vorwort des herausgebers BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWÜRDIGKEITEN SEBASTIAN CASTELLIO GEGEN CALVIN CONTRA LIBELLUM CALVINI
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vorwort des herausgebers BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWĂœRDIGKEITEN Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler
Der Alcorde Verlag ist Mitglied im Freundeskreis der Kurt Wolff Stiftung
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Sebastian Castellio
GEGEN CALVIN Contra libellum Calvini
Eingef端hrt, aus dem Lateinischen 端bersetzt und kommentiert von Uwe Plath Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler
ALCORDE VERLAG 3
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INHALT
Vorwort des Herausgebers 7 Einführung des Übersetzers 9 Gegen das Büchlein Calvins Contra libellum Calvini 45 Anhang Vorwort des niederländischen Herausgebers Reinier Telle 283 Sebastian Castellio grüßt Eduard VI., den sehr berühmten König Englands 297 Annotationes zu 2. Korinther 10 und 1. Timotheus 1 313 Bericht über den Tod Servets Historia de morte Serveti 319 Die Anfänge von Calvins Wirksamkeit in Genf 331 Sebastian Castellio an Nikolaus Blesdijk 337 Anmerkungen 341 Bibliographie 408 Bildnachweis 419 Verzeichnis der Bibelstellen 421 Personenregister 425
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Sebastian Castellio Zeichnung von Jean Paul Laurens nach einem Stich aus der Bible sacrĂŠ von 1729 aus der Castellio-Biographie von Ferdinand Buisson
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VORWORT
« Gegen Calvin » – der deutsche Titel des Contra libellum Calvini suggeriert, als ginge es bei der Veröffentlichung dieser Kampfschrift in erster Linie um Calvin. Auch wenn sie das von der Intention des Verfassers her in weiten Teilen ist, geht es uns vielmehr darum, Castellio nach Jahrhunderten der Ächtung und des Totschweigens durch führende Kreise der Protestanten und Calvinisten endlich eine Stimme zu geben: seine eigene. Zu Lebzeiten konnte er das Buch nicht veröffentlichen, ohne für sich und seine Familie befürchten zu müssen, aus Basel verbannt zu werden, wenn nicht gar dasselbe Schicksal zu erleiden wie Michael Servet. Dieser wurde ein Jahr zuvor auf Veranlassung Calvins bei seinem Besuch in Genf aus einem Gottesdienst heraus verhaftet und wenige Monate später wegen Ketzerei bei lebendigem Leibe verbrannt. Der Vorwurf gegen ihn wog um nichts geringer als der, der vermutlich auch Castellio getroffen hätte: anderer Meinung zu sein in Fragen der Lehre als Calvin. Die vorliegende Schrift ist in ihrer schonungslosen Art, wie Castellio darin Calvin den Prozess macht, nach dem De haereticis sein wohl bedeutendster Beitrag zur Debatte um die Frage der Gewissens- und Glaubensfreiheit. Sie ist – und das macht die Dramatik dieser Kampfschrift aus – auch sein persönlichstes und emotionalstes Werk. In keiner anderen seiner Schriften begegnen wir ihm so leidenschaftlich, so voll zorniger Empö rung über Calvins allen christlichen Werten Hohn sprechende Unbarmherzigkeit, seine Rachsucht und Grausamkeit, seinen Mangel an Liebe und sein Machtstreben, seine Heuchelei und 7
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Unaufrichtigkeit. Er, der ansonsten Maßvolle und um einen versöhnlichen Ton Bemühte, lässt sich darin immer wieder hin reißen zu Ausrufen wie « O Calvin , Calvin » und « Wehe, wehe » und beschuldigt diesen nicht nur des Mordes an Servet, sondern noch weiterer unzähliger Morde (S. 140). Und schlimmer noch: Er bezichtigt ihn gleichsam des Verrats an den reformatorischen Grundwerten, indem er ihm vorwirft, sich derselben Methoden zu bedienen, die auch die bei den Reformatoren so verhasste römische und spanische Inquisition anwandte. Wohl niemand hatte sich damals und auch später so scharf und vernichtend mit dem Genfer Reformator auseinandergesetzt wie Castellio, wohl keiner war « seinem Gegner weder in der Schärfe des Ausdrucks noch in der entlarvenden Logik des Arguments » (Guggisberg) so ebenbürtig wie ihm. Darum fürchtete Calvin, der Mächtige, die Macht dieses Machtlosen, der einzig mit den Waffen des Wortes gegen ihn zu kämpfen vermochte. Und darum war er sich für keine Intrige und keine Verleumdung zu schade, um diesen Gegner mundtot zu machen. Dass wir heute dank der sorgfältig kommentierten Über setzung von Uwe Plath endlich die Stimme dieses streitbaren und von christlichem Humanismus durchdrungenen Zeitzeugen hören und dadurch unmittelbar Zeuge dieses Konflikts werden können – um diese späte Rechtfertigung des vor 500 Jahren geborenen Verfassers geht es bei der Veröffentlichung dieses Buches. Und es ist wahrlich kein gestriges Buch. Die Haltung, in der uns heute Castellio darin begegnet und die Calvin als den Tyran nen zeigt, welcher er als Begründer des Genfer Gottesstaats auch war und die ihn diesbezüglich als überholt erscheinen lässt, ist heute angesichts der immer noch ausgetragenen innerchristlichen Glaubenskonflikte und der weltweit terrorisierenden islamistischen Kreuzzugsmentalität aktueller denn je. Wolfgang F. Stammler Mai 2015 8
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EINFÜHRUNG
von Uwe Plath
Als Sebastian Castellio das Contra libellum Calvini (Gegen das Büchlein Calvins) im Jahre 1554 in Basel niederschrieb, war er etwa neununddreißig Jahre alt. Seit neun Jahren lebte er in dieser Stadt, die durch ihr mildes Klima und ihre geistige Luft, durch die Universität und die berühmten Druckereien seit jeher große Anziehungskraft auf Glaubensflüchtlinge aller Herren Länder ausgeübt und deren Ruf sich dadurch gleichsam zum Mythos verklärt hatte.1 Im Jahre 1545 aus Genf nach Basel gekommen, lebte Castellio zuerst als Korrektor des Buchdruckers Johannes Oporin in bitterer Armut und Not. Er war nicht in der Lage, seine vielköpfige Familie zu ernähren, und darauf angewiesen, durch zusätzliche Tätigkeiten für deren Unterhalt zu sorgen. Castellios Basler Biograph Jacob Maehly berichtet, er habe sich als Gärtner, Fischer und Holzsammler betätigen müssen.2 Auf diese Zeit beziehen sich die Vorwürfe, Castellio habe Treibholz vom Rhein gestohlen, die bis zu seinem Tod von Genf aus erhoben wurden.3 Wohl nicht ohne Grund sollte Michel de Montaigne die damaligen Lebensverhältnisse Castellios später als die « Schande unseres Jahrhunderts » bezeichnen.4 Seit dem Jahre 1553 verbesserte sich Castellios Lage. Er wurde Professor für Griechisch an der Artistenfakultät der Universität Basel und bezog ein festes Gehalt. Er stand in guten Beziehungen zu dem Rechtsgelehrten Bonifacius Amerbach, der ihm die Erziehung seines Sohnes Basilius anvertraute, zu Simon Sulzer, dem Antistes der Basler Kirche, der Pate eines 9
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der Kinder war und ihn mehrfach schützte,5 sowie zu den Buchdruckern Jakob Parcus und Johannes Oporin, bei denen er 1551 seine lateinische Bibelübersetzung herausgab. 1553 lag auch die französische Übersetzung vor, die zwei Jahre später bei Johann Herwagen erschien.6 Er war mit mehreren Mitgliedern des sogenannten « Basler Kreises » verbunden, der in seiner « Atmosphäre von Huma nismus und Heterodoxie » kenntnisreich von Delio Cantimori beschrieben wurde.7 Dazu gehörten Glaubensflüchtlinge aus Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien und den Nieder landen; zum Beispiel der aus dem Piemont stammende Rheto rikprofessor Celio Secondo Curione, das Haupt der Basler Italienergemeinde, und der Schwabe Martin Borrhaus, der, als ehemaliger Täufer aus Sachsen vertrieben, seit 1536 in Basel lebte und seit 1544 die Professur für das Alte Testament innehatte. Dazu gehörten der niederländische Täufer und Prophet David Joris, der als angesehener Kaufmann inmitten seiner Gemeinde in Binningen, vor den Toren Basels, residierte, und
Basel um das Jahr 1520/1530
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Nikolaus Blesdijk, der als Kontaktmann zwischen Joris und Castellio fungierte. Dazu gehörten die Drucker Pietro Perna aus Lucca und Jakob Parcus aus Lyon sowie der Arzt Jean Baudin, der wegen seines Glaubens aus Frankreich geflohen war und seit 1541 in Basel lebte – um nur einige Namen zu nennen. Auch angesehene Basler wie Bonifacius Amerbach, der Schulmeister Thomas Platter und der Drucker Johannes Oporin hatten ebenso Beziehungen zu diesem Kreis wie der berühmte Jurist Matteo Gribaldi aus Padua, der spanische Humanist Francisco de Enzinas (Franciscus Dryander),8 die italienischen Glaubensflüchtlinge Lelio Sozzini und Bernardino Ochino. Sogar Johannes Calvin, der als 26-Jähriger nach Basel geflüchtet war und hier die erste Institutio hatte drucken lassen, findet man in brieflichem Kontakt zu einigen dieser Männer.9 Sebastian Castellio wurde 1515 in dem Dorf Saint-Martindu-Fresne, in der Landschaft Bugey (Herzogtum Savoyen), als Kind armer Bauersleute geboren. Dieser Ort liegt heute im
Federzeichnung eines unbekannten Malers aus dem Amerbach-Kabinett des Historischen Museums in Basel
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französischen Department Ain, auf halber Strecke zwischen Lyon und Genf, den beiden Städten, die den jungen Castellio prägen sollten. In Lyon erhielt er als Schüler des berühmten Collège de la Trinité seine humanistische Bildung. Er lernte das Übersetzen und wurde zum klassischen Philologen. Man nimmt an, dass die Lektüre von Calvins erster Institutio ihn zur Reformation geführt und die « Ketzerverbrennungen », die er in Lyon miterlebte, ihn veranlasst hätten, die Stadt zu verlassen und nach Straßburg zu gehen. Dort begegnete er Calvin, der nach der Vertreibung aus Genf bis 1541 in Straßburg lebte. Die Beziehungen zwischen den beiden Männern scheinen anfangs sehr gut gewesen zu sein; denn Castellio wohnte, wenn auch nur für kurze Zeit, im Hause Calvins, und bevor dieser nach Genf zurückkehrte, übertrug er Castellio die Leitung des Collège de la Rive, der Genfer Schule, welcher innerhalb der Ordonnances ecclésiastiques große Bedeutung für den Aufbau des evangelischen Gemeinwesens zufiel.10 Während der gemeinsamen Tätigkeit in Genf traten jedoch Meinungsverschiedenheiten auf, als Castellio zur Verbesserung seiner finanziellen Lage ein Predigtamt übernehmen wollte und in diesem Zusammenhang den kanonischen Charakter
Bonifacius Amerbach
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des Hohenliedes bezweifelte sowie Calvins Auslegung der Höllenfahrt Christi widersprach. Das sind für uns heute vielleicht Fragen von untergeordneter Bedeutung, für Calvin damals verband sich damit das ganze Problem der Schriftautorität und der Lehreinheit innerhalb der Kirche. Jedenfalls meinte er fortan, Castellio sei « wegen ketzerischer Anwandlungen » für ein Kirchenamt ungeeignet.11 Der endgültige Bruch erfolgte auf einer Pfarrversammlung des folgenden Jahres, als Castellio die Auslegung Calvins von 2. Korinther 6,4 unterbrach und eine « gewiss nicht grundlose »12 Kritik an Calvin und den Genfer Geistlichen übte, die in allem das Gegenteil des Paulus darstellten. Calvin berichtet selbst darüber: « So spottete er etwa in der Weise: Paulus sei ein Diener Gottes gewesen, wir dienten uns selbst. Er sei sehr geduldig gewesen, wir ebenso ungeduldig. Paulus habe nachts gewacht, um für die Erbauung der Kirche zu arbeiten; wir wachten, um zu spielen. Er sei nüchtern gewesen, wir trunksüchtig. Er sei geplagt worden durch Unruhen, wir machten Unruhen. Er sei keusch gewesen, wir seien Hurer. Er sei ins Gefängnis geworfen worden, wir würfen jeden hinein, der uns nur mit einem Worte verletze. Er habe gewirkt aus der Vollmacht
Der junge Calvin
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Gottes, wir wirkten in einer anderen. Er habe von andern leiden müssen, wir verfolgten die Unschuld. Was willst Du mehr? Es war eine ganz blutdürstige Rede. […] das Wahrzeichen aller Schismatiker. »13 Dieser Vorfall belegt nicht nur den starken Moralismus Castellios, der humanistisch und nicht reformatorisch ist.14 Er war auch der Grund dafür, dass Castellio Genf verlassen musste; er ging nach Basel, wo er von 1545 bis 1563 lebte und dort im Alter von 48 Jahren starb. Das Contra libellum Calvini, das nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorgelegt wird, wurde im Jahre 1554 in Basel niedergeschrieben, aber erst 1612, über ein halbes Jahrhundert später, in den Niederlanden veröffentlicht; und zwar als Kampfschrift der Remonstranten in ihrer Auseinandersetzung mit den Contra-Remonstranten, den Anhängern Calvins.15 Herausgeber des anonym und ohne Angabe von Druckort und Drucker erschienenen Werkes war der Amsterdamer Humanist und Publizist Reinier Telle, von dem auch die niederländische Übersetzung des Contra libellum Calvini (1613) und das ausführliche Vorwort zur lateinischen und niederländischen Ausgabe stammen.16 Er versah die heute sehr seltene lateinische Edition mit einem umfangreichen Anhang, der einige Schriften Castellios, teilweise auch nur Exzerpte enthält. Dazu gehören die Historia de morte Serveti (fol. M2r–4v), ein Brief Castellios an Nikolaus Blesdijk (fol. O2r–2v), Auszüge aus der Biblia Sacra, darunter das Vorwort an Eduard VI. (fol. O3r–P1v) und die Anmerkungen (Annotationes) zu 1. Tim 1,10 und zu 2. Kor 10,4 (N4v–N6r), die im Anhang unserer Ausgabe in Übersetzung wiedergegeben werden; sowie die Verteidigungsschrift vor dem Basler Rat aus dem Jahre 1563 (fol. P3r–5r) und Auszüge aus dem De haereticis an sint persequendi (fol. N8r–O1v). Besondere Beachtung verdienen die Anmerkungen zum 2. Korintherbrief, 14
