, denn er wusste nicht, woher der Wein kam, da nur die Diener es wussten, die das Wasser geschöpft hatten. Und der Speisemeister sprach zu dem Bräutigam: Jeder Mensch schenkt zuerst den guten Wein, und wenn die Gäste getrunken haben, den geringeren; du hast den guten Wein bis jetzt zurückgehalten. Mit diesem Zeichen begann Jesus sein Wirken in Kana in Galiläa. Er offenbarte seine göttliche Vollmacht, und seine Jünger vertrauten ihm. Danach ging Jesus mit seiner Mutter, seinen Brüdern und seinen Jüngern nach Kapernaum hinab, doch blieb er dort nur wenige Tage. Und als Passah, das Fest der Juden, nahe war, stieg auch Jesus hinauf nach Jerusa15
2,14–25
lem. Und er fand den Tempel besetzt von Händlern, die Ochsen, Schafe und Tauben feilboten. Und er machte eine Geißel aus Stricken und trieb alle aus dem Tempel hinaus, auch die Schafe und Rinder; den Wechslern stieß er die Tische um, schüttete ihr Geld auf den Boden und sprach zu den Taubenhändlern: Tragt das von hier weg und macht aus dem Hause meines Vaters keine Markthalle. Da erinnerten sich seine Jünger, dass geschrieben steht: Der Eifer um dein Haus verzehrt mich. Nun wandten sich die Juden an ihn und sprachen: Wie kann deine Geisteskraft im Zeichen vor uns sichtbar werden, damit wir glauben, dass du so handeln darfst? Jesus erwiderte ihnen: Zerstört diesen Tempel, und ich will ihn in drei Tagen neu erschaffen. Da entgegneten die Juden: Sechsundvierzig Jahre ist an diesem Heiligtum gebaut worden, und du willst es in drei Tagen errichten? Er aber hatte von dem Tempel seines Leibes gesprochen. Nachdem er von den Toten auferstanden war, erinnerten sich die Jünger seiner Worte, und sie glaubten dem Wort der Schrift und dem Worte, das Jesus sprach. In den Tagen, in denen er zum Passahfest in Jerusalem weilte, glaubten viele Menschen an seine göttliche Herkunft, denn sie sahen die Geisteszeichen, die er vollbrachte. Jesus selbst aber konnte ihnen kein Vertrauen schenken, denn er durchschaute sie alle. Er brauchte kein menschliches Zeugnis, denn er wusste, was im Herzen der Menschen lebt.
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3,1–12
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Es lebte ein Pharisäer mit Namen Nikodemus und er war ein Führer unter den Juden. Dieser kam zu ihm inmitten der Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, dass du als ein von Gott gesandter Lehrer zu uns gekommen bist, denn niemand vermöchte die Geisteszeichen zu vollbringen, welche du vollbringst, wäre nicht Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Amen, die Wahrheit sage ich dir: Wird ein Mensch nicht von neuem, von oben her geboren, so kann er das Reich Gottes nicht schauen. Nikodemus sprach zu ihm: Wie sollte ein Mensch von neuem geboren werden, wenn er alt geworden ist? Er kann doch nicht zum zweiten Mal im Mutterschoß empfangen werden und von neuem geboren werden? Jesus antwortete: Amen, die Wahrheit sage ich dir: Wenn der Mensch nicht geboren wird aus der Lebenskraft des Wassers und aus dem Hauch des Geistes, kann er nicht eintreten in das Reich Gottes. Was aus der Erde geboren ist, bleibt der irdischen Natur verhaftet, was aber aus dem Geiste geboren ist, das ist selber Geist. So wundere dich also nicht, wenn ich sage: Ihr müsst von oben neu geboren werden. Der Geist bewegt die Luft nach seinen Gesetzen; seine Wirkung in der Welt kannst du wahrnehmen, aber du weißt nicht, woher er kommt, noch wohin sein Weg geht. Das weiß erst der Mensch, der aus dem Geist geboren ist. Da antwortete Nikodemus und sprach zu ihm: Wie ist es denn möglich, dass solches geschieht? Jesus antwortete ihm und sprach: Du bist der Lehrer Israels und weißt das nicht? Amen, die Wahrheit sage ich dir: Wir sprechen von dem, was wir erkannt haben und legen Zeugnis ab von dem, was wir geschaut; ihr aber wollt unser Zeugnis nicht annehmen. Wenn ich von den irdischen Geheimnissen rede, und ihr wollt nicht hören, 17
3,12–22
wie solltet ihr wohl glauben können, wenn ich von den himmlischen Offenbarungen rede? Und doch kann niemand in die Geistwelt aufsteigen außer dem einen, der aus der Geistwelt herabgekommen ist: Das ist der Sohn des Menschen, seine Heimat ist der Himmel. Wie einst Moses während der Wüstenwanderung das Bild der Schlange vor den Menschen aufgerichtet hat als ein Zeichen, so muss der Menschensohn auch erhöht werden, damit jeder, der in ihm seinen Glauben gründet, das zeitlose Leben finde. Gott selber hat der Welt seine Liebe zugewendet, sodass er seinen ihm eingeborenen Sohn dahingab, damit jede Seele, die sich in wahrem Vertrauen an ihn wendet, nicht vergehe, sondern das zeitlose Leben finde. Gott hat den Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern dass sie durch ihn das Heil erfahre. Wer Vertrauen hat zu ihm, unterliegt nicht dem Gericht. Wer kein Vertrauen zu ihm findet, der erlebt schon in sich das Gericht, weil er sich dem Namen des eingeborenen Gottessohnes nicht im Vertrauen aufschließt. Dies ist die Entscheidung, die der Mensch fällen muss. Das göttliche Licht kam in diese Welt; doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren erfüllt vom Willen zum Bösen. Jeder, der Böses vollbringt, beginnt das Licht zu hassen. Er will sich dem Licht nicht stellen, damit seine Werke nicht offenbar werden. Wer aber aus der Wahrheit handelt, der lebt sich ein in die Welt des übersinnlichen Lichtes. In seinen Taten wird es offenbar: Sie sind aus göttlicher Kraft getan. Danach kamen Jesus und seine Jünger in das Land Judäa, und er verweilte dort mit ihnen und taufte. Es 18
3,23–36
taufte aber in Ainon nahe bei Salim auch Johannes, denn es gab an diesem Orte viel Wasser, und die Menschen kamen zu ihm und ließen sich taufen; denn noch war Johannes nicht eingekerkert worden. Da geschah es, dass zwischen den Jüngern des Johannes und den Juden ein Streitgespräch aufkam über die Reinigung. Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Meister, der bei dir war jenseits des Jordan, für den du zeugtest, siehe, er tauft und alle kommen zu ihm. Johannes antwortete und sprach: Der Mensch darf nichts sein Eigen nennen, es sei ihm denn aus dem Himmel gegeben. Ihr selbst könnt es bezeugen, dass ich sprach: Ich bin nicht der Christus, doch bin ich vor ihm hergesandt. Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam. Der Freund des Bräutigams aber steht ihm zur Seite und hört ihm zu, und die Stimme des Bräutigams erfüllt ihn mit machtvoller Freude. Diese meine Freude ist heute erfüllt. Jener muss wachsen, ich aber muss abnehmen. Wer aus den Geisteswelten herniederstieg, der steht über allen. Wer nur von der Erde stammt, bleibt der Erde verhaftet, und seine Rede ist erdgebunden. Wer aus dem Himmel kommt, der steht über allen. Was er sah und was er hörte, dafür tritt er ein, doch sein Zeugnis nimmt niemand an. Wer es aber annimmt, der besiegelt damit: Gott ist die Wahrheit. Wer von Gott gesandt ist, der redet aus den Gedanken Gottes, denn Gott verleiht den Geist nicht nach irdischen Maßen. In der Geisteskraft des Vaters lebt der Sohn, und der Vater hat alles in seine Hand gegeben. Wer dem Sohne vertraut, der hat das fortdauernde Leben. Wer aber den Sohn verleugnet, wird das Leben nicht schauen, sondern der Gotteszorn lastet auf ihm.
