BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWÜRDIGKEITEN DAS MANIFEST DER TOLERANZ SEBASTIAN CASTELLIO ÜBER KETZER
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BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWÜRDIGKEITEN
Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler
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DAS MANIFEST DER TOLERANZ Sebastian Castellio Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll Aus dem Lateinischen von Werner Stingl Mit einer historischen Darstellung von Hans R. Guggisberg Herausgegeben und eingeführt von Wolfgang F. Stammler
ALCORDE VERLAG 3
© 2013 by ALCORDE VERLAG, Essen Der Abruck der beiden Kapitel auf den Seiten 221–308 von Hans Rudolf Guggisberg aus seinem Werk Sebastian Castellio 1515–1563, Göttingen 1996 erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG Die Abbildungen auf dem Vor- und Nachsatz sind Sebastian Münsters Cosmographiae universalis Lib. VI.,
Basel 1552, entnommen. Layout: ALCORDE VERLAG Gesetzt aus der Bembo 10,5/13,5pt Papier: 100g/qm, hf, Munken Premium Cream 1,3-fach Gesamtherstellung: CPI Quantum Druck, Leck ISBN 978-3-939973-61-4
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INHALT
Einführung
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STEFAN ZWEIG Sebastian Castellio und das Manifest der Toleranz
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[SEBASTIAN CASTELLIO] Bericht über den Tod Servets Historia de morte Serveti
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S EBASTIAN C ASTELLIO Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll De haereticis an sint persequendis
49
M ARTINUS BELLIUS [S EBASTIAN CASTELLIO ] An Herzog Christoph
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M ARTIN LUTHER Vom weltlichen Regiment
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JOHANNES BRENZ Ob die Obrigkeit mit Recht Ketzer töten kann
87
E RASMUS Supputatio der Irrtümer Bedas Über die Inquisition
110 116
SEBASTIAN FRANCK Über die Ketzer
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Kleinere Zitate weiterer Theologen LACTANTIUS JOHANNES CALVIN OTTO BRAUNFELS KONRAD PELLICANUS U RBANUS RHEGIUS A UGUSTINUS C HRYSOSTOMUS
138 140 142 143 144 146 149
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inhalt
H IERONYMUS CAELIUS SECUNDUS CURIO
151 152
S EBASTIAN C ASTELLIO An den König von England
154
GEORG KLEINBERG [SEBASTIAN C ASTELLIO] Wie viel Schaden die Verfolgungen der Welt zufügen
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BASILIUS MONTFORT [SEBASTIAN CASTELLIO ] Widerlegung der Argumente für Verfolgungen
173
S EBASTIAN C ASTELLIO Von den Kindern des Fleisches und den Kindern des Geistes
202
S EBASTIAN C ASTELLIO Verteidigungsschrift vor dem Basler Rat
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H ANS R. G UGGISBERG Sebastian Castellios De haereticis und die Toleranzdebatte 1553–1555
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Der Beginn der Toleranzdebatte 1. Die Hinrichtung Servets 2. Defensio orthodoxae fidei 3. De haereticis an sint persequendi
223 223 229 235
Die Toleranzdebatte nach dem Erscheinen des De haereticis 1. Erste Reaktionen; Basler Calvin-Kritik 1554 2. Contra libellum Calvini 3. Théodore de Bèze und sein Antibellius 4. Erneute Stellungnahme Castellios 5. Calvin-Kritik aus der Waadt und Montbéliard. Genfer Reaktionen 6. Exkurs: Castellio und die Reformation in Deutschland Die Familie Sebastian Castellios (Stammtafel)
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255 255 267 275 282 288 295 309
inhalt ANHANG
Texte aus zeitgenössischen Übersetzungen, die nicht im De haereticis enthalten sind Texte aus der französischen Übersetzung: An Wilhelm, den Landgrafen von Hessen
313
Auszüge aus Bibelauslegungen von Martin Luther Kaspar Hedio Johannes Agricola Jakob Schenk Christophe Hosmann
320 322 324 325 326
Texte aus der deutschen Übersetzung: Auszüge aus Predigten von Martin Luther
327
Kleine Ketzerkunde
331
Anmerkungen zur Einführung zur Historia de morte Serveti zu De Haereticis an sint persequendi zu Castellios Verteidigungsschrift zu Guggisberg: Castellio und die Toleranzdebatte
346 350 354 389 391
Bibliographie
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Editorische Notiz und Danksagung
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Personenregister
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Sebastian Castellio, Portr채t aus der Biblia Sacra, 1778.
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EINFÜHRUNG von Wolfgang F. Stammler
Der 27. Oktober 1553 war der Tag, an dem die noch junge Reformation in Genf ihre Unschuld verlor. An diesem Tag wurde der spanische Arzt und Humanist Miguel Servet in Champel vor den Toren Genfs auf den aus frischem Eichenholz und grünem Laub errichteten Scheiterhaufen geführt, um als »Ketzer« verbrannt zu werden. Waren es bis dahin die Protestanten und andere »Glaubensabtrünnige«, die von der katholischen Inquisition verfolgt und um ihres Glaubens willen getötet wurden, so tauschten sie nun die Rollen. Protestanten wurden zu Inquisitoren, und es war die reformierte Kirche in Genf, die, gelenkt von ihrem bedeutendsten Führer, Johannes Calvin, einen gottgläubigen und reformatorisch denkenden Menschen wegen Ketzerei verurteilen und hinrichten ließ. Der Urteilsspruch lautete: »Wir verurteilen jetzt endgültig dich, Michael Servet, angesichts Gottes und der Heiligen Schrift im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, gefesselt nach Champel gebracht, dort an einen Pfahl gebunden und mitsamt deinem Buch zu Asche verbrannt zu werden.«1 Die über ihn verhängte Todesart galt als so grausam2, dass selbst die Inquisition sie nur selten anwandte. Grund waren Servets Verwerfung der Kindertaufe und – weit gewichtiger – seine Verwerfung der Trinitätslehre, die, im 4. Jahrhundert zum Dogma erhoben, auch den meisten reformatorischen Theologen als sakrosankt galt und der zufolge Jesus Christus als gleich ewig wie Gott der Vater galt. Calvins Parteigänger Wilhelm Farel, der Servet auf seinem letzten Gang begleitete und Zeuge Die Anmerkungen zu diesem Text stehen im Anhang auf S. 346 ff.
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war, wie dieser auf dem Scheiterhaufen wehklagend ausrief: »O Jesus, Sohn des ewigen Gottes, erbarme dich meiner!« bemerkt später in seinem Bericht: Servet hätte gerettet werden können, wenn er das Beiwort »ewig« an eine andere Stelle gerückt und sich zu Christus, dem ewigen Sohn Gottes, anstatt zu Christus, dem Sohn des ewigen Gottes, bekannt hätte.3 »Kaum war die Asche des Unglücklichen kalt geworden«, so berichtet Théodore de Bèze in seiner Biographie Calvins, da habe die Kontroverse um die Religionsfreiheit begonnen.4 Die Angriffe kamen vor allem aus Basel. Dort war es ein ehemaliger Mitarbeiter Calvins, Sebastian Castellio, der sich neun Jahre zuvor, enttäuscht und verbittert über die doktrinäre Unbeugsamkeit und Unbelehrbarkeit des einstmals von ihm verehrten Reformators, von diesem abgewandt und in dem liberaleren Basel Zuflucht gefunden hatte. »In Basel weckte allein das Gerücht, Servet sei ›mit Hilfe Calvins‹ verhaftet worden, die Kritik am Genfer Reformator. ›Freunde Calvins‹ traten den Kritikern dadurch entgegen, dass sie Calvins Beteiligung an der Verhaftung schlichtweg leugneten; vielleicht konnten sie es selbst nicht glauben.«5 Schwer zu glauben und doch nicht zu leugnen war die rücksichtslose Entschlossenheit, mit der Calvin die Hinrichtung Servets betrieben hatte. Diese Entschlossenheit entstand keineswegs erst während des dreieinhalb Monate dauernden Prozesses. Den Entschluss, Servet zu töten, hatte Calvin bereits mehr als sieben Jahre zuvor gefasst. Anfang 1546 hatte ihm Servet das Manuskript seiner soeben fertiggestellten Christianismi Restitutio geschickt, die Calvins Institutio in entscheidenden Punkten widersprach. Als Calvin ihm daraufhin ein Exemplar seiner Institutio zusandte und es wenig später mit Randglossen versehen von Servet zurückerhielt, »wollte Calvin mit dem ›Satan, der ihn nur von nützlichen Studien abhalte‹, nichts mehr zu tun haben und schrieb seinem Freund Farel in Neuenburg: Falls Servet einmal nach Genf komme, ›so werde ich ihn, wenn mein Ansehen noch gilt, nicht lebendig von dannen ziehen lassen‹.«6
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Schon wenige Wochen nach Servets Verbrennung tauchten in Basel Abschriften einer anonymen kleinen Schrift auf, Historia de morte Serveti, aus deren zuverlässigem Bericht über die Ereignisse in Genf deutlich wird, wie genau man in Basel und anderswo informiert gewesen sein muss.Wer diese Schrift verfasst hatte, war damals nicht bekannt und ist auch bis heute nicht endgültig geklärt. Zahlreiche Indizien sprechen jedoch dafür, dass Castellio ihr Verfasser war.7 Hatte die Historia unter den zahlreichen Glaubensflüchtlingen aus Frankreich und Italien, die dorthin vor den Verfolgungen und Scheiterhaufen der Inquisition geflohen waren, bereits für Unruhe und Empörung gesorgt, so verlieh ihnen das wenige Monate später, im März 1554, erschienene Büchlein De haereticis an sint persequendi erstmals eine Stimme, die mit nüchterner Schärfe und Klarheit die Verfolgung und Tötung Andersdenkender als ganz und gar unchristlich, ja als »widerchristlich, mit christlichen Argumenten nicht zu begründen«8 verurteilte. Als Verfasser gab sich diesmal ein gewisser Martinus Bellius zu erkennen, und als Druckort wurde Magdeburg genannt. Doch schon kurz nach Erscheinen der Schrift äußerte Théodore de Bèze die Vermutung, »daß das ›Magdeburg‹, welches in dem Buch als Druckort angegeben wurde, ›am Rhein‹ liege, ›wo sich diese Ungeheuer, wie ich wußte, schon lange verborgen halten‹, und daß eines derselben, nämlich der Verfasser des ›Bellius‹-Vorwortes, wahrscheinlich Castellio sei. ›Vergleich nur Castellios Widmungsbrief zur lateinischen Bibelübersetzung‹, so schrieb er an Bullinger, ›und Du erkennst in beiden Schriften denselben Geist‹.«9 Damit war der Gegner entlarvt und auch der Ort, wo sich dieser Gegner mit seinen »Ungeheuern« verschanzte: Basel, eine der mit ihren damals 10 000 Einwohnern großen Städte der Eidgenossenschaft. Mit dem Erscheinen des De haereticis war es mit der Ruhe in der bis dahin eher friedlichen Universitätsstadt vorbei. Der Kampf, der nun entbrannte, war nicht nur ein ungleicher Kampf der »Mücke gegen den Elefanten«, als den ihn Castellio selbst be-
