#74 Sommer 2019
#FRAUEN UND ENTWICKLUNG
Zeit, dass sich etwas ändert!
Das Magazin von
Swissaid Fastenopfer Brot für alle Helvetas Caritas Heks
AUFTAKT
Rund zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger der Schweiz wünschen sich, dass unser Land seine Entwicklungsausgaben erhöht. Sie sind der Ansicht, dass die Entwicklungszusammenarbeit im Interesse der Schweiz ist und zur Sicherheit in der Welt beiträgt. Zu diesem Schluss kommt die kürzlich veröffentlichte Studie «Sicherheit 2019» der Militärakademie und des Zentrums für Sicherheitsstudien der ETH. In der Suisse romande sprechen sich sogar mehr als 80% der Bürgerinnen und Bürger für einen Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit aus. Der Bundesrat lässt sich vom grossen Rückhalt, den die Entwicklungszusammenarbeit in der Bevölkerung geniesst, nicht beeindrucken. Im Entwurf zur Botschaft über die internationale Zusammenarbeit 2021–2024 schlägt er vor, dass die Schweiz in den kommenden Jahren gerade einmal 0,45% ihres Bruttonationaleinkommens für die öffentliche Entwicklungshilfe aufwenden soll. 2016 waren es immerhin 0,53%. Seither musste die Entwicklungszusammenarbeit massive Einsparungen über sich ergehen lassen; trotz jährlicher Milliardenüberschüsse in der Bundeskasse. Die reiche Schweiz gibt aktuell einen kleineren Anteil ihres Nationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit aus als der Durchschnitt aller EU-Staaten. Abzüglich der Asylausgaben, die absurderweise auch zur öffentlichen Entwicklungshilfe gerechnet werden können, soll dieser Anteil in den nächsten Jahren gar nur 0,4% betragen. Der Botschaftsentwurf zur zukünftigen internationalen Zusammenarbeit der Schweiz lässt aber nicht nur in Sachen Finanzen zu wünschen
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Foto: Daniel Rihs
An der Mehrheit vorbei politisiert übrig. Er ist auch in strategischer Hinsicht oberflächlich und lückenhaft. So fehlt das klare Bekenntnis, dass die Reduktion von Armut und die Stärkung der Zivilgesellschaft weiterhin Hauptziele des Schweizer Engagements sein sollen. Die Reduktion von Armut ist nur dann und dort noch ein Ziel, wo dies auch aus migrationspolitischen Gründen opportun erscheint. Stattdessen soll die Entwicklungszusammenarbeit vor allem auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und Partnerschaften mit privatwirtschaftlichen Akteuren ausgerichtet werden. Es fehlt der entscheidende Hinweis darauf, dass es dabei um menschenwürdige Arbeit im Rahmen einer ökologisch nachhaltigen Produktionsweise gehen muss. Welche Kriterien die privatwirtschaftlichen Partner in Sachen Menschenrechte, Umweltschutz und fairer Besteuerung erfüllen sollen, bleibt im Botschaftsentwurf ungeklärt. Alliance Sud wird sich in ihrer Vernehmlassungsantwort für eine Botschaft einsetzen, welche die Umsetzung der Uno-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ins Zentrum stellt. Die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit muss dem Kampf gegen Armut und der Linderung von Not dienen. Und sie soll in ihren Partnerländern mehr denn je all jene zivilgesellschaftlichen Kräfte unterstützen, die für soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit einstehen.
Mark Herkenrath Geschäftsleiter Alliance Sud
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INHALT
IMPRESSUM global – Politik für eine gerechte Welt erscheint viermal jährlich. Die nächste Ausgabe von «global» erscheint Anfang Oktober 2019.