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4,1–14
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Als nun der Herr erkannte, dass die Pharisäer in Erfahrung gebracht hatten, dass er mehr Menschen zu Jüngern berief und taufte als Johannes – obwohl Jesus nicht selber taufte, sondern seine Jünger –, verließ er das Land Judäa und kam wieder nach Galiläa. Auf diesem Wege musste er durch Samarien reisen und kam in eine Stadt Samariens, welche Sychar heißt. Sie liegt in der Nähe jenes Ortes, den Jakob einstmals seinem Sohne Joseph gab. Dort war die Quelle Jakobs. Jesus war von der Wanderung ermüdet und setzte sich an der Quelle nieder. Es war die sechste Stunde des Tages, mittags um zwölf Uhr. Da kam eine samaritanische Frau, um Wasser zu schöpfen, und Jesus sprach zu ihr: Gib mir zu trinken. Seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Speise zu kaufen. Da sprach die Samaritanerin zu ihm: Wie kannst du, der du Jude bist, von mir zu trinken erbitten, ich stamme doch aus Samaria? Die Juden pflegen nämlich keine Gemeinschaft mit den Samaritanern. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Könntest du diesen Augenblick als ein Geschenk Gottes erkennen und wüsstest du, wer es ist, der dich bittet: Gib mir zu trinken, du würdest ihn selber bitten, und er gäbe dir lebendiges Wasser. Die Frau sprach zu ihm: Herr, du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist tief; woher hast du solches lebendiges Wasser? Bist du denn mächtiger als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen grub? Er selbst hat daraus getrunken, auch seine Söhne und sein Vieh. Jesus antwortete und sprach zu ihr: Jeden, der von dem Wasser aus diesem Brunnen trinkt, wird wieder dürsten. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm 20
4,14–28
geben werde, dessen Durst ist für alle Zeit gestillt; denn das Wasser, das ich dem Menschen gebe, wird in ihm zu einer Quelle, aus der das fortdauernde Leben quillt. Da sprach die Frau zu ihm: O Herr, gib mir solches Wasser, damit ich nicht dürste und nicht immer an diesen Ort zurückkehren muss, um Wasser zu schöpfen. Und Jesus sprach zu ihr: Gehe hin, rufe deinen Mann und komm hierher zurück. Die Frau antwortete und sprach zu ihm: Ich habe keinen Mann. Jesus sprach zu ihr: Es ist gut, dass du sagst: Ich habe keinen Mann; denn fünf Männer hattest du, und der jetzt mit dir lebt, ist nicht dein Mann. Das ist wahr. Die Frau sprach zu ihm: Herr, ich spüre und sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berge ihr Opfer dargebracht, und ihr sagt, nur in Jerusalem sei der Ort der Anbetung. Jesus antwortete: O Frau, glaube mir, es kommt die Stunde, da ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem eure Gebete zu dem Vater richten werdet. Ihr erkennt nicht, zu wem ihr betet; wir aber wissen, wen wir anbeten, und so kommt das Heil von den Juden. Es kommt die Zeit, und sie ist schon da, in der die wahren Beter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten werden, und der Vater wartet auf diese Beter. Gott ist Geist. Nur wer im Geiste lebt und sich mit Wahrheit durchdringt, kann zu ihm beten. Da sprach die Frau zu ihm: Ich weiß, der Messias kommt, und er wird Christus heißen. Wenn er kommt, wird er uns dies alles verkünden. Da sprach Jesus zu ihr: Ich bin es, und ich rede mit dir. Über alledem kamen seine Jünger und wunderten sich, dass er mit einer Frau redete. Niemand aber sagte: Was führt dich zu ihr? Oder: Warum redest du mit ihr? Da ließ die Frau ihren Krug stehen, lief in die Stadt hinein 21
4,28–42
und rief den Einwohnern zu: Kommt alle heraus und seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich jemals getan habe. Ob er wohl der Christus ist? Da eilten sie aus der Stadt und kamen zu ihm. In der Zwischenzeit baten ihn seine Jünger und sprachen zu ihm: Herr, du solltest essen! Er aber sprach zu ihnen: Ich habe eine Speise, von der ihr nichts wisset. Die Jünger sprachen untereinander: Hat ihm etwa jemand zu essen gebracht? Jesus sprach zu ihnen: Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und zum Ziele bringe sein Werk. Sagt ihr nicht selbst: Vier Monate sind es noch, und dann ist die Zeit der Ernte? Beachtet wohl, was ich sage: Wenn ihr eure Augen aufhebt und hinschaut auf die Lande, so seht ihr, dass sie reif sind zur Ernte. Schon ist die Zeit, da der Schnitter seinen Lohn empfängt und die Frucht sammelt für das zeitlose Leben, damit sich freuen möge, der gesät hat, zusammen mit dem, der erntet. Hier wird das Wort zur vollen Wahrheit: Einer ist es, der sät, ein anderer, der erntet. Ich habe euch ausgesandt zu ernten, wofür ihr nicht gearbeitet habt. Andere haben das Land bestellt; nun sollt ihr deren Arbeit fortführen. Aus jener Stadt glaubten viele der Samaritaner an ihn um des Wortes willen, das die Frau sprach, welche freimütig bezeugte: Er sagte mir alles, was ich tat. Als nun die Samaritaner zu ihm kamen, baten sie ihn, dass er bei ihnen bleibe. Da blieb er zwei Tage dort, und ihr Vertrauen zu ihm wuchs durch sein Wort. Zu der Frau aber sagten sie: Nicht um deiner Worte willen glauben wir; wir haben selbst gehört, und nun wissen wir, dass er in Wahrheit der Heiland der Welt ist, der Christus. 22
1i Erfahrungen im Johannes-Evangelium Betrachtungen
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WER IST DER SCHREIBER DES JOHANNES-EVANGELIUMS?
Unter den vier in das Neue Testament aufgenommenen Evangelientexten nimmt das Johannes-Evangelium einen besonderen Rang ein. Die Fragen, wo und wann es entstand und wer sein Schreiber ist, sind seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts, also bald nach seiner Entstehung, bis heute nicht verstummt. Ausgrabungen, die in der Johannes-Basilika zu Ephesus in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht wurden, haben zu dem bedeutsamen Fund eines Metallbehälters geführt, in dem sich Schriftrollen fanden, die den Text des Johannes-Evangeliums zu enthalten scheinen. Die Schriftrollen sollen aus dem ersten bis zweiten Jahrhundert n. Chr. stammen, also aus der Zeit, in der die Anwesenheit des sog. „Presbyter Johannes“ durch Polykarp von Ephesus bezeugt ist. Wer dieser „Presbyter Johannes“ ist, bleibt rätselhaft, ebenso, in welchem Verhältnis er zu dem Schreiber des Johannes-Evangeliums stand, der sich nirgendwo bei Namen nennt. Die heutige Forschung hat sich der Meinung angeschlossen, dass es sich um den Zebedäus-Sohn Johannes, den Bruder des Jakobus handele. Sie geht zurück auf Irenäus von Lyon (gestorben um 202 n. Chr.). Ohne Frage handelt es sich bei dem Schreiber um einen Augenzeugen des Lebens und Wirkens Jesu Christi und der Ereignisse auf Golgatha. Im Kreuzigungsbericht lesen wir, wie einer der Kriegsknechte, die ausgesandt 85
ERFAHRUNGEN IM JOHANNES - EVANGELIUM
waren, um den Gekreuzigten zur Beschleunigung ihres Todes die Beine zu brechen, dem bereits gestorbenen Jesus Christus mit seiner Lanze die Seite durchsticht, und sogleich traten Blut und Wasser aus. Dann fährt der Text fort: Der das hier bezeugt, hat es selbst gesehen, und sein Zeugnis ist wahr, und er weiß, dass er die Wahrheit spricht, damit auch ihr Seelensicherheit gewinnt (J 19,35). Ein weiteres Mal wird dieser Augenzeuge in den letzten Versen des Johannes-Evangeliums als dessen Schreiber genannt. Voraus geht der Bericht von der Begegnung des Auferstandenen mit den Jüngern beim Morgenmahl am See Genezareth und dem Gespräch mit Petrus über seine Aufgabe und die Aufgabe des Jüngers, „den Jesus liebte“. Von ihm heißt es: Das ist der Jünger, der dies alles niedergeschrieben hat und der sich dafür verbürgt, und wir wissen: Sein Zeugnis ist die Wahrheit (J 21,24). Dieser besondere Jünger, „den Jesus liebte“, wird erst spät im Text erwähnt, erst im Abendmahlsbericht (J 13,23–25) hören wir von ihm: Einer seiner Jünger, der mit ihm zu Tische saß, hatte das Haupt in seinen Schoß gelegt; es war der Jünger, den Jesus liebte. Diesem gab Petrus ein Zeichen, er möge erkunden, von wem er spreche. Da legte er den Kopf an die Brust Jesu und sprach: Herr, wer ist es? So häufig das Wort ᙳȖĮʌᙽȞ (agapan) lieben, aber nicht im leiblich-seelischen Sinne, sondern geistig-seelisch verstanden, im Johannes-Evangelium auch gebraucht wird, so selten charakterisiert es die Beziehung des Christus Jesus zu einem Menschen. Im 11. Kapitel wird seine Liebe zu den drei Geschwistern Maria, Martha und Lazarus erwähnt (J 11,5). Als Lazarus erkrankte, 86
WER IST DER SCHREIBER DES JOHANNES - EVANGELIUMS ?
senden seine Schwestern Jesus Nachricht: Herr, der, den du lieb hast, ist krank (J 11,3). Und ein drittes Mal wird von dieser seiner Liebe gesprochen. Als ihm vor dem geschlossenen Grab des Freundes die Augen übergehen, sagen die Menschen, die in großer Zahl dabeistehen: Seht, wie innig er ihn geliebt hat (J 11,35). Das ist einzig in allen Evangelien, dass eine persönliche Beziehung des Christus Jesus zu einem Menschen in dieser Weise hervorgehoben und betont wird. Nur im Markus-Evangelium wird die Begegnung Jesu mit dem sog. „reichen Jüngling“, einem in den drei synoptischen Evangelien Namenlosen, mit dem Wort ᙳȖĮʌᙽȞ (agapan) beschrieben: Als Jesus auf seinem Weg weiterging, lief ihm ein Mann entgegen, kniete vor ihm nieder und fragte ihn: Guter Meister, was muss ich tun, um des todlosen Lebens würdig zu sein? Jesus aber entgegnete ihm: Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut, nur Gott, der All-eine. Du kennst die Gebote: Morde nicht, verletze die Treue nicht, stiehl nicht, verleumde oder betrüge niemanden, ehre deinen Vater und deine Mutter. Jener sprach zu ihm: Meister, das alles habe ich seit meiner Kindheit beachtet. Da schaute ihm Jesus ins Herz und liebte ihn und sprach: Dann fehlt dir nur noch eines: Geh hin, verkaufe all deine Habe und schenke den Erlös den Armen, und du wirst einen Schatz in den Geisteswelten erwerben. Und dann komm und begleite mich. Bei diesen Worten verdunkelten sich die Augen des Mannes und er ging betroffen fort, denn er hatte große Reichtümer (Mc 10,17–22). Die Frage stellt sich, ob diese beiden Textstellen (J 11 und Mc 10) in Beziehung zueinander zu sehen sind. Ist 87
ERFAHRUNGEN IM JOHANNES - EVANGELIUM
der „reiche Jüngling“ der synoptischen Evangelien, von dem es im Lukas-Evangelium heißt, dass er zur Oberschicht des Volkes, zur herrschenden (Priester?) Dynastie gehörte, identisch mit Lazarus? Die für beide gebrauchte Formulierung ᙳȖĮʌᙽȞ (agapan) könnte dafür sprechen. Ist der weitere Schluss zulässig, dass der Schreiber des Johannes-Evangeliums, für den sie ja eindeutig auch gilt (s. o.), dieselbe Person ist wie Lazarus, „den der Herr liebte“, den er in Bethanien vierzig Tage vor seinem eigenen Tod am Kreuz auf Golgatha aus dem Tode zurückrief (J 11,43 f) und der von da an untrennbar an seiner Seite ist; beim Abendmahl sich an seine Brust legend; der Einzige aus dem engsten Kreis der Seinen, der unter dem Kreuz steht (J 19,25–27); der mit Petrus am Ostermorgen zum Grabe eilt (J 20,2–10)? Dann wäre also der, „den der Herr liebte“, der dreizehnte im Kreis der zwölf berufenen Jünger. Manches spricht dafür. Einzelne Abendmahlsdarstellungen weisen dreizehn Jüngergestalten aus. (vgl. z. B. Albrecht Dürers „Große Passion“, Abendmahl, Holzschnitt 1510).1 Auch die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners kommt zu dem Ergebnis, dass Lazarus „derjenige [ist], der der Lieblingsjünger ist, auf den das Johannes-Evangelium zurückzuführen ist“.2 Die andere, seit Irenäus gewohnte Antwort auf die „Johannesfrage“ ist ja, dass es sich um den Bruder des Jakobus, den Sohn des Zebedäus, handele. 3
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Siehe Kurt von Wistinghausen: Der verborgene Evangelist. Stuttgart 1983, S. 112 ff. Rudolf Steiner: Das Johannes-Evangelium. GA 100, Dornach 1975, S. 67. Siehe auch Joseph Ratzinger-Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth I. Freiburg 2007, S. 265 f.