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zeichnete10, sondern mehr noch der Kampf zwischen zwei einander ausschließenden Prinzipien: auf der einen Seite die Freiheit des Gewissens und des Glaubens und auf der anderen der Herrschaftsanspruch der reinen, unverfälschten Lehre, eines radikalen Dogmatismus der Kirche als einer Institution, die unter allen Umständen zu schützen sei – und zwar mit Hilfe staatlicher Gewalt. Denn auch sie galt als der kirchlichen Disziplin unterworfen. Schroffer und unversöhnlicher als Calvins Sprachrohr de Bèze es in seiner Erwiderung auf Castellios De haereticis formuliert, kann man den Gegensatz der beiden Seiten nicht charakterisieren: »Die Freiheit des Gewissens ist eine Teufelslehre«, schreibt de Bèze, und weiter: »Besser einen Tyrannen zu haben und sei es einen noch so grausamen, als die Erlaubnis, dass jeder nach seinem Sinne handeln dürfe.«11 Hier ist ausgesprochen, welches Staats- und Rechtsverständnis Castellios Gegner in Genf vertraten: Der Staat als das »weltliche Schwert« hat der Kirche bei der Durchsetzung ihrer Lehre und Disziplin uneingeschränkt zu dienen. Damit war die Idee eines Gottesstaats nach reformatorischem Muster geboren, eine Gesinnungsdiktatur, die nicht weniger brutal als die von der Reformation als Satansknechte verschrienen Papisten ihre Gegner einer gnadenlosen Verfolgung und Vernichtung preiszugeben bereit war. Das Gebot christlicher Nächstenliebe wurde verächtlich gemacht, Menschlichkeit zur Sekundärtugend herabgewürdigt, die sich von nun an dem Prinzip strengster Disziplin im Religiösen wie im Sittlichen zu unterwerfen hatte. Barmherzigkeit gegenüber Andersdenkenden galt in diesem System als »une charité diabolique et non chrétienne«12, Milde als »äußerste Grausamkeit, da sie die unzähligen Wölfe schonen will, um ihnen die ganze Herde Christi zum Fraß vorzuwerfen«.13 Als im März 1554 das De haereticis erschien, lebte Castellio seit knapp neun Jahren in Basel. Niemand hat ihn dorthin gerufen, niemand dort auf ihn gewartet. Theologische Meinungsver-
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schiedenheiten mit Calvin und die versammelte Häme des Genfer Priesterkonvents hatten den ehemaligen Rektor des Collège de Rive aus Genf vertrieben. Mehr noch als in Genf waren seine Verhältnisse in Basel äußerst dürftig. Sie sollten sich auch bis zu seinem Lebensende nicht wesentlich verbessern. Als Michel de Montaigne fast zwei Jahrzehnte nach Castellios Tod hörte, in welcher Bedrängnis dieser gelebt hatte, nannte er dies »die große Schande unseres Jahrhunderts«14. Basel war damals ein Zentrum des Buchdrucks, und so lag es für Castellio nahe, sich bei dem Drucker Johannes Oporin als Korrektor zu verdingen. Der Lohn war karg, und so musste er sich durch körperliche Dienste wie Holzsägen, Wassertragen, als Fischer und Gärtner seinen Lebensunterhalt verdienen. Private Zuwendungen, die er von dem Rechtsgelehrten und Erasmus-Freund Bonifacius Amerbach aus dem Erasmus-Legat erhielt15, halfen bei der Ernährung der vielköpfigen Familie. Schließlich, nach über acht Jahren im Mai 1553, erhielt er eine Anstellung als Professor der griechischen Sprache an der Basler Artistenfakultät, die ihm ein zwar bescheidenes, aber gesichertes Einkommen versprach. Doch Armut war seit je eines der Merkmale, die sein Leben bestimmten.16 Geboren 1515 als Sohn des Bauern Claude Chastillon und aufgewachsen als eines von sieben Kindern in dem savoyischen Dorf Saint-Martin-du-Fresne, lernte er früh, sich zu bescheiden. Bestimmendes Vorbild war für ihn vor allem sein Vater, über den er sich 1558 in einer seiner meistgelesenen Schriften, den Dialogi Quatuor, äußerte: »Mein Vater war zwar in der Religion sehr unwissend, aber er hatte das Gute, dass er nichts so sehr verabscheute und uns zu verabscheuen lehrte wie das Stehlen und das Lügen.«17 Vielleicht ebenso prägend mag für ihn auch der Umstand gewesen sein, dass er bei aller religiösen Strenge, die in seiner Familie herrschte, auch etwas von der Tradition des Widerstands mitbekommen hatte, für die die Landschaft Bugey, in der sie lebten, seit den Waldenserverfolgungen des 13. Jahrhunderts bekannt war:Wer aus
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Glaubens- und Gewissensgründen dorthin floh, durfte sicher sein, dass ihm hier Schutz und Arbeit gewährt würden. Seine Studienzeit in den Jahren 1535–1540 verbrachte er in Lyon, damals neben Paris das wirtschaftlich und kulturell bedeutendste Zentrum Frankreichs. Durch seine zahlreichen Druckereien – 1515 gab es bereits mehr als hundert – wurde Lyon zur »Gelehrtenstadt«18. Dort studierte Castellio an dem für seine humanistische Gelehrsamkeit berühmten Collège de la Trinité Griechisch und Latein und wurde gegen Ende der Studien vermutlich Zeuge der ersten Ketzerverbrennungen in Lyon. Sehr wahrscheinlich wird er sich in dieser Zeit bereits mit den religiösen Erneuerungsgedanken der französischen Humanisten beschäftigt haben und dort auch Calvins 1536 erschienener Institutio Religionis Christianae begegnet sein, jener Ausgabe also, die er später in seinem De haereticis zitieren sollte mit Calvins klarem Bekenntnis gegen jedwede Ketzerverfolgungen19, das dieser jedoch in den späteren Ausgaben getilgt hatte. Vermutlich unter dem Eindruck dieser blutigen Unruhen in Lyon begab sich Castellio in das wirtschaftlich blühende und in Glaubensfragen tolerante Straßburg, wo sich damals zahlreiche Glaubensflüchtlinge versammelten. Dorthin hatte sich auch Calvin nach seinem ersten gescheiterten Versuch, in Genf seine radikalreformerischen Vorstellungen durchzusetzen, zurückgezogen und wirkte als Prediger in der französischen protestantischen Flüchtlingsgemeinde. Zu dem Kreis, der sich um Calvin scharte, gehörte auch Castellio, der sogar kurz nach seiner Ankunft in der elsässischen Reichsstadt für eine Woche Quartier bei Calvin bezog. Wie treu er ihm damals verbunden war, sollte sich wenig später erweisen, als im Frühjahr 1541 die Pest in Straßburg ausbrach. Calvin weilte zu jener Zeit in Regensburg, und so übernahm es Castellio, sich um die Pflege der Familie und Schüler des Reformators zu kümmern, was viel Mut erforderte.
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Als der Genfer Rat im Herbst 1541 Calvin inständig bat, wieder die Leitung der Genfer Gemeinde zu übernehmen, hatte der in Genf verbliebene Farel bereits Castellio dorthin berufen, um die Leitung des 1537 von Calvin gegründeten Collège de Rive, eine Art Kaderschmiede für die Predigerschaft und gebildete Laien, zu übernehmen. Noch vor Calvins Rückkehr nach Genf wurde der damals 26-Jährige am 17. Juni 1541 offiziell als Schulleiter bestätigt. So ganz glücklich dürfte Calvin über Farels eigenmächtiges Vorgehen nicht gewesen sein. Ihm schwebte für die Leitung dieser Schule eine namhaftere Persönlichkeit vor. Doch für Castellio bot sich die Gelegenheit, hier erstmals seine pädagogischen Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln. Im Sinne der pädagogischen Vorgaben des Collège, die Schüler zu frommen Menschen zu erziehen, begann er damals mit der Übersetzung des Neuen Testaments ins Französische als einer Art Volksbibel.20 Doch schon hier entstanden erste inhaltliche und interpretatorische Differenzen mit Calvin, der sich in seiner theologischen Deutungshoheit, insbesondere seine Prädestinationslehre betreffend, angegriffen sah. Zum ersten Mal sollte Castellio erfahren, was es heißt, Calvin zu widersprechen. Wer nicht für ihn war und sich ihm nicht bedingungslos unterwarf, wurde zum Gegner erklärt. In Genf begann Castellio auch mit der Niederschrift der Dialogi sacri, einer pädagogisch-literarischen Gattung, die in Form von Gesprächen den Schülern biblische Inhalte nahe bringen und ihnen zugleich das Erlernen der lateinischen Sprache auf gleichsam spielerische Weise erleichtern sollte. Die später durch weitere Teile ergänzten Dialogi sollten neben seiner lateinischen Bibelübersetzung21 zeitlebens und noch lange nach seinem Tod zu den verbreitetsten Werken Castellios gehören. Der Konflikt mit Calvin war jedoch bereits vorgezeichnet. Die Meinungsverschiedenheiten häuften sich, und als es darum ging, Castellio als Prediger anzustellen, kam es vollends zum
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Zerwürfnis. Wer das Hohelied Salomos als profanes Liebesgedicht bezeichnete und nicht als das, was es für Calvin war: eine Allegorie der Liebe Christi zu seiner Kirche, und wer daran zu zweifeln wagte, dass die im Apostolischen Glaubensbekenntnis erwähnte Höllenfahrt Christi als Gewissensprüfung des Gottessohnes zu verstehen sei22, der hatte als Prediger in Genf nichts zu suchen. »Einen Zweifler konnte man unter den Kirchenführern nicht brauchen.«23 Doch zuvor schon kam es zu ernsthaften Konfrontationen mit der Genfer »Compagnie des Pasteurs«. Im Frühherbst 1542 war in Genf die Pest ausgebrochen. Damals suchte man einen Seelsorger für das Pesthospital und fand ihn zunächst auch in der Person des Pfarrers Pierre Blanchet, der dort bis zum Ende der Pest seinen Dienst versah. Als diese jedoch im April 1543 erneut ausbrach, war keiner der Stadtpfarrer bereit, das Amt zu übernehmen; einige hatten sogar erklärt, sie gingen lieber zum Teufel als ins Pesthospital.24 Castellio aber, der sich freiwillig gemeldet hatte, kam aus unerfindlichen Gründen nicht zum Zuge. Später machte man ihm, der in Straßburg bereits Dienst an Pestkranken versehen hatte, aus Genfer Kreisen den Vorwurf, er habe sich feige gedrückt. Hatte Calvin bis dahin noch – aufgrund seiner menschlichen und intellektuellen Wertschätzung des Savoyarden und sofern es nicht um theologische Streitfragen ging – die Hand über Castellio gehalten, so wurde das Tischtuch zwischen der Genfer Pfarrerschaft und Castellio endgültig zerrissen, als Castellio anlässlich einer »Congrégation« in Auslegung von 2. Korinther 6 den dort versammelten Pfarrern in höhnischer Schärfe »ihren mangelnden Eifer, ihren fehlenden Mut und ihre Nachlässigkeit im seelsorgerischen Dienst« vorwarf.25 »Er [Paulus] hat Verfolgung durch andere erlitten, wir aber verfolgen Unschuldige.«26 Die Folge war, dass Castellio aller Posten enthoben wurde. So blieb ihm nichts anderes übrig, als Genf zu verlassen und sich nach einer anderen Stadt umzuschauen, die ihn aufneh-
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men würde. Dass es Basel war, die religiös moderat gestimmte Stadt am Rhein, erschien zunächst als das kleinere Übel, sowohl für die Stadt wie für Castellio. Dass damit aber knapp acht Jahre später der Konflikt erst richtig losbrach und die Basler Stadt und Gemeinde in schwere politische Unwetter geriet und zum Schauplatz einer »der berühmtesten Kontroversen der Neuzeit über die Religionsfreiheit«27 werden sollte, konnte damals noch niemand ahnen. Noch weniger konnte man damals ahnen, dass vierhundert Jahre nach Erscheinen des De haereticis der große Schweizer Historiker Werner Kaegi in der Aula der Basler Universität einmal zu dem Urteil kommen würde: »Castellios Büchlein, das im Herbst 1553 als Idee konzipiert und im Frühling 1554 gedruckt worden ist, stellt einen der Gründe dar, warum der Name Basels und seiner Universität in der Geschichte der Freiheit von der Welt mit Ehren genannt wird.« Denn immerhin komme in dem »weitverzweigten Netz von Wegen und Straßen, das aus verschiedenen Epochen und Ländern zum Katalog der Menschenrechte führt«, und von denen »einige seiner wichtigsten Ursprungsgebiete auf den Britischen Inseln liegen […] eine Straße zu ihm hin vom Kontinent her. Sie führt von Basel aus rheinabwärts in die Niederlande, dann über das große Meer in die Staaten des neuen Holland, das später Neu-England geworden ist, an die Küste des neuen Amsterdam, das heute New York heißt.Von dort führt sie zurück ins Frankreich der Revolution und in die Geschichte unsres eigenen 19. Jahrhunderts.«28 Es gehört zu den Ungerechtigkeiten und Merkwürdigkeiten der Geschichte, dass Castellios Ideen von anderen übernommen und sein Kampf unter fremdem Namen weitergeführt wurde, er selbst aber dazu verurteilt war, »im Schatten zu leben, im Dunkel zu sterben«, wie sein bedeutendster literarischer Biograph, Stefan Zweig, über ihn schrieb. »Vergessen ist seine moralische Großtat, der Kampf um Servet, vergessen