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da hier zum ersten Mal der berühmt gewordene Satz aus dem Contra libellum Calvini anklingt: « Einen Menschen töten heißt nicht eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten. » Dies geschieht anhand zweier Beispiele; zum einen am Beispiel des römischen Kaisers Nero, der bei musikalischen Wettkämpfen diejenigen, die besser sangen als er, hinrichten ließ; zum anderen im Zusammenhang mit der Frage, wie Ketzer zu behandeln seien: « Wenn wir jemanden (mit Argumenten) nicht besiegen können, nennen wir ihn Ketzer und töten ihn. Das heißt aber nicht, einen Ketzer zu besiegen, sondern einen Menschen zu töten. »17 In der Forschung wurde oft die Frage gestellt, warum das Contra libellum Calvini nicht bereits im Jahre 1554 in Basel erscheinen konnte. Einige haben gemeint, die Basler Zensur habe den Druck auf Einspruch Calvins oder des Genfer Rates untersagt. Doch für diese These bieten die bekannten Quellen keine Belege. Wahrscheinlicher ist, dass Castellio überhaupt nicht um eine Druckerlaubnis nachgesucht hat. Denn an eine Veröffentlichung war im damaligen Basel aus verschiedenen Gründen gar nicht zu denken; zum einen aufgrund des Inhaltes mit seiner heftigen Kritik an der Verbrennung Servets, die nicht nur Calvin, sondern auch Bullinger und die evangelischen Schweizer Kirchen, darunter die Basler Kirche, betraf. Zum anderen wegen der Basler Zensur, die nach dem Erscheinen von Castellios erster Toleranzschrift, dem De haereticis, nachweisbar strenger gehandhabt wurde als zuvor. Castellio berichtet selbst, die Druckereien seien fortan « aufs sorgfältigste beobachtet worden, damit nicht irgendetwas von der Partei des Bellius [also Castellios] veröffentlicht werde ».18 Und dass man in Basel nicht bereit war, weitere Angriffe gegen Calvin zu dulden, hatte Castellio in jenen Tagen schmerzlich erfahren müssen, als seine Biblia von 1554, die kritische Anmerkungen 15
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zu Calvins Prädestinationslehre enthielt, eingezogen und dem Drucker Oporin die weitere Verbreitung der beanstandeten Stellen untersagt wurde. Zudem war er realistisch genug, um zu wissen, dass die Veröffentlichung einer weiteren Schrift gegen Calvin nicht möglich war, ohne ihn und seine Freunde zu gefährden. So wurde das Contra libellum Calvini nur als Manuskript im Untergrund verbreitet.19 Um die damalige Situation und die Bedeutung dieses Werkes besser verstehen zu können, soll es nun in den historischen Kontext der durch den Fall Servet ausgelösten Toleranzkontro verse eingeordnet und kurz vorgestellt werden. Der Spanier Michael Servet gehört, so urteilt sein Biograph Roland H. Bainton, zu den « bemerkenswerten Gestalten der Reformationszeit und der Renaissance ».20 1509 oder 1511 in Villanueva geboren, spielt er nicht nur als Theologe, sondern auch als Geograph und Mediziner eine wichtige Rolle, auch wenn die Entdeckung des kleinen Blutkreislaufs durch ihn umstritten ist. Unter den besonderen geistigen Verhältnissen seiner spanischen Heimat aufgewachsen und mit dem Monotheismus der Juden und Mauren vertraut, suchte er in der Bibel vergeb-
Michael Servet
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lich nach Aussagen über die Trinitätslehre und schrieb seine Zweifel in zwei in Hagenau gedruckten Büchern nieder, dem De trinitatis erroribus (1531) und den Dialogi de trinitate (1532). Sie lösten in den jungen reformatorischen Gemeinden große Unruhe aus und wurden zum Beispiel in Basel verboten. Nach wechselvollem Leben als Medizinstudent in Paris, wo er zu einem mit Calvin vereinbarten Treffen angeblich nicht erschien, sowie als Landarzt in Carlieu und andernorts finden wir Servet seit 1541 unter dem Pseudonym Michel de Villeneuve in Vienne. Er war als Arzt tätig, gab biblische und geographische Texte heraus und stand dem Erzbischof nahe. Von dort aus begann er die Korrespondenz mit Calvin und versuchte, ihn über Fragen der Christologie und Kindertaufe aufzuklären. Zu diesem Zweck schickte er Calvin 1546 das Manuskript seiner gerade fertiggestellten Christianismi Restitutio (Wiederherstellung des Christentums), in welcher er seine früheren Überlegungen unter neuplatonischen und täuferischen Einflüssen weiter vertiefte. Statt des dreieinigen Gottes tritt uns nun der allgestaltige Gott (Deus omniformis) mit seinen vielfältigen Emanationen, « als Natur aller Dinge, der materiellen wie der immateriellen », entgegen.21 Nach dem Zürcher Kirchenhistoriker Fritz
Guillaume Farel
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Blanke vertritt Servet jedoch keinen Pantheismus, sondern eher einen Panchristismus. Als Offenbarungstheologe habe er die Trinität und die Trinitätslehre nicht geleugnet, sondern sie anders interpretiert, wie auch seine letzten Worte auf dem Scheiterhaufen belegten. Abgelehnt habe er nur die nicaenische Form der Trinitätslehre, die im Jahre 381 zum Dogma erklärt worden war.22 Für die Übersendung der Christianismi Restitutio dankte Calvin mit einem Exemplar seiner Institutio, die Servet mit Randbemerkungen versah und Calvin zurückschickte. Dieser wollte fortan mit dem « Satan, der ihn nur von nützlichen Studien abhalte » nichts zu tun haben23 und äußerte Farel gegenüber: « Servet hat mir kürzlich geschrieben und seinem Brief einen dicken Band seiner wahnsinnigen Lehren beigelegt mit der bramarbasierenden Prahlerei, Staunenerregendes und bisher Unerhörtes werde ich darin finden. Wenn ich Gefallen daran finde, verspricht er hierher zu kommen. Aber ich will mich für nichts verbürgen. Denn kommt er hierher, so lasse ich ihn, wenn ich irgendetwas vermag, nicht mehr lebendig wieder fort. »24 Im Januar 1553 ließ Servet seine Christianismi Restitutio heimlich in Vienne drucken; nur die Initialen M. S. V. deuteten
David Joris
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auf den Verfasser. In Genf entdeckte man bald, wer sich dahinter verbarg, und lieferte der Inquisition mit Hilfe Calvins die Unterlagen, die zur Verhaftung Servets in Vienne führten. Dieser konnte jedoch entkommen und gelangte am 13. August 1553, einem Sonntag, nach Genf. Als er den Gottesdienst besuchte, wurde er erkannt, auf Veranlassung Calvins verhaftet und nach einem mehrwöchigen Prozess am 27. Oktober wegen seiner « abscheulichen Irrlehren » zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen lebendig verbrannt. « Jesus, Sohn des ewigen Gottes, erbarme dich meiner » sollen seine letzten Worte gewesen sein.25 Die Kontroverse, die durch den Fall Servet ausgelöst wurde, gehört zu den « berühmtesten Kontroversen der Neuzeit über die Religionsfreiheit ».26 Sie begann nicht erst nach der Verbrennung Servets, sondern bereits während des Prozesses, nachdem sich erste Gerüchte von Servets Verhaftung in Genf, in Basel und anderen Orten der Schweiz verbreitet hatten.27 So äußerte der italienische Rechtsgelehrte Matteo Gribaldi, der sich während des Prozesses zufällig in Genf aufhielt, niemand dürfe wegen falscher Glaubenslehren bestraft werden,
Simon Sulzer
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weil der Glaube frei sein müsse.28 Vor allem aus dem Basler Humanistenkreis um Castellio erhob sich die Kritik. Jedenfalls kannte der Basler Antistes Simon Sulzer schon Ende September Menschen, « die das Drängen Calvins und die Willfährigkeit des Genfer Rates in dieser Angelegenheit heftig tadeln würden ».29 Und aus dem württembergischen Montbéliard mahnte der Reformator Pierre Toussaint am 21. September (um nur drei Beispiele zu nennen): Er glaube nicht, « dass jemand wegen seiner Religion mit dem Tode bestraft werden dürfe, es sei denn Aufruhr und andere schwerwiegende Gründe kommen hinzu, damit die Obrigkeit ihre Pflicht tun muss ».30 Zur gleichen Zeit, also im Herbst des Jahres 1553 (nicht erst im Februar 1554 nach der Veröffentlichung der Defensio orthodoxae fidei durch Calvin),31 machte sich die Empörung über Calvin in ersten Streitschriften Luft, die aus dem Basler Humanistenkreis stammten. Es brach gleichsam ein « Streitschriftenkrieg » aus, der einige Jahre dauern sollte. Wohl am 1. Oktober 1553 wandte sich David Joris in einem Sendschreiben an die evangelischen Schweizerstädte und warnte davor, Servet wegen seiner Religion zu töten. Einige seiner Argumente klingen später auch in Castellios De haereticis und im Contra libellum Calvini an. So weist er auf die Folgen der Ketzertötung im konfessionellen Zeitalter hin: Wer bleibe noch am Leben, wenn man sich gegenseitig als Ketzer verfolge: die Juden die Christen, die Sarazenen oder die Türken die Christen; die Christen sich gegenseitig: die Papisten die Lutheraner, die Lutheraner sich untereinander; die Zwinglianer die Täufer « und so fort, die einen die anderen, seien sie Calvinisten oder Adiaphoristen, alle sind sie verschiedener Meinung ». Man solle Menschen, die in religiösen Fragen irrten, nicht mit dem Schwert bekämpfen, sondern für sie beten, sie für die Liebe und Freiheit erwecken. Wenn Servet wirklich ein Ketzer oder verstockter Mensch sei, solle man ihm kein Leid zufügen, sondern ihn auf freundliche 20
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Weise ermahnen, ihn höchstens verbannen, wenn er auf seinen Meinungen beharre.32 Noch deutlicher, heftiger und umfassender spürt man die Empörung über Calvin in der Historia de morte Serveti (Bericht über den Tod Servets), die mit sehr großer Wahrscheinlichkeit Castellio zuzuschreiben ist.33 Sie besteht aus zwei Teilen. Der erste schildert die Ereignisse von der Verhaftung Servets in Vienne bis zur Verbrennung in Genf; der zweite führt die Gründe an, warum « viele Fromme » das Geschehen in Genf als « scandalum scandalorum », empfunden hätten, als « Skandal der Skandale, der wohl niemals in Vergessenheit geraten wird ». Als Gründe werden genannt: Weil Servet in Genf wegen seiner Religion und mit Hilfe Calvins auf so grausame Weise getötet worden sei; weil sich dazu die Evangelischen mit den Katholiken verbündet hätten; weil Calvin die Bücher Servets habe verbrennen lassen und zudem den toten Servet nicht nur in öffentlichen Predigten verurteile, sondern auch noch ein Buch gegen ihn zu schreiben scheine. Der letzte Vorwurf lässt darauf schließen, dass die Historia de morte Serveti bereits im November fertiggestellt wurde, als Calvins Absicht, sich gegen seine Kritiker zu verteidigen, gerade bekannt geworden war.34 Viele dieser Vorwürfe werden uns später nahezu wörtlich im Contra libellum Calvini begegnen, was für Castellio als Verfasser der Historia de morte Serveti spricht; teilweise aber auch in der Defensio orthodoxae fidei (Verteidigung des rechten Glaubens),35 die Calvin einige Wochen nach der Verbrennung Servets zu schreiben begann, um sich gegen die Kritik zu verteidigen, die in weiten Kreisen, vor allem aus Basel, gegen ihn erhoben wurde. Die Defensio ist jedoch keine « direkte Antwort » auf die Historia, auch wenn Calvin auf einige der darin genannten Kritikpunkte eingeht.36 Sie beweist jedoch, dass zu dieser Zeit die Stimmen der Empörung bereits zu Calvin nach Genf gedrungen waren. 21
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Im März 1554, wenige Monate nach der Historia, erschien Castellios De haereticis an sint pesequendi (Ob Ketzer zu verfolgen sind), die bekannteste und berühmteste Schrift Castellios in der Toleranzkontroverse gegen Calvin.37 Sie wird eingeleitet durch das Vorwort eines Martinus Bellius an Herzog Christoph von Württemberg und abgeschlossen durch die Beiträge eines Georg Kleinberg und Basilius Montfort. Dank Bruno Becker, dem Entdecker und Herausgeber des De haereticis non puniendis, der letzten, erst 1971 veröffentlichten Toleranzschrift Castellios, wissen wir, dass Monfort und Castellio identisch sind.38 Inhaltliche und sprachliche Übereinstimmungen in den Schriften Castellios machen es zudem sehr wahrscheinlich, dass sich der Basler Humanist auch hinter den Pseudonymen Kleinberg und Bellius verbirgt. Die Mitte des 175 Oktavseiten starken Büchleins bilden Texte der Kirchenväter Laktanz, Hieronymus, Augustin und anderer Personen der Kirchen- und Reformationsgeschichte, die sich alle für Toleranz gegenüber Ketzern aussprechen. Martin Luther, Erasmus, Sebastian Franck, Johannes Brenz, Urbanus Rhegius, auch Calvin und Castellio werden zitiert (um nur einige Namen zu nennen); Castellio mit seinem an Eduard VI. gerichteten Vorwort zur Biblia Sacra, Calvin mit einem Auszug aus der ersten Institutio, wo er Milde und Humanität fordert für Exkommunizierte, Türken, Sarazenen und alle Feinde wahrer Religion. An dieser Textauswahl werden mehrere Personen aus dem Freundeskreis Castellios mitgewirkt haben. Einen persönlichen Ton erhält der anthologische Kern durch die Beiträge der drei anonymen Autoren Martinus Bellius, Georg Kleinberg und Basilius Montfort. Mit ähnlichen Formulierungen wie im Vorwort an Eduard VI. klagt Bellius über die Lehrstreitigkeiten und Verfolgungen seiner Zeit.39 Wahre Frömmigkeit und Liebe gebe es nicht mehr, Zank und Streit herrschten überall. Trotzdem bemühe man 22