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WER IST DER SCHREIBER DES JOHANNES - EVANGELIUMS ?
Auch das lässt sich begründen: Er gehört zu den drei Jüngern, Petrus, Jakobus und Johannes, die oft zu besonderen Ereignissen berufen und namentlich genannt werden: bei der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Mc 1,29–31), der Auferweckung der Tochter des Jaïrus (Mc 5,21–43), der Verklärung Jesu (Mc 9,2–8), bei der Bereitung des Abendmahlsraumes (L 22,7–13) und in Gethsemane (Mc 14,32–34). Auch gehören die beiden Brüder zu den ersten Jüngern, die von Jesus Christus erwählt werden. Doch gibt es auch Ereignisse, die es erschweren, in dem Zebedäus-Sohn Johannes den Jünger zu sehen, „den der Herr liebte“. Der Evangelist Markus berichtet von einem Gespräch, das die Jünger mit ihrem Meister in Galiläa führen (Mc 9,30–50) und in dem Johannes sagt: Wir begegneten einem Menschen, der in deinem Namen Dämonen austrieb, und wir hinderten ihn daran, denn er ging eigene Wege und nicht mit uns (Mc 9,38). Doch Christus weist ihn zurück mit den Worten: Stört ihn nicht. Keiner, der in meinem Namen handelt, vermag mich leichtfertig zu verleugnen. Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns (Mc 9,39). In ähnlicher Weise beschreibt der Evangelist Lukas eine Begebenheit auf dem Weg nach Jerusalem: Und es geschah, als seine Tage erfüllt waren und er [in den Himmel] aufgenommen werden sollte, wandte er sein Antlitz dem Weg nach Jerusalem zu und sandte Boten voraus, die auf ihrem Wege in ein samaritanisches Dorf kamen, um ihm dort eine Herberge zu bereiten. Doch man nahm ihn nicht auf, weil sein Blick auf den Weg nach Jerusalem gerichtet war. Als das seine Jünger Jakobus und Johannes sahen, sprachen sie: Herr, willst du, dass durch unser Wort Feuer vom 89
ERFAHRUNGEN IM JOHANNES - EVANGELIUM
Himmel falle und sie verderbe? Er aber wandte sich an sie mit großer Strenge: Ihr wisst nicht, welcher Geist euch das eingibt. Der Menschensohn ist nicht gekommen, die Seelen der Menschen zu vernichten, sondern sie zu erretten (L 9,51–56). Noch seltsamer kann es uns berühren, wenn wir hören, dass die beiden Brüder Jakobus und Johannes sich an Jesus wenden mit den Worten: Meister, wir möchten, dass du uns gewährst, worum wir dich bitten. Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, was soll ich für euch tun? Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir in deinem Offenbarungsglanz neben dir sitzen, der eine zur Rechten, der andere zur Linken. Jesus erwiderte: Könnt ihr die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde? Sie sprachen: Das können wir. Da sprach Jesus zu ihnen: Auch ihr werdet den Kelch leeren, den ich trinke, und ihr werdet die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde. Aber die Plätze zu meiner Rechten oder Linken zu vergeben steht nicht in meiner Macht. Dort werden die sitzen, für die sie bestimmt sind (Mc 10,35–40). Konnte dieser Johannes, von dem die Evangelisten in solcher Weise berichten, der sein, „den der Herr liebte“? Wer also ist der Schreiber? Ist es Johannes, der Sohn des Zebedäus, dann ist es einer der vertrautesten und ersten Jünger Jesu, ein Augen- und Ohrenzeuge seines Lebens von den Tagen unmittelbar nach der Jordantaufe bis zum Tod. In seinem grundlegenden Werk über die Johannesfrage begründet M. Hengel ausführlich, dass die heutige theologische Forschung zu dem Ergebnis kommt, dass „nicht nur die [Johannes]briefe und die Apokalypse, 90
WER IST DER SCHREIBER DES JOHANNES - EVANGELIUMS ?
sondern ebenso auch das Evangelium … seit ihrer Verbreitung in der Kirche mit dem ephesischen Johannes … verbunden [wurden]. Freilich handelt es sich dabei nicht um den Zebedaiden und Apostel … sondern um jene rätselhafte Gestalt, die, obwohl sie nicht zum Zwölferkreis gehörte … stereotyp den Ehrennamen Der Jünger des Herrn trug.“4 M. Hengel sagt zusammenfassend: „Eine Abfassung durch den Zebedaiden, die ab der Mitte des 2. Jahrhunderts (Irenäus) vorherrschende Sicht, … hat zu viele historische Gründe gegen sich, als dass man sie mit gutem Gewissen noch aufrechterhalten könnte.“ 5 Ist es Lazarus, der durch seine Auferweckung zum Jünger wurde und der dem Christus Jesus auch vorher schon tief verbunden war, der im Triduum der drei heiligen Tage, von Gründonnerstagabend bis Ostersonntagabend ihm der Nächste auf Erden war, dann hat er den Namen Johannes erst durch die inhaltlich und stilistisch nahe Verwandtschaft der fünf johanneischen Schriften im Neuen Testament bekommen, denn nur in der Apokalypse (Kap 1,1; 4; 9; 22,8) erscheint sein Name Johannes als Schreiber des Textes. Die Antwort auf die Frage „Wer ist der Schreiber des Johannes-Evangeliums“ darf weiterhin ein Geheimnis bleiben.
4 Martin Hengel: Die johanneische Frage. Tübingen 1993, S. 205 5 A. a. O., S. 318.
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DER JÜNGER, DEN DER HERR LIEBTE
Das Schicksal dieses Jüngers gibt uns manche Rätsel auf, auch wenn es in seiner Kulmination, einer Krankheit, die zum Tode führte, im Johannes-Evangelium an zentraler Stelle im 11. Kapitel, in der Mitte des Evangeliums also, ausführlich beschrieben wird. Seine Auferweckung vom Tode führt zum Beschluss des Hohen Rates, Jesus sowohl als auch Lazarus zu töten: Da riefen die Hohepriester und die Pharisäer den Hohen Rat zusammen und sprachen: Was sollen wir tun? Dieser Mensch vollbringt viele Zeichen. Lassen wir ihn weiter gewähren, so werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und uns diesen heiligen Ort und das Volk nehmen (J 11,47 f.). Und wenige Tage später, als Jesus wieder bei Lazarus in Bethanien weilte, heißt es: Viele der Juden erfuhren, dass Jesus in Bethanien war, doch sie kamen nicht nur um seinetwillen, sondern auch, weil sie Lazarus sehen wollten, den er von den Toten auferweckt hatte. Die Hohepriester aber berieten, wie sie auch Lazarus töten könnten, denn durch ihn glaubten viele Juden an Jesus (J 12,9–11). Außer im 11. Kapitel des Johannes-Evangeliums wird über diesen Jünger, „den der Herr liebte“, im Evangelium nicht viel gesprochen. Die Legenda aurea6 lässt die drei Geschwister Maria, Martha und Lazarus sehr reich sein, was zu der Annahme führen könnte, Lazarus 6 I. de Veragine: Legenda aurea, Jena 1925, S. 614 f.