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der Krieg gegen Calvin, ›der Mücke gegen den Elefanten‹, vergessen seine Werke – ein unzulängliches Bild in der holländischen Gesamtausgabe, ein paar Manuskripte in Schweizer und holländischen Bibliotheken, ein paar dankbare Worte seiner Schüler, das ist alles, was von einem Manne geblieben ist, den seine Zeitgenossen einhellig nicht nur als einen der gelehrtesten, sondern auch der edelsten Männer seines Jahrhunderts gerühmt. – Welch eine Dankesschuld ist an diesem Vergessenen noch zu begleichen! Welch ein ungeheures Unrecht hier noch zu sühnen!«29 Doch auch für Stefan Zweig, der zwei Jahre zuvor seine große Erasmus-Biographie30 veröffentlicht und sich intensiv in die damalige Zeit hineingelesen hatte, war Castellio ein Unbekannter. Auf ihn aufmerksam wurde er erst, als er von dem Genfer Pfarrer Jean Schorer, der Zweigs Erasmus-Biographie gelesen hatte, gebeten wurde, sich doch auch dieses Mannes anzunehmen. Und tatsächlich: »Vom ersten Moment an war ich gefesselt von dieser edlen Gestalt des Castellion«31, schrieb ihm Zweig. Einen Tag zuvor hatte dieser – noch ganz unter dem Eindruck der Lektüre Castellios – seinem Freund Romain Rolland in glühenden Worten bekannt: »Ich habe einen neuen Helden entdeckt […] Es ist Sebastien Castellion, der nach dem großen Verbrechen gegen Servet die Stimme gegen den omnipotenten Calvin erhoben hat […] und Meinungsfreiheit verlangte, der es ablehnte, daß man einen anderen, der nicht die eigene Meinung vertritt, einen Häretiker nennt. Ich las diese Schriften, sie sind von einer Kraft und Seelenreinheit, die erstaunlich sind.«32 Glaubte Zweig, dessen Natur, wie er zugab, das »Heldische« nicht lag und dessen »natürliche Haltung in allen gefährlichen Situationen immer die ausweichende gewesen«33 war, sich gerade hierin gleichsam spiegelbildlich in der Gestalt des Erasmus wiederzuerkennen34, so berührte ihn Castellios Schicksal einmal mehr wie ein Anruf an seine eigene Lebenssituation und Seelengestimmtheit, diesmal freilich mit einem fast weh-
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mütigen Unterton, als sei da einer, der – anders als er – den Kampf gegen einen Übermächtigen ohne Rücksicht auf sich und sein Leben geführt hat und sich dabei bis zu seinem Ende treu blieb. »Welch ein stiller Held […] und welch freier Geist, dieser Castellion, dieser Arme, dieser Isolierte, dieser Erasmische ohne den beizenden Spott, ohne dessen Schwäche. Ich bin wirklich sehr dankbar, diesen edlen Charakter gefunden zu haben.«35 Aber auch Zweigs eigenen Bemühungen, Castellio aus dem Dunkel der Geschichte zu befreien, waren Hindernisse in den Weg gelegt. Und so mutet es wie eine Ironie der Geschichte an, dass Castellio wieder einmal, wenn auch nur mittelbar, ein Opfer der Verfolgung wurde. Diesmal war es sein Verteidiger, der Jude Stefan Zweig, den der Bannstrahl der nationalsozialistischen Zensur getroffen hatte. Resigniert schrieb dieser an Joseph Roth: »In Deutschland hat ›Castellio‹ seine Schatten vorausgeworfen, auch die Auslieferung nach Ungarn, Polen etc., die … bisher über dieses edle Land ging, ist unmöglich geworden.«36 Erst 1954 konnte das Buch in Deutschland, damals unter dem Titel Ein Gewissen gegen die Gewalt. Castellio gegen Calvin, erscheinen. Doch schon bald darauf erhoben sich erneut Stimmen gegen das Buch und waren es jetzt die Verteidiger Calvins, die dem Autor vorwarfen, die historische Wahrheit zu vergewaltigen und Calvin zu verunglimpfen.37 Während man in Genf von calvinistischer Seite heftig gegen das Buch und gegen den Pfarrer Jean Schorer als dessen Anreger und damit als den eigentlichen Agent provocateur zu polemisieren begann, erwachte in Basel erneut das Interesse an Castellio. Hatte schon, wie oben vermerkt, 1954 der Historiker Werner Kaegi seiner Bewunderung für Castellios Leben und Wirkung öffentlich Ausdruck verliehen und diesen frühen Kollegen damit gleichsam akademisch rehabilitiert, hat sich bald nach ihm sein Schüler Hans R. Guggisberg 1956 zunächst
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im Rahmen seiner Dissertation38 und später in weiteren Aufsätzen39 mit ihm beschäftigt, bis er zuletzt mit seiner knapp vor seinem Tod im Jahre 1996 fertiggestellten bedeutenden Castellio-Biographie die vorerst letzte große Würdigung dieses großen Humanisten und Vorkämpfers für die Toleranz unternahm. Aus ihr haben wir auch die beiden das De haereticis betreffenden Kapitel übernommen. Damit wird deutlich – und dies mag bereits eine gewisse Genugtuung für Castellio bedeuten –, dass er zwar längst von der Wissenschaft und durch namhafte Historiker40 in seiner Bedeutung erkannt worden, er selbst aber noch immer nicht zu Wort gekommen ist. So ist es nun endlich an der Zeit, ihn erstmals selbst durch die Übersetzung seiner Schriften zu einem aufgeschlossenen Publikum sprechen zu lassen. Deren Anliegen war es, wie Stefan Zweig treffend charakterisiert41, das Bewusstsein der Menschen seiner Zeit dafür zu schärfen, wie es gelingen kann, Toleranz gegen Intoleranz, Humanität gegen Fanatismus, Individualität gegen Funktionalisierung zu verteidigen – oder anders gesagt: das Humane vor dem Politischen, Menschlichkeit und Freizügigkeit vor staatlichem und gesellschaftlichem Zwang, die Freiheit des Gewissens vor jeglicher Art bevormundender Gewalt zu schützen. Diese Sorge um den Schutz des freien Willens, die Furcht vor der Bedrohung der Gewissens- und Glaubensfreiheit (»Niemand kann für einen anderen glauben«), durchzieht die meisten von Castellios Schriften. Sie sind nicht nur von einem tief empfundenen, leidenschaftlichen und christlich gelebten Humanismus geprägt, sie sprechen auch eine Sprache, die in ihrer Lebendigkeit und Bildhaftigkeit viele seiner damals auch nicht akademisch gebildeten Leser angesprochen hat. Mit dieser Ausgabe bekommt der Leser nun erstmals seit viereinhalb Jahrhunderten die Möglichkeit, sämtliche zum De haereticis gehörenden Texte in deutscher Übersetzung42 kennenzulernen. Dazu gehören auch diejenigen Texte, die zu-
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sätzlich in die anderen zeitgenössischen Ausgaben, die französische wie die deutsche, aufgenommen wurden, im lateinischen Original jedoch fehlen. Zudem haben wir zwei weitere Schriften aufgenommen: die vermutlich von Castellio unmittelbar vor dem De haereticis verfasste Historia de morte Serveti sowie seine letzte, fünfunddreißig Tage vor seinem Tod dem Basler Rat vorgelegte Verteidigungsschrift. Ebenso auch die nicht von Castellio selbst stammende, an den Landgrafen von Hessen gerichtete Vorrede des Übersetzers der französischen Ausgabe von De haereticis, neben weiteren Texten im Anhang.43 Bleibt noch die Frage: Warum Castellio heute? Es gibt den Einwand, Castellios Zeit und sein Anliegen hätten in den Bücherregalen inzwischen dicken Staub angesetzt, seien kaum mehr als nur noch ein Thema für die Forschung und durch die Entwicklung unserer abendländischen Gesellschaft längst obsolet geworden.Verhält es sich so? Sind aus den Antworten, die unsere moderne Gesellschaft auf Castellios Fragen gegeben hat, wirklich tragfähige Lösungen und wirksame politische Instrumente hervorgegangen, die im Sinne Castellios verhindern, Andersdenkende zu verfolgen oder gar an Leib und Leben zu bedrohen? Sind nicht, wenn nicht physische, so doch neue Spielarten entstanden, durch die sich Menschen psychisch bedroht und misshandelt sehen? Und ist das, was uns inmitten unserer eigenen Gesellschaft aus anderen Kulturkreisen an Intoleranz begegnet, nicht auch eine Herausforderung an unser eigenes Toleranzverständnis? Nicht vergessen sind das Entsetzen und die Empörung, als der Schriftsteller Salman Rushdie 1989 durch eine Fatwa des damaligen iranischen Führers Khomeini wegen der Satanischen Verse weltweit zur Tötung ausgeschrieben wurde. Das Urteil wurde bis heute nicht aufgehoben.
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Auch Castellio musste zuletzt noch einmal um sein Leben fürchten. Krankheit und die ständige Bedrohung durch die Angriffe aus Zürich und Genf, aber auch durch immer neue Verleumdungen und Anklagen seitens selbsternannter Freunde Calvins, hatten seine Kräfte aufgezehrt. Nun wurde er aufgrund eines solchen, die Gunst des Basler Rats erheischenden Anklägers vor den Rat bestellt. Die Anklage lautete diesmal auf Ketzerei. Castellio wusste, dass dies für ihn die Todesstrafe bedeutete, wenn es ihm nicht gelang, sich wirksam zu verteidigen. In seiner letzten, von eigener Hand geschriebenen und nur infolge seiner Beharrlichkeit öffentlich gemachten Schrift führt er in sachlich nüchternem Ton sämtliche gegen ihn vorgebrachten, zum Teil schon mehrfach bei anderer Gelegenheit widerlegten Anschuldigungen ad absurdum. Gegen Ende schreibt er: »Wenn sie aber ein gutes Gewissen haben, mögen Beza und Calvin erscheinen und alle Vorwürfe, die sie schriftlich gegen mich ausgesprochen haben, vor Euch, meinen Richtern, beweisen. Ich jedenfalls werde (damit Ihr seht, wie ich der Redlichkeit meines Falles vertraue) auch meinen Kopf zur rechten Strafe anbieten, wenn sie jenes bewiesen haben. […] Groß und mächtig sind meine Gegner und meine Ankläger, aber mächtig ist Gott, der (ohne Rücksicht auf Personen) von seinem Thron herab straft. Ich aber bin ein geringer, einfacher Mensch, aber auch die Geringen nimmt Gott auf und rächt ihr Blut (wenn es ungerecht vergossen wird). Zu irren ist leicht, und in einem Augenblick fügt ein schlechter Mann leicht eine Wunde zu, die dann hundert gute Ärzte in vielen Jahren nicht heilen können.«44 Fünfunddreißig Tage nachdem er diese Schrift zu seiner Verteidigung vor dem Basler Rat niedergelegt hatte, starb Sebastian Castellio im Alter von achtundvierzig Jahren. Als Ursachen nannten manche körperliche Überanstrengung und Erschöpfung, andere sprachen von Krankheit des Herzens und der Seele. »Die jahrelange psychische Belastung«, so Guggisberg, »die in der Denunziation vom November 1563 ihren
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Höhepunkt erreicht hatte und sich in dem bevorstehenden Prozess noch weiter zu verschärfen drohte, hatte ohne Zweifel ihren Preis verlangt.«45 Von diesem Tag an hüllte sich Calvin in Schweigen. Nur wenige Monate nach Castellio starb auch er.