INS BILD GESETZT
Sudan – Frühjahr 2019 6 ENTWICKLUNGSPOLITIK
Nationalratspräsidentin Marina Carobbio im Gespräch 8 Wenn «Nachhaltigkeit» zum Fluch wird 12 KLIMA UND UMWELT
Warum Klimapolitik weiblicher werden muss 15 STEUERN UND FINANZEN
Steuerdumping trifft vor allem Frauen 18 AGENDA 2030
Tourismus als globaler Tieflohnsektor für Frauen 20 DIE SÜD-PERSPEKTIVE
Vertauschter Gender-Gap in der Mongolei 22 INFODOC
Feminismus bei Indiens UreinwohnerInnen 26 Die Web-Plattform Wikigender 27
Herausgeberin: Alliance Sud Arbeitsgemeinschaft Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas, Heks Monbijoustrasse 31, Postfach, 3001 Bern T +41 31 390 93 30 F +41 31 390 93 31 global@alliancesud.ch www.alliancesud.ch Social Media: facebook.com /alliancesud twitter.com /AllianceSud Redaktion: Daniel Hitzig (dh), Kathrin Spichiger (ks) T +41 31 390 93 34 /30 Bildredaktion: Nicole Aeby Grafik: Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik, Zürich Druck: Valmedia AG, Visp Auflage: 2600 Tarife Inserate /Beilagen: siehe Webseite Bild Titelseite: Ajoke Saka (25), MBA-Studentin aus Ikoyi, der künstlichen Insel in der Lagune von Nigerias Hauptstadt Lagos, posiert für die Kamera. Foto: Robin Hammond/Panos
SIE SIND ALLIANCE SUD Präsidium Bernard DuPasquier, Geschäftsleiter Brot für alle Geschäftsstelle Mark Herkenrath (Geschäftsleiter), Kathrin Spichiger (Mitglied der GL), Matthias Wüthrich Monbijoustr. 31, Postfach, 3001 Bern T +41 31 390 93 30 F +41 31 390 93 31 mail@alliancesud.ch Regionalstelle Lausanne Isolda Agazzi, Laurent Matile, Mireille Clavien T +41 21 612 00 95 F +41 21 612 00 99 lausanne@alliancesud.ch Regionalstelle Lugano Lavinia Sommaruga (Mitglied der GL) T +41 91 967 33 66 F +41 91 966 02 46 lugano@alliancesud.ch
POLITIK Entwicklungszusammenarbeit/ Agenda 2030 Eva Schmassmann T +41 31 390 93 40 eva.schmassmann@alliancesud.ch Steuer- und Finanzpolitik Dominik Gross T +41 31 390 93 35 dominik.gross@alliancesud.ch Klima und Umwelt Jürg Staudenmann T +41 31 390 93 32 juerg.staudenmann@alliancesud.ch Handel und Investitionen Isolda Agazzi (Mitglied der GL) T +41 21 612 00 97 isolda.agazzi@alliancesud.ch Entwicklungsbanken/IWF Kristina Lanz T +41 31 390 93 42 kristina.lanz@alliancesud.ch Unternehmen und Menschenrechte Laurent Matile T +41 21 612 00 98 laurent.matile@alliancesud.ch Medien und Kommunikation Daniel Hitzig T +41 31 390 93 34 daniel.hitzig@alliancesud.ch INFODOC Bern Simone Decorvet, Petra Schrackmann, Jérémie Urwyler, Joëlle Valterio T +41 31 390 93 37 dokumentation@alliancesud.ch Lausanne Pierre Flatt (Mitglied der GL), Amélie Vallotton Preisig, Nina Alves T +41 21 612 00 86 documentation@alliancesud.ch
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AUF DEN PUNKT Zauberwort «Blended Finance» In seinem erläuternden Bericht zur internationalen Zusammenarbeit 2021–2024 erklärt der Bundesrat, er wolle die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft «diversifizieren und stärken sowie neue Finanzinstrumente entwickeln». Dafür soll der strategische Einsatz der Mittel für die internationale Zusammenarbeit ausgeweitet werden, um «zusätzliche private Gelder für eine nachhaltige Entwicklung (zu) mobilisieren (Blended Finance)». Was steckt hinter diesem neuen Zauberwort der Entwicklungszusammenarbeit? Das Overseas Development Institute (ODI), ein unabhängiger britischer Think Tank, hat im April 2019 eine Analyse dieser Blended Finance-Instrumente in armen Ländern vorgelegt. Dabei wird hervorgehoben,
dass weniger als 4 Prozent der privaten Finanzierungen für Länder mit niedrigem Einkommen (LICs) bereitgestellt wurden und dass sich die Investitionen weitgehend auf die produktiven Sektoren, die Infrastruktur, das Finanzwesen und das Bankwesen konzentriert haben. In Projekte im sozialen Bereich wurden nur minimale Summen investiert Private Gelder fliessen also dorthin, wo sich ein return on investment erzielen lässt. LM
Petition für eine Flugticketabgabe Die neue Umweltministerin Simonetta Sommaruga hat den Bundesrat überzeugt, sich nicht mehr gegen die Einführung einer Flugticketabgabe zu sperren; bei der FDF tobt in dieser Frage ein Glaubenskrieg. Der Verein umverkehR, der sich seit 25 Jahren für eine zukunftsfähige Mobilität einsetzt, will den öffentlichen Druck auf das Parla-
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ment erhöhen und hat die Petition «Ja zur Flugticketabgabe!» lanciert. Als Vorbild für die Schweiz wird darin das britische Modell angeführt, in dem abhängig von der Flugdistanz eine Abgabe von 20 bis 200 Franken erhoben wird. Die Petitionäre verlangen, dass die Einnahmen «an die Bevölkerung zurückverteilt, für den Ausbau des grenzüberschreitenden Schienenverkehrs oder für Anpassungen an den Klimaschutz eingesetzt werden» können. DH
Unbelehrbare Weltbank In einer grossangelegten Studie hat die deutsche NGO urgewald 675 laufende Energieprojekte der Weltbank untersucht und dabei die mächtigste Entwicklungsinstitution der Welt für ihre höchst zweifelhafte Rolle beim Klimaschutz entlarvt: Die laufende Projektfinanzierung der Weltbankgruppe für fossile Energieträger ist rund drei Mal so hoch wie die für klimaschonende erneuerbare Energieträger. Rund 21 Milliarden US-Dollar fliessen in die Sektoren Kohle, Öl und Gas – lediglich 7 Milliarden in Bereiche wie Solarenergie oder Windkraft. Allein in den letzten fünf Jahren hat die Bank 12 Milliarden US-Dollar für Projekte ausgegeben, die fossile Industrien unterstützen.