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sei dieselbe Gestalt, die der Evangelist Lukas einen „Oberen“ (L 18,18) nennt und von dem der Evangelist Markus berichtet, dass Jesus ihn liebte (Mc 10,21). Über die Begegnung dieses Menschen mit Christus Jesus, von der die Synoptiker berichten (Mt 19,16–22; Mc 10,17–22; L 18,18–23) wird überliefert, dass Jesus ihn auffordert, Komm und begleite mich (Mc 10,21), wenn er getan habe, was Jesus ihm riet: sich von all seinem Reichtum zu trennen, den Erlös den Bedürftigen zu schenken und dann dem Leben eine neue Richtung zu geben. Er aber ging voller Trauer fort, denn er war sehr reich (Mc 10,22). Sollte er derjenige sein, von dem das JohannesEvangelium im 11. Kapitel schreibt? Es wäre einzig durch die Worte „Jesus liebte“ zu belegen, da sie nur für Lazarus und seine Schwestern (J 11,3.5.35), den „reichen Jüngling“ (Mc 10,21) und den ungenannten „anderen Jünger“ (J 19,26; 20,2; 21.7,20) in den Evangelien in Bezug auf einen bestimmten Menschen gebraucht werden. Die Stellung der Berichte über den „reichen Jüngling“ und über die Auferweckung des Lazarus machen deutlich, dass diese Ereignisse in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Beginn der Karwoche geschehen sein müssen, sodass die enge Beziehung dessen, „den der Herr liebte“, mit den zentralen Passionsereignissen auch durch diese Stellung im Text zum Ausdruck kommt. Am Ende der Begegnung Jesu mit dem „reichen Jüngling“ heißt es, dass jener voller Trauer seines Weges ging. Nach geschehener Auferweckung des Lazarus hören wir Christus Jesus sagen: Löst ihn los und lasst ihn 93
ERFAHRUNGEN IM JOHANNES - EVANGELIUM
gehen (J 11,44). Und der, „den der Herr liebte“, ging seinen Weg und blieb in unmittelbarer Nähe des Meisters bis zu dessen Tod am Kreuz. Was geschah mit ihm in der Zeit zwischen der Frage des reichen Jünglings und der Auferweckung des Lazarus? Der Bericht darüber lässt Fragen entstehen: Warum wartet Jesus mit seinen Jüngern so lange, bis er nach Bethanien aufbricht? Wie war Lazarus tot? Warum die Erregung im Hohen Rat? Die Nachricht von der Erkrankung dessen, den er liebt, erreichte den Herrn in Bethanien am östlichen Jordanufer, wo Johannes früher getauft hatte. Jesus war mit seinen Jüngern über den Jordan wieder an den Ort seiner eigenen Taufe gegangen und verweilte dort (J 10,40). Die beiden Bethanien (am Ölberg und am Jordan) sind etwa 10 km Luftlinie voneinander entfernt und durch das Wadi El Kelt, den uralten steilen Fußweg von Jericho nach Jerusalem, miteinander verbunden. Ihn zu gehen ist auch heute noch ein strammer Tagesmarsch. Die beiden Schwestern Maria und Martha lassen ihm sagen, der Bruder sei ᙳıșİȞ᚜ɑ (asthenƝs), liege kraftlos danieder. Das griechische Wort ᙳıșİȞ᚜Ȣ (asthenƝs) bezeichnet im Gegensatz zu ȞȩıȠȢ (nosos), der von den Göttern geschickten Krankheit, die innere Kraftlosigkeit und Schwäche. Wodurch war sie eingetreten? Bedenkt man die hohe Belastung dieses Menschen in den kommenden Tagen und Wochen bis Golgatha und darüber hinaus, dann kann es sich wohl nicht um eine konstitutionelle Schwäche gehandelt haben.
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Jesu Antwort auf die Mitteilung der Schwestern ist rätselvoll: Diese Krankheit führt nicht zum Tode, sondern zur Offenbarung Gottes, auf dass durch sie der Sohn Gottes geoffenbaret werde (J 11,4). Warum diese Unterscheidung der Offenbarung Gottes und der Offenbarung des Gottessohnes? Jesus selbst scheint auf sie Wert zu legen, wenn wir ihn im Tempel sagen hören: Bisher wirkte der Vater, von nun an wirke auch ich (J 5,17). Ist die Wirkensrichtung eine unterschiedliche? Der Vater „von außen“: Ich bin nicht vom Himmel herabgestiegen, um nach meinem Willen zu leben, sondern um den Willen dessen zu vollenden, der mich gesandt hat (J 6,38). Der Christus wirkt „von innen“. Er wird im Menschen Wohnung nehmen und in ihm wirken: Bleibet Treue bewahrend in mir und ich bleibe in euch … Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer mein Wesen in sich bewahrt, in dem werde ich wirken, und er wird reiche Geistesfrucht erbringen; denn ohne mich vermögt ihr nichts (J 15,4 f.). Hat Lazarus, wenn er der reiche Jüngling sein sollte, durch seine Frage Was soll ich tun? (Mc 10,17) den Weg eigener Schicksalsgestaltung betreten, aus dem Ich zu handeln, d. h. aus der Kraft dessen in sich, dessen Name „Ich bin, der Ich Bin“ ist? Nach vollbrachter Entäußerung all seines Reichtums bemächtigt sich seiner eine ungeheure Schwäche. Der Reichtum, von dem drei Evangelisten berichten, muss ja nicht nur ein materieller gewesen sein. Wenn der reiche Jüngling als ᙴȡȤȦȞ (archǀn) (L 18,18) der herrschenden Priesterkaste angehörte, dann waren auch spirituelle Güter, heiliges Tempelwissen, sein eigen, das es nach der Begegnung mit dem Christus Jesus nun 95
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umzuwandeln galt, um es den Unwissenden, „den Armen“ weiterzugeben. Noch zwei weitere Tage, nachdem ihn die Kunde erreicht hatte, blieb Jesus mit seinen Jüngern in Bethanien jenseits des Jordan (J 11,6). Dann, nachdem drei Tage erfüllt waren, wandert er mit seinen Jüngern nach Bethanien am Ölberg, dem Wohnort der drei Geschwister, und wir hören ihn seinen Jüngern sagen: Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich will hingehen, um ihn aus dem Schlafe zu erwecken (J 11,11). Drei Tage lässt er vergehen, bevor er den Freund Lazarus vom Tode erweckt; drei Tage ist der Zeitraum, der erfüllt sein muss vom Abendmahl an bis zur Vollendung der Auferstehung am Osterabend. Derselbe Zeitraum ist bekannt aus den vorchristlichen Einweihungsriten der Mysterien. Und der Zeitraum dreier Tage ist nicht nur hier im Leben Jesu von Bedeutung. Über den zwölfjährigen Knaben heißt es bei dem Evangelisten Lukas: Und es geschah: Nach drei Tagen fanden sie (die Eltern) ihn im Heiligtum; er saß inmitten der Lehrer, hörte ihnen zu und richtete seine Fragen an sie (L 2,46). Seinen Jüngern gegenüber legt der Christus Jesus Wert darauf, dass Lazarus gestorben sei, und er spricht von seiner Freude um euretwillen, dass ich nicht dort war, damit eure Glaubenskraft wachse (J 11,15). An einer Krankheit, die zur Offenbarung des Sohnesgottes führen solle, so hieß es am Anfang (J 11,4), leide der Freund; eine Erweckung aus dem (Todes)Schlaf, damit der Glaube der Jünger erstarke, werde er vollbringen, so sagt der Christus Jesus später (J 11,15); und nun, im Gespräch mit der Schwester Martha in Bethanien, nachdem Lazarus den vierten Tag schon im Grabe liegt, 96
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hören wir den Herrn sagen: Dein Bruder wird auferstehen (J 11,23). Er sagt nicht: ich werde ihn auferwecken, sondern Lazarus selbst wird auferstehen. Die Kraft der Liebe, die von Christus dem in Not geratenen Freund zuströmt, wird in diesem zur Kraft der Auferstehung und des neuen Lebens: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer Vertrauen findet zu mir, der wird das Leben im Tode finden, und jeder Lebendige, der an mich glaubt, wird den zweiten Tod nicht erleiden durch alle Zeiten (J 11,25 f.). In mehreren Schritten also geschieht diese Auferstehung des geliebten Freundes. Im Allertiefsten erregt, fragt der Christus Jesus in die Menge: Wo habt ihr ihn begraben (J 11,34)? Fühlen wir uns nicht erinnert an die Frage des Herrn nach Adam im Schöpfungsbericht: Wo bist du (1 Mo 3,6)? Ein zweites Mal ist der Mensch Gott abhanden gekommen: Adam unter den Bäumen, Lazarus unter den Steinen. Und von neuem ergreift den Christus Jesus eine tiefe Erschütterung, als er an das geschlossene Felsenkammergrab tritt und spricht: Wälzet den Stein zur Seite (J 11,39). Dann hebt er seine Augen auf und betet: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich immerdar hörst, aber wegen des Volkes, das hier steht, spreche ich es aus, damit sie glauben mögen, dass du mich gesandt hast. Das sagte er; dann erhob er seine Stimme und rief laut: Lazarus, hierher, heraus! (J 11,41–43). Nie sonst, in keinem der Evangelien, hören wir ihn in einem solchen Befehlston rufen. Bei seinem Namen gerufen, im Ich angerührt, kommt der Verstorbene aus eigener Kraft aus dem Grabe. Ist das die Antwort auf seine Frage Was muss ich tun (Mc 10,17)? Ist die Aufforderung Jesu an die Menschen Löst 97
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ihn los und lasst ihn gehen (J 11,44) in der Gewissheit gesprochen, dass Lazarus weiß, wohin sein Weg nun geht: untrennbar an Jesu Seite? Es erfüllt sich, was Jesus gesagt hatte: Dann komm und begleite mich (Mc 10,21). Diesen zu einem Leben in Christus erstandenen Menschen duldet der Tempel in seinen Reihen nicht, und so beschließt er den Tod des Lazarus. Lazarus, „den der Herr liebte“, ist wohl als einer der ersten den modernen christlichen Weg der Geistbegegnung gegangen: Eigene Fragen haben und stellen – die Konsequenzen der Antwort in Treue zu sich selbst tragen – allem bisher Gewohnten und Gesicherten entsagen – die Kontinuität der eigenen Person auch in der Erfahrung des Todes bewahren – berufbar sein – den Mut pflegen, eigene Wege zu gehen – wissen, welchem Geist wir leben wollen.
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Immer von neuem ist es eine Frage: Wie geschieht Begegnung mit Christus heute? Zu seinen Lebzeiten erhob sich diese Frage für die Menschen im heiligen Land nicht. Oder sie stellte sich anders: Will ich ihm begegnen, von dem so viele sprechen? In mannigfaltigen und bewegenden Berichten von Menschen, deren Schicksal sie in die unmittelbare Nähe des Todes führte, hören wir von Erfahrungen geis7 tiger Begegnung. Auch in manchen Berichten von Holocaustüberlebenden werden solche Erlebnisse mitgeteilt. Das sind gewährte Augenblicke im Schicksal. Doch gibt es überprüfbare Methoden, die zu solchen Erfahrungen führen? Das Evangelium dessen, „den der Herr liebte“, das wir als das Johannes-Evangelium kennen, scheint aus der 8 Tiefe einer solchen Erfahrung geschrieben. Vielleicht ist in den Menschenbegegnungen, die Johannes genauer beschreibt, ablesbar und erkundbar, welche Wege zur Begegnung mit dem Christus zu gehen sind. Sollte darin eine zielführende Methode zu finden sein? Unmittelbar nach der Taufe im Jordan berichtet Johannes von der ersten Menschenbegegnung Jesu Christi
7 Elisabeth Kübler-Ross: Über den Tod und das Leben danach. Melsbach 9 1988, S. 46 ff. 8 Siehe Kapitel Wer ist der Schreiber des Johannes-Evangeliums, S. 85 ff.