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sich nicht darum, durch ein besseres Leben zu Christus zu gelangen, sondern man streite über allerlei dogmatische Fragen, die für das Heil nicht notwendig seien. Ausgehend von dieser Zeitkritik überprüft Bellius den Begriff des Ketzers und weist auf die Problematik des konfessionellen Zeitalters: Hier sei man Rechtgläubiger, dort Ketzer. Jeder halte denjenigen dafür, der nicht mit seinem eigenen Glauben übereinstimme, « so dass, wer heute leben will, notwendigerweise so viele Glauben und Religionen haben muss, wie es Gemeinwesen oder Sekten gibt ».40 Bellius unterscheidet zwei Arten von Ketzern; die einen seien es wegen ihres Lebenswandels, die anderen im Hinblick auf ihren christlichen Glauben. Besonders auf sie beziehe man das Wort Ketzer. Doch es sei schwieriger, über den Glauben zu richten als über den Lebenswandel eines Menschen, wie die heftigen Streitigkeiten der Christen über die Taufe, das Abendmahl, die Heiligenverehrung, die Rechtfertigungslehre und über andere dunkle Fragen bewiesen. Die Folge davon sei, « dass sich Katholiken, Lutheraner, Zwinglianer, Täufer, Mönche und andere gegenseitig heftiger verurteilen und verfolgen als die Türken die Christen ».41 Dabei liege die Ursache dieser Streitigkeiten allein in der « Unkenntnis der Wahrheit » (ignorantia veritatis). Daher ruft Bellius die verschiedenen Glaubensrichtungen zu gegenseitiger Toleranz auf: Die Juden oder Türken sollten die Christen nicht verfolgen, diese nicht die Türken oder Juden, sondern sie belehren und durch Frömmigkeit für sich gewinnen. « Ebenso sollen wir Christen uns nicht gegenseitig verurteilen, sondern wenn wir klüger sind, sollen wir auch besser und barmherziger sein. Denn je besser einer die Wahrheit kennt, umso weniger ist er geneigt, andere zu verurteilen, wie es ja an Christus und den Aposteln deutlich wird. »42 Damit stellt Bellius die Frage nach der Überzeugungskraft 23
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christlichen Glaubens. Wer wolle noch Christ werden, wenn er sehe, wie sich die Christen gegenseitig verfolgten und töteten; und er weist auf den grausamen Feuertod Servets, der « mitten in den Flammen Christus mit lauter Stimme pries und aus tiefer Not rief, dass er an ihn glaube ».43 Manche dieser Forderungen greift Georg Kleinberg in seinem Artikel auf, der die Überschrift trägt « Wie der Welt die Verfolgungen schaden ».44 Auch er klagt über die grausigen Zeitverhältnisse und das sinnlose Blutvergießen « wegen der Religion ». Auch er weist auf das Schicksal Servets und kritisiert Calvin wegen seines Vorgehens. Auch er fordert, Ketzer nicht zu verfolgen und dem jüngsten Gericht nicht vorzugreifen. Dabei beruft er sich auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–43): « Wenn Ketzer Unkraut sind, dürfen sie nicht getötet werden, sondern sie sind bis zur Zeit der Ernte am Leben zu lassen. »45 Nach dieser Forderung stellt Kleinberg die Frage, auf die später auch Castellio im Contra libellum Calvini eingehen wird: Ist eine weltliche Obrigkeit für Fragen des Glaubens zuständig? Seine Antwort heißt: Die Obrigkeit habe Räuber, Verräter, Meineidige und andere Verbrecher zu bestrafen und
Heinrich Bullinger
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die Menschen vor Unrecht zu schützen. Aber die Lehre der Theologie (doctrina theologiae) falle nicht in ihre Zustän digkeit. Vor allem dürfe sie niemanden des Glaubens wegen verfolgen.46 Von großer Bedeutung ist der Beitrag des Basilius Montfort, mit dem das De haereticis endet.47 Er stellt die Schriftstellen vor, welche für die Ketzerverfolgung angeführt werden, und versucht sie zu widerlegen: zum Beispiel die mosaischen Gesetze gegen Götzendiener (2. Mose 22,19), gegen falsche Propheten (5. Mose 13,1–6) und gegen Gotteslästerer (3. Mose 24,16). Er zitiert Elia, der die Baalspriester vernichtet habe (1. Kön 18,40), und Achan, der seines Religionsfrevels wegen gesteinigt worden sei (Jos 7,24 f.), und er weist dagegen auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen und die « Sanftmut Christi » hin. Er geht schließlich auf Stellen des Neuen Testamentes ein, auf welche sich die Apologeten der Ketzerverfolgung beriefen: auf die Tötung von Ananias und Saphira durch Petrus (Apg 5,111), auf die Bestrafung des Elymas durch Paulus (Apg 13,8-11) und auf das Gleichnis vom Gastmahl (Lk 14,23). Gegen diese Schriftstellen hebt Montfort vor allem den Unterschied zwischen weltlichem und geistlichem Schwert, dem der Obrigkeit
Johannes Oporin
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und der Pastoren, hervor und betont: In Fragen der Religion dürfe Gewalt nur mit dem geistlichen Schwert, dem Wort, ausgeübt werden.48 Das De haereticis endet mit den groß hervorgehobenen Worten: « Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die geheimen Gedanken der Menschen offenlegen wird. » (1. Kor 4,5)49 Nur wenige Wochen vor dem De haereticis war Calvins bereits erwähnte Defensio orthodoxae fidei in Genf gedruckt worden.50 Dieses Buch ist keine Antwort auf das De haereticis. Beide Werke wurden etwa gleichzeitig fertiggestellt, wie auch Castellio bezeugt. Nur die Säumigkeit des Buchdruckers habe das Erscheinen des De haereticis verzögert.51 Gegen diese Defensio, die zuerst auf Latein, später auch auf Französisch erschien, richtet sich Castellios Contra libellum Calvini. Sie verdient daher eine eingehende Betrachtung.52 Die Entstehungsgeschichte dieser Schrift lässt sich anhand des Briefwechsels zwischen Calvin und Bullinger gut verfolgen. Ende November meldete Calvin nach Zürich, er wolle in einem « kurzen Büchlein » (brevi libello) darlegen, was für ein Monster Servet gewesen sei, « damit böswillige Leute mich nicht weiter kritisieren (ich höre, das geschehe in Basel) noch die Unkundigen dagegen murren ».53 Diese Nachricht belegt, dass Calvin die Entscheidung, eine Defensio zu schreiben, selbst getroffen hat. Sie geschah jedenfalls nicht auf Verlangen der evangelischen Schweizerstädte, wie er später vor dem Genfer Rat behauptete.54 Die Quellen bestätigen auch nicht, dass Calvin von « Freunden und Kollegen »,55 namentlich von Bullinger, dazu veranlasst worden sei.56 Calvin schrieb die Defensio nach eigener Aussage in aller Eile (tumultuarie) nieder, ohne sich um eine glänzende Darstellung oder um eine erschöpfende Behandlung des Stoffes zu bemü26
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hen. Ihm ging es vor allem darum, sich gegen seine Kritiker zu verteidigen, die « abscheuliche Gottlosigkeit » Servets deutlich zu machen und die reine Lehre zu verteidigen.57 Wie von Bullinger gewünscht, verzichtete er auf eine namentliche Erwähnung seiner Basler Kritiker.58 Am 26. Dezember 1553 war die Defensio fertiggestellt; denn Calvin legte sie dem Genfer Rat zur Prüfung vor.59 Am 31. Dezember hieß es, das Buch werde auf der nächsten Frank furter Messe erscheinen,60 und Anfang Februar wurden die ersten Exemplare in der ganzen Schweiz an Freunde und Bekannte verteilt, eine größere Sendung ging nach Basel.61 Die Defensio umfasst 262 Seiten im Oktavformat.62 Sie besteht aus zwei Hauptteilen und, wie Joy Kleinstuber mit großer Sorgfalt herausgearbeitet hat, aus mehreren einzelnen Abschnitten/Unterteilen.63 In dem ersten Hauptteil rechtfertigt Calvin sein Vorgehen gegen Servet. Er nennt vor allem drei Gründe, warum er dieses Buch geschrieben habe. Zum einen wisse er, dass es unter den Schülern Servets große Meinungsunterschiede gebe; zum anderen verbreite man nach Servets Verbrennung allerlei Gerüchte gegen ihn; schließlich fänden die Lehren des Spaniers weiterhin Anklang, besonders unter den Italienern.64 Schließlich geht Calvin auf die Frage ein, ob eine christliche Obrigkeit Ketzer bestrafen dürfe, und betont, die Obrigkeit habe die Pflicht, die Kirche zu schützen und Apostaten zu bestrafen, wenn sie zum Abfall vom wahren Glauben aufriefen und die Übereinstimmung in der Frömmigkeit (pietatis consensus) gefährdeten.65 Dabei setzt er sich nicht nur mit den Argumenten seiner Kritiker auseinander, welche das Recht der Obrigkeit zur Ketzerbestrafung bestreiten,66 er widerspricht auch den Schriftstellen, welche gegen die Bestrafung der Ketzer angeführt werden, zum Beispiel dem Gleichnis vom Unkraut 27
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unter dem Weizen (Mt 13,24–30) und dem Hinweis auf den jüdischen Rechtsgelehrten Gamaliel (Apg 5,34–39). Statt dessen beruft er sich vor allem auf Stellen des Alten Testamentes, welche das Recht der Obrigkeit, Ketzer zu bestrafen, bestätigten; zum Beispiel auf den König Nebukadnezar, der die Todesstrafe gegen Gotteslästerer verkündet habe (Dan 3,29), und auf die strengen Vorschriften des mosaischen Gesetzes, etwa die Ge setze des Deuteronomiums, die eine strenge Bestrafung der falschen Propheten und Apostaten befehlen (5. Mose 13,6– 11).67 Damit fordert Calvin nicht, jede Irrlehre zu bestrafen; er unterscheidet drei Stufen: die einen könne man dulden, die anderen maßvoll strafen. « Aber sobald die Religion in ihren Grundfesten erschüttert wird, abscheuliche Lästerungen gegen Gott geäußert werden, […] sobald man offen vom einigen Gott und seiner reinen Lehre abzufallen versucht, muss zum äußersten Heilmittel gegriffen werden, damit das tödliche Gift nicht weiter um sich greift. »68 Diesen persönlichen, grundsätzlichen Ausführungen, welche die ersten 37 Seiten der Defensio ausfüllen,69 folgt der Abdruck von mehreren Dokumenten. Sie sollen die Irrlehren Servets belegen und bezeugen, wie hartnäckig sich Servet den Bemühungen Calvins widersetzt habe, ihn zur Vernunft zu führen.70 Das erste Schriftstück bezieht sich auf drei Fragen zu Christologie, Taufe und Abendmahl aus der Korrespondenz, welche Servet einige Jahre zuvor von Lyon aus mit Calvin geführt hatte, mit den Antworten Calvins.71 Es folgen originale Aktenstücke aus dem Servet-Prozess, die auf Beschluss des Genfer Rates entstanden waren und teilweise als Grundlage für die Gutachten der Schweizer Kirchen dienten: 1. « 38 Sätze und Abschnitte », welche die Genfer Geistlichen aus Servets Christianismi Restitutio als Beweis dafür ausgewählt hatten, dass Servets Lehren « gottlos und gotteslästerlich und mit dem Worte Gottes unvereinbar » seien.72 28
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2. Die Antwort Servets auf diese 38 Artikel mit Auszügen aus Tertullian und Irenaeus.73 3. « Eine kurze Widerlegung der Irrlehren und Gottlosigkeiten » Servets durch die Genfer Geistlichen,74 zu welcher auch « Eine kurze Widerlegung der Spitzfindigkeiten » Servets75 gehört, die Servet teilweise mit bissigen Anmerkungen versah, und 4. Das Zürcher Servet-Gutachten,76 um die « einmütige » Verurteilung Servets durch die evangelischen Schweizer städte zu beweisen.77 Calvin druckt diese Dokumente nicht nur ab, er versieht sie mit kurzen Einführungen und ordnet sie so in den jeweiligen Zusammenhang ein. Damit endet der erste Hauptteil, er besteht aus 130 Seiten. Genauso umfangreich ist der zweite Hauptteil, dessen lateinischer Text sich ohne besondere Trennung oder Überschrift an den ersten Teil anschließt. Lediglich in der französischen Ausgabe findet sich die beide Hauptteile trennende Überschrift: « Plus ample declaration des erreurs abominables de Servet, faicte par Jean Calvin. »78 Calvin setzt in diesem Teil also die Erklärung der Irrlehren Servets fort, weil die « Kürze » (brevitas) des ersten Hauptteils eine weitere « fruchtbarere und auch vollere Erläuterung » erforderlich mache.79 Dies geschieht in fünf Abschnitten. Im ersten verteidigt er Melanchthon gegen Vorwürfe, welche Servet in der Christianismi Restitutio gegen diesen erhoben hatte;80 im zweiten setzt er sich mit Servets Christologie auseinander;81 in den beiden weiteren geht er auf die theologischen und persönlichen Anmerkungen ein, mit welchen Servet die zuvor genannten « Widerlegungen » der Genfer Geistlichen während des Prozesses versehen hatte.82 Calvins Ausführungen, die von allen Genfer Geistlichen unterschrieben wurden, enden mit einem « kurzen Kompendium » der Irrlehren Servets.83 29