In den vergangenen Jahren hatte die Weltbank mehrfach grosse Schritte für den Klimaschutz angekündigt und dafür viel Lob erhalten. Die vorliegende Studie zeigt jetzt u.a., dass die Bank zwar seit 2013 den Bau neuer Kohlekraftwerke nicht mehr direkt finanziert, solche Projekte jedoch über andere Wege ermöglicht. So genehmigte die zur Weltbankgruppe gehörende Multilaterale
Investitions-Garantie-Agentur (MIGA) 2016 eine Finanzgarantie in Höhe von 783 Millionen US-Dollar für Darlehen, die dem südafrikanischen Energiekonzern Eskom zu Gute kamen. Finanziert wurden damit u.a. Übertragungsleitungen für Strom aus neuen EskomKohlekraftwerken. DH
Finanzielle Schieflage Die in der Uno-Agenda 2030 formulierten Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) – namentlich die Bekämpfung der Armut und des Klimawandels – könnten nur erreicht werden, wenn das globale Finanzsystem gründlich überholt werde, schreibt die Uno in einem Bericht von Anfang April. Der Bericht basiert auf der «ernüchternd» ausgefallenen Analyse einer die UN-Agenturen übergreifenden Task Force zur Entwicklungsfinanzierung. Die globale Ungleichheit nehme zu, es drohten neue Schuldenkrisen und der Klimawandel gefährde die nachhaltige Entwicklung in allen Weltregionen. Beunruhigt zeigen sich die Vereinten Nationen, dass es weder nationalen noch multinationalen Institutionen gelinge, sich den schnell verändernden Rahmenbedingungen anzupassen.
Zwar nehme das Bewusstsein für nachhaltige Investitionen zu, es brauche aber noch weit grössere Anstrengungen. An die Adresse des Finanzsektors werden eine Reihe von Empfehlungen zu dessen Neuorientierung gerichtet: Investitionen sollen mit längerfristigem Horizont getätigt und die Nachhaltigkeit dabei alsals zentraler Risikofaktor anerkannt werden. Es brauche eine Überarbeitung des multilateralen Handelssystems und eine Abkehr von der Konzentration der Märkte in den Händen einer kleinen Anzahl mächtiger Unternehmen, die nicht durch nationale Grenzen limitiert seien. DH
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RUEDI WIDMER
HAUSMITTEILUNG Keine Gratiskultur Mit dieser Ausgabe verabschiedet sich «global» von seinem bisherigen Bezahlmodell. Neu finden in der Heftmitte alle unsere AbonnentInnen in jeder Ausgabe einen Einzahlungsschein. Ob oder wie regelmässig Sie diesen benutzen und uns einen Unkostenbeitrag zukommen lassen wollen, das überlassen wir neu ganz Ihnen. Denn auch wer knapp bei Kasse ist, ist als Leserin oder Leser selbstverständlich herzlich willkommen. Wir hoffen, mit diesem Schritt vermehrt auch ein jüngeres Publikum zu erreichen, das mit einer medialen Gratiskultur gross geworden ist. Dieser stehen wir zwar durchaus kritisch gegenüber, gleichzeitig ist uns nicht entgangen, wie viele Menschen heute auch bereit sind, etwas, das sie wichtig finden, freiwillig zu unterstützen. Allen, die «global» in den letzten Jahren wiederkehrend mit ihrem jährlichen Abo-Beitrag mitgetragen oder diesen nicht selten grosszügig aufgerundet haben, danken wir sehr herzlich
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für ihre Treue und das Vertrauen in unsere Arbeit. Und natürlich hoffen wir, dass Sie uns weiterhin unterstützen werden. Parallel zu diesem Schritt verstärken wir unsere Anstrengungen, «global» einem breiteren Publikum überhaupt erst bekannt zu machen. Ab dieser Ausgabe werden wir jede neue «global»-Nummer mit einem Flyer bewerben, der Ihnen dort begegnen soll, wo wir unser Zielpublikum vermuten: In ausgewählten Buchhandlungen, Bibliotheken, kulturellen Treffpunkten, bei Veranstaltungen. Schreiben Sie uns, wenn wir Ihnen regelmässig einige «global»-Werbeflyer schicken dürfen: global@alliancesud.ch.