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Umschlag der Erstausgabe aus dem Jahr 1936 von Stefan Zweigs in Deutschland damals verbotenem Buch. (Literaturarchiv Salzburg, Sammlung Harald Bรถck.)
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STEFAN ZWEIG SEBASTIAN CASTELLIO UND DAS MANIFEST DER TOLERANZ
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stefan zweig
»Die Nachwelt wird es nicht fassen können, daß wir abermals in solchen dichten Finsternissen leben mußten, nachdem es schon einmal Licht geworden war.« Castellio in De arte dubitandi 1562
Bei dem folgenden Text handelt es sich um Stefan Zweigs Einleitung zu seiner historischen Monographie Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt, Frankfurt 152009, S. 7–18.
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castellio und das manifest der toleranz
»Celui qui tombe obstiné en son courage, qui, pour quelque danger de la mort voisine, ne relâche aucun point de son assurance, qui regarde encore, en rendant l’âme, son ennemi d’une vue ferme et dédaigneuse, il est battu, non pas de nous, mais de la fortune; il est tué, non pas vaincu: les plus vaillants sont parfois les plus infortunés. Aussi y a-t-il des pertes triomphantes à l’envi des victoires ...« MONTAIGNE
»Die Mücke gegen den Elefanten«, zunächst wirkt sie befremdlich, diese eigenhändige Inschrift Sebastian Castellios in dem Basler Exemplar seiner Kampfschrift gegen Calvin, und es läge nahe, bloß eine der üblichen Humanistenübertreiblichkeiten darin zu vermuten. Aber Castellios Worte waren weder hyperbolisch noch ironisch gemeint. Mit einem so schroffen Vergleich wollte dieser Tapfere seinem Freunde Amerbach nur deutlich dartun, wie sehr und wie tragisch er selber im klaren war, welchen riesigen Gegner er herausforderte, wenn er Calvin öffentlich anklagte, aus fanatischer Rechthaberei einen Menschen und damit die Gewissensfreiheit innerhalb der Reformation ermordet zu haben. Von der ersten Stunde an, da Castellio die Feder wie eine Lanze hebt zu diesem gefährlichen Streit, weiß er genau um die Ohnmacht jedes rein geistigen Krieges gegen die Übermacht einer geharnischten und gepanzerten Diktatur und damit um die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens. Denn wie könnte ein einzelner, ein Unbewehrter Calvin noch bekriegen und besiegen, hinter dem Tausende und Zehntausende stehen und dazu noch der militante Apparat der Staatsgewalt! Dank einer großartigen organisatorischen Technik ist es Calvin gelungen, eine ganze Stadt, einen ganzen Staat mit tausenden bisher freien
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Bürgern in eine starre Gehorsamsmaschinerie zu verwandeln, jede Selbständigkeit auszurotten, jede Denkfreiheit zugunsten seiner alleinigen Lehre zu beschlagnahmen. Alles, was Macht hat in Stadt und Staat, untersteht seiner Allmacht, sämtliche Behörden und Befugnisse, Magistrat und Konsistorium, Universität und Gericht, die Finanzen und die Moral, die Priester, die Schulen, die Büttel, die Gefängnisse, das geschriebene, das gesprochene und sogar das heimlich geflüsterte Wort. Seine Lehre ist Gesetz geworden, und wer wider sie gelindesten Einspruch wagt, den belehren baldigst Kerker, Verbannung oder Scheiterhaufen, diese blank alle Diskussion erledigenden Argumente jeder geistigen Tyrannei, daß in Genf nur eine Wahrheit geduldet ist und Calvin ihr Prophet. Aber noch weit über die Stadtmauern hinaus reicht die unheimliche Macht dieses unheimlichen Mannes; die Schweizer Bundesstädte erblicken in ihm den wichtigsten politischen Verbündeten, der Weltprotestantismus wählt sich den violentissimus Christianus zum geistigen Feldherrn, Fürsten und Könige bemühen sich um die Gunst des Kirchenführers, der neben der römischen die mächtigste Organisation des Christentums in Europa aufgebaut hat. Kein zeitpolitisches Geschehnis vollzieht sich mehr ohne sein Wissen, kaum eines gegen seinen Willen: schon ist es ebenso gefährlich geworden, den Prediger von St. Pierre zu befeinden wie Kaiser oder Papst. Und sein Gegenredner Sebastian Castellio, der als einsamer Idealist im Namen der menschlichen Denkfreiheit dieser und jedweder geistigen Tyrannis Fehde ansagt, wer ist er? Wahrhaftig – verglichen mit der phantastischen Machtfülle Calvins – die Mücke gegen den Elefanten! Ein nemo, ein Niemand, ein Nichts im Sinne öffentlichen Einflusses und obendrein noch ein Habenichts, ein bettelarmer Gelehrter, der mit Übersetzungen und Hauslehrerstunden Weib und Kinder mühsam ernährt, ein Flüchtling im Fremdland ohne Bleibe- und Bürgerrecht, ein zwiefacher Emigrant: wie immer in den Zeiten des Weltfanatismus steht der Humane machtlos und völlig allein zwischen
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den streitenden Zeloten. Jahrelang lebt im Schatten der Verfolgung, im Schatten der Armut dieser große und bescheidene Humanist ein kärglichstes Dasein dahin, ewig beengt, aber ewig auch frei, weil keiner Partei verbunden und keinem Fanatismus verschworen. Erst als er durch den Mord an Servet sein Gewissen mächtig angerufen fühlt und er aufsteht von seinem friedlichen Werke, um Calvin im Namen der geschändeten Menschenrechte anzuklagen, erst dann wächst diese Einsamkeit ins Heldische. Denn nicht wie seinen kriegsgewohnteren Gegner Calvin deckt und umschart Castellio eine brutal geschlossene und planhaft organisierte Gefolgschaft, keine Partei, weder die katholische noch die protestantische, bietet ihm Beistand, keine hohen Herren, keine Kaiser und Könige halten über ihn wie einst über Luther und Erasmus die schirmende Hand, und selbst die wenigen Freunde, die ihn bewundern, selbst sie wagen nur heimlich, ihm Mut zuzuflüstern. Denn wie gefährlich, wie lebensgefährlich, sich öffentlich an die Seite eines Mannes zu stellen, der unerschrocken, während in allen Ländern die Ketzer vom Wahne der Zeit gleich Treibvieh gejagt und gefoltert werden, für diese Entrechteten und Geknechteten das Wort erhebt und über den Einzelfall hinaus allen Machthabern der Erde ein für allemal das Recht bestreitet, irgendeinen Menschen ebendieser Erde um seiner Weltanschauung willen zu verfolgen! Der es wagt, in einem jener furchtbaren Augenblicke der Seelenverfinsterung, wie sie von Zeit zu Zeit über die Völker fallen, sich den Blick klar und menschlich zu bewahren und alle diese frommen Schlächtereien, obwohl angeblich zu Gottes Ehre vollzogen, mit ihrem wahren Namen: Mord, Mord und abermals Mord zu nennen! Der, im tiefsten Gefühl seiner Menschlichkeit herausgefordert, als einziger das Schweigen nicht mehr erträgt und bis in die Himmel seine Verzweiflung über die Unmenschlichkeiten schreit, allein für alle kämpfend und gegen alle allein! Denn immer wird, wer gegen die Machthaber und Machtausteiler der Stunde das Wort erhebt, wenig Gefolgschaft erwarten dür-
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fen bei der unsterblichen Feigheit unseres irdischen Geschlechts; so hat auch Sebastian Castellio in entscheidender Stunde niemanden hinter sich als seinen Schatten und mit sich keine Habe als das einzige unveräußerliche Eigentum des kämpfenden Künstlers: ein unbeugsames Gewissen in einer unerschrockenen Seele. Gerade dies aber, daß Sebastian Castellio von Anfang an die Aussichtslosigkeit seines Kampfes vorauswußte und ihn, gehorsam gegen sein Gewissen, dennoch unternahm, dies heilige Dennoch und Trotzalledem rühmt für alle Zeiten diesen »unbekannten Soldaten« im großen Befreiungskriege der Menschheit als Helden; schon um solchen Mutes willen, als einzelner und einziger leidenschaftlichen Protest gegen einen Weltterror erhoben zu haben, sollte die Fehde Castellios gegen Calvin für jeden geistigen Menschen denkwürdig bleiben. Aber auch in ihrer innern Problemstellung überschwingt diese historische Diskussion weithin ihren zeitlichen Anlaß. Denn hier geht es nicht um ein enges Theologicum, nicht um den einen Menschen Servet und nicht einmal um die entscheidende Krise zwischen dem liberalen und orthodoxen Protestantismus: in dieser entschlossenen Auseinandersetzung ist eine viel weitläufigere, eine überzeitliche Frage aufgeworfen, nostra res agitur, ein Kampf ist eröffnet, der unter anderen Namen und unter anderen Formen immer neu wird ausgekämpft werden müssen. Theologie bedeutet hier nichts als eine zufällige Zeitmaske, und selbst Castellio und Calvin erscheinen nur als sinnlichste Exponenten eines unsichtbaren, aber unüberwindbaren Gegensatzes. Gleichgültig, wie man die Pole dieser ständigen Spannung benennen will – ob Toleranz gegen Intoleranz, Freiheit gegen Bevormundung, Humanität gegen Fanatismus, Individualität gegen Mechanisierung, das Gewissen gegen die Gewalt –, alle diese Namen drücken im Grunde eine letzte allerinnerlichste und persönlichste Entscheidung aus, was wichtiger sei für jeden einzelnen – das Humane oder das Politische, das Ethos oder der Logos, die Persönlichkeit oder die Gemeinsamkeit.