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Diese knappe Vorstellung zeigt vielleicht, dass die Defensio nicht nur eine « Verteidigung des rechten Glaubens » (defensio orthodoxae fidei) ist, sondern auch eine ganz persönliche Rechtfertigung Calvins gegen die mannigfache Kritik nach der Verhaftung und Verbrennung Servets; vor allem aber eine Dokumentation der « Irrlehren » Servets und eine Widerlegung derselben;84 schließlich der Versuch einer Beweisführung, dass Ketzer mit dem Tode zu bestrafen seien. Die Meinungen über diese Schrift, die ein Kenner der Geschichte der Religionsfreiheit als « eine der furchtbarsten Abhandlungen, die zur Rechtfertigung der Ketzerverfolgungen je geschrieben worden ist » bezeichnet,85 waren bereits unter den Zeitgenossen geteilt. Neben positiven Stimmen, die wir auch in Basel finden, äußerten sich selbst Freunde Calvins zurückhaltend darüber.86 So rügte Bullinger « die Kürze » (brevitas), « die Dunkelheit und Schwere der Argumentation ».87 Der Berner Ratsschreiber Nikolaus Zurkinden lehnte vor allem den Grundsatz ab, Ketzer durch die Obrigkeit zu bestrafen. Man könne, so schrieb er Calvin, den Papisten keinen größeren Gefallen tun, « als ihre Exempel nachzuahmen und in unserer eigenen Kirche die Werkstatt des Henkers einzurichten ».88 Selbst Calvin schien mit seiner Schrift nicht ganz zufrieden zu sein.89 Auch Castellio äußerte sich nach der Lektüre ablehnend: « Die Erörterung Calvins ist von einer Art, dass ich sie nicht verstehe, obwohl ich mir beim Lesen große Mühe gebe. Zudem weiß ich, wenn ich das Buch aus der Hand lege, nicht mehr, was er meint. »90 Und er begann mit der Widerlegung der Defensio, welcher er den Titel gab: Contra libellum Calvini (Gegen das Büchlein Calvins). Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass der Basler Humanist die 262 Oktavseiten starke Defensio als « Büchlein » bezeichnet. Doch dies ist wohl 30
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einfach zu erklären: Er übernimmt (vielleicht mit einer gewissen Ironie) die Bezeichnung, die Calvin selbst in der Korrespondenz mit Bullinger gewählt und von der er zweifellos erfahren hatte.91 Das Contra libellum Calvini ist in der Form eines Dialogs geschrieben worden, der zwischen Calvin und Castellio, der sich Vaticanus nennt, geführt wird. Die Bedeutung dieses Pseudo nyms ist in der Forschung umstritten. Buisson meint, der Name Vaticanus beziehe sich auf einen Katholiken; Barilier glaubt, er stelle ein Anagramm zu Calvinus (= Valic(a)nus) dar,92 Thesen, die nicht zu überzeugen vermögen. Am wahrscheinlichsten erscheint uns, dass Castellio, der Übersetzer der Sibyllina oracula,93 den Namen Vaticanus vom lateinischen Wort vates abgeleitet hat. Diese These, die wir bereits anderen Orts ohne nähere Begründung vertreten haben,94 soll im Folgenden mit wenigen Strichen begründet werden: Das lateinische vates entspricht dem griechischen Wort Prophet, wie Castellio selbst betont.95 Sowohl in den Sibyllina oracula96 als auch in der Biblia Sacra verwendet er vates anstelle von Prophet, in der Biblia Sacra auch als Überschrift für die großen und kleinen Propheten des Alten Testamentes.97 Vates bezeichnet im Deutschen den Propheten als von Gott berufene und beauftragte Person, als Seher und Weissager, als « gottbegeisterten prophetischen Sänger », der warnend seine Stimme erhebt. Die von vates abgeleiteten Substantive heißen vaticinator bzw. vaticinatrix (Prophet/ Prophetin, Weissager/Weisagerin), vaticinium bzw. vaticinatio (Prophezeiung, Weissagung), das Adjektiv vaticinius bzw. vaticinus. Das Verb vaticinari bedeutet nach Georges:98 weissagen, prophezeien, verkünden, ermahnen, warnen. In diesem warnenden Sinne jedenfalls interpretiert Castellio das Wort vates in den genannten Werken, und in diesem Sinne 31
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scheint sich Vaticanus als Kontrahent Calvins im Contra libellum Calvini zu verstehen. Seine Warnung vor den « falschen Propheten » und vor der Verfolgung Andersgläubiger zeigt sich nicht nur in der Vorrede (Praefatio),99 sie zieht sich durch das ganze Werk hindurch. Auf jeden Fall gehört Castellio, wie das Contra libellum Calvini beweist, zu den hellsichtigen Sehern seiner Zeit, zu den eindrücklichen Warnern vor religiöser Intoleranz im konfessionellen Zeitalter. Wie berechtigt diese Warnungen waren, sollte Calvin bald selbst erfahren, als sich die Verfolgung der Hugenotten in Frankreich verschärfte, die Evangelischen aus England vertrieben und von den norddeutschen Lutheranern abgewiesen wurden und der innerprotestantische Streit über das Abendmahl nach der Veröffentlichung des Consensus Tigurinus neu entbrannte. Überall dort, wo reformierte Christen unter einer lutherischen Obrigkeit lebten, begannen nun die Verfolgungen und Drangsalierungen ihres Gottesdienstes, « als hätten wir nichts gemeinsam in Christus » und « eine ganz andere Religion ».100 Ganz zu schweigen von den Anfeindungen, denen sich Calvin aus den Berner Gebieten wegen der Prädestinationslehre und anderer Fragen ausgesetzt sah. Ganz zu schweigen auch von den Lehrstreitigkeiten, die das deutsche Luthertum nach Luthers Tod durch den adiaphoristischen, osiandrischen und majoristischen Streit erschütterten. Und das waren nur einige Kennzeichen des sogenannten konfessionellen Zeitalters, dessen « rabies theologorum » auch Melanchthon bitter beklagte.101 Castellio ist Calvins Defensio nicht einfach « Schritt für Schritt » gefolgt; er hat sie auch nicht « Punkt für Punkt » widerlegt102 bzw. « Satz für Satz zitiert », wie man lesen kann,103 sondern er hat lediglich 154 längere oder kürzere Abschnitte für den Dialog mit Calvin ausgewählt, die er als Vaticanus kommen32
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tiert. Dazu hat er die ausgewählten Abschnitte Calvins (und dem entsprechend auch seine eigenen Kommentare) durch Zahlen weiter untergliedert, um besser auf die einzelnen Aussagen Calvins eingehen und die Redlichkeit seines eigenen Vorgehens belegen zu können. Er schreibt selbst: « Damit aber niemand behaupten kann, es sei von uns etwas entstellt worden, werde ich seine Worte zitieren und diejenigen Stellen, mit denen ich mich auseinandersetzen will, wo immer nötig mit Zahlen kennzeichnen. Danach werde ich die entsprechenden Zahlen meinen Ausführungen voranstellen, damit man den Sachverhalt rasch erfassen kann. »104 Die 154 Abschnitte, die Castellio ausgewählt hat, wurden offensichtlich erst später durch den Herausgeber nummeriert, wie Indizien auf dem in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Basel erhaltenen Manuskriptfragment des Contra libellum Calvini vermuten lassen.105 Übrigens stammen von den 154 Auszügen 153 aus der Defensio, ein Auszug (Nr. 7) wurde Calvins erster Institutio entnommen. Wenn man die 154 Abschnitte zusammenzählt, so sind es nicht einmal 40 Seiten (von den 262 Oktavseiten) der Defensio, auf die Castellio bei seiner Auseinandersetzung mit Calvin eingeht. Der Dialog beginnt mit dem Titel der Defensio (Nr. 1) und endet mit Zitaten aus dem Servet-Gutachten der Zürcher Kirche vom 2. Oktober 1553 (Nr. 150–154). Das Hauptgewicht der Auseinandersetzung liegt auf der Frage, ob eine christliche Obrigkeit Ketzer bestrafen dürfe; denn 109 Exzerpte (Nr. 21–130) beziehen sich allein auf dieses Thema. 20 Auszüge betreffen die « Irrlehren » (errores) Servets (1–20), zwölf gehen auf die Verantwortung Calvins für Servets Verhaftung in Vienne und den Prozess in Genf ein (Nr. 131–142), sieben auf Servets Tod (Nr. 143–149). Da der Text des Contra libellum Calvini im Folgenden in deutscher Übersetzung vorgestellt wird, mag es genügen, nur 33
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einige Linien, Gedanken und Besonderheiten dieser Schrift aufzuzeigen.106 Das Contra libellum Calvini beginnt dort, wo das De haereticis aufhört, nämlich mit dem groß gedruckten Zitat von 1. Kor 4,5, das sich auf dem Titelblatt direkt unter dem Titel befindet: « Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der das Verborgene ans Licht bringen und die geheimen Gedanken der Menschen offenlegen wird. » Ihm folgt, wohl mit deutlicher Spitze gegen Calvin, Sprüche 12,6 (nicht 14, wie auf dem Titelblatt steht): « Der Gottlosen Rede trachtet nach Blutvergießen, der Mund der Rechtschaffenen versucht es zu verhindern. » Bereits im Vorwort klagt Castellio, Calvin habe durch die Defensio viele Menschen in Gefahr gebracht. Daher wolle er diese Schrift widerlegen und dabei nicht die Lehren Servets verteidigen, sondern vor allem zeigen, dass Calvins Lehre von der Ketzerverfolgung falsch sei (S. 49 f.).107 Dabei geht Castellio nicht zimperlich mit Calvin um. So wirft er ihm vor, er habe die Defensio mit Händen geschrieben, « die noch vom Blute Servets blutig sind » (S. 104). Er argumentiere nicht christlich, sondern rhetorisch, « typisch calvinisch ». Er herrsche wie ein Tyrann in Genf. Die Argumente werden voller Ironie, Spott und Hohn vorgetragen. Sie sind teilweise überspitzt, von der Empörung diktiert, teilweise überzeugend ausgewählt und gipfeln in klassischen Aussagen wie: « Seinen Glauben zu bekennen, heißt nicht, einen Menschen zu verbrennen, sondern sich eher verbrennen zu lassen » (S. 109). Oder: « Einen Menschen töten heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten » (S. 131). Oder: « Wahrheit heißt sagen, was man denkt, auch wenn man irrt » (S. 135) – um nur einige Sätze zu zitieren. Die tiefe Kluft zwischen Calvin und Castellio tritt bereits bei der Beurteilung Servets zutage.108 Während Calvin 34
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den Spanier nicht nur als Ketzer, sondern auch als Apostaten und Gotteslästerer, als Zerstörer aller Grundlagen christlicher Religion, als Verbrecher an Staat und Gesellschaft verurteilt, beurteilt ihn Castellio als Christenmenschen, der sich in einigen Punkten christlichen Glaubens geirrt oder sie anders interpretiert habe als Calvin. Der Gegensatz zeigt sich auch im Hinblick auf das moralistische, undogmatische Verständnis des Christentums. Die wahre Kirche erkennt man nach Castellio an der Liebe, die wahre Frömmigkeit daran, die Gebote der Bergpredigt zu befolgen: die Feinde zu lieben, zu dürsten und zu hungern nach Gerechtigkeit. Dabei treten Fragen über Trinität, Prädestination und Gnadenwahl als « dunkle Fragen » in den Hintergrund (S. 86). Die Hauptfrage des Contra libellum Calvini heißt jedoch, ob eine christliche Obrigkeit berechtigt sei, Ketzer zu bestrafen. Diese Diskussion wird nicht auf allgemeine Weise geführt wie in dem Vorwort zur Biblia Sacra, das Eduard VI. gewidmet ist; auch nicht mit leichten Anspielungen auf das Schicksal Servets (wie im De haereticis), sondern vorwiegend mit Bezug auf Calvins Vorgehen gegen Servet und seine Rechtfertigung in der Defensio. Bereits auf den ersten Seiten kritisiert Castellio, Calvin habe keine überzeugende Autorität dafür genannt, dass die Obrigkeit Ketzer bestrafen dürfe (S. 76). Er geht auf die Bibelstellen ein, auf die sich Calvin zugunsten der Ketzerverfolgung bezogen hatte, zum Beispiel auf Jesu Tempelreinigung (Mt 21,12 ff.), auf Petrus’ Vorgehen gegen Ananias und Saphira (Apg 5,1ff.) und das des Paulus gegen Elyma (Apg 13,8 ff.). Dagegen verweist er auf den jüdischen Rechtsgelehrten Gamaliel (Apg 5,34 ff.) und das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24 ff.), aber auch auf das Schicksal der Märtyrer von Lyon, die nur wenige Wochen vor Servet wegen ihres evangelischen Glaubens von der Inquisition verbrannt worden waren.109 35
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In diesem Zusammenhang stellt er die im konfessionellen Zeitalter brennende Frage, wer die biblische Wahrheit besitze und sich in religiösen Fragen nicht irre. Alle Ketzerverfolger behaupteten das von sich, und doch hätten sie alle geirrt: « Wer hat jemals geglaubt, er habe eine falsche Religion? Es irrten die Juden, als sie Christus und die Apostel verfolgten. Es irrten die Heiden, als sie die Christen verfolgten. Es irrte der Papst, als er die Lutheraner und die Zwinglianer verfolgte. Es irrte der englische König Heinrich [VIII.], als er die Papisten, Lutheraner, Zwinglianer und Täufer tötete. Es irrte Luther, als er die Zwinglianer Teufel nannte und zur Hölle wünschte. Sollen sich allein die Zwinglianer und Calvinisten nicht irren? » Diese Frage wird sich, so Castellio, erst durch Christus im jüngsten Gericht beantworten lassen, wie das Gleichnis vom bösen Knecht belege (Mt 24,49 ff.) (S. 162). Entschieden widerspricht Castellio der Forderung Calvins, die Obrigkeit müsse den christlichen Glauben und die Kirche schützen, indem er auch auf den Fall Servet verweist (S. 131): « Als die Genfer Servet getötet haben, haben sie keine Lehre verteidigt, sondern einen Menschen getötet. » Die christliche Lehre zu schützen sei nicht Aufgabe der Obrigkeit, sondern der Gelehrten. Wenn Servet Calvin hätte töten wollen, dann hätte die Obrigkeit ihn schützen müssen. Aber da er mit Argumenten kämpfte, musste er auch mit Argumenten widerlegt werden. Die Aufgabe der Obrigkeit sieht Castellio (wie im De haereticis) darin, Räuber und Mörder zu bestrafen. Für Fragen der Religion sei sie nicht zuständig. Folglich dürfe sie keine Ketzer bestrafen; denn « sie hat kein Recht dazu ». Ketzer seien den Pastoren zur Bestrafung zu übergeben, und zwar zur Exkommunikation (S. 154, 156). Zugleich klingt der Vorwurf an, Calvin habe ein Buch über die Bestrafung von Ketzern geschrieben, aber gar nicht definiert, was ein Ketzer sei. Er habe Ketzer mit Gotteslästerern, 36