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nach diesem sein Leben von Grund aus verändernden Ereignis. Am folgenden Tage sah er [Johannes] Jesus auf sich zukommen und sprach: Merket auf, er ist das Lamm Gottes, das die Schuld dieser Welt auf sich nimmt … Ich sah den Gottesgeist in der Gestalt einer Taube herabkommen aus den Geisteswelten und er blieb bei ihm … Ich habe es gesehen und ich trete dafür ein: Dieser ist der Sohn Gottes (J 1,29–34). Johannes sieht die Gestalt einer Taube und erkennt die Anwesenheit des Gottesgeistes. Die Art seines Wahr-nehmens führt ihn zur Gewissheit der Nähe des Geistes. Sein Sehen lässt ihn „sehend“ werden. Das ist die Welt der alten Mysterien des Wissens. Am folgenden Tage stand Johannes wieder mit zweien seiner Jünger zusammen, und als er aufblickte, sah er Jesus vorüberwandeln. Da sprach er: Sehet hin, er ist das Lamm Gottes. Als die beiden Jünger diese seine Worte vernahmen, folgten sie Jesus nach (J 1,35–37). Die beiden Jünger hören den Hinweis ihres Lehrers und verstehen und tun, sie folgen nach. Ein Erkennen, das zum Handeln führt. Das ist die Welt der neuen Mysterien des Willens. Da wandte sich Jesus ihnen zu, schaute sie an und sprach zu denen, die ihm folgten: Was suchet ihr? Sie sprachen zu ihm: Meister, wo finden wir dich? Er sprach: Kommt, und ihr werdet sehen. Sie gingen mit und erkannten, wo er verweilte (J 1,38 f.). Es sind die ersten Worte, die wir den Gottessohn auf Erden sprechen hören, und beide Sätze des Christus Jesus sind des Bedenkens wert: Was – nicht wen – sucht ihr? Wie wohl wäre uns, wenn wir immer im Leben
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wüssten, was wir wirklich suchen; und wie nahe liegt der Irrtum, eine eingegangene menschliche Verbindung sei dann die Antwort. Der zweite Satz ist eine echte Prophezeiung: Kommt, löst euch von eurem eingenommenen Standpunkt und geht Wege, dann werdet ihr neu sehen. Andreas, einer dieser beiden ersten Jünger, begegnete als Erstem seinem eigenen Bruder Simon, und er sprach zu ihm: Wir haben den Messias, das heißt übersetzt den Christus, gefunden; und er führte ihn zu Jesus. Jesus schaute ihn an und sprach: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen, das ist der Fels (J 1,41 f.). Sollte auch das eine Methode sein, dann heißt sie: Wer sicher in sich gegründet ist und in festem Vertrauen lebt, findet den Weg zu IHM. Aber auch anderes wird beschrieben: Beim Anbruch des nächsten Tages wollte Jesus nach Galiläa wandern und traf Philippus; und Jesus sprach zu ihm: Folge mir (J 1,43). Nicht Philippus sucht und findet den Christus, sondern dieser findet ihn. Geht der Blick des Christus über die Welt hin, um die zu finden, die berufbar sind? Ähnliches wird über die Heilung am Teich Bethesda berichtet: Es war am Schaftor in Jerusalem, einem Quellteich, auf Hebräisch Bethesda genannt; dort gab es fünf Hallen, in denen viele Menschen kraftlos daniederlagen, auch Blinde, Lahme und völlig Ausgezehrte. […] Dort war ein Mensch, der schon seit achtunddreißig Jahren in seiner Schwäche daniederlag. Diesen sah Jesus liegen, und er wusste wohl, dass viel Zeit für ihn vergangen war. Da sprach Jesus zu ihm: Willst du dei-
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ne Kräfte neu erlangen? (J 5,2í6). Auch hier sieht der Christus inmitten der Fülle von Kranken den Einen. Eine merkwürdige Begegnung wird auch unmittelbar nach der Berufung des Philippus berichtet: Philippus sucht Nathanael, der unter dem Feigenbaum sitzt, auf und berichtet ihm, er habe den Messias gefunden, Jesus aus Nazareth. Doch Nathanael zweifelt: Aus Nazareth? Wie kann von dort her das Heil kommen? (J 1,46) Und dann: Jesus nahm im Geiste wahr, welchen Weg Nathanael zu ihm ging, und sprach: Sehet, er ist in Wahrheit ein Israelit, sein Geist ist lauter. Da sagte Nathanael zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Noch ehe Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum saßest, nahm ich dich wahr. Nathanael antwortete ihm: Meister, du bist in Wahrheit der Sohn Gottes, du bist der König Israels (J 1,47–49). Der Ort der Begegnung – Nathanael sitzt unter dem Feigenbaum – und das Wort „ein wahrer Israelit“, das Jesus über ihn sagt, zeichnen ihn insofern aus, als der Feigenbaum Israels heiliger Baum ist und als der Paradiesesbaum der Erkenntnis angesehen wurde. Die Bezeichnung „wahrer Israelit“ erinnert an einen Ausdruck aus den Einweihungsriten der Mithrasmysterien. Unter den sieben Weihegraden gab es einen, der von dem Einzuweihenden erforderte, dass er sein eigenes Bewusstsein so erweitere, dass er zum Träger seines Volksgeistes werden konnte. Dieser fünfte Weihegrad hieß der „Perser“, wobei „Perser“ ein Synonym für jeden Volksgeist sein konnte. In diesem Sinne ist wohl das Wort „wahrer Israelit“ zu verstehen.
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In der nächsten Begegnung führt Christus mit Nikodemus, der zu ihm kommt „inmitten der Nacht“, ein Erkenntnisgespräch über die göttliche Herkunft des Menschen und die zu erwerbende Kraft, im Leben den Tod zu überwinden, um geboren zu werden. Nikodemus ist ein ᙴȡȤȦȞ (archǀn), er gehört zur führenden Priesterhierarchie, und wenn er das Gespräch eröffnet mit den Worten: Meister, wir wissen, dass du als ein von Gott gesandter Lehrer zu uns gekommen bist (J 3,2), wird deutlich, dass der Tempel und seine Priesterschaft durchaus ein Bewusstsein von der Bedeutung des Christus Jesus hatten. Ohne Umschweife konzentriert sich daher das Gespräch auf sein Hauptthema „Aus dem Geiste geboren werden“: Amen, die Wahrheit sage ich dir: Wenn der Mensch nicht geboren wird aus der Lebenskraft des Wassers und aus dem Hauch des Geistes, kann er nicht eintreten in das Reich Gottes. Was aus der Erde geboren ist, bleibt der irdischen Natur verhaftet, was aber aus dem Geiste geboren ist, das ist selber Geist (J 3,5 f.). Beide Gespräche, das mit Nathanael und das mit Nikodemus, sind Gespräche unter Wissenden. Dem Fragenden kann geantwortet werden. Diese alte Mysterienregel hören wir auch aus dem Munde Jesu: Wer hat, dem kann gegeben werden, wer sich aber nichts erwarb, dem wird auch das noch genommen, was er zu haben meinte (Mc 4,25). Beide, Nathanael und Nikodemus, wandern nicht mit den Jüngern, sondern bleiben in ihren Aufgaben in Galiläa und Jerusalem. Erst bei der Grablegung Jesu begegnen wir Nikodemus wieder (J 19,39 f.), und erst bei der letzten Erscheinung des Auferstandenen am See Genezareth Nathanael (J 21,2).
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Innere Schulungswege gehen führt zur Begegnung mit Gott. In Samarien, an der Quelle Jakobs, in der Fremde, kommt es zu einer nächsten wichtigen Begegnung: Christus begegnet einer Frau, die kommt, um Wasser zu schöpfen. Beide dürstet: den Christus nach dem Wasser der Erde, die Frau nach dem Wasser des ewigen Lebens. Stillt sich sein Durst im Gespräch, im verantworteten Wort von Mensch zu Mensch? Stillt sich der Durst der Frau im Anschauen und Bejahenkönnen des eigenen Schicksals und im Bekenntnis zu IHM, dem Herrn des Schicksals? Auch ein Wüstenbrunnen ist ein besonderer Ort. Wer in der Wüste des Lebens den Mut hat zu graben, den Grund zu erforschen, ja, „zugrunde zu gehen“, der findet eine Quelle. Sich an den Christus wenden in dem vollen Vertrauen, dass er die Wende des Schicksals bewirken könne, ist auch das Charakteristikum der Begegnung des königlichen Beamten in Kana mit Christus. In der Sorge um seinen todkranken Sohn wendet er sich an den, den er țᛐȡȚȠȢ (kyrios), den Herrn, nennt und um Hilfe bittet. Zuerst scheint es so, als halte Jesus ihn hin: Wenn ihr nicht sichtbare Zeichen und Wundertaten des Geistes seht, so glaubt ihr nicht (J 4,48), doch die erneute, dringliche Bitte des Vaters bewirkt, dass die Heilung des Knaben geschehen kann. Nicht nur die Bitte um Hilfe im eigenen Schicksalserleben, wie es bei der Samaritanerin deutlich wurde, auch die tiefe Sorge um fremdes Schicksalerleiden kann uns 104
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Wege zur Begegnung mit dem Christus suchen und gehen lassen. Über die Begegnung mit Lazarus und seinen Schwestern Maria und Martha (J 11) wird an anderer Stelle in diesem Buch berichtet.9 Die letzte, vielleicht am ausführlichsten beschriebene Begegnung im Leben des Christus Jesus ist die mit Pilatus, dem Statthalter Roms in Israel. Es ist eine von beiden Seiten nicht gesuchte Begegnung, die sich im starken Bemühen um gegenseitiges Verstehen vollzieht. Es wird deutlich, dass Pilatus bemüht ist, den Angeklagten, in dem er den rechtmäßigen König der Juden sieht, vor dem Tod zu erretten. Pilatus gegenüber spricht der Christus Jesus in einer Weise offen über sich selbst, wie er das keinem Menschen gegenüber bisher tat. Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre ich ein König auf Erden, dann würden meine Söldner dafür kämpfen, dass ich nicht in die Hände der Juden fiele. Aber mein Reich ist nicht von dieser Welt. Da antwortete ihm Pilatus: So bist du also ein König? Jesus sagte: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in diese Welt gekommen, dass ich ein Zeuge der Wahrheit sei. Jeder, der aus der Wahrheit stammt, hört meine Rede. Da sprach Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? (J 18,36–38). Mit dieser Frage endet das Gespräch. Die Frage nach der Wahrheit, mit der Europa durch den Römer Pontius Pilatus in das Christentum eintritt, hat bis heute an Aktualität nicht verloren. Haben die bis9 Siehe S. 92 ff.