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Diese immer wieder notwendige Abgrenzung zwischen Freiheit und Autorität bleibt keinem Volke, keiner Zeit und keinem denkenden Menschen erspart: denn Freiheit ist nicht möglich ohne Autorität (sonst wird sie zum Chaos) und Autorität nicht ohne Freiheit (sonst wird sie zur Tyrannei). Zweifellos lebt im Grunde der menschlichen Natur ein geheimnisvolles Verlangen nach Selbstauflösung in der Gemeinschaft, unaustilgbar bleibt unser Urwahn, es könne ein bestimmtes religiöses, nationales oder soziales System gefunden werden, das allgerecht für alle der Menschheit endgültig Friede und Ordnung schenke. Dostojewskis Großinquisitor hat es mit grausamer Dialektik bewiesen, daß die Mehrzahl der Menschen die eigene Freiheit eigentlich fürchtet, und tatsächlich sehnt sich aus Müdigkeit angesichts der erschöpfenden Vielfalt der Probleme, angesichts der Kompliziertheit und Verantwortlichkeit des Lebens die große Masse nach einer Mechanisierung der Welt durch eine endgültige, eine allgültige, eine definitive Ordnung, die ihr jedwede Denkarbeit abnimmt. Diese messianische Sehnsucht nach einer Entproblematisierung des Daseins bildet das eigentliche Ferment, das allen sozialen und religiösen Propheten die Wege ebnet: immer braucht nur, wenn die Ideale einer Generation ihr Feuer, ihre Farben verloren haben, ein suggestiver Mann aufzustehen und peremptorisch zu erklären, er und nur er habe die neue Formel gefunden oder erfunden, und schon strömt das Vertrauen von Tausenden dem angeblichen Volkserlöser oder Welterlöser entgegen – immer erschafft eine neue Ideologie (und dies ist wohl ihr metaphysischer Sinn) zunächst einen neuen Idealismus auf Erden. Denn jeder, der Menschen einen neuen Wahn der Einheit und Reinheit schenkt, holt zunächst aus ihnen die heiligsten Kräfte heraus: ihren Opferwillen, ihre Begeisterung. Millionen sind wie in einer Bezauberung bereit, sich nehmen, befruchten, ja vergewaltigen zu lassen, und je mehr ein solcher Verkünder und Versprecher von ihnen fordert, desto mehr sind sie ihm verfallen. Was gestern noch ihre höchste Lust, ihre Freiheit gewesen,
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das werfen sie ihm zuliebe willig weg, um sich nur noch widerstandsloser führen zu lassen, und das alte taciteische »ruere in servitium« erfüllt sich aber und abermals, daß in einem feurigen Rausch der Solidarität die Völker sich freiwillig in Knechtschaft stürzen und die Geißel noch rühmen, mit der man sie schlägt. Nun läge an sich für jeden geistigen Menschen ein Erhebendes in dem Gedanken, daß es immer wieder eine Idee ist, diese immateriellste Kraft auf Erden, welche solche unwahrscheinliche Suggestionswunder in unserer alten, nüchternen und technisierten Welt vollbringt, und man geriete leicht in Versuchung, diese Weltbetörer zu bewundern und zu rühmen, weil es ihnen gelingt, vom Geiste her die stumpfe Materie zu verwandeln. Aber verhängnisvollerweise entlarven sich gerade diese Idealisten und Utopisten sofort nach ihrem Sieg fast immer als die schlimmsten Verräter am Geist. Denn Macht treibt zur Allmacht, Sieg zum Mißbrauch des Siegs, und statt sich zu begnügen, viele Menschen so sehr für ihren persönlichen Wahn begeistert zu haben, daß sie freudig bereit sind, für ihn zu leben und sogar zu sterben, fallen diese Konquistadoren alle der Versuchung anheim, Majorität in Totalität zu verwandeln und auch den Parteilosen ihr Dogma aufzwingen zu wollen; nicht genug haben sie an ihren Gefügigen, ihren Trabanten, ihren Seelensklaven, an den ewigen Zuläufern jeder Bewegung – nein, auch die Freien, die wenigen Unabhängigen wollen sie als ihre Lobpreiser und Knechte, und um ihr Dogma als alleiniges durchzusetzen, brandmarken sie von Staats wegen jede Andersmeinung als Verbrechen. Ewig erneut sich dieser Fluch aller religiösen und politischen Ideologien, daß sie in Tyranneien ausarten, sobald sie sich in Diktaturen verwandeln. Im Augenblick aber, da ein Geistiger nicht mehr der immanenten Gewalt seiner Wahrheit vertraut, sondern zur Brachialgewalt greift, erklärt er der menschlichen Freiheit den Krieg. Gleichgültig, welche Idee immer – jede und jedwede ist von der Stunde an, da sie zum Terror greift, um fremde Überzeugungen zu
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uniformieren und zu reglementieren, nicht mehr Idealität, sondern Brutalität. Selbst die reinste Wahrheit, wenn andern mit Gewalt aufgezwungen, wird zur Sünde wider den Geist. Doch der Geist ist ein geheimnisvolles Element. Ungreifbar und unsichtbar wie die Luft, scheint er nachgiebig in alle Formen und Formeln zu passen. Und dies verlockt immer wieder die despotischen Naturen zu dem Wahn, man könne ihn gänzlich niederpressen, verschließen, verstöpseln und gehorsam auf Flaschen ziehen. Aber mit jeder Unterdrückung wächst sein dynamischer Gegendruck, und gerade, wenn zusammengepreßt und komprimiert, wird er zum Sprengstoff, zum Explosiv; jede Unterdrückung führt früher oder später zur Revolte. Denn die moralische Selbständigkeit der Menschheit bleibt auf die Dauer – ewiger Trost dies! – unzerstörbar. Nie ist es bisher gelungen, der ganzen Erde eine einzige Religion, eine einzige Philosophie, eine einzige Form der Weltanschauung diktatorisch aufzuzwingen, und nie wird es gelingen, denn immer wird der Geist sich jeder Knechtschaft zu erwehren wissen, immer sich weigern, in vorgeschriebenen Formen zu denken, sich verflachen und flau machen, sich kleinschalten und gleichschalten zu lassen. Wie banal und wie vergeblich darum jedes Bemühen, die göttliche Vielfalt des Daseins auf einen einzigen Nenner bringen zu wollen, die Menschheit schwarz oder weiß aufzuteilen in Gute und Böse, in Gottesfürchtige und Ketzer, in Staatsgehorsame und Staatsfeinde auf Grund eines bloß mit dem Faustrecht durchgesetzten Prinzips! Allezeit werden sich unabhängige Geister finden zur Auflehnung gegen eine solche Vergewaltigung der menschlichen Freiheit, die »conscientious objectors«, die entschlossenen Dienstverweigerer jedes Gewissenszwanges, und nie konnte eine Zeit so barbarisch sein, nie eine Tyrannei so systematisch, daß nicht immer einzelne es verstanden hätten, der Massenvergewaltigung zu entweichen und das Recht auf eine persönliche Überzeugung gegen die gewalttätigen Monomanen ihrer einen und einzigen Wahrheit zu verteidigen.
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Auch das sechzehnte Jahrhundert, obzwar ähnlich überreizt in seinen gewalttätigen Ideologien wie das unsere, hat solche freie und unbestechliche Seelen gekannt. Liest man die Briefe der Humanisten aus jenen Tagen, so fühlt man brüderlich ihre tiefe Trauer über die Verstörung der Welt durch die Gewalt, ergriffen leidet man ihren Seelenabscheu vor den stupiden marktschreierischen Ankündigungen der Dogmatiker mit, deren jeder verkündet: »Was wir lehren, ist wahr, und was wir nicht lehren, ist falsch.« Ach, welches Grauen schüttelt diese abgeklärten Weltbürger vor diesen unmenschlichen Menschheitsverbesserern, die in ihre schönheitsgläubige Welt eingebrochen sind und mit Schaum vor dem Munde ihre gewalttätigen Orthodoxien proklamieren, oh, wie ekelt es sie zutiefst vor diesen Savonarolas und Calvins und John Knox’, welche die Schönheit auf Erden abtöten wollen und die Erde in ein Moralseminar verwandeln! Mit tragischer Hellsichtigkeit erkennen alle jene weisen und humanen Menschen das Unheil, das diese rasenden Rechthaber über Europa bringen müssen, schon hören sie hinter diesen eifernden Worten die Waffen klirren und erahnen in diesem Haß den kommenden, den fürchterlichen Krieg. Aber wenn auch um die Wahrheit wissend, wagen diese Humanisten doch nicht, für sie zu kämpfen. Fast immer sind im Leben die Lose geschieden, die Erkennenden nicht die Täter, und die Täter nicht die Erkennenden. Alle diese tragischen und trauernden Humanisten schreiben einander rührende und kunstvolle Briefe, sie klagen hinter verschlossenen Türen in ihren Studierstuben, aber keiner tritt vor und dem Antichrist entgegen. Ab und zu wagt Erasmus, ein paar Pfeile aus dem Schatten zu entsenden, Rabelais schlägt grimmigen Lachens mit der Peitsche zu, vom Narrenkleid gedeckt; Montaigne, dieser noble und weise Philosoph, findet in seinen Essais beredteste Worte, aber keiner versucht, ernstlich einzugreifen und auch nur eine einzige dieser infamen Verfolgungen und Hinrichtungen zu verhindern. Mit Rasenden, so erkennen diese Welterfahrenen und darum vorsichtig
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Gewordenen, soll der Weise nicht streiten; besser, man flüchtet in solchen Zeiten in den Schatten zurück, um nicht selber gefaßt und geopfert zu werden. Castellio aber – dies sein unvergänglicher Ruhm – tritt als einziger von all diesen Humanisten entschlossen vor und seinem Schicksal entgegen. Heldisch wagt er das Wort für die verfolgten Gefährten und damit sein eigenes Leben. Völlig unfanatisch, obwohl von den Fanatikern stündlich bedroht, durchaus leidenschaftslos, aber mit einer tolstoianischen Unerschütterlichkeit, hebt er wie ein Panier sein Bekenntnis über die grimmige Zeit, daß keinem Menschen eine Weltanschauung aufgezwungen werden und über das Gewissen eines Menschen keine irdische Macht auf Erden jemals Gewalt haben dürfe; und weil er dieses Bekenntnis nicht im Namen einer Partei, sondern aus dem unvergänglichen Geiste der Humanität gestaltet, sind seine Gedanken wie manche seiner Worte zeitlos geblieben. Immer bewahren, wenn von einem Künstler geformt, die allhumanen, die überzeitlichen Gedanken ihre Prägung, immer überdauert das weltverbindende Bekenntnis das einzelne doktrinäre und aggressive. Vorbildlich aber sollte vor allem im sittlichen Sinne für spätere Geschlechter der beispiellose und beispielgebende Mut dieses vergessenen Mannes bleiben. Denn wenn Castellio den von Calvin hingeopferten Servet allen Theologen der Welt zum Trotz einen unschuldig Gemordeten nennt, wenn er allen Sophismen Calvins das unsterbliche Wort entgegenschleudert: »Einen Menschen verbrennen heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten«, wenn er in seinem Manifest der Toleranz (lange vor Locke, Hume,Voltaire und viel großartiger als sie) ein für allemal das Recht auf Gedankenfreiheit proklamiert, dann setzt dieser Mann für seine Überzeugung sein Leben als Pfand. Nein, man versuche nicht, Castellios Protest gegen den Justizmord an Miguel Servet mit den tausendmal berühmteren Protesten Voltaires im Fall Calas’ und Zolas in der Affäre Dreyfus zu vergleichen – diese Vergleiche erreichen nicht entfernt