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Götzendienern, Apostaten und falschen Propheten gleichgesetzt, um sie dadurch töten zu können (S. 118). « Aber uns kann er damit nicht täuschen. Soll Calvin uns doch das Gesetz zeigen, das Ketzer zu töten befiehlt. Es gibt keines. Aber es gibt eines über Apostaten und Gotteslästerer. Was gehen uns aber Apostaten und Gotteslästerer an? Es geht um die Ketzer. Zeig uns das Gesetz über Ketzer. Oder sind Ketzer Gotteslästerer? Erkläre uns also, was ein Ketzer ist, und zwar aus der Heiligen Schrift. » Schließlich handle es sich um eine besonders wichtige Frage, « da es in ihr um das Leben eines Menschen geht, für den Christus gestorben ist » (S. 198). Um Calvins Versäumnis nachzuholen, greift Castellio selbst die Frage auf, was ein Ketzer und wie er zu bestrafen sei. Dies geschieht auf differenziertere Weise als im De haereticis. Denn Castellio unterscheidet drei Arten von Sekten, die es bereits zur Zeit Jesu gegeben habe: die Frommen (pii), die Gottlosen (impii: Religionsverächter, Gotteslästerer, Apostaten) und die Mittlerern (medii), die an Gott und die Bibel glaubten, sie aber nicht verstünden. Während man über die Gottlosen aufgrund ihres Lebenswandels leicht urteilen könne, herrsche großer Streit über die Frage, wer die wahren Christen seien. Sie sind nach Castellio (ganz im Sinne seines moralistischen, undogmatischen Verständnisses des Christentums) an ihren Früchten zu erkennen, an der Liebe, Güte, Sanftmut, gleichgültig ob sie Papisten, Lutheraner, Zwinglianer oder Täufer seien. Wer ihren Ermahnungen nicht folge, der sei wahrhaftig Ketzer und unbelehrbar (S. 222–226). Jetzt aber pflege man die Menschen nicht nach ihrem Lebenswandel, sondern nach ihrer Lehre zu beurteilen. Wer darin in irgendeiner Frage von ihnen abweiche, der gelte als Ketzer, werde verfolgt und getötet (S. 226). Die Folge sei, dass sich alle gegenseitig als Ketzer verfolgten: «Dies wird dazu führen, dass die Calvinisten in Frankreich und 37
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die Papisten in Genf getötet werden und die Lutheraner von den Zwinglianern und die Zwinglianer von den Lutheranern und von allen die Täufer und alle von den Täufern getötet werden und das Töten kein Ende hat, bis wir uns alle gegenseitig verwundet und getötet haben. » Dabei glaubten doch alle an denselben Herrn und Retter Christus (S. 226). Sie irrten nur in einem Punkt der Lehre. Gott wolle sie, seiner Barmherzigkeit entsprechend, belehren, aber nicht töten lassen. Das gelte sogar für die Papisten, « die so schwer und in so vielen Punkten irren » (S. 229). Eine Grenze für religiöse Toleranz zeigt sich bei Castellio insofern, als er der Obrigkeit gestattet, gegen Gottlose, Gottes lästerer und Apostaten (impii) vorzugehen. An einer Stelle deutet er sogar an, die Obrigkeit dürfe gegen solche Menschen die Todesstrafe verhängen (S. 194).110 Grundsätzlich soll aber die Obrigkeit in Fragen der Religion auf christlich-erzieherische Weise handeln, damit sich die Menschen « vielleicht bessern » (S. 227). Auch wenn das Contra libellum Calvini zu Lebzeiten Castellios nicht gedruckt und nur im Untergrund, als Manuskript, verbreitet werden konnte, gehört es zweifellos neben dem De haereticis zu den bedeutendsten Zeugnissen der durch den Fall Servet ausgelösten Kontroverse über die Religionsfreiheit. In dieser Schrift prallen die Argumente beider Parteien zum ersten Mal direkt aufeinander. Der Streitschriftenkrieg zum Fall Servet war mit dem Contra libellum Calvini nicht beendet. Er verschärfte sich noch, da sowohl Castellio als auch Theodor Beza (auf der Seite Calvins) weitere Streitschriften verfassten: Beza im September 1554 das De haereticis a civili magistratu puniendis libellus (Das Büchlein über die Bestrafung der Ketzer durch eine weltliche Obrigkeit),111 um Castellios De haereticis zu widerlegen; dieser 38
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im März 1555 das De haereticis a civili magistratu non puniendis libellus (Das Büchlein über die Nichtbestrafung von Ketzern durch eine weltliche Obrigkeit),112 um auf Bezas Buch zu antworten. Als Castellio mit der Niederschrift begann, schien er sich wenig Hoffnung darauf zu machen, dieses Werk jemals drucken zu können. Er sah auch Gefahren für sich und seine Freunde voraus. Doch er nahm sie (wie er selbst berichtet) « der Wahrheit wegen » auf sich und in der Gewissheit, dass Gott schon einen Weg finden werde: « Aber die Wahrheit ist von so großer Bedeutung, dass man die Gefahr auf sich nehmen muss. Wenn jene auch Gewalt über unsere Leiber haben, so sind unsere Seelen gewiss in der Hand eines Mächtigeren. »113 In der Tat konnte auch diese Toleranzschrift (Castellios letzte direkte Äußerung zum Fall Servet) zu Castellios Lebzeiten nicht gedruckt werden. Das lateinische und französische Manuskript des De haereticis non puniendis hat sich über mehrere Jahrhunderte in der Gemeentebibliotheek Rotterdam erhalten. Es wurde von Bruno Becker kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges entdeckt und 1971 von ihm und M. Valkhoff in Genf veröffentlicht.114 Da wir beide Schriften bereits an anderem Ort ausführlich vorgestellt haben115 und sie für die Geschichte des Contra
Theodor Beza
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libellum Calvini keine direkte Bedeutung besitzen, müssen wir hier nicht weiter auf sie eingehen. Die Auseinandersetzung zwischen Castellio und den Genfern fand mit dem De haereticis non puniendis kein Ende. Sie setzte sich in den folgenden Jahren fort bis zum Tode Castellios. Sie verlagerte sich jedoch von der Frage der Toleranz auf andere theologische Streitpunkte, zum Beispiel auf die Prädestinations lehre Calvins und Castellios lateinische Bibelübersetzung (Biblia Sacra).116 Und sie verband sich seitens der Genfer mit heftigen persönlichen Ausfällen gegen Castellio. Noch in der letzten uns bekannten schriftlichen Äußerung des Basler Professors, seiner Verteidigung vor dem Basler Rat vom 24. November 1563, musste er sich gegen die Vorwürfe Bezas und Calvins wehren, er, Castellio, sei Libertiner, Pelagianer, Patron aller möglichen Verbrecher wie Ketzer, Ehebrecher, Mörder; er sei Papist, Gotteslästerer und « Akademiker », also radikaler Skep tiker, wie man dieses Wort damals verstand. Seine Bibelüber setzung sei unter dem Einfluss des Satans entstanden; er habe bei Hochwasser Holz auf dem Rhein gestohlen und vieles mehr dieser Art.117 Die Verteidigung vor dem Basler Rat ist Castellios letzte schriftliche Äußerung. Sie enthält seinen letzten allgemeinen Appell für Toleranz in Fragen der Religion, der in seinem ausführlichen Bezug auf 1. Korinther 13 an das an Eduard VI. gerichtete Vorwort in der Biblia Sacra erinnert: « Ich habe geschrieben, und ich schreibe auch jetzt, und ich meine es auch so, dass die Streitigkeiten, die es unter den Theologen wegen der Religion gibt, nicht aus der Schrift beigelegt werden können, wenn nicht zugleich der Geist Christi, der die Gesinnung offenbart, und die Liebe vorhanden sind. Und ich füge dies hinzu: Wenn wir uns nicht darum bemühen, Liebe zu üben, werden wir, je mehr Schriften wir besitzen, desto weniger Geist 40
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haben und desto mehr täglich untereinander streiten und daher schlechter werden. Darüber hinaus füge ich auch noch ein anderes Wort des Paulus hinzu: ‹ Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Glocke. Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und Erkenntnisse und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte dennoch der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich all meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte der Liebe nicht, so nützte es mir nichts. › » [1. Kor 13,1–3]118 Der vom Herausgeber gewählte Titel dieses Buches heißt: « Gegen Calvin ». Er folgt damit in gewisser Weise dem Titel, den Castellio seiner Antwort auf Calvins Defensio orthodoxae fidei gegeben hat: « Gegen das Büchlein Calvins ». Das heißt jedoch nicht, dass hier bewusst ein Buch gegen Calvin vorgelegt werden soll. Es ist höchstens insofern ein Buch gegen Calvin, als es (bei all unserer Bewunderung für die historische Leistung und Bedeutung des Genfer Reformators) an ein dunkles Kapitel seiner Biographie erinnert: an die Verbrennung des Spaniers Michael Servet; und es ist insofern ein Buch für Castellio, als es ihm – nach der kürzlich erschienenen deutschen Übersetzung des De haereticis, der Historia de morte Serveti und der Verteidigungsschrift vor dem Basler Rat – erneut die Gelegenheit gibt, sich postum mit seinen Argumenten für Toleranz und gegen Calvins Intoleranz an eine deutsche Öffentlichkeit zu wenden. Die Grundlage für unsere deutsche Übersetzung bildet die in der Universitätsbibliothek Genf erhaltene, wohl von Reinier Telle besorgte Edition des Contra libellum Calvini von 1612, die wir als Kopie benutzten. Sie weist viele Lese- und Druckfehler auf, von denen wir nur die für unsere Übersetzung relevanten 41
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in unseren Anmerkungen verzeichnen; gleichsam als zarter Hinweis darauf, dass eine neue Edition des lateinischen Textes zu den wichtigen wissenschaftlichen Aufgaben der CastellioForschung gehört. Die Edition des Contra libellum Calvini nennt keinen Verfasser, auf Castellio wird lediglich im lateinischen Vorwort hingewiesen. An seiner Verfasserschaft gibt es jedoch keinen Zweifel, da sich ein Fragment des Manuskriptes, eindeutig von Castellios Hand, in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Basel erhalten hat.119 Den im Contra libellum Calvini nicht gedruckten Teil dieses Fragmentes, das Buisson zum ersten Mal veröffentlicht hat,120 haben wir in unsere Übersetzung eingefügt. Hilfreich für unsere Arbeit war die gut kommentierte, mit einem lesenswerten Vorwort versehene französische Über setzung Étienne Bariliers. Seinen Eingriff in den überlieferten lateinischen Text halten wir jedoch für wenig sinnvoll, da er kaum zu einem besseren Textverständnis beiträgt. Die spanische Übersetzung des Contra libellum Calvini von Joaquin Fernández Cacho und Ana Gómez, kenntnisreich eingeleitet von Sergio Baches Opi, die sich in Bibliotheken des deutschsprachigen Raums nur selten findet, haben wir erst nach der Fertigstellung unserer Übersetzung erhalten. Wir haben sie daher teilweise nur noch in dieser Einführung berücksichtigen können.121 Als ich mich vor über vierzig Jahren dazu entschloss, meine Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte der Universität Zürich aufzugeben und, meiner Familientradition folgend, als Lehrer zu arbeiten, notierte ich in meiner Kopie des Contra libellum Calvini: « Eine lohnende Aufgabe: Neuedition dieses Werkes mit Kommentar und Einleitung. Zürich, 28. 3. 1974. » Damals hätte ich mir kaum vorstellen können, dass ich viele Jahre später, durch die Übersetzung des Contra libellum Calvini, zu dem 42
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Thema Castellio und damit zu dem früheren Forschungsbereich meiner Dissertation über « Calvin und Basel » zurückkehren würde. Dass ich es nun doch getan habe, verdanke ich der Initiative des Verlegers und Herausgebers der « Bibliothek historischer Denkwürdigkeiten », Wolfgang F. Stammler. Er hat mich nicht nur zu dieser Übersetzung ermutigt, sondern sie auch mit großer Geduld auf vielfache Weise gefördert und das Ergebnis meiner Arbeit schließlich in seine « Bibliothek » aufgenommen. Ihm gilt mein besonderer Dank. Zu Dank verpflichtet fühle ich mich auch Hans-Joachim Pagel, dem Lektor des Alcorde Verlags, der meine Übersetzung nebst Kommentar gründlich überprüfte und aus der Fülle seiner Kenntnisse viele Hinweise gab, Ergänzungen und Verbesserungen empfahl. Es war eine Freude, mit ihm zusammenzuarbeiten. Für die Hilfe bei der Beschaffung von Büchern oder Kopien oder für wertvolle Auskünfte bedanke ich mich bei Carlos Gilly, Basel, bei Frau Richter und Frau Paulini, in der Bibliothek der Leuphana Universität Lüneburg zuständig für Fernleihe, bei Klaus Alpers von der Universität Hamburg, bei Philipp Roelli vom mittellateinischen Seminar der Universität Zürich; bei Florence Gfeller und Jean-Luc Rouiller von der Bibliothèque de Genève; bei Urs B. Leu und Christian Scheidegger von der Zentralbibliothek Zürich; vor allem bei Ueli Dill, Lorenz Heiligensetzer und anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Basel, die mir auch während meines dortigen Aufenthaltes im Herbst 2014 hilfreich zur Seite standen. Die Übersetzung von Castellios Contra libellum Calvini hat viele, vor allem schöne Erinnerungen an meine Studienzeit in Basel geweckt, an Kommilitoninnen und Kommilitonen und akademische Lehrer, von denen ich mit großer Dankbarkeit nur meinen Doktorvater Werner Kaegi, den Latinisten Harald Fuchs und den Kirchenhistoriker Max Geiger nenne. 43
gegen calvin
Titelseite des Contra libellum Calvini aus dem Jahr 1612. Diese Jahreszahl ergibt sich, wenn man das falsche L (= 50) aus der rรถmischen Ziffer entfernt.