Das Team unserer Informations- und Dokumentionsstelle InfoDoc ist seit Anfang Mai wieder komplett. Wir begrüssen bei Alliance Sud sehr herzlich Petra Schrackmann und Jérémie Urwyler in Bern sowie Nina Alves in Lausanne. DH
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INS BILD GESETZT
Eine zentrale Rolle beim Aufstand gegen das islamische Militärregime spielen die sudanesischen Frauen. Das Bild der 22jährigen Ingenieur- und Architekturstudentin Alaa Salah (rechte Seite), die sich selbstbewusst an die DemonstrantInnen in der Hauptstadt Khartum wendet, wurde zum Symbol dafür. Salah trägt stolz die traditionelle Kleidung der Baumwollarbeiterinnen und goldenen Brautschmuck. In diesem Outfit waren die Frauen bereits in den 60er, 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts für ihre Rechte auf die Strasse gegangen.
Foto: Instagram @lana_hago
Seit einem halben Jahr demonstriert im Sudan eine breite Allianz aus zivilgesellschaftlichen Kräften gegen die korrupte Militärdiktatur, für freie Wahlen und den Übergang zu einer zivilen Regierung. Trotz des Abgangs von Langzeitdiktator Omar al-Bashir bleibt der Ausgang der sudanesischen Revolution ungewiss.
Mit der Landesflagge wird für einen neuen Sudan demonstriert. Foto: Umit Bektas/Reuters
Eine Mutter hat ihre Kinder zum Protest vor dem Verteidigungsministerium mitgebracht. Foto: Umit Bektas/Reuters
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ENTWICKLUNGSPOLITIK
Die höchste Schweizerin hat zum 25. Jahrestag des Genozids Ruanda und anschliessend Mosambik, eines der ärmsten Länder der Welt, besucht. Mit der Ärztin und Nationalratspräsidentin Marina Carobbio sprachen Lavinia Sommaruga und Daniel Hitzig.
«Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen»
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Fotos: Daniel Rihs/13 Photo/Alliance Sud
global: Welche persönlichen Eindrücke haben Sie von dieser Afrikareise mitgenommen? Marina Carobbio: Es war eine sehr intensive und anspruchsvolle Reise. Das Gedenken an den Völkermord in Ruanda 1994 war ein sehr starker Moment. Die Menschen zu hören, die den Genozid persönlich überlebt haben, das hat mich sehr berührt. Es ist notwendig, daran zu erinnern, damit sich etwas Ähnliches nicht wiederholen kann. Dabei gibt es immer noch viele Orte, an denen es inakzeptable Angriffe auf Menschen und die Menschenrechte gibt. Die Reise hat mich sehr motiviert, mein Engagement für die Entwicklungszusammenarbeit fortzusetzen. Dass die Wahl auf Ruanda und Mosambik fiel, war sicher kein Zufall. Natürlich nicht. Es interessierte mich, die Rolle der Frauen in Schweizer Entwicklungsprojekten kennenzulernen, speziell wollte ich auch Projekte im Gesundheitswesen sehen. Wir wissen im Allgemeinen ja wenig über Afrika, und Politiker und Politikerinnen sollten mehr darüber erfahren, was die Schweiz tut und was sie selbst aus dieser Zusammenarbeit lernen kann. Denn Entwicklung ist nie eine Einbahnstrasse. Bei meinen Besuchen stand die Rolle des Bundes im Vordergrund. Unser Land gilt als Vorbild in Sachen gute Regierungsführung und ist als zuverlässiger Partner anerkannt.
ten beobachten, wie die Schweiz bei der Friedensförderung durch Dialog und den Einbezug der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle spielt. Das alles hat meine Überzeugung bestärkt, dass die Schweiz, wenn sie diese Arbeit fortsetzt, weiterhin und zunehmend als wichtige Akteurin auf der internationalen Bühne anerkannt wird. Es wäre ein Fehler, bestimmte Formen der Zusammenarbeit aufzugeben oder unsere Arbeit gar einzustellen. Sie ist für die Entwicklungsländer wichtig, aber eben auch für die Schweiz. Mosambik ist eines der Schwerpunktländer der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz. Nach den Überschwemmungen forderten mehrere NGOs die Credit Suisse auf, Mosambik Schulden von einer Milliarde Dollar zu erlassen. Im Jahr 2016 hatten giftige Kredite das Land in eine schwere Schuldenkrise gestürzt. Es ist doch paradox, auf der einen Seite steht die staatliche Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz, auf der anderen Seite stürzt eine Schweizer Bank das Land in eine beispiellose Krise... Das Problem ist, dass die Bank als privates Unternehmen wenig zur Klärung
dieser Geschichte beiträgt. Das führt uns ohne Umweg zum Thema der Konzernverantwortungsinitiative. Auch wenn das Volksbegehren die Banken nicht direkt betrifft, ist das Thema der Sorgfaltspflicht von zentraler Bedeutung. In Mosambik haben wir bei offiziellen Treffen auch darüber gesprochen, wie wichtig die Bekämpfung der Korruption ist. In Ruanda habe ich festgestellt, wie heikel die Frage nach den Rohstoffen ist, die aus der Demokratischen Republik Kongo ins Land gelangen. Auch das erinnert uns wieder an unsere eigene Verantwortung, denn aus Ruanda gelangen Rohstoffe auch weiter zu uns. Die Schweiz will gute Geschäfte machen, aber auch mit ihrer humanitären Tradition wahrgenommen werden. Wie erleben Sie diesen Spagat als Politikerin? Der wirtschaftliche Erfolg ist zwar ein grundlegendes Thema, er darf aber nicht getrennt betrachtet werden von unserer Politik der Friedensförderung, des Umweltschutzes und der Menschenrechte. Es ist genau dieser Widerspruch, auf den die Konzernverantwortungsinitiative hinweist.