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die moralische Höhe seiner Tat. Denn Voltaire, als er den Kampf für Calas unternimmt, lebt schon in einem humaneren Jahrhundert; überdies steht hinter dem weltberühmten Dichter die Protektion von Königen, von Fürsten, und ebenso schart sich wie eine unsichtbare Armee hinter Emile Zola die Bewunderung ganz Europas, einer ganzen Welt. Beide wagen sie mit ihrer Hilfstat viel ihrer Reputation und ihrer Bequemlichkeit um eines fremden Schicksals willen, nicht aber – und dieser Unterschied bleibt der entscheidende – ihr eigenes Leben wie Sebastian Castellio, der in seinem Kampfe um die Humanität mit ihrer ganzen mörderischen Wucht die Unhumanität seines Jahrhunderts erlitten. Voll und bis zur letzten Neige seiner Kraft hat Sebastian Castellio den Preis seines moralischen Heldentums gezahlt. Erschütternd, wie dieser Verkünder der Gewaltlosigkeit, der sich keiner als der bloß geistigen Waffe bedienen wollte, abgewürgt wurde von der brutalen Gewalt – ach, immer wieder wird man gewahr, wie aussichtslos jedesmal der Kampf bleibt, wenn ein einzelner, ohne andere Macht hinter sich als das moralische Recht, gegen eine geschlossene Organisation sich zur Wehr setzt. Ist es einer Doktrin einmal gelungen, sich des Staatsapparats und all seiner Pressionsmittel zu bemächtigen, dann schaltet sie unbedenklich den Terror ein; wer ihre Allmacht in Frage stellt, dem würgt sie das Wort in der Kehle und meist noch die Kehle dazu. Calvin hat Castellio nie ernstlich geantwortet; er hat vorgezogen, ihn stumm zu machen. Man zerreißt, man verbietet, man verbrennt, man beschlagnahmt seine Bücher, man erzwingt mit politischer Erpressung im Nachbarkanton ein Schreibeverbot, und kaum kann er nicht mehr antworten, nicht mehr berichtigen, so fallen die Trabanten Calvins verleumderisch über ihn her: bald ist es kein Kampf mehr, sondern nur die erbärmliche Vergewaltigung eines Wehrlosen. Denn Castellio kann nicht sprechen, nicht schreiben, stumm liegen seine Schriften in der Lade, Calvin aber hat die Druckerpressen und die Kanzel, die Katheder
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und die Synoden, den ganzen Apparat der Staatsgewalt, und mitleidslos läßt er ihn spielen; jeder Schritt Castellios ist überwacht, jedes Wort belauscht, jeder Brief abgefangen – was Wunder, daß eine solche hundertköpfige Organisation gegen den einzelnen die Oberhand behält; nur der vorzeitige Tod hat Castellio gerade noch vor dem Exil oder dem Brandstoß gerettet. Aber auch vor seiner Leiche macht der frenetische Haß der triumphierenden Dogmatiker nicht halt. Noch in die Grube werfen sie ihm wie fressenden Kalk Verdächtigungen und Verleumdungen nach und streuen Asche auf seinen Namen; das Angedenken an diesen einen, der nicht nur Calvins Diktatur, sondern überhaupt das Prinzip jeder geistigen Diktatur bekämpft, soll für alle Zeiten vergessen und verloren sein. Beinahe ist auch dies Äußerste der Gewalt wider den Gewaltlosen gelungen: nicht nur die zeitliche Wirkung dieses großen Humanisten hat jene methodische Unterdrückung erdrosselt, sondern für viele Jahre auch seinen Nachruhm; noch heute muß ein Gebildeter sich keineswegs schämen, den Namen Sebastian Castellios nie gelesen, nie vernommen zu haben. Denn wie ihn auch kennen, da die wesentlichsten seiner Werke von der Zensur für Jahrzehnte und Jahrhunderte dem Druck vorenthalten wurden! Kein Drucker in Calvins Nähe wagt sie zu veröffentlichen, und als sie dann lang nach seinem Tode erscheinen, da ist es schon zu spät für den gerechten Ruhm. Andere haben inzwischen Castellios Ideen übernommen, unter fremden Namen wird der Kampf weitergeführt, in dem er, der erste Führer, zu früh und fast unbemerkt gefallen. Manchen ist es verhängt, im Schatten zu leben, im Dunkel zu sterben – Nachfahren haben Sebastian Castellios Ruhm geerntet, und noch heute ist in jedem Schulbuch der Irrtum zu lesen, Hume und Locke seien die ersten gewesen, welche die Idee der Toleranz in Europa verkündet, als wäre Castellios Ketzerschrift nie geschrieben und nie gedruckt worden. Vergessen ist seine moralische Großtat, der Kampf um Servet, vergessen der Krieg gegen Calvin, »der Mücke gegen den Elefanten«, ver-
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gessen seine Werke – ein unzulängliches Bild in der holländischen Gesamtausgabe, ein paar Manuskripte in Schweizer und holländischen Bibliotheken, ein paar dankbare Worte seiner Schüler, das ist alles, was von einem Manne geblieben ist, den seine Zeitgenossen einhellig nicht nur als einen der gelehrtesten, sondern auch der edelsten Männer seines Jahrhunderts gerühmt. – Welch eine Dankesschuld ist an diesem Vergessenen noch zu begleichen! Welch ein ungeheures Unrecht hier noch zu sühnen! Denn die Geschichte, sie hat keine Zeit, um gerecht zu sein. Sie zählt als kalte Chronistin nur die Erfolge, selten aber mißt sie mit moralischem Maß. Nur auf die Sieger blickt sie und läßt die Besiegten im Schatten; unbedenklich werden diese »unbekannten Soldaten« eingescharrt in die Grube des großen Vergessens, nulla crux, nulla corona, kein Kreuz und kein Kranz rühmt ihre verschollene, weil vergebliche Opfertat. In Wahrheit aber ist keine Anstrengung, die aus reiner Gesinnung unternommen war, vergeblich zu nennen, kein moralischer Einsatz von Kraft geht jemals völlig im Weltall verloren. Auch als Besiegte haben die Unterlegenen, die zu früh Gekommenen eines überzeitlichen Ideals ihren Sinn erfüllt; denn nur, indem sie sich Zeugen und Überzeugte schafft, die für sie leben und sterben, wird eine Idee auf Erden lebendig. Vom Geiste aus gewinnen die Worte »Sieg« und »Niederlage« einen andern Sinn, und darum wird es not tun, immer und immer wieder eine Welt, die bloß auf die Denkmäler der Sieger blickt, daran zu mahnen, daß nicht jene die wahrhaften Helden der Menschheit sind, die über Millionen von Gräbern und zerschmetterten Existenzen ihre vergänglichen Reiche errichten, sondern gerade diejenigen, die gewaltlos der Gewalt unterliegen, wie Castellio gegen Calvin in seinem Kampf um die Freiheit des Geistes und um die endliche Herankunft der Humanität auf Erden.
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[SEBASTIAN CASTELLIO] BERICHT ÜBER DEN TOD SERVETS HISTORIA DE MORTE SERVETI
Aus dem Lateinischen übersetzt und kommentiert von Uwe Plath
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Servets Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen in Genf. Holzstich, 19. Jahrhundert (ullstein Bild – The Granger Collection)
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[SEBASTIAN CASTELLIO] BERICHT ÜBER DEN TOD SERVETS
Historia de morte Serveti 1
Dass Sebastian Castellio der Autor der Historia de morte Serveti sei, hat bereits Johann Lorenz von Mosheim aus stilistischen Gründen als wahrscheinlich angesehen und zu Recht ihren Quellenwert (»löbliche Aufrichtigkeit und Unpartheylichkeit«) gelobt.2 Dieser These scheint sich auch Hans R. Guggisberg in seiner Castellio-Biographie anzuschließen.3 Für Castellio als Verfasser der Historia de morte Serveti sprechen nicht nur inhaltliche und sprachliche Übereinstimmungen dieses Textes mit anderen Werken des Basler Humanisten, sondern vor allem drei äußere Indizien. Zum einen wurde die Historia de morte Serveti zum ersten Mal als Anhang zu Castellios Contra libellum Calvini veröffentlicht, zum anderen sollte dieses Werk nachweisbar auf Anweisung Castellios in dessen De haereticis a civili magistratu non puniendis, der Antwort auf Bezas Antibellius, eingefügt werden.4 Schließlich wurde dieser Bericht in Basel (»in dieser Stadt«, wie es im Text heißt) geschrieben. Die Historia de morte Serveti gehört zu den ersten Schriften der Toleranzkontroverse, die, wie wir heute wissen, nicht erst nach der Verbrennung, sondern bereits kurze Zeit nach der Verhaftung Servets in Genf begann.5 Castellio wird sie im November/Dezember 1553 geschrieben haben, als die Nachricht in Basel verbreitet wurde, Calvin wolle sein Vorgehen gegen Servet in einer Verteidigungsschrift, der im Frühjahr 1554 erschienenen Defensio orthodoxae fidei, rechtfertigen. Die letzten Zeilen der Historia de morte Serveti beziehen sich direkt darauf: »… weil Calvin gegen einen bereits Gestorbenen zu schreiben scheint« (»quod in iam extinctum scribere videtur Calvinus«).6 Die Anmerkungen zu diesem Text stehen im Anhang auf S. 350 ff.
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[sebastian castellio]
Die Historia de morte Servet besteht aus zwei Teilen. Der erste schildert die Ereignisse von der Verhaftung Servets in Vienne bis zu seiner Verhaftung und Verbrennung in Genf, wie sie dem Verfasser durch andere Quellen bekannt geworden waren; der zweite nennt in sieben Punkten die Gründe, warum viele Christenmenschen, vor allem der Basler Humanistenkreis um Castellio, das Geschehen um Servet als »scandalum scandalorum«, als »Skandal der Skandale«, empfunden haben.7
Der Text hat in deutscher Übersetzung folgenden Wortlaut:
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ls Michael Servet seine Bücher über die Trinität in Vienne drucken ließ, gab es dort einen gewissen Lyoner, der in Genf wohnte.7 Der schrieb an seinen Freund in Lyon folgenden Brief: Wir begünstigen nicht die Häretiker, während ihr bei euch den sehr gefährlichen Häretiker Michael Servet duldet, der Bücher voller Irrlehren drucken lässt. Der lebt nun in Vienne in einem solchen Haus etc.9 Wer diesen Brief gelesen hat, glaubt, er sei von Calvin geschrieben worden wegen der Ähnlichkeit des Stils; denn die Beredsamkeit jenes Lyoners sei nicht so groß gewesen, dass er so gewandt hätte schreiben können. Der Lyoner behauptete hingegen, er sei von ihm geschrieben worden. Jedenfalls wurde er in der Absicht abgeschickt (wie einige Leser des Briefes uns erzählt haben), dass er in die Hände des Rates und besonders des Kardinals Turony [de Tournon] gelange10. Einige behaupten sogar, Calvin selbst habe in diesem Sinne an den Kardinal geschrieben:Wenn du so um die Religion bemüht wärst, wie du vorgibst, würdest du Servet nicht dulden, der bei euch wohnt etc.11 Wie das auch immer gewesen sein mag, Servet wurde, nachdem man diesen Brief gelesen hatte, in Vienne verhaftet, desgleichen der Drucker seines Buches. Als er später heimlich aus dem Gefängnis hatte fliehen kön-