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GEGEN DAS BÜCHLEIN CALVINS in dem versucht wird zu zeigen, dass man Ketzer mit der Macht des Schwertes bestrafen muss.
Richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der das in der Finsternis Verborgene ans Licht bringen und die Absicht der Herzen offenbaren wird. 1. Kor. 4[,5] Sprüche 14 [= 12,6] Der Gottlosen Rede trachtet nach Blutvergießen, der Mund der Rechtschaffenen versucht es zu verhindern.
Psalm 2[,10] So nehmt nun Verstand an, ihr Könige, und lasst euch warnen, ihr Richter der Erde.
Im Jahr des Herrn [1612]
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gegen calvin
Originalseite aus dem Contra libellum Calvini mit Castellios Vorwort
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VORWORT
Z
u1 wünschen ist, dass gute Menschen großes Ansehen genießen, schlechte aber nicht. Denn die Menschen lassen sich vor allem durch Vorbilder leiten und vertrauen in Fragen, in denen sie unsicher sind, allein auf deren Autorität. Wenn daher jemand, der Ansehen genießt, ein guter Mensch ist, wird weniger, wenn er aber schlecht ist, schwer und häufig gesündigt. Nun ist es aber so, dass in dieser verkehrten Welt Ansehen und Macht fast immer von der Masse abhängt, die sie vor allem denen zugesteht, die sich für ihren Vorteil oder für ihr Vergnügen einsetzen oder ihnen Ehre erweisen. Wenn diese dann bei Auswärtigen auch noch in hohem Ansehen stehen, fühlt sich die Masse dadurch sogar noch geschmeichelt. Diejenigen aber, die sie zurechtweisen oder ihr gegenüber keine Nachsicht zeigen, lehnt sie ab. So werden von ihr zumeist die Schmeichler und Heuchler geschätzt, aufrechte, ernste und von der öffentlichen Meinung unabhängige Menschen aber verachtet. Doch da nichts so verborgen ist, dass es nicht irgendwann aufgedeckt wird, und da die Schmeichelei, die mir heute süß ist, sich morgen als bitter und schmerzhaft erweist, werden die Menschen, nachdem sie, geblendet von den Schmeicheleien, großen Schaden erlitten haben, die Schmeichler durchschauen und verfluchen. Die Guten dagegen, deren Rat sie zuvor verschmähten, weil er dem Fleisch2 zuwider war, werden sie loben und verteidigen. Daher geschieht es in der Regel, dass gute Menschen nach ihrem Tod gelobt, schlechte dagegen verunglimpft werden. Zu Lebzeiten aber tritt genau das Gegenteil ein: gute Menschen werden getadelt, schlechte gelobt. Schuld 47
fol. A1r
gegen calvin
fol. A1v
daran ist die Unwissenheit der Menschen, die das kurze, augenblickliche Vergnügen den dauerhaften künftigen Freuden vorziehen. Wie wenn ein Kind heute lieber eine Birne als morgen eine Erbschaft haben will. Wenn die Menschen aber wahrhaft verständige Menschen wären, würden sie das Gegenteil tun und dadurch die größten Übel vermeiden. Beispiele dafür begegnen uns zur Genüge: Noah besaß zu seiner Zeit keine Autorität; wenn er sie gehabt hätte, wäre jene Zeit nicht so elendiglich durch die Sintflut zugrunde gegangen. Dasselbe geschah mit Lot, den die Sodomiter verschmähten und die deshalb vernichtet wurden; dasselbe mit den Propheten und Johannes dem Täufer, mit Christus und den Aposteln. Weil die Juden diese verachteten, stürzten sie sich in schwerste und dauerhafteste Not. Sie folgten nämlich den ebenso verlockenden und schmeichlerischen wie blutigen Ratschlägen der Schriftgelehrten und Pharisäer. Aber schon damals lehrte Christus, bei seiner Ankunft werde derselbe Zustand herrschen wie zu den Tagen des Noah und Lot: nämlich größte Sorglosigkeit und Verachtung derjenigen, die sie von der Sünde abhalten wollen [Lk 17,26-30]. Wenn aber die Ankunft des Herrn bevorsteht, müssen wir uns besonders vor denen in Acht nehmen, die sich als Schriftgelehrte und Pharisäer hervortun, damit sie uns nicht durch ihre schmeichlerischen Ratschläge ins ewige Verderben stürzen. Vor allem müssen wir diejenigen für uns gewinnen oder zumindest zu gewinnen suchen, die wie Noah oder Lot sind; Menschen also, die uns von den Sünden abhalten, auch wenn ihr Rat erst einmal bitter schmeckt. Auf jeden Fall wird zu unserer Zeit geschehen, was damals geschehen ist: Diejenigen, die sich um das Heil der Menschen bemühen, werden verachtet und misshandelt werden; die falschen Propheten hingegen wird man achten, weil sie dem Fleische schmeicheln. « Wer Ohren hat, der höre » [Mt 11,15]3 und bedenke es wohl. 48
vorwort
Klein ist die Zahl derer, die vernünftig sein wollen. Für sie lasst uns arbeiten. Wer einen klugen Rat verachtet, wird ihn später vergeblich suchen. Glücklich sind, die sich nicht selbst schmeicheln und die Schmeicheleien anderer zurückweisen. Worauf ich mit dem Gesagten hinaus will, werde ich nun darlegen. Johannes Calvin besitzt heute höchste Autorität. Ich würde ihm eine noch größere wünschen, wenn ich ihn als einen milden und barmherzigen Menschen sähe. Aber durch seine jüngste Tat hat er öffentlich gezeigt, dass er nach dem Blut vieler Menschen dürstet, und durch seine Schrift hat er viele Fromme in Gefahr gebracht.4 Da ich jedoch aufgrund meiner Natur und Bildung Blut völlig verabscheue (wie es alle verabscheuen müssen), werde ich sein Tun aller Welt (so Gott will) bewusst machen,5 damit die, die nicht zugrunde gehen wollen, sich nicht länger von ihm täuschen lassen und wieder auf den rechten Weg gebracht werden. Im vergangenen Jahr, am [27].6 Oktober 1553, wurde in Genf der Spanier Michael Servet wegen seiner Ansichten über die Religion verbrannt. Dies geschah auf Drängen und Veranlassung Calvins, des Pastors dieser Kirche. Nachdem die Verbrennung Servets bekannt geworden war, waren viele Menschen empört, besonders Italiener und Franzosen: erstens, weil ein Mensch wegen seiner Ansichten über die Religion getötet worden war, zweitens, weil er so grausam getötet worden war, drittens, weil es auf Veranlassung eines Pastors geschah, viertens, weil sich Calvin bei seiner Tötung mit seinen Fein den verschworen hatte; denn auch das wurde ber ichtet; fünftens, weil seine Bücher in Frankfurt verbrannt worden waren, und sechstens, weil man ihn nach seinem Tod von den Predigern zur Hölle gewünscht hatte.7 49
fol. A2r
gegen calvin
fol. A2v
Als Calvin dies hörte, veröffentlichte er sein Buch gegen Servet, um sich zu rechtfertigen und diesen zu widerlegen und darüber hinaus zu erklären, warum er mit dem Tode bestraft werden musste.8 Was Calvin mit diesem Buch zu erreichen sucht, sehen nur wenige. Es kommt nämlich so geschminkt und gefärbt unter einem falschen Schein von Frömmigkeit daher, dass dies nicht leicht erkannt werden kann, besonders nicht von den Anhängern Calvins. Deshalb habe ich mir vorgenommen, dieses Buch zu überprüfen und zu erklären, um, wenn möglich, zu verhindern, dass sich jemand davon irreführen lässt. Doch lasse sich hier niemand beunruhigen. Möge der Leser meine Argumente abwägen und ohne Rücksicht auf Rang und Würde von Personen ganz nach der Wahrheit (die sonst nicht erkannt werden kann) streben. Mit Gottes Willen wird es mir gelingen, denen, die nicht blind sein wollen, am Ende die Augen für das Treiben dieses Mannes zu öffnen. Vielleicht wird Calvin in seiner üblichen Art behaupten, ich sei ein Schüler Servets. Doch lasse sich niemand davon abschrecken. Nicht die Lehre Servets verteidige ich, sondern die falsche Lehre Calvins zeige ich auf.9 Deshalb werde ich die Trinität, die Taufe und die anderen schwierigen Fragen nicht erörtern, weil ich die Bücher Servets, die Calvin ja so gründlich verbrannt hat, nicht besitze, um aus ihnen ersehen zu können, was er gemeint hat.10 Aber bei allen anderen Fragen, die nicht zur Erörterung dessen gehören, was Servet betrifft, werde ich die Irrtümer Calvins so darlegen, dass jeder erkennen kann, wie blutdurstig er am helllichten Tage umhertappt (wie ein Blinder) [5. Mose 28,29].11 Ich werde aber nicht so mit ihm verfahren, wie er es mit Servet getan hat: Nachdem er ihn zusammen mit seinen Büchern verbrannt hat, verunglimpft er nun den Toten und betreibt die Widerlegung seiner Irrtümer, indem er (wenn es den Göttern gefällt) Seiten und viele Stellen 50
vorwort
aus dem von ihm verbrannten Buch zitiert. Das ist so, wie wenn jemand sein Haus verbrannt hat und uns dann auffordert, aus diesem Haus die oder die Gefäße zu holen, und uns zeigt, wo das Schlafzimmer oder die Schränke standen. Wir aber werden Calvins Bücher nicht verbrennen. Es lebt der Autor, und es lebt das Buch, das er selbst auf Lateinisch und Französisch12 veröffentlicht hat. Damit aber niemand behaupten kann, es sei von uns etwas entstellt worden, werde ich seine Worte zitieren und diejenigen Stellen, mit denen ich mich auseinandersetzen will, wo immer nötig mit Zahlen kennzeichnen. Danach werde ich die entsprechenden Zahlen meinen Ausführungen voranstellen, damit man den Sachverhalt rasch erfassen kann. Beginnen werde ich mit dem Titel des Buches, der folgendermaßen lautet: CALVIN 1 13
« Verteidigung des rechten Glaubens über die heilige Trinität, gegen die ungeheuerlichen Irrlehren des Spaniers Michael Servet, wo gezeigt wird, dass Ketzer mit dem Recht des Schwertes bestraft werden müssen und dass das Todesurteil namentlich gegen einen so gottlosen Menschen völlig zu Recht in Genf vollstreckt worden ist. » VATICANUS
Den Begriff Ketzer bezieht er auf ihre Irrlehre, als wolle er sagen: Ich werde gegen die Irrlehren des Servet schreiben, um zu zeigen, dass Irrende, das heißt Ketzer, mit dem Recht des Schwertes zu bestrafen sind, genauso wie der irrende Servet mit dem Schwert bestraft worden ist. Dass Calvin dies beabsichtigt, wird sich später zeigen. Er will nämlich, dass diejenigen, die schwere Irrtümer begehen, getötet werden; es sei denn, sie folgen der Meinung Calvins. Und wo immer er über die Ketzer spricht, geht er (wie ich zeigen werde) so vor, dass 51
fol. A3r
gegen calvin
Portr채t von Johannes Calvin, um 1550 Franse School um 1550 Museum Boymans van Beuningen, Rotterdam
52
vaticanus zu calvin 1
Titelblatt von Calvins Defensio orthodoxae fidei (1554), die Castellio zur Grundlage seiner Gegenschrift Contra libellum Calvini diente.