Die Schweiz verfügt über drei aussenpolitische Instrumente – die Entwicklungszusammenarbeit, die Friedensund Menschenrechtsförderung sowie die humanitäre Hilfe. Was haben Sie bei Ihrem Besuch diesbezüglich erfahren? In beiden Ländern haben wir Wasserund Gesundheitsprojekte besucht, aber auch solche, mit denen Menschen unterstützt werden, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Auch Projekte im Bereich Public Private Partnership (PPP) haben wir gesehen und wir konn-
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Die Gegner der Initiative sagen, das Anliegen sei zwar richtig, aber es genüge, wenn sich die Unternehmen freiwillig an Menschenrechte und Umweltstandards halten… Wir haben auch in der Schweiz in vielen Bereichen festgestellt, dass freiwillige Standards nicht ausreichen, wenn es keine Regeln gibt. Nehmen wir nur das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen! So wie die Schweiz als Vermittlerin in Konfliktfällen einen guten Ruf hat, können wir auch beim verantwortungsbewussten Unternehmertum eine Vorbildrolle einnehmen. Bundesrat Ignazio Cassis will die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit vermehrt an den Eigeninteressen der Schweiz ausrichten. Auch Migrationsaspekte sollen stärker gewichtet werden. Wird die Zusammenarbeit so nicht instrumentalisiert? Die Zusammenarbeit darf nicht mit rein internen Zielen verknüpft werden. Für mich ist klar, dass wir mit einer guten Entwicklungspolitik auf der internationalen Bühne auch Ansehen gewinnen, wovon die Schweiz nur profitieren kann. Verknüpfen wir hingegen die Zusammenarbeit mit dem Ziel, dass weniger Menschen in die Schweiz migrieren, so stellen wir die ursprünglichen und primären Ziele der Zusammenarbeit in Frage. Wir leben in einem stabilen Land, wo es den Menschen gut geht. Ausgehend von dieser privilegierten Situation muss die Entwicklungszusammenarbeit klar einen Diskurs der Solidarität führen. Auf diesem Wert – der Solidarität – ist die Schweiz gewachsen und den sollten wir heute nicht in Frage stellen.
wicklungszusammenarbeit gesprochen. Wir erfahren zwar schnell von Katastrophen, die sich weit weg ereignet haben, reden etwa zwei Tage lang über einen Wirbelsturm und gehen dann zu einer anderen humanitären Krise über. Zusammenhänge kommen dabei eindeutig zu kurz. Mosambik war so ein Beispiel: Der Wirbelsturm an sich ist eine Naturkatastrophe, er trifft aber ein Land, das ohnehin schon sehr arm und stark vom Klimawandel betroffen ist.
Ist die internationale Zusammenarbeit in der Bevölkerung noch verankert? Sie ist heute zwar weniger bekannt als in den 1980er und 1990er Jahren, aber es gibt immer noch viele junge Menschen, die sich im Ausland engagieren. In den Medien wird heute weniger über Ent-
Für viele gebildete Menschen im globalen Süden ist die «Entwicklungshilfe» des Nordens eine kaum kaschierte Form von Neokolonialismus. Da ist in den letzten dreissig Jahren einiges geschehen… Ja, das stimmt. Zusammenarbeit darf eben nicht nur die Bereitstellung von
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Geld bedeuten, sondern muss auch auf die Ausbildung der Menschen zielen, damit sie in ihrem Land bleiben und arbeiten können. Die Zusammenarbeit muss so ausgerichtet sein, dass die Projekte selbstständig weitergeführt werden können. Ruanda, das habe ich mit eigenen Augen gesehen, hängt extrem stark von der internationalen Zusammenarbeit ab. In den Projekten, die wir mit der AMCA1 fördern, spielt gerade die Ausbildung von Medizin- und Pflegepersonal eine zentrale Rolle, damit nicht alles von der Zusammenarbeit abhängt. Gemäss dem Botschaftsentwurf zur internationalen Zusammenarbeit 2021–2024 soll die Schweiz rund 0,45% ihres Nationaleinkommens (BNE) für die öffentliche Entwicklungshilfe
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Foto: Daniel Rihs/13 Photo/Alliance Sud
Marina Carobbio Guscetti ist seit November 2018 Präsidentin des Schweizer Nationalrats und damit die amtshöchste Schweizerin. Von 1991 bis 2007 war sie Mitglied des Tessiner Grossrats, seit 2007 politisiert sie im Nationalrat, früher als Mitglied der Finanzkommission, heute in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Carobbio ist Vizepräsidentin der SP Schweiz, der NGO AMCA, des Vereins Alpeninitiative sowie des Schweizer Mieter- und Mieterinnenverbands.