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her erwähnten Begegnungen sich in der Lebenszeit Jesu Christi zwischen Jordantaufe und Kreuzestod ereignet, so sind damit doch nicht alle Begegnungsmöglichkeiten erfüllt, denn das Leben des Christus wird im JohannesEvangelium auch über den Tod hinaus beschrieben, in naher Verbundenheit des Auferstandenen mit den Seinen bis zu seiner Himmelfahrt. Und seither? Ist seine Aufnahme in den Himmel zugleich eine Aufnahme in unser Herz im Sinne seiner Worte Siehe, das Königreich Gottes wird Wirklichkeit in eurem Innern (L 17,21)? Von seiner künftigen neuen Anwesenheit, seiner ʌĮȡȠȣıᚶĮ (parousia) in uns, spricht Paulus in bewegenden Worten: Er, der Gott des Friedens, heilige euer ganzes Wesen in vollkommener Einheit des Geistes, der Seele und des Leibes, damit sie in lichter Reinheit erhalten seien am Tage der Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus (1 Th 5,23). Sind die Begegnungen mit dem Auferstandenen, von denen das Johannes-Evangelium spricht, Vorstufen seines künftigen Erlebens in unserem Innern? Die vierzig Tage zwischen seiner Auferstehung und seiner Himmelfahrt sind ein ausgesparter Zeitraum des Lebens mit dem Auferstandenen. Vor Ostern handelt es sich um den hier auf der Erde in einem real menschlich stofflichen Leibe lebenden Gottessohn. Nach seiner Himmelfahrt blicken wir auf zu einem im Reiche Gottes und im menschlichen Innern anwesenden Sohnesgott. Für vierzig Tage erscheint der Christus Jesus, der Menschensohn, in einem feinstofflichen Leibe, wohl so, wie seine Erscheinung schon auf dem Berge der Verklärung beschrieben ist: Vor ihren Augen ward er ver-
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wandelt, sein Antlitz strahlte wie die Sonne, seine Gewänder leuchteten wie das Licht (Mt 17,2). Der Auferstehungsleib des Menschensohnes ist ein transsubstantiierter, in seiner materiellen Stofflichkeit zu Leben tragender Substanz umgewandelter Erdenleib. So beschreibt es auch Paulus: Als Same in die Erde gelegt wird ein stofflicher Leib; erweckt werden aber wird der unsterbliche Geistleib (1 K,15,44). Erste Erfahrungen auf diesem Wege werden denen zuteil, die dem Auferstandenen begegnen. Als Erste ist es Maria Magdalena in ihrem tiefen Schmerz des Verlassenseins von ihrem Herrn. Mit Tränen in den Augen wendet sie sich vom Grabe ab, in dem sie ihn nicht finden konnte, und sah Jesus ruhig dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war. Er sprach zu ihr: Weib, was beklagst du? Wen suchest du? Sie meinte, er sei der Gärtner und sprach zu ihm: Herr, wenn du ihn fortgetragen hast, so sage mir, wohin du ihn legtest, und ich will ihn auf Händen tragen (J 20,14 f.). Maria Magdalena vollbringt eine innere Umwendung: Vom Grab, das nur Vergangenes birgt, wendet sie sich ab und wendet sich dem zu, der da ist, der sie anspricht und fragt, wen sie suche, was sie beklage. Ganz ihr und ihrem Schmerze zugewandt, nennt Christus sie bei Namen, da sie ihn nicht erkennt in der Gestalt, die er angenommen hat. In diesem Beim-Namengerufen-Sein öffnen sich ihre Augen und sie erkennt ihren Meister. Doch sie darf ihn nicht berühren, denn noch ist er nicht zu seinem Vater auferstanden (J 20,17). Hat der Schmerz sie sehend gemacht? Hat das Wort, das er sprach, hat er, der das Wort ist, sie im Tiefsten berührt? Mit welchen Augen hat sie den Auferstande107
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nen gesehen? Mit den Augen der Seele, den Augen des Leibes? Wohl beides. Als es nun spät geworden war an diesem ersten Tage nach dem Sabbat und die Türen zu den Jüngern verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat in ihre Mitte und sprach zu ihnen: Der Friede sei mit euch. Und indem er so sprach, zeigte er ihnen die Hände und die Seite. Freude durchpulste die Jünger, dass sie den Herrn sahen (J 20,19 f.). In einer Gestalt, die keiner von ihnen kannte í denn keiner der zwölf Jünger hatte bisher die Wundmale an seinem Leibe gesehen í, erschien ihnen der Herr neu. In einem Leibe, der nun durch geschlossene Türen zu gehen vermochte, der also grobstofflicher Art nicht sein konnte, trat er in ihre Mitte und sprach ihnen von ihrer Sendung, die Sünden zu heilen. Erkannten die Jünger ihn an seiner Stimme, an der befriedenden Kraft seiner Worte? Freude durchpulst sie, sagt der Evangelist, denn ihre furchtsame Verlassenheit hatte sich in das Glücksgefühl neuer Verbundenheit gewandelt. Ist es die gemeinsame Verbundenheit mit dem Herrn im inneren Raum (J 20,26), welche die Anwesenheit des lebendigen Gottes ermöglicht? Ist das Geheimnis christlicher Gemeinschaftsbildung, das Geheimnis SEINER Kirche hier angesprochen? In der Oktave des Ostersonntags, nach acht Tagen, kommt es zur Begegnung des Auferstandenen auch mit Thomas, der Bedingungen für seinen Glauben gestellt hatte: Wenn ich nicht in seinen Händen das Prägemal der Nägel sehe und lege meinen Finger auf die Nagelstelle und meine Hand in seine Seite, so will ich es 108
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nicht als Wahrheit in mich aufnehmen (J 20,25). Und der Auferstandene gewährt es, heiligt gleichsam die Erkenntnisbemühung des Jüngers durch seine Worte: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände. Und reiche deine Hand und lege sie in meine Seite und werde nicht ungläubig, sondern vertraue dem, was du spürtest (J 20,27). Auch ehrfürchtiges Erkenntnisbemühen, das sich zu Bekenntnis und Glauben steigert, kann ein Weg zur Begegnung mit dem Christus werden: Du bist es, mein Herr und mein Gott (J 20,28). Und eine letzte Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen wird uns berichtet, die dann nach dem gemeinsamen Mahl am frühen Morgen in dem Gespräch mit Petrus in Anwesenheit des Jüngers, „den der Herr liebte“, gipfelt. Die ganze Nacht hindurch hatten die Jünger sich erfolglos um Fischfang bemüht. Durch seine Ermutigung werfen sie das Netz erneut aus, und es wird übervoll. Daran erkennt ihn der Jünger, „den er liebt“. Sie teilen mit dem Auferstandenen Brot und Fisch, dann hören sie den Christus Petrus dreimal nach dessen Liebe zu ihm fragen. Um zwei zu erbildende (religiöse) Fähigkeiten geht es in diesen letzten Sätzen des Auferstandenen an seine Jünger. Dreimal sagt er zu Petrus: Weide die dir anvertraute Herde, dann liebst du mich. Der andere Jünger soll „bleiben“, in sich Wohnraum schaffen und bewahren, damit der Herr einen Ort für seine Wiederkunft habe. Liebe zur Pflicht und Liebe zur Treue, auch heutige Wege zu Christus.
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ERFAHRUNGEN IM JOHANNES - EVANGELIUM
Doch zur Begegnung mit dem Christus f端hren sehr unterschiedliche Wege. Es gibt nicht nur einen Weg zu Gott. Das Johannes-Evangelium beschreibt einige davon.