53
gegen calvin
diejenigen, die Calvin zusammen mit seinen Leuten als Ketzer verurteilt, als Gefolgsleute Servets bezeichnet werden. Wenn es dazu kommt, wird man alle Christenmenschen außer den Calvinisten, also denen, die Calvins Lehre für richtig halten, verbrennen müssen. Dabei beginnt er folgendermaßen: CALVIN 2 14
Obwohl unter anderen ungeheuerlichen Irrlehren, mit denen Satan das Licht des wieder erwachenden Evangeliums in dieser Zeit zu unterdrücken versucht, besonders abscheulich (1) die Anhäufung von Gottlosigkeiten ist, die Michael Servet in seinen Büchern ausgespien hat, habe ich bislang nicht geglaubt, diesen Menschen besonders widerlegen zu müssen, weil sich seine (2) Wahnvorstellungen als so absurd erwiesen, dass ich hoffte, sie würden sich, wenn man nicht weiter auf sie eingeht, (3) in Rauch auflösen. VATICANUS
fol. A3v
(1) « Gottlosigkeiten » nennt er das, was er im Titel seines Buches « Irrlehren » und hier « Wahnvorstellungen » nennt. Das passt aber nicht zusammen. Denn als « Irrlehre » kann man « Gottlosigkeit » im eigentlichen Sinne nicht bezeichnen, es sei denn, du willst Paulus, als er die Kirche verfolgte, gottlos nennen, oder Thomas, als er nicht glaubte, dass Christus auferstanden ist [Joh 20,24–29]. Dies waren sicher sehr schwerwiegende Irrtümer. Doch gottlos nennt die Heilige Schrift diejenigen, die wissentlich und in gottloser Gesinnung, nicht aber aus Schwäche oder Unwissenheit sündigen. Zu diesen gehörte Kain, der seinen Bruder tötete, oder Saul, der David verfolgte, obwohl dieser doch selbst bekannt hatte, er tue ihm Unrecht [1. Sam 26,21]. Für solche bittet Christus nicht, wenn er sagt, er « bitte nicht für die Welt » [Joh 17,9]. Aber für die Irrenden bittet er mit den Worten: « Vergib ihnen, denn sie 54
vaticanus zu calvin 2
wissen nicht, was sie tun » [Lk 23,34], was so viel heißt: sie sündigen aus Irrtum. Denn wenn sie ihn erkannt hätten, hätten sie niemals den Herrn des Ruhmes gekreuzigt. (2) Wahnhafte Menschen aber gottlos zu nennen ist fast selbst ein Zeichen für einen wahnhaften Menschen. Denn auf wen die Gottesfurcht nicht zutrifft, auf den trifft auch die Gottlosigkeit nicht zu. Zu einem Wahnhaften passt aber Gottlosigkeit ebenso wenig wie zu einem Tier. Folglich kann man einen Wahnhaften nicht gottlos nennen. (3) Und sicher hätten sie sich « in Rauch aufgelöst », wenn die Wahnvorstellungen absurd gewesen wären. Denn die Men schen sind nicht so verrückt, dass sie sich von absurden Wahn vorstellungen und haltlosen Phantastereien fangen ließen, wie er wenig später selbst sagt. Einige Zeilen danach fährt er fort: CALVIN 3 15
(1) Später habe ich durch den Bericht gutgesinnter Männer erfahren, dass ich mich geirrt habe. VATICANUS
Calvin hat sich also geirrt. Er hat etwas getan, was ich, wie ich zugebe, für undenkbar gehalten habe. Hätte das vorher jemand über ihn gesagt, wäre er vielleicht von Calvins Schülern für einen Gotteslästerer gehalten worden. Wenig später, nachdem er über die Wissbegier der Alten16 geklagt hat, fährt er dann fort: CALVIN 4 17
Und wie ist es heute? Sehr viele Menschen, ohne jede Scham, verhöhnen Gott in aller Offenheit. (1) In seine schrecklichen Geheimnisse dringen sie nicht weniger schamlos ein als Schweine, wenn sie mit ihren Schnauzen in einem kostbaren Schatz herumwühlen. 55
fol. A4r
gegen calvin VATICANUS
(1) Er scheint sich selbst zu widersprechen. Zu den wirklich « schrecklichen Geheimnissen » gehören die Trinität, die Prädestination und die Erwählung. Darüber spricht dieser Mann mit solcher Gewissheit, als sei er im Paradies gewesen, und belehrt uns in diesem Buch so spitzfindig über die Trinität, dass er vor allem die Gewissen der einfachen Gemüter durch seine Besserwisserei erschüttert und zum Zweifeln bringt. Im Hinblick auf die Prädestination aber hat er eine so unverdaute Lehre aufgestellt,18 dass er damit unzählige Menschen in eine Sicherheit versetzt, wie sie vor der Sintflut oder zu Zeiten Lots nicht größer gewesen ist, so dass die Welt, nachdem er sie so zugerüstet hat, bei der Ankunft des Herrn nur umso sicherer unterdrückt werden kann. CALVIN 5 19
Viele beschmutzen durch ihr unreines und verbrecherisches Leben das Bekenntnis des Evangeliums. VATICANUS
Unrein und verbrecherisch nennt er mit Recht die Ehebrecher, Trunkenbolde und andere dieser Art. Aber er erkennt nicht, dass kein Menschengeschlecht unreiner ist als die Heuchler, die als Schafe verkleidet die Schafe verschlingen [Mt 7,15].20 CALVIN 6 21
Um von anderen Dingen ganz zu schweigen, stellen wir fest, wie (1) dreist sich die meisten mit ihren Hirngespinsten gebärden und wie das unersättliche Verlangen nach Neuerungen wie ein krankhaftes Jucken andere aufscheucht.
56
vaticanus zu calvin 6 VATICANUS
(1) Wie er selbst es macht, der so vermessen ist, dass seinen Meinungen zu widersprechen in Genf als Sünde angesehen wird. So ist es weder erlaubt, Kinder mit anderen als mit den von Calvin vorgeschriebenen Worten zu taufen, noch Psalmen an anderen als den dafür vorgesehenen Tagen zu singen.22 In mehr als zehn Jahren hat er mehr Neuerungen eingeführt als die ganze Kirche in sechshundert,23 obwohl er doch in seiner « Institutio » solche Neuerer aufs heftigste angegriffen hat, so dass es scheint, er habe sie vertreiben wollen, um selbst ihren Platz einzunehmen. Ich zitiere seine Worte aus der ersten « Institutio » (die in Basel im Jahre 1536 gedruckt wurde), Kap. 6, S. 429 [f.]: CALVIN 7 24
(1) « Da die Apostel die Befugnis, Gesetze einzubringen, selbst nicht kannten und den Dienern der Kirche so oft durch Gottes Wort entzogen worden ist, wundere ich mich [über die], die es wagten, diese Befugnis − entgegen dem Beispiel der Apostel und trotz des klaren Verbotes Gottes − an sich zu ziehen. Denn Jakobus schreibt ganz unmissverständlich (Jak 4[,11–12]): (2) ‹Wer seinen Bruder verurteilt, der verurteilt das Gesetz. Wer aber das Gesetz verurteilt, richtet sich nicht nach dem Gesetz, sondern ist sein Richter. Einer aber ist allein Gesetzgeber, der retten und verderben kann.› » Und weiter unten schreibt er:25 « Auch Petrus ermahnt die Hirten [1. Petr 5,1–3], indem er sie an ihre Pflicht erinnert, die Herde so zu weiden, dass sie keine (3) Herrschaft über die Schafe26 ausüben […].27 Siehe, welche Macht auch immer die für sich beanspruchen, die sich ohne Gottes Wort hervortun wollen: ganz abgeschnitten und sogar von der Wurzel abgerissen ist sie. Denn die Apostel haben nicht den Auftrag, ihre Lehre und ihre Herrschaft zu festigen, sondern lediglich sein Reich und seine Lehre zu preisen. » 57
fol. A4v
gegen calvin
Titelseite der von Castellio viel zitierten ersten Ausgabe der Institutio von 1536, die er vermutlich bereits in seinen Jahren in Lyon gelesen hat und durch die er zu einem Anh채nger Calvins wurde.
58
vaticanus zu calvin 7 VATICANUS
(1) Du aber hast sie [die Gesetzgebungsbefugnis] gekannt, der du die Gesetze in Genf vor acht Jahren eingeführt hast, deren Autorität du gegen andere angewendet hast.28 Und nur wenige Tage nach Servets Tod hast du den Berthelier angegriffen und den Schutz der Obrigkeit gemäß den von dir eingebrachten und vom Rat beschlossenen Gesetzen gegen andere eingefordert; und dieselben [Gesetze] hast du an deine schweizerischen Kirchen gesandt, damit diese auf der Grundlage deiner Gesetze über die Exkommunikation Bertheliers entscheiden sollten, wie sie kurz zuvor über Servet entschieden hatten.29 Wenn du aber sagst, du hättest keine neuen Gesetze eingeführt, sondern alles gemäß Gottes Wort beschlossen, dann muss man dir als erstes entgegenhalten, dass du gar nichts hättest schreiben dürfen. Sondern so wie Gott die Gesetze gemacht hat, so hätte man sie lassen müssen. « Die Schnauze hätte nicht so frech in dem kostbaren Schatz herumwühlen dürfen. »30 Außerdem wird man dich fragen, wo denn das Wort Gottes lehrt, man müsse Calvins Gebot folgen und bestimmte Psalmen an bestimmten Tagen singen und vieles andere tun, was man deiner Verordnung entsprechend so beachten muss, dass Wider stand dagegen als größeres Unrecht gilt als eine Sünde gegen den heiligen Geist. (2) Du hast natürlich Servet und unzählige andere nicht verurteilt. (3) Er selbst herrscht so, dass er von vielen Menschen einfach « Herr » genannt wird. Einmal wurde unter den Predigern diskutiert, ob Calvin « Herr » genannt werden müsse, da doch andere « Magister » genannt wurden. Dank seiner Vorrangstellung erreichte er es, dass man ihn « Herr » nannte.31 Es kam nämlich einmal ein armer, einfacher Mann in sein Haus, der fragte, ob der Bruder zu Hause sei. Ihm wurde geantwortet: Was heißt hier Bruder? Er ist bedeutend genug, dass du ihn Herr nennst. 59
fol. A5r
gegen calvin
Schreiben des Genfer Rats an den Basler Rat wegen der Exkommunikationsfrage vom 30. November 1553 (siehe auch Anm. 28)
60
vaticanus zu calvin 7
Schließlich nahm die Herrschaft Calvins in Genf solche Formen an, dass ihn zu kränken weit gefährlicher war als den König von Frankreich in seinem Palast. Dies wissen unzählige von ihm vertriebene und elend gequälte Menschen, die aufzuzählen eine lange Geschichte wäre.32 Und nun behauptet er, so etwas hätten auch die Apostel getan oder gelehrt. Doch wenden wir uns nun wieder dem Buch zu, das uns beschäftigt. CALVIN 8 33
Diese Fehler vergilt Gott mit einem gerechten und verdienten Lohn, indem er Menschen, die ansonsten keineswegs dumm sind und eine gewisse Bildung besitzen, aufgrund ihrer eigenen stumpfsinnigen Gedankenlosigkeit auf abscheuliche und beschämende Irrwege geraten lässt. Obwohl ich nicht rechtzeitig, wie es sich gehört hätte, über die Anwendung eines Heilmittels nachgedacht habe, so habe ich mich dennoch, sobald ich das Problem erkannt hatte, kaum darüber gewundert, dass viele in (1) Italien mit dieser Seuche infiziert worden sind. Meine Worte werden die gerechten und (2) maßvollen Menschen dieses Volkes nicht nur nicht übel nehmen, sondern sich mir gerne bei der Besserung (3) des Übels ihres Vaterlandes anschließen.34 O möge das doch auch für andere Regionen, besonders für unser Frankreich gelten.35 VATICANUS
Es lohnt sich hier, einmal genau hinzuschauen, warum er dies vor allem über (1) die Italiener und Franzosen sagt. Die übrigen Nationen kennen Calvin mehr durch seine Schriften als durch seinen Charakter. So kommt es, dass viele Menschen entlegener Völker ihn für einen Gott halten, weil sie glauben, sein Charakter entspreche seiner Predigt. Tatsächlich strömen aus Italien und Frankreich viele nach Genf, aber aufgrund 61
fol. A5v
gegen calvin
fol. A6r