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nen, kam er nach Genf und hörte an demselben Tag, einem Sonntag, nach dem Frühstück die Predigt. Weil er dort vor Predigtbeginn mit anderen zusammensaß, erkannten ihn einige, die sich sogleich aufmachten, um es Calvin zu melden. Calvin zeigte ihn sofort beim Rat an, oder ließ ihn anzeigen, damit man Servet wegen Häresie gefangen nehme. Der Rat antwortete jedoch, in einer freien Stadt könne man nur verhaftet werden, wenn der Ankläger zusammen mit dem Angeklagten ins Gefängnis gehe, etc.12 So schickte Calvin seinen Famulus, damit dieser als Ankläger zur Verfügung stehe.13 Dieser Famulus war einmal Koch eines Adligen namens de Falais gewesen, eines Mannes, den Calvin wegen seiner Religion früher sehr schätzte, so dass er ihn in einem Brief sehr lobte.14 Als de Falais aber später für einen Arzt namens Hieronymus [Bolsec] (der wegen seiner unterschiedlichen Beurteilung der Prädestinationslehre im Gefängnis saß) Partei zu ergreifen schien, wurde er von Calvin in einer öffentlichen Versammlung als Häretiker verurteilt.15 Von demselben Calvin wurde dort [in Genf] der Famulus geschickt, der sich als Ankläger zur Verfügung stellte. Servet wurde aus der Predigt herausgerufen. Er bekannte seinen Namen und wurde ins Gefängnis geworfen, nicht aber der Famulus Calvins, der wenig später, da sich ein Bürge fand16, freigelassen wurde. Servet hielt man weiter gefangen; und zwar so, dass niemand zu ihm Zugang hatte, außer wenn er sehr angesehen war oder zu den Freunden Calvins zählte. Nach der Verhaftung Servets schickte der Rat einen Boten nach Vienne, welcher über das Urteil, das die Vienner über Servet abgegeben hatten, berichten sollte. Die Vienner informierten diesen Boten darüber und fügten hinzu, Servet sei wegen der Anklage (iudicio) des höchsten Genfer Pastors in die Hände der Vienner gefallen. Nachdem man dies erfahren hatte, wurde ein Bote zu den Schweizer Kirchen gesandt, nach Bern, Zürich, Schaffhausen
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[sebastian castellio]
und Basel, zusammen mit dem Buch Servets, der Anklage der Pastoren und mit Briefen des Genfer Rats an die Geistlichen dieser Kirchen oder an den Rat, um ihre Meinung über Servet zu erbitten.17 Inzwischen wurde ein gewisser Thomas, der Famulus des Robert Stephanus18, nach Frankfurt gesandt, der die Bücher Servets, die dorthin zur Messe gebracht worden waren, verbrennen ließ, um ihre weitere Verbreitung zu verhindern. Der Ratsbote brachte die Briefe jener Kirchen zurück, durch die Servet gleichsam als Häretiker verurteilt wurde. Daher trat der Genfer Rat sogleich wegen des Falles Servet zusammen. Als Amadeus Porrius [Ami Perrin]19, Stadthauptmann und damals erster Bürgermeister der Stadt, sah, dass die Ratsherren entschlossen waren, Servet zum Tode zu verurteilen, wollte er bei der Verurteilung nicht dabei sein. Er lehnte es ab, sich an seiner Ermordung zu beteiligen. Dasselbe taten einige andere. Die übrigen verurteilten ihn auf verschiedene Weise, einige zur Verbannung, andere zu lebenslanger Haft, der größere Teil zum Feuertod, falls er nicht widerrufen wolle. Man versichert, auch Cellarus [Martin Borrhaus], der höchste Theologieprofessor dieser Stadt [Basel]20, habe niemals dem Tod Servets oder eines anderen Häretikers zugestimmt. Dasselbe glaubt man von einigen niederen Geistlichen dieser Stadt, die deshalb nicht aufgefordert wurden, ihr Urteil über Servet abzugeben.21 So führte man ihn zum Tribunal, wo man ihn verurteilte, zu Asche verbrannt zu werden. Als er dieses Urteil hörte, bat er den Rat flehentlich darum, durch das Schwert sterben zu dürfen, damit er nicht wegen der großen Schmerzen zur Verzweiflung getrieben werde und seine Seele verlöre.Wenn er in einer Sache gesündigt habe, so sei das aus Unwissenheit geschehen.22 Denn sein ganzes Sinnen und Trachten sei nur darauf gerichtet gewesen, den Ruhm Gottes zu verbreiten. Diese Bitte stellte Farell dem Rat in aller Offenheit vor. Aber der Rat ließ sich durch Servets Bitten nicht erweichen. So wurde Servet fortge-
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führt, wobei er immer wieder ausrief: O Gott, errette meine Seele. O Jesus, Sohn des ewigen Gottes, erbarme dich meiner. 23 Als man zur Richtstätte kam, warf er sich betend auf die Erde und lag dort eine Zeit lang mit dem Gesicht nach unten, während Farell die Menge mit folgenden Worten ansprach: Ihr seht, über welch große Kräfte der Teufel verfügt, wenn er von einem Menschen Besitz ergreift. Dieser Mann ist sehr gelehrt und glaubte vielleicht, richtig zu handeln; aber nun ist er im Besitz des Teufels. Dasselbe könnte auch euch geschehen. Sobald sich Servet erhoben hatte, forderte Farell ihn auf, etwas zu sagen. Jener aber seufzte immer wieder und schrie: O Gott, o Gott! Als Farell ihn fragte, ob er nichts anderes zu sagen habe, antwortete er: Was kann ich anderes reden als über Gott? Farell wies ihn darauf hin, ihm stehe, wenn er eine Frau oder Kinder habe und ein Testament machen wolle, ein öffentlicher Notar zur Verfügung. Doch er gab keine Antwort. So wurde er zum Scheiterhaufen geführt; der bestand aber aus Bündeln von frischem Eichenholz, noch voller Laub, mit Holzpflöcken durchmischt. Servet wurde an einen Stamm, der auf dem Boden befestigt war, gebunden; seine Füße berührten dabei die Erde. Auf seinen Kopf setzte man einen Kranz aus Stroh oder aus Laub, der mit Schwefel bestrichen war. Sein Körper wurde mit einer Eisenkette, der Hals mit einem dicken Strick vier- oder fünffach locker an einen Holzpfahl gebunden, sein Buch auf dem Oberschenkel festgeschnürt. Er selbst bat den Henker, ihn nicht lange zu quälen. Unterdessen legte der Henker zuerst vor dessen Augen, dann in einem Kreis um ihn herum das Feuer an. Als er das Feuer sah, stieß er einen so schrecklichen Schrei aus, dass die ganze Volksmenge von Entsetzen ergriffen wurde. Da er sich lange, wie ermattet, nicht bewegte (langueret), warfen einige aus der dichtgedrängten Menge Holzbündel in das Feuer, während er mit schrecklicher Stimme rief: Jesus, Sohn des ewigen Gottes, erbarme dich meiner.24 Eine halbe Stunde etwa dauerte seine Qual, dann starb er.
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[sebastian castellio]
Originalseite aus der Historia de morte Serveti (M 3v): ÂťDieses Geschehen hat viele fromme Menschen entsetzt und den Skandal der Skandale ausgelĂśst ...ÂŤ (siehe rechte Seite).
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HISTORIA DE M O RT E SERVETI
Einige beteuern, als Calvin gesehen habe, wie Servet zum Scheiterhaufen geführt wurde, habe er gelächelt und dabei den Blick hinter dem Bausch seines Gewandes leicht gesenkt. Dieses Geschehen hat viele fromme Menschen entsetzt und den Skandal der Skandale ausgelöst, der wohl kaum jemals in Vergessenheit geraten wird. Denn die Frommen erheben bei dieser Tat viele schwere Vorwürfe25: ERSTENS , weil ein Mensch in Genf getötet wurde wegen seines Glaubens. Sie sagen nämlich, dass niemand wegen seines Glaubens getötet werden dürfe. Und wenn das Alte Testament zitiert wird mit den falschen Propheten, die zu töten seien, so zitieren sie das Neue Testament mit dem Gleichnis vom Unkraut, das nicht vor der Ernte herausgezogen werden dürfe. Wenn er [Calvin] aber sagt, die Schweizer Kirchen hätten der Todesstrafe gegen Servet zugestimmt, so antworten sie, diese hätten nicht Richter sein dürfen, da sie Angeklagte waren; denn Servet tadelte sie ebenso wie die Genfer. Außerdem wundern sie sich darüber, dass Calvin, um einen anderen Menschen zu töten, mit diesen Kirchen übereingestimmt habe, deren Lehre er doch sonst verurteilte. Denn in dem französischen Büchlein über das Abendmahl lehnt er offen Zwingli und Oekolampad zusammen mit Luther ab und sagt, sie hätten geirrt. Wenn sie sich aber beim Abendmahl geirrt haben, dann können sie sich auch bei der Frage der Verfolgung irren. ZWEITENS , weil er mit Hilfe Calvins getötet wurde; denn dieser habe, um seinen Feind vernichten zu können, jemanden aus seiner Küche heimlich als Ankläger angestiftet, einen Mann, der von Servet und den Servet betreffenden Fragen überhaupt nichts wusste. Dies sei, so sagen sie, so weit von Christi Natur entfernt wie vom Himmel die Erde. Christus kam nämlich nicht, um zu verderben, sondern um zu bewahren. DRITTENS , weil er so grausam getötet wurde, obwohl er flehentlich den Tod durch das Schwert erbeten habe. Diese unerhörte Grausamkeit könnte den Verdacht erwecken, dass die
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Genfer wieder in die Gunst des Papstes gelangen und durch diese Tat zeigen wollten, dass sie ihn nicht verabscheuten, obwohl sie mit Worten gegen ihn toben. VIERTENS, weil sich zu seiner Tötung Evangelische mit den Papisten verschworen haben. Daher glauben einige, diese seien eine Freundschaft eingegangen wie Pilatus und Herodes bei der Kreuzigung Christi. FÜNFTENS , weil Servets Bücher verbrannt wurden. Dies (und einiges andere) scheine man vom Papst gelernt zu haben. Wenn allerdings Calvins Lehre von der Prädestination und der Gnadenwahl wahr ist, so bestand doch kein Grund zu befürchten, Servet könne jemanden vom Glauben trennen, da doch die Erwählten nicht getrennt werden können. Wenn aber die Sünden notwendigerweise und unter dem Zwang Gottes geschehen, dann musste Servet tun, was er tat, und die Calvinisten mussten getäuscht werden, wenn sie getäuscht werden sollten, und sie konnten nicht getäuscht werden, wenn sie nicht getäuscht werden sollten. SECHSTENS , weil der tote Servet überdies in den Predigten öffentlich zum ewigen Tod verurteilt wurde, und zwar auf solch eine Weise, dass diejenigen, die Farells heftige, donnernde Worte gehört haben, sagen, sie hätten sich am ganzen Leibe und von ganzem Herzen entsetzt.26 SIEBTENS , weil Calvin gegen den bereits Getöteten zu schreiben scheint. Das entspricht wohl dem Vorgehen der Juden, die nach dem Tode Christi den Pilatus baten, dessen Leichnam zu bewachen (indem sie Christus einen Betrüger nannten). Ebenso befürchte Calvin, so sagen sie, dass Servets Leiche heimlich geraubt werde (dass das nicht geschehen kann, dafür hat Calvin sorgfältig vorgesorgt), damit nicht die Asche rede. Wenn er gegen ihn schreiben wollte, hätte er das zu dessen Lebzeiten tun müssen, um ihm die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, was sogar einem Räuber erlaubt wird.
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SEBASTIAN CASTELLIO ÜBER KETZER UND OB MAN SIE VERFOLGEN SOLL DE HAERETICIS AN SINT PERSEQUENDI & OMNINO QUOMODO SIT CUM EIS AGENDUM
Aus dem Lateinischen übersetzt von Werner Stingl Bearbeitet und kommentiert von Hans-Joachim Pagel und Wolfgang F. Stammler
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Titelblatt des De Haereticis aus dem Jahre 1554. Diese und die nachfolgenden Abbildungen stammen aus Sape van der Woudes Faksimileausgabe.
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ÜBER KETZER UND OB MAN SIE VERFOLGEN SOLL ODER WIE ÜBERHAUPT MIT IHNEN ZU VERFAHREN SEI. DAZU DIE ANSICHTEN VON LUTHER UND BRENZ UND VIELEN ANDEREN, AUS ÄLTERER WIE NEUERER ZEIT.
Ein in dieser so stürmischen Zeit höchst notwendiges und aller Welt wie auch den mächtigsten Fürsten und Obrigkeiten sehr nützliches Buch, auf dass sie daraus lernen, was ihre Pflicht sei in einer solch umkämpften und gefährlichen Angelegenheit. Sein Inhalt wird auf der nächsten Seite angezeigt.
Der, der nach dem Fleisch gezeugt war, verfolgte den, der nach dem Geist gezeugt war. Gal[ater] 4[,29]1
Die Anmerkungen zu diesem Text stehen im Anhang auf S. 354 ff.