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GOTTES FRAGEN AN UNS MENSCHEN
Situationen oder Handlungsweisen, die wir so, wie wir sie vorfinden, nicht als stimmig oder der Veränderung bedürftig ansehen, befragen wir, empfinden wir als des Fragens würdig. Es kann auffallen, dass in den beiden Schöpfungsberichten im Alten Testament (1 Mo,1–3) und im Neuen Testament (J 1,1–18) Fragen nicht gestellt werden, es finden sich nur intentionale Aussagesätze. Unter den Tieren war eines am wachsten mit seinen Sinnen, am klügsten, ijȡȠȞȚȝᛝIJĮIJȠȢ (phronimǀtatos), so nennt es der griechische Text, am weitesten denkend und am wenigsten zufrieden mit dem Ist-Zustand der Schöpfung und des erschaffenen Menschen. Die Schlange stellt den einen, geistig beweglichen Teil des Menschen in Frage: Ist es so, dass Gott gesagt hat, ihr sollt nicht von allen Bäumen des Paradieses essen? (1 Mo 3,1). Diese Form des Denkens kennt Eva noch nicht, und so wiederholt sie ohne jeden Zweifel aus tiefstem Vertrauen wörtlich, was sie von Gott gehört hat. Dem Zugriff der Schlange aber erweist sie sich damit nicht gewachsen, die ihr in Aussicht stellt: Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was schön und was verwerflich ist (1 Mo 3,5). Fragen zu stellen und dadurch Bestehendes, bereits Erkanntes in Bewegung und künftige Weiterentwicklung zu bringen ist die Aufgabe und zugleich auch die Kunst der Wissenschaft. Anders der Glaube, der für sich formuliert und ausspricht, was ihm zur Gewissheit geworden ist. 111
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Wenig später, als das Menschenpaar sich den Augen des Schöpfers aus Scham zu entziehen trachtet, greift der Herr dieses Erkenntnismittel auf und heilt den Schlangenzugriff dadurch, dass er selbst den Menschen mit einer Frage zu neuem Selbstbewusstsein hilft. Das erste Gespräch zwischen Gott und Mensch beginnt mit einer Frage: Adam, wo bist du? (1 Mo,3,9). Und diese Gottesfrage erweckt im Menschen die Erkenntnis seines Handelns. Die Frage der Schlange stellt mit unerlaubten Mitteln in Frage; die Frage Gottes führt zu Selbsterkenntnis und Bewusstsein. Solche Gottesfragen haben im Johannes-Evangelium einen besonderen Stellenwert: Sie charakterisieren das Verhältnis Christi zu den Menschen.10 Die erste und die letzte Frage sind gleichsam der goldene Rahmen dieses Beziehungsgeflechtes. Sogleich im ersten Kapitel, unmittelbar nach dem Bericht von der Taufe im Jordan, heißt es, dass sich der Christus Jesus mit einer Frage an zwei Jünger Johannes des Täufers, die ihm folgen, wendet: Was suchet ihr? (J 1,38). Es sind dies seine ersten Worte, die uns der Text überliefert. Die Frage nach dem „Was“ ihres Suchens gibt den beiden Jüngern die Gelegenheit, sich einer der entscheidenden Schicksalsfragen bewusst zu werden: Was suche ich eigentlich im Leben? Das ist eine echte Gottesfrage, und sie hat bis heute für keinen Menschen an Aktualität verloren: Was suche ich konkret? Freunde, Gesundheit, eine lohnende Aufgabe, den Sinn des Daseins, Glück, Geld, Zufrieden10 Auf alle Fragen Jesu Christi, die der Text überliefert, einzugehen, würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen.
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heit, was? Es ist des Fragens würdig und des Bedenkens wert. Am Ende seines Lebens wird der Christus Jesus die Frage anders stellen. Die, die ihn gefangen nehmen wollen, wird er fragen: Wen suchet ihr? (J 18,4). Und auch Maria Magdalena wird als Erste den Auferstandenen sprechen hören, wenn er sie fragt: Weib, was beklagst du? Wen suchest du? (J 20,15). Stellt die Frage nach dem „Was“ der Suche den Gefragten in die Freiheit des Bedenkens, so stellt die Frage Wen suchest du? den Gefragten in den Ernst der Selbstbesinnung. Beim Hochzeitsfest in Kana hören wir den Christus wieder einen Menschen, der ihm sehr nahe steht, fragen. Während des Festmahls geht der Weinvorrat zur Neige, und die Mutter Maria, die mit Jesus und seinen Jüngern unter den Gästen weilt, wendet sich an ihren Sohn mit den Worten: Sie haben keinen Wein mehr (J 2,3). Die im Griechischen ungeheuer kurze Antwort Jesu IJȓ ᚌȝȠᚷ țĮᚷ ıȠᚶ, ȖᛐȞĮȚ; (ti emoi kai soi, gynai?) (J 2,4) ist eine Frage, und ihre Übertragung ins Deutsche Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? (Luther11) oder Was willst du von mir, Frau? (Einheitsübersetzung12) oder Achte auf die Kraft, o Weib, die da webet zwischen mir und dir (E. Bock13), zeigt einmal mehr, wie schwierig die Übertragung der einen Sprache in eine andere ist, wenn nicht nur in philologischer Treue übersetzt wird, sondern auch mit dem Versuch, die Intention eines Textes wiederzugeben. Das im Grie11 Martin Luther: Das Neue Testament unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. Leipzig und Dresden 1868. 12 Das Neue Testament. Einheitsübersetzung,1979, S. 251. 13 Emil Bock: Das Neue Testament, 11998, S. 219.
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chischen völlig fehlende Verb ergänzt Luther mit „schaffen“, Bock mit „weben“, die Einheitsübersetzung mit „wollen“. Die Formulierungen bei Luther und in der Einheitsübersetzung klingen zurückweisend, fast grob; der Satz in der Fassung von Bock ist sehr weitgreifend interpretiert. Sollte der Schlüssel in dem kleinen Wort țĮᚷ (und) zu finden sein? Geht es dem Christus Jesus darum, deutlich zu machen, dass er nur mit der Mutter zusammen helfen kann, da seine Stunde noch nicht gekommen ist? (J 2,4). Betont man in Luthers Übersetzung das „mit“, dann enthüllt der Satz sein Geheimnis. Gott handelt nicht stellvertretend für den Menschen; nur mit dem Menschen will und kann der Christus Jesus wirken. Wie wichtig dem Christus die Eigenaktivität des Menschen ist, wird in den beiden Heilungen (J 5 und J 9) deutlich. Achtunddreißig Jahre, fast das Maß eines Erdenlebens in der damaligen Zeit, lag der Kranke in seiner Schwäche danieder (J 5,5), als der Christus Jesus ihn liegen sah und ihm mit seiner Frage Willst du deine Kräfte neu erlangen? (J 5,6) die Lebenskraft neu erweckte und stärkte. Nicht nur dem, was wir im Leben suchen, gibt der Herr des Schicksals mit seiner Frage eine neue entscheidende Richtung, auch den abhanden gekommenen Lebensmut vermag diese Gottesfrage neu zu erwecken. Das wird in anderer Weise auch deutlich bei der Heilung des Blindgeborenen, dem er das Augenlicht und mit ihm eine neue Seelensicherheit schenkt. Er ist der Einzige, der – außer dem Christus Jesus selbst – den großen Gottesnamen Ich-Bin-der-Ich-Bin, ᚌȖᛝ İᚫȝȚ (egǀ eimi), für sich ausspricht (J 9,9). Dieser in ihm erweck114
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ten Ichkraft gilt die Frage des Christus: Glaubst du an den Menschensohn? Er antwortete und sprach: Wer ist es, Herr, ich will an ihn glauben (J 9,35 f.). „Glaubst du in den Menschensohn“ sagt der griechische Text, so, als sei der Glaube eine Kraft, die im Innern Verborgenes zu erkennen vermag. Einen wichtigen Augenblick im Zusammenleben der Jünger mit ihrem Herrn charakterisiert die Frage, die der Christus Jesus vor der Speisung der fünftausend Menschen an Philippus richtet: Wo sollen wir Brot kaufen, damit sie essen können? Das sagte er, um ihn zu erproben (J 6,5 f.). Aus eigener Kraft sollen die Jünger zu handeln lernen. Brot ist Arbeit des Menschen an der Erde, nicht nur Vertrauen auf die Hilfe des Himmels, durch die das Volk dereinst mit Manna gespeist worden war. Das Bejahen unseres Erdenschicksals und die Liebe zur Erde lassen uns im Leben den finden, der von sich sagte: Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben das Manna in der Wüste gegessen und sind gestorben. Dies ist das Brot, das aus dem Himmel kommt, auf dass jeder von ihm esse und nicht sterbe. Ich bin das Brot des Lebens, das hernieder stieg aus dem Himmel. Wer von diesem Brote isst, wird leben in aller Zeit (J 6,48–50). Das bewirkt eine Trennung unter denen, die ihm folgen, viele wenden sich von ihm ab, denn in ihnen lebt die Sehnsucht, Gott solle lieber für sie handeln und ihnen das Brot vom Himmel (J 6,31) gewähren, als dass sie selbst den Weg des Glaubens gehen müssen, den der Christus ihnen weist: Dies ist das Wirken aus dem Geiste, dass ihr euch im Glauben dem zuwendet, den Gott gesandt hat (J 6,29). 115
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Selbst die Zwölf müssen sich in der entstandenen Verunsicherung seiner Frage stellen: Und ihr, wollt auch ihr weggehen? (J 6,67). Doch in ihnen ist die Kraft des Glaubens an ihn schon zur Erkenntnis seiner Göttlichkeit geworden, sodass Petrus für alle antworten kann: Herr, zu wem sollen wir denn gehen? Die Kraft deiner Worte weckt ewiges Leben. Und wir haben geglaubt und erkannt, dass du bist der Heilige Gottes (J 6,68 f.). Diesen neuen Glauben, der nicht ein einfaches Fürwahr-Halten ist, sondern durch die wache Sinneswahrnehmung erworben und im Erkennen geprüft ist, konnten sich die Menschen, die dem Christus Jesus begegneten, zu eigen machen, da sie in ihm der Identität von Geist und Stoff, von Gotteswesen und Menschenwesen, in der Wirklichkeit begegneten. Doch dieser Glaube will erworben und gepflegt sein, er ist nicht einfach ein Geschenk. Mehrfach befragt es der Christus, wie es um diese Kraft bei den Seinen bestellt sei. So fragt er Martha, die Schwester des Lazarus: Wer Vertrauen findet zu mir, der wird das Leben im Tode finden, und jeder Lebendige, der an mich glaubt, wird den Tod nicht erleiden durch alle Zeiten. Glaubst du das? (J 11,25 f.). Auch in ihr ist die Glaubenskraft schon zum Wissen gesteigert, und sie antwortet: Ja, Herr, ich glaube, und ich habe erkannt, dass du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist (J 11,27). Wie schwer es ist, der Glaubenskraft in sich Dauer zu verleihen, zeigt das Gespräch Jesu Christi mit seinem Jünger Philippus am Gründonnerstagabend, in dem dieser bittet: Herr, lasse uns sichtbar werden den Vater, 116
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das wird unserer Seele genügen. Und Jesus sprach zu ihm: So lange Zeit bin ich nun bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater. Wie kannst du sagen: Lasse uns sichtbar werden den Vater? Gründet sich dein Vertrauen nicht in der Tatsache: Ich im Vater – der Vater in mir? (J 14,8–10). Und später am Abend spricht er zu allen Jüngern: Ihr meint, dass ihr nun den Glauben habt? Bedenket es wohl: Zuerst kommt noch die Stunde, und sie ist jetzt schon gekommen, dass ihr getrennt werden müsst voneinander und zerstreut werdet, ein jeder in sein Eigensein (J 16,31 f.). Der durch Erkenntnis erworbene Glaube ist eine Tat des geistergebenen Ich des Menschen, die nicht übertragbar ist. Wir können an einen anderen Menschen, nie für einen anderen Menschen glauben. In der letzten Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngern am See Genezareth kommt es zu den letzten Fragen, die der Herr einem Menschen stellt, und er stellt sie dreimal: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? (J 21,16). Und Petrus bejaht sie dreimal. Von der ersten Frage des Christus Jesus nach dem, was wir im Leben suchen, bis zu seiner letzten nach unserer Liebe zu ihm spannt sich der weite Bogen seiner Fragen: Suchen – erkennen – glauben – lieben. Vier zu erwerbende Fähigkeiten unserer Gott suchenden Seele.