«Verknüpfen wir die Entwicklungszusammenarbeit mit der Migrationsfrage, so stellen wir die Armutsbekämpfung als ursprüngliches Ziel in Frage.»
aufwenden. Also weniger als die vom Parlament festgelegten 0,5%. Sie selbst setzen sich – wie es auch die Uno in den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG) vorsieht – für 0,7% ein. Wie beurteilen sie das? Es war ein gutes Zeichen, dass das Parlament im vergangenen Jahr beschloss, das Ziel von 0,5% beizubehalten. Ich wünschte mir aber nach wie vor, wie andere nördliche Länder 0,7% zu erreichen. Alliance Sud spielt mit ihrer Information aller ParlamentarierInnen in dieser Diskussion eine wichtige Rolle. Ich bin optimistisch und zuversichtlich, dass wir das Ziel von 0,5% beibehalten können. 2017 haben Sie während einer Konferenz zur Agenda 2030 eine Rede mit dem Titel «Agenda 2030 und politische
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Entscheidungen, welche Widersprüche gibt es?» gehalten. Welche Widersprüche sehen Sie in diesem Bereich? Die Schweiz hat die Agenda 2030 und die Sustainable Development Goals (SDG) unterstützt, stellt gleichzeitig aber die finanziellen Ressourcen für die Entwicklungszusammenarbeit in Frage. Die SDGs sollen im Geist der Teilnahme und Teilhabe umgesetzt werden, zum Nutzen von Minderheiten, gegen Diskriminierung und zur Unterstützung der Geschlechterpolitik. Bei AMCA etwa haben wir ein Projekt zur Bekämpfung von Gebärmutterkrebs bei Frauen: In der Schweiz und im Tessin wurde eine Impfkampagne durchgeführt, parallel dazu haben wir in den Schulen erklärt, was diese Art von Krebs in armen Ländern für ein Drama ist. Vielleicht ist es einfacher, den Diskurs über Solidarität und Zusammenarbeit mit solchen praktischen Beispielen verständlich zu machen. Als Nationalratspräsidentin und damit höchste Schweizerin können Sie bestimmten Themen zu mehr Resonanz verhelfen. Was haben Sie sich vorgenommen? Ich habe Themen ausgewählt, die durch meine eigene Erfahrung geprägt sind. Eine davon ist die Vertretung von Frauen in der Politik sowie die Gleichstellung. Ich habe mich immer für die Rechte der Frauen eingesetzt und war in der feministischen Bewegung engagiert. Ein anderes mir wichtiges Thema ist jenes der Minderheiten, ich bin eine Vertreterin der italienischen Schweiz und stehe ein für eine mehrsprachige und multikulturelle Schweiz.
dass 2019 ein Jahr der Frauen sein würde, hätte ich es nicht geglaubt. Dank der Demonstration im vergangenen September in Bern wurde das Gesetz über die Lohngleichheit im Parlament nicht blockiert. Wie hängen der Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter und jener um soziale Gerechtigkeit zusammen? Frauen spielen in beiden Kämpfen eine zentrale Rolle. Sie sind es, die sich um die Familie kümmern und eine zentrale Rolle beim Aufbau der Gesellschaft spielen. Wenn es Ruanda und Mosambik gelingen sollte, sich von der Abhängigkeit der klassischen Entwicklungszusammenarbeit zu lösen, dann nur dank der Frauen. Die Frauenbewegung, die Gleichstellung und der Kampf gegen Diskriminierung sind eng mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit verbunden. Wenn wir die Diskriminierung von Frauen bekämpfen, soll das immer auch in Richtung sozialer Gerechtigkeit gehen und sich gegen jenes Modell der patriarchalischen Gesellschaft richten, das es den Reichsten ermöglicht, über die Ärmsten zu herrschen. Das Interview wurde auf Italienisch geführt. 1 AMCA, die Vereinigung zur medizinischen Hilfe in Mittelamerika, wurde 1985 im Tessin gegründet.