langjährigen Umgangs mit ihm erkennen einige die wahre Gesinnung Calvins. Obwohl die schon vorher klar war, trat sie im Zusammenhang mit Servet deutlich zutage. Denn zu der Zeit, als Servet dort im Gefängnis saß, kam zufällig ein berühmter Italiener36 nach Genf. Als man ihm über Servet berichtet hatte, sagte er, er hätte niemals geglaubt, dass jemand wegen seiner Lehren, auch wenn sie noch so ketzerisch seien, sterben müsse, und führte dafür seine Gründe an. Danach äußerte er sich zu einigen Aussagen der Lehre Servets: dass Jesus Christus, auch was sein Menschsein betrifft, wahrer und natürlicher Sohn Gottes sei, dass er von Gott selbst und einer Jungfrau gezeugt worden sei, und gab zu erkennen, dass ihm diese Lehre durchaus gefalle, ja dass er schon von Kindesbeinen an immer so gedacht habe. Aber die Amtsbrüder nahmen sofort Anstoß daran und behaupteten, er vertrete die Lehre Servets und sei, wenn er weiter daran festhalte, als Ketzer zu meiden. Überrascht von der heiklen Situation, begann er sie zu bitten, ihm die Gelegenheit zu einer Zusammenkunft zu gewähren, wo er seinen Standpunkt offen darlegen könne, oder um wenigstens das Ohr Calvins (dessen Autorität er immer hoch geschätzt habe) für sich zu gewinnen, damit er von ihm in einer derart bedeutenden Frage genauer aufgeklärt werden könne. Aber er erreichte nichts. Daher ging er, darüber sehr verärgert, fort und schrieb den Brüdern in Vicenca einen Brief über das Erlebte.37 Außerdem schickte ein gewisser Lelio Sozzini einen Brief an seinen Freund nach Genf,38 worin er schrieb, das Blut Abels schreie zu Gott; Kain werde nun keinen Frieden auf Erden finden. Auch Bernardino Ochino kam am Tage nach der Verbrennung Servets auf seiner Rückkehr von England nach Genf;39 ihn besuchte jemand, der ihm vom Tod Servets berichtete. Bernardino drückte offen seine Missbilligung über das Geschehene aus. Das machte ihn verhasst. 62
vaticanus zu calvin 8
Dazu kamen einige Verse von den Brüdern aus Graubünden.40 Darin hieß es, ein Servet sei von Calvin getötet worden, aber unzählige andere seien zu neuem Leben erwacht. Sein Leib sei zwar verbrannt worden, aber sein Geist lebe unberührt weiter. Selbst wenn Christus nach Genf käme, würde er dort gekreuzigt werden. Der christlichen Freiheit wegen dürfe man nicht mehr nach Genf gehen. Denn dort herrsche ein zweiter Papst, der Menschen lebendig verbrenne, während der in Rom sie wenigstens vorher erwürgen lasse. Denn fast alle Italiener, auch die Calvins Lehre billigen, waren damals über diese Grausamkeit zutiefst empört, was großenteils auch für Frankreich zutrifft. Dies Geschehen machte Calvin bei diesen Völkern noch unbeliebter. (2) Gerecht und maßvoll nennt er diejenigen, die seine Grausamkeit billigen. (3) Und die Eigenschaft, durch die sie sich besonders hervortun, nämlich dass sie nicht jedem beliebigen Menschen blindlings glauben wollen, nennt Calvin das « Übel des Vaterlandes ». Doch den größten Fehler der Italiener erwähnt Calvin mit keinem Wort. Ich meine ihr Verlangen nach Rache, woran in der Tat viele Italiener leiden. Die Italiener sind nämlich ihrem Charakter nach entweder sehr gut oder sehr schlecht. Da aber Calvin ebenso rachsüchtig ist wie die Italiener, ja ihnen darin die Siegespalme entrissen hat, schweige ich klugerweise darüber. CALVIN 9 41
Diese Krankheit ist weit verbreitet und herrscht fast überall. Denn je schneller die Auffassungsgabe eines Menschen ist, umso mehr kitzelt ihn eitle Wissbegier. Bei den Italienern aber tritt sie vielleicht wegen ihres seltenen Scharfsinns besonders hervor.42
63
fol. A6v
gegen calvin VATICANUS
fol. A7r
Er will lieber einfache und dumme Menschen, die er zu etwas überreden kann. Die Klarheit des Geistes fürchtet er und wünscht sie ausgelöscht, damit nichts aufgedeckt werde. Ein solcher Mann war einst der Hochstapler Alexander Pseudomantis, das heißt falscher Prophet, der die Christen und Epikureer von seinen Blendwerken fernhielt.43 Gleich darauf rühmt sich Calvin in höchsten Tönen selbst der Schärfe seines Geistes und erörtert vieles so scharfsinnig, dass es niemand versteht. Aber er beansprucht ihn ausschließlich für sich, um mit umso größerem Gewinn schachern zu können. Er fährt dann fort44 und bezeichnet diejenigen, die sich nicht zum Handlanger dieser Grausamkeit machen wollen, als Schüler Servets, um sie verhasst zu machen. Es hat nämlich bei gewissen Menschen durchaus Methode, diejenigen, die nicht mit ihnen übereinstimmen, mit irgendeinem Namen der Hölle anzuschwärzen, indem sie sie als Atheisten, Libertiner, Täufer oder mit etwas Ähnlichem bezeichnen. Diese Methode haben sie von ihren Vätern gelernt, die so zu streiten pflegten: Er ist Samariter, also « hat er den Teufel. Was hört ihr auf ihn? » [Joh 10,20]. Indem sie ihre Gegner auf diese Weise diffamieren, schrecken sie andere, unerfahrene Menschen davon ab, auf sie zu hören. Und so behalten sie den Sieg, weil die anderen nicht gehört worden sind. Er vergleicht dann45 seine Gegner mit den Midianitern, obwohl die Midianiter untereinander nie so zerstritten waren wie er mit den Seinen. Und sobald er beschlossen hatte, gegen Servet zu schreiben, um die anderen zur Vernunft zurückzuführen, nannte er folgenden Grund für sein Vorgehen: CALVIN 10 46
Sollte jemand entgegnen, feige sei ein Krieg, den man gegen einen Toten führe, und ein klarer Beweis meiner Feindschaft 64
calvin 10
sei, dass ich nun einen Toten verhöhne, den ich geschont habe, als er noch lebte und sprechen konnte; oder grausam sei, wer den Schatten eines Toten verfolge, so gibt es gegen beide Vorwürfe eine ganz einfache Verteidigung.47 Solange ich nämlich die Hoffnung hatte, ihn (1) zur Vernunft zurückzuführen, habe ich nicht aufgehört, mich persönlich darum zu bemühen. VATICANUS
So viel zur Meinung Calvins. Denn er hält diejenigen für unvernünftig, die nicht mit ihm übereinstimmen. [1] Aber nehmen wir einmal an, Calvin sei vernünftig: Wie hätte er denjenigen zur Vernunft zurückführen können, den er so ungerecht behandelte? Die Redner pflegen zu lehren, man müsse das Wohlwollen der Zuhörer gewinnen, um sie überzeugen zu können. Denn wem man feindlich gegenüber steht, von dem kann man nicht überzeugt werden. Der gute Redner Calvin hat Servet, um sein Wohlwollen zu gewinnen, sofort ins Gefängnis geworfen und hat denen, die ihn trösten oder beraten konnten, den Zugang zu ihm aufs Gründlichste verwehrt.48 Alle seine Kollegen hat er gegen ihn aufgebracht. Während Servet im Gefängnis saß, hat er ihn in seinen täglichen Predigten beim Volk aufs Übelste bloßgestellt.49 Auf diese Weise also wurde das Wohlwollen Servets gewonnen, auf diese Weise hat er versucht, ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Hätte Servet tatsächlich beschlossen, auf Calvin zu hören und von ihm zu lernen, wäre er durch diese Ungerechtigkeiten vermutlich abgeschreckt worden. CALVIN 11 50
Um meine Leser nicht mit zweifelhaften Erzählungen aufzuhalten, will (1) ich ehrlich berichten, was er zwei Stunden vor seinem Tode als Wahrheit gegenüber vielen Zeugen bekannt 65
fol. A7v
gegen calvin
hat. Als er um ein Gespräch mit mir gebeten hatte, (2) kamen zwei Senatoren zu mir, (3) die mich in das Gefängnis führen sollten.51 VATICANUS
(1) Wie ehrlich, werden wir bald sehen. (2) Was außerdem bemerkenswert ist: Er hatte es abgelehnt, ihn ohne Erlaubnis des Senats zu besuchen. Ausgerechnet er, der gleich zu Anfang den Rat geradezu gezwungen hatte, Servet gefangen zu nehmen, der wagt es nun nicht, den bereits zum Tode Verurteilten ohne Geleit zu besuchen. Selbst die Senatoren wunderten sich über die kindische Verstellung Calvins. (3) Calvin (ein Schüler Christi) wird ehrenvoll von den Senatoren ins Gefängnis geführt, Servet hingegen hatte man unter großer Schmach von den Liktoren52 abführen lassen. Vergleiche nun Christus mit Calvin. CALVIN 12 53
Was er denn wolle, wurde er gefragt, und er sagte, er bitte mich um Verzeihung. VATICANUS
fol. A8r
Ich erwartete, dass er zugeben würde, was du kurz zuvor gesagt hattest: nämlich dass du dich persönlich darum bemüht hättest, ihn zur Vernunft zu bringen. Nichts dergleichen bekennt er. Du verhöhnst uns und hältst dich nicht an dein Versprechen. Um Verzeihung zu bitten und jenes zuzugeben ist nicht dasselbe. Oder glaubst du, alle seien so dumm, dass niemand deine List durchschaut? Halte dich an dein Versprechen, zeig, dass er es zugegeben hat. Aber weil du dich schlau verstellst, werde ich es anstelle von dir erzählen. Servet war ein recht jähzorniger Mensch. Als er 66
vaticanus zu calvin 12
auf Calvin, einen extrem jähzornigen Mann, getroffen und von ihm zu Unrecht ins Gefängnis geworfen worden war, hatte ihn das sehr verbittert. Deshalb hat er vieles gegen ihn mehr in aufbrausendem Zorn als auf christliche Weise gesagt.54 Was Calvin darauf geantwortet hat, können die, die nicht dabei waren, aus seinen Schriften und Predigten schließen, die er während dieser Zeit gegen ihn gehalten hat. Nachdem Servet also gesehen hatte, dass ihm der Tod drohte, begann er sich darüber Gedanken zu machen, vor Gott Rechenschaft abzulegen, und da er sich recht maßlos geäußert hatte, bat er Calvin um Verzeihung, nicht wegen seiner Lehre, auch nicht weil Calvin ihm jemals Gutes getan hätte, sondern weil Servet gegen Gottes Gebot, Beschimpfungen nicht mit Beschimpfungen zu vergelten, verstoßen hatte. Dies aber leugnet Calvin und verdunkelt dadurch die Augen seiner Leser, als ob Servets Anstand Calvin unschuldig mache. Hier geschieht, was in den Sprüchen55 geschrieben steht: « Wenn ein Reicher Unrecht begeht, droht er noch. Wenn ein Armer Unrecht erfährt, zwingt man ihn, demütig zu bitten. » Servet wurde zum Tode verurteilt und bittet Calvin, der ihn verurteilt hat, noch um Vergebung. Calvin dagegen vergibt weder dem lebenden Servet noch dem toten, wie das ganze Buch, das gegen ihn in anklagender Absicht geschrieben wurde, sowie seine Predigten und die Tatsache beweisen, dass er so heftig mit Worten, Taten und Schriften diejenigen verfolgt, die es wagen, sich Servets zu erbarmen. Seht den Hirten der Schafe Christi, der sein Leben hingibt für seine Schafe [Joh 10,11]; seht den Christenmenschen, der die Sonne über seinem Zorn nicht untergehen lässt [Eph 4,26]! CALVIN 13 56
Ich aber habe aufrichtig gesagt, dass ich ihn niemals (1) wegen persönlicher Beleidigungen verfolgt habe. Mit aller mir 67
fol. A8v
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möglichen Sanftmut habe ich ihn daran erinnert: Schon vor sechzehn Jahren hätte ich mich, auch unter Lebensgefahr, darum bemüht, ihn zur Vernunft zu bringen.57 Es habe nicht an mir gelegen, dass nicht alle Frommen einem Menschen, der wieder zur Einsicht kam, die Hand reichten. Danach hätte ich in persönlichen Briefen friedlich und völlig unverstellt mit ihm verkehrt. Kurz gesagt, ich hätte nichts versäumt, ihn meines Wohlwollens zu versichern − solange jedenfalls, bis er im Zorn über meinen freimütigen Tadel (2) Gift und Galle gespuckt hat.58 VATICANUS
fol. B1r
(1) Er behauptet, dass er ihn niemals wegen persönlicher Beleidigungen verfolgt habe; ausgerechnet er, der so sehr nach Rache dürstet, dass kein Mitglied des Rates ihn zu kritisieren wagte, nicht einmal in der kleinsten Sache, wollte er nicht unversöhnliche Feindschaft auf sich laden. Das weiß doch jeder in diesem Land. Wahrhaftig, es lohnt sich, anhand seiner Schriften zu untersuchen, was es mit seinem Wohlwollen gegen Servet auf sich hat. Calvin hat einen Kommentar zu Johannes geschrieben, dem Robert Stephanus [Estienne]59 einen Brief voranstellte. Darin lobt er erstaunlicherweise Calvins Mäßigung bei der Widerlegung anderer Meinungen.60 Doch gleich auf der ersten Seite des Kommentars greift Calvin den Servet mit folgenden Worten an « Servet ist der hochmütigste Wirrkopf, den das spanische Volk je hervorgebracht hat. »61 Das also ist die geziemende Mäßigung, die Robert [Estienne] in den Himmel hebt. Aber Robert macht das, was die übrigen Anhänger Calvins auch tun. Sie schätzen ihn so sehr, dass sie sich gegenseitig dabei fast überschlagen, alle seine Taten und Worte zu preisen, ohne sie überprüft oder gar näher untersucht zu haben. Je mehr man ihn lobt, desto mehr gefällt man Christus. 68
vaticanus zu calvin 13
Titelseite von Calvins In Evangelium secundum Matthaeum ..., [Genf] Oliva Roberti Stephani, 1553 (siehe auch Anm. 60)
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