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VOM GEHEIMNIS DER MITTE
Es ist nicht schwer zu sehen, wie umkämpft überall die Mitte ist. Sei es die Mitte zwischen Mensch und Mensch, die so fragile menschliche Beziehung. Sei es die eigene Mitte, die zu finden und vor Angriffen zu bewahren gar nicht einfach ist. Seien es die oft leidvoll erlebten Umbrüche, die in der biografischen Lebensmitte eintreten können, über die immer wieder viel gesprochen wird. Und wie ist es mit der immer neu befragten Stellung Europas in der Mitte der Welt? Auch wissen wir alle, wie schwer es uns fällt, ein vermittelndes ausgleichendes Urteil abgeben zu können. Im Christentum ist die Mitte in besonderer Weise betont, steht doch in der Mitte unseres Glaubens das Kreuz, das Lebens-Todes-Zeichen Jesu Christi. In der „Mitte“ unserer Kirchen stehen die Altäre, zumindest die Hauptaltäre, die Orte also, an denen weitergeführt wird, was auf Golgatha zu Ostern geschah. Und in der Mitte des Altares stehen Kelch und Patene, Brot und Wein vor dem zelebrierenden Priester. Im Johannes-Evangelium ist die Mitte ein zentrales Motiv, welches das Wirken des Christus und der Christen charakterisiert. Johannes der Täufer ist es, der dieses Motiv zuerst aufklingen lässt: Der nach mir kommt, wirkt schon in eurer Mitte und ihr erkennt ihn nicht (J 1,26), denn diese Mitte ist besetzt. Das Gesetz des Moses und das 118
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durch ihn geführte Schicksal des Volkes nahmen den inneren Erlebnisraum der Menschen ein; denn Gott lenkte von ferne das Schicksal seines Volkes. Wer ihn in der Nähe zu sehen wünschte, hätte sich damit den Tod gewünscht, denn Gott hatte gesprochen: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht (2 Mo 33,20). Und nun spricht Johannes der Täufer davon, dass Er wirkt schon in eurer Mitte (J 1,26), dass der ferne Gott nah geworden ist. Es gibt eine Initiative von Gott zu uns Menschen hin, nicht nur umgekehrt von uns zu ihm. Mit unseren Sinnen vermögen wir seine Nähe wahrzunehmen und dann auch zu erkennen; denn nichts kann Inhalt unseres Erkennens werden, das nicht zuvor Tätigkeit und Inhalt unserer Wahrnehmung gewesen ist. Unser Bewusstsein ist der Spiegel, auf dem unser Wahrnehmen und unser Denken sich begegnen, und je sauberer dieser Spiegel ist, desto klarer sind die Inhalte unserer Gedanken. Um die Reinerhaltung des Spiegels unseres Bewusstseins geht das tägliche Bemühen. Beim Laubhüttenfest in der Herbstes-Michaeli-Zeit des Jahres berichtet das Johannes-Evangelium ein zweites Mal von einem Ereignis der Mitte. Unter den religiösen Festen des Jahres ist das Laubhüttenfest ein freudiges Fest. Durch sieben Tage feiern die Menschen mit Dankopfern und Lobpreisgesängen den nahen Beginn der kühlen, Regen bringenden Winterzeit. Die Juden aber suchten ihn in den Festtagen und sprachen: Wo mag er sein? (J 7,11) Wird er kommen, um unser Leben zu teilen? Mag er Anteil haben an unserer Freude, unserer Hoffnung, unserem Gotteslob? Und dann ist er anwesend, als das Fest seine Mitte erreicht, und lehrt die 119
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Menschen, sodass sie sich staunend fragen: Woher kennt er die Schriften, hat er es doch nicht gelernt? (J 7,15) Ihren Höhepunkt erreicht seine Lehre am letzten Tag, der dem Fest durch seine feierlichen Prozessionen einen besonderen Glanz gibt. Nicht nur die Wolken des Himmels werden bald von Gott den erflehten Regen der dürstenden Erde wieder spenden, sondern er selbst, der Christus Jesus, wird zu einer Leben spendenden Quelle werden: Wer dürstet, der komme zu mir und trinke. Wer an mich glaubt, dem wird geschehen, wie die Schrift verkündet: Ströme lebendigen Wassers werden von seinem Leibe fließen. Dies sagte er über den Heiligen Geist, den alle empfangen sollten, die an ihn glauben (J 7,37–39). Das Vertrauen, das sich auf die konkrete Wahrnehmung der Taten und Worte Jesu Christi gründet, der wissende Glaube an die Realität des Geistes macht den Menschen zu einer Quelle des Lebens in der Welt. Nicht uns allein gehört unser Christsein, es gehört der Welt, in der wir und für die wir leben. Im 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums kommt das Motiv der Mitte in besonderer Weise zur Geltung. Da wird von einer Begegnung des Christus Jesus mit einer Frau im Tempel berichtet. Da führten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau vor ihn, die beim Ehebruch ergriffen worden war. Sie stellten sie in die Mitte (J 8,3) und erhoben tödliche Anklage wider sie. Der schuldhafte Mensch in der Mitte, nicht der Christus Jesus; es ist wie ein Wahrbild der Ursache seines Menschwerdens. Und die Gesetzeshüter bedrängen ihn: Meister … in unserem Gesetz hat Moses befohlen, solche zu steinigen. Wir wollen hören, was du sagst 120
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(J 8,4 f.). Und sie hören, dass er das Gesetz bestätigt, es jedoch erweitert, sodass jeder sich und sein eigenes Tun prüfen muss: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als Erster einen Stein auf sie (J 8,7), … und sie gingen hinaus, einer nach dem anderen; die Ältesten gingen zuerst, und Jesus blieb allein zurück mit der Frau in der Mitte (J 8,9). Der Gottessohn ist allein, in der Mitte steht der sündige Mensch, gehalten und ermutigt von Seiner Anwesenheit: Ich verurteile dich nicht. Geh deinen Weg; von nun an sündige nicht mehr (J 8,11). Sein Vertrauen ist Stärkung auf unseren Wegen. Sein Wort: eine „Zumutung“, wenn der eigene Mut versagt. Erst in den Stunden der Vollendung seines Erdenlebens am Kreuz auf Golgatha hören wir wieder von der Mitte: Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm noch zwei andere, den einen zur Rechten, den anderen zur Linken, Jesus aber in der Mitte (J 19,18). Aber nicht nur damals in Jerusalem auf der Schädelstätte ist der Christus Jesus die Mitte derer, die ihn begleiten, seither ist er die Mitte der Erdenentwicklung, und das Kreuz, dessen dunkler Schatten damals auf eine blühende Frühlingswelt fiel, ist zur Urgeste unseres Mensch- und Christseins geworden: Aufrecht zwischen Erde und Himmel, der Erde unlösbar zugehörig und zugleich der Welt über uns verbunden, stellen wir uns ins Dasein, und die weit geöffneten Arme wenden sich der gesamten Schöpfung zu und nehmen sie auf. „Eine Siegesfahne unseres Geschlechts“ nennt Novalis das Kreuz.14 Im Altarsakrament vollzieht sich das Mysterium der Transsubstantiation unter dem Signum der drei 14 Novalis: Werke, Briefe, Dokumente. Bd. I, Heidelberg 1953, S. 404.
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Kreuze über Brot und Wein. Auch schreiben wir Christen uns das heilige Zeichen des Kreuzes in unsere Mitte ein als Bekenntnis zu dem dreieinigen Gott und als sein Segenszeichen. Jesus Christus – die Mitte; das ist die Grundaussage des Christentums. Im Bericht der ersten Begegnung des Auferstandenen mit den Jüngern am Osterabend wird deutlich, wie wichtig dem Evangelisten dieses Motiv der Mitte ist. Als es nun spät geworden war an diesem ersten Tage nach dem Sabbat und die Türen zu den Jüngern verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat in ihre Mitte und sprach zu ihnen: Der Friede sei mit euch (J 20,19). Ohne Frage beschreibt Johannes damit auch den Raum des Hauses, in welchem die Jünger sich an jenem Abend versammelt haben. Es könnte der Raum des Abendmahls auf dem Zionberg in Jerusalem sein, in dem die Jünger sich aus Furcht eingeschlossen haben. Und doch tritt der Herr durch die verschlossenen Türen „in ihre Mitte“. Betritt er damit zugleich auch noch einen ganz anderen Raum „in ihrer Mitte“? Einen inneren Bewusstseinsraum, der fest verschlossen und erfüllt von Furcht ist und den er mit seinen Worten befriedet und mit Freude erfüllt? Ganz am Anfang des Evangeliums hieß es in den Worten Johannes des Täufers: Er wirkt schon in eurer Mitte und ihr erkennt ihn nicht (J 1,26). Nun tritt er „in ihre Mitte“ und die Jünger erkennen ihn. Was ist mit der Mitte des Menschen geschehen? Kann sie zu einem Herzorgan neuer Erkenntnisfähigkeit werden?
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