Am 14. Juni streiken die Frauen. Warum finden Sie es so wichtig, dass die Frauen dann auf die Strasse gehen? Schon 1991 kam der Streik von der Basis, von Frauenverbänden und Gewerkschaften. Es wird ja nicht bloss in Bern eine Demonstration geben, sondern auch lokale Aktivitäten. Viele werden den ganzen Tag streiken, andere nur eine Stunde lang symbolisch. Wenn mir vor fünf Jahren gesagt worden wäre,
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ENTWICKLUNGSPOLITIK
Der Bundesrat will in der Entwicklungszusammenarbeit der Zukunft vermehrt mit der Privatwirtschaft zusammenarbeiten. Wer genau hinschaut, weiss: Die Risiken dabei sind enorm. Fallstudie einer Schweizer Agrarfirma in Ghana. Kristina Lanz
«Sie sagten, sie brächten Entwicklung.» Die Zusammenarbeit mit dem Privatsektor steht in der internationalen Entwicklungspolitik hoch im Kurs. Nicht nur die Weltbank spricht davon, es brauche Trillionen um in den ärmsten Ländern die Uno-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen (Agenda 2030). Auch Geberländer wie die Schweiz glauben, dafür benötige es zwingend die enorme Hebelwirkung, die der Einsatz privater Gelder erlaube. Vollmundig ist die Rede von einem WinWin-Win-Szenario, von dem die Investoren, die Regierungen der Entwicklungsländer und deren Bevölkerungen gleichermassen profitieren. Vor allem im Landwirtschaftsbereich sind public-private partnerships (PPP) – zuweilen auch public-privatedevelopment partnerships (PPDP) genannt – längst eine Realität. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen, was mit diesen Modellen bisher erreicht wurde. Diese Partnerschaften nehmen verschiedene Formen an. In manchen Fällen co-finanziert eine Entwicklungsbehörde direkt eine private landwirtschaftliche Investition, in anderen Fällen fliessen die Gelder in kapitalkräftige Fonds, welche die Mittel weiterleiten an privatwirtschaftliche Unternehmen. Was diese Agro-Unternehmen alle gemeinsam haben: Sie versprechen das nachhaltig Blaue vom Himmel, dass ihre Investitionen in den betreffenden Gebieten ein Segen seien, dass nationale und globale Ernährungssicherheit, Frauenförderung und Arbeitsbeschaffung Hand in Hand gehen würden. Der Fall GADCO 2011 gründeten ein nigerianischer und ein britischer Investmentbanker die Global Agro-Development Company (GADCO). Von Landwirtschaft hatte weder der eine noch der andere eine Ahnung, doch beide suchten nach der globalen Finanzkrise von 2008 ein neues Tätigkeitsfeld. Es gelang ihnen, eine ganze Reihe entwicklungsorientierter Inves-
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toren für ihre Idee zu gewinnen und in der Voltaregion in Ghana den grössten Reisproduzenten Westafrikas aufzubauen. Unter den Partnern und Kapitalgebern war die Syngenta Foundation for Sustainable Agriculture, die Alliance for a Green Revolution in Africa (AGRA), die Agricultural Development Company (AgDevCo), der Acumen Fund sowie der Africa Agriculture and Trade Investment Fund (Aatif) 1.GADCO genoss international und auch in Ghana viel positive Berichterstattung – nicht zuletzt aufgrund ihres Anspruchs auf Engagement für Nachhaltigkeit, community development und die ökonomische Stärkung der Frauen (women’s economic empowerment). Trotz anfänglicher Erfolge, grosser finanzieller Unterstützung und erster Reisernten vermeldete
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Reis, den die Ernte-Maschinen im GADCO-Projekt übrig lassen, wird von Frauen für den Eigengebrauch eingesammelt. Foto: Divine Harrison
In einem Selbsthilfeprojekt zur Ernährungssicherung in Katangi (Kenia) wird die Spreu von der Ernte getrennt. Foto: Sven Torfinn/Panos
die Firma drei Jahre nach Aufnahme ihrer Geschäftstätigkeit den Bankrott und wurde 2015 von der Schweizer Firma RMG Concept mit Sitz in Delémont/JU übernommen, die GADCO schon zuvor mit Pestiziden und Düngemitteln versorgt hatte. RMG Concept, die sich auf ihrer Website ebenfalls als Vorreiterin der nachhaltigen Landwirtschaft und als verlässliche Partnerin von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern anpreist, betreibt seitdem die grosse Reisplantage und das daran angegliederte Vertragslandwirtschaftsprojekt – nach wie vor unter dem Namen GADCO. Die Mehrheit geht leer aus In Ghana werden ungefähr 80% der gesamten Landfläche von lokalen Dorfvorstehern (chiefs) ver-