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sebastian castellio
Inhaltsangabe aus dem De haereticis
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über ketzer und ob man sie verfolgen soll
Des MARTINUS BELLIUS Vorwort, in welchem gezeigt wird, was ein Ketzer ist und wie denn mit ihm zu verfahren sei. MARTIN LUTHERS Meinung, worin offen dargelegt
wird, dass die Bestrafung der Ketzer nicht Sache der Obrigkeit ist.3 Des JOHANNES BRENZ 4 Meinung über die Wiedertäufer und die anderen, die für Ketzer gehalten werden, welche das gleiche lehrt. Meinungen anderer Autoren aus älterer wie neuerer Zeit in derselben Angelegenheit.5 Des Basilius Montforts 6 Widerlegung dessen, was man zugunsten der Ketzerverfolgung zu sagen pflegt.
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Seite 3 aus De Haereticis mit dem Beginn des Widmungsbriefs an Herzog Christoph von W端rttemberg.
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MARTINUS BELLIUS AN CHRISTOPH HERZOG VON WÜRTTEMBERG 7
W
enn du, durchlauchtigster Fürst, deinen Untertanen angekündigt hättest, dass du einmal zu unbestimmter Zeit zu ihnen kommen würdest, und sie geheißen hättest, sich mit weißen Kleidern zu versehen und dir, wann immer auch du kommen mögest, in weißem Gewand entgegenzutreten: Was würdest du tun, wenn du dereinst kämst und fändest, dass sie sich nicht um weiße Kleider gekümmert, sondern sich nur über deine Person gestritten hätten, indem die einen sagen, du seist in Frankreich, die andern, du hättest dich nach Spanien begeben; andere wiederum, du würdest zu Pferde kommen, und wieder andere, in einem Wagen; mit großem Gepränge die einen, die anderen aber, mit keinerlei Gefolge: Würde dir das gefallen? Was aber, wenn sie nicht nur mit Worten, sondern mit Fäusten und Schwertern in dieser Sache stritten und die einen die andern, die der gegenteiligen Meinung sind, verwundeten oder gar töteten? »Er wird zu Pferde kommen«, würde der eine sagen. – »Nein, vielmehr in einem Wagen«, ein andrer. – »Du lügst.« – »Nein, du lügst.« – »So nimm diesen Fausthieb.« – »Du aber empfange diesen Dolchstoß in den Bauch.« Würdest du, o Fürst, solche Bürger gutheißen? Was, wenn einige von ihnen, wie du befohlen hast, eifrig bemüht gewesen wären, sich weiße Kleider zu beschaffen, und andere sie deswegen quälten oder gar töteten? Würdest du die Übeltäter nicht hart bestrafen? Was aber, wenn jene Mörder sagen würden, sie hätten es auf dein Geheiß hin und in deinem Namen getan, wo du es doch strengstens verboten hattest? Würdest du so etwas nicht für ganz und gar abscheulich halten und meinen, dass dies ohne jegliches Erbarmen zu bestrafen sei? Nun bitte ich dich, Fürst, höre gütig an, worauf ich mit dem Gesagten hinaus will. Christus ist der Fürst der Welt. Und als er von dieser Welt schied, verhieß er den Menschen, dass er zu
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unbestimmter Zeit und Stunde wiederkommen werde, und gebot ihnen, sich weiße Gewänder für seine Wiederkunft bereitzulegen [Offb 3,3–5.18], das heißt, dass sie ohne Hader in Gottesfurcht und Freundschaft leben und einander lieben sollten. Ich bitte dich also, lass uns gründlich erwägen, wie gut wir diesen Auftrag erfüllen. Wie viele bemühen sich denn darum, sich mit weißen Kleidern zu versehen? Wer wendet denn allen Fleiß darauf, dass er heiligmäßig, gerecht und fromm lebe in dieser Zeit, in Erwartung der Wiederkunft des seligen HERRN? Nichts geschieht mit weniger Eifer: Wahre Frömmigkeit und Liebe liegen darnieder und sind erkaltet; unser Leben verbringen wir mit Zank und Lastern aller Art. Disputiert wird nicht über den Weg, auf dem man zu Christus gelangen kann, das heißt, über die Verbesserung des Lebens, sondern über Christus selbst, seinen Stand und sein Amt, wo er denn jetzt sei, was er tue, wie er sitze zur Rechten des Vaters und auf welche Weise er eins sei mit dem Vater. Desgleichen über die Dreieinigkeit, die Prädestination, den freien Willen, über Gott und die Engel, über den Zustand der Seelen nach diesem Leben und dergleichen Dinge mehr, die weder für das Heil, das wir durch den Glauben erlangen, zu wissen nötig haben (denn die Zöllner und Dirnen sind auch ohne Kenntnis dieser Dinge gerettet worden [Mt 21,31 f.]), noch überhaupt erkannt werden können, bevor wir ein reines Herz haben (denn jenes schauen heißt Gott selber schauen, der ohne Reinheit des Herzens nicht geschaut werden kann, gemäß dem Wort: »Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen« [Mt 5,8]). Auch würde die Kenntnis dieser Dinge den Menschen nicht besser machen, sagt doch Paulus: »Und wenn ich alle Geheimnisse wüsste und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.« [1 Kor 13,2 f.] So ist dies verkehrte Bestreben der Menschen nicht nur an sich von Übel, sondern es schafft auch andere, größere Übel. Denn aufgeblasen von diesem Wissen oder von einem falschen Begriff dieses Wissens, blicken die Menschen hochmütig und
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verächtlich auf die anderen herab. Solchem Hochmut folgt dann Grausamkeit und Verfolgung, bis fast keiner mehr einen andern ertragen mag, der in irgendeiner Sache von ihm abweicht. Und obgleich heutzutage die Meinungen fast so zahlreich sind wie die Menschen, gibt es kaum eine Sekte, die nicht alle andern verdammte und die Herrschaft für sich allein beanspruchte. Daher die Verbannungen, die Ketten, die Scheiterhaufen und die Kreuze und der erbarmungswürdige Anblick täglicher Drangsale wegen Meinungen über Dinge, welche die Machthaber hassen und die immer noch ungeklärt und schon seit Jahrhunderten unter den Menschen umstritten und dennoch nicht mit Gewissheit entschieden sind. Wenn es nun aber doch jemanden gibt, der sich ein weißes Gewand zuzulegen, will sagen frei von Schuld zu leben sich bemüht: über den fallen sie alle einmütig her, sobald er in irgendetwas von den anderen abweicht; ihn klagen sie an, ihn nennen sie ohne jedes Bedenken einen Ketzer, als wolle er sich mit seinen Werken rechtfertigen; ihm hängen sie in unwahrhaftiger Weise die furchtbarsten, undenkbarsten Verbrechen an; so sehr schwärzen sie ihn mit ihren Verleumdungen an und erniedrigen ihn vor den Menschen, dass es die Menschen bereits für eine Sünde halten, ihn anzuhören. Daraus entstehen dann solche Rasereien, schlimmer noch als bei wilden Tieren, wie man sie bei Menschen sieht, die, durch derlei Verleumdungen aufgehetzt, vor Wut toben, wenn sie sehen, dass einer erdrosselt wird, statt bei lebendigem Leib auf langsamer Flamme verbrannt zu werden. Und obgleich dies schon der Gipfel der Grausamkeit ist, so kommt die allerschlimmste Sünde noch dazu, dass sie dies alles in den Mantel Christi hüllen und behaupten, sie handelten dabei nach seinem Willen, wo doch nicht einmal der Teufel selbst etwas ersinnen könnte, was der Natur und dem Willen Christi mehr widerstreitet. Denselben, die nun den Ketzern, wie sie sie nennen, derart feindlich gesinnt sind, liegt es indes-
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sen ebenso fern, die Schurken zu hassen, wie sie auch ohne Bedenken mit den Habgierigen schöne Gemeinschaft halten, die Schmeichler begünstigen, die Neider dulden, die Verleumder ermuntern, mit Trunkenbolden und Schlemmern und Ehebrechern scherzen und mit Possenreißern und Betrügern und anderen dieser Art, die Gott besonders hasst, behaglich schmausen und täglich Umgang pflegen. Da es sich so verhält, wer möchte zweifeln, dass sie nicht die Laster, sondern die Tugenden hassen? Denn wer das Gute hasst, der liebt das Böse, und wenn man sieht, dass einem die Ruchlosen willkommen sind, so braucht man nicht zu zweifeln, dass ihm die Guten verhasst sind. Ich frage dich, durchlauchtigster Fürst, was, glaubst du, wird Christus tun, wenn er wiederkehrt? Wird er dies loben und gutheißen? Lass uns einmal Folgendes genau betrachten: Stell dir vor, jemand wird in Tübingen8 von anderen verklagt, weil er solches öffentlich über dich äußert: »Ich glaube, dass Christoph mein Fürst ist, und will ihm in allen Dingen gehorchen. Aber was ihr [die Andersdenkenden] sagt, dass er in einem Wagen kommen werde, das glaube ich nicht; vielmehr glaube ich, er wird zu Pferde kommen. Desgleichen glaube ich auch nicht, dass er, wie ihr sagt, ein rotes Gewand tragen wird; ich dagegen glaube, er wird weiß gekleidet sein. Und was seinen Befehl betrifft, uns in diesem Fluss zu waschen, so glaube ich, dass es nachmittags, ihr aber, dass es vormittags zu geschehen habe. Wenn ich glaubte, er wolle, dass ich mich vormittags wasche, so täte ich es; doch fürchte ich, ihn damit zu beleidigen, und darum will ich nach meinem Gewissen handeln.« Ich frage dich, Fürst, wirst du wollen, dass dein Bürger deswegen verurteilt wird? Ich meine nein. Und wenn du zugegen wärst, so würdest du eher des Mannes Schlichtheit und Gehorsam loben als seine Unwissenheit verurteilen. Und wenn die anderen den Mann töteten, so würdest du gewiss
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gegen sie einschreiten. Betrachte nun den Fall in derselben Weise: Da ist ein Bürger Christi, der über ihn folgendermaßen spricht: »Ich glaube an Gott, den Vater, und an Jesus Christus, seinen Sohn, und will leben nach seinen Geboten, wie sie in den Heiligen Schriften geschrieben stehen. Was aber seinen Befehl betrifft, seinen Leib und sein Blut zu empfangen, so glaube ich, dass es geschehen muss unter beiderlei Gestalt. Und was sein Gebot anlangt, uns taufen zu lassen, so glaube ich für meine Person, dass es am achten Tage nach der Geburt zu geschehen habe 9, da es ja auch mit der Beschneidung so gehalten wurde.« Meinst du, dass man deshalb einen solchen Mann töten müsse? Ich glaube nein. Was aber, wenn jener Folgendes spricht:10 »Ich glaube, dass ein Mensch nicht eher getauft werden soll, als bis er Rechenschaft ablegen kann von seinem Glauben. Glaubte ich anderes, so wollte ich anders handeln, denn es fiele mir nicht schwerer, einen Säugling zu taufen als einen Knaben oder einen Jüngling. Doch wage ich es nicht, gegen mein Gewissen zu verstoßen, um Christus nicht zu beleidigen, der mir durch seinen Diener Paulus verboten hat, irgendetwas zu tun, worüber ich im Zweifel bin, ob es rechtens sei [Röm 14,23]. Denn ich muss durch meinen eigenen Glauben gerettet werden und nicht durch den eines andern.« Ich frage dich, wenn Christus selber als Richter zugegen wäre, würde er befehlen, diesen Menschen zu töten? Ich meine nein, wenn du dir Christi Leben und Wesen vor Augen hältst, da er doch niemals dergleichen befohlen oder getan hat, sondern genau das Gegenteil. Und wenn es Christus selbst nicht täte, so dürfen es die andern auch nicht tun, die von ihm irgendeine Vollmacht bekommen haben, damit ihnen nicht dereinst zu Recht vorgeworfen wird, was das Sprichwort sagt: Du bist des Teufels Knecht, denn du hast mehr getan, als dir befohlen war; oder vielmehr: Du hast gehandelt wider das, was dir befohlen war. Wenn nämlich Gott den Saul11 so streng be-
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