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waltet. Deren weitgehende Machtbefugnisse wurden zu einem grossen Teil von den englischen Kolonialherren geschaffen und sind in der Verfassung verankert. Achtmonatige Recherchen vor Ort in den Jahren 2014 und 2016 im Rahmen einer Dissertation zu den Genderaspekten von landwirtschaftlichen Privatsektorinvestitionen zeigten,2 dass für GADCO die Chiefs von Anfang an die zentralen Bezugspersonen waren, dies obwohl in der Voltaregion Land auch im Besitz von Familien ist und die Chiefs nur eine Art Aufsichts- und Streitschlichtungsfunktion besitzen. Zusammen mit den Chiefs, die meist eine höhere Ausbildung genossen haben, erarbeiteten die Firmenvertreter einen community-private partnership Vertrag. Dieser legte fest, dass die Gemeinschaft den Investoren 2000 ha Land zur Verfügung stellt und dafür im Gegenzug mit 2,5% am Gewinn der Firma beteiligt wird – Gelder, die dann ausschliesslich für Entwicklungsprojekte in den lokalen Dörfern eingesetzt werden sollten. An der Basis angekommen war von den Gewinnen zum Zeitpunkt der Forschung allerdings kaum etwas. Eine junge Frau meinte dazu: «Ich habe keine Ahnung, wofür sie das Geld nutzen – bis heute haben wir nicht einmal gutes Trinkwasser in den Dörfern.» Im vom Farmlandverlust am meisten betroffenen Dorf Bakpa Adzani, in dem vor allem Menschen mit Binnenmigrationshintergrund wohnen, wurde die Bevölkerung weder informiert noch konsultiert. Eine ältere Witwe bestätigt: «Wir wurden nicht informiert. Wir waren gerade auf der Farm, als die Firmenvertreter kamen und sagten, sie würden nun unser Land pflügen. Wir flehten sie an, wenigstens bis nach der Ernte zu warten.» Während der Feldforschung war es offensichtlich, dass die Chiefs eigenmächtig über Kompensationen entschieden. So verwundert es nicht, dass vor allem Clan- und Familienmitglieder der Chiefs entschädigt wurden und dass diese auch die Hauptprofiteure des lokalen Vertragslandwirtschaftsprojekts namens Fievie Connect waren. Versprochen war, dass die Hälfte aller im sogenannten outgrower scheme Beschäftigten Frauen sein sollten. 2014 und 2016 waren die meisten outgrower wohlbetuchte, ältere Frauen und Männer, von denen etliche nicht selber auf die Felder gingen, sondern ärmere Frauen zu geringen Löhnen anstellten. Und für das outgrower scheme eingetragene Männer schickten oft ihre Frauen auf die Felder, was deren generelle Arbeitslast substantiell vergrösserte.
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Negative Auswirkungen hatten zudem mehrere Ernteausfälle sowie die Intransparenz der auftraggebenden GADCO, die immer höhere Preise für Düngemittel und Pestizide in Rechnung stellte; entsprechend schrumpfte der erwirtschaftete Profit der VertragslandwirtInnen. Auch bei der Beschaffung von Arbeitsplätzen wies GADCO eine schlechte Bilanz auf. 2014 besass von den rund 150 Angestellten nur eine Minderheit einen Arbeitsvertrag, die Löhne waren so tief, dass viele befragte Personen von der Rückkehr in die karge Subsistenzlandwirtschaft träumten. Frauen waren zudem fast ausschliesslich als Tagelöhnerinnen für das Ausbringen von Dünger angestellt und verdienten dabei umgerechnet 3 US-Dollar pro Tag. Unter diesen Umständen von women’s empowerment zu sprechen, ist ein Hohn. Die Ärmsten sind die Verliererinnen Bei der Umwandlung von privat und gemeinsam genutztem Land in eine Reis-Monokultur haben die Ärmsten den höchsten Preis bezahlt, allen voran MigrantInnen und alleinstehende Frauen. Vor allem der Verlust grosser Flächen gemeinschaftlich genutzten Landes (den sog. commons), das von Regierungs- und Firmenvertretern gerne als «ungenutzes» Land bezeichnet wird, traf die Ärmsten am stärksten. Eine Vielzahl von Fischteichen und kleinen Bächen, die nicht nur stark zur Ernährungssicherheit der lokalen Bevölkerung beitrugen, sondern für mehrere Dörfer auch die einzigen Wasserquellen waren, wurden von GADCO zerstört; ebenso sämtliche Pflanzen. Die vielen über das Land verteilten Bäume wurden zuvor als Feuerholz für den Eigenbedarf genutzt und bildeten die Lebensgrundlage vieler ärmerer Frauen, die das Holz zu Kohle verarbeiteten und verkauften. Eine von ihnen erzählte: «Früher haben wir die Bäume beschnitten, um Kohle zu produzieren, aber nun haben sie (GADCO) alle Bäume gefällt und wir haben Mühe überhaupt etwas zu essen zu kaufen.» Das Dorf Kpevikpo wurde komplett von der Reisplantage umzingelt. Die Zugangsstrasse zum Dorf wurde von GADCO vergrössert, damit ihre Traktoren darauf fahren konnten, und direkt vor dem Eingang zum Dorf wurde ein Bewässerungskanal gebaut. In der Regenzeit sowie jedes Mal, wenn die Firma ihre Felder bewässerte, blieben die Menschen faktisch in ihrem Dorf eingesperrt. Kinder konnten nicht zur Schule gehen, in der Regenzeit mussten Frauen, die zum Markt gehen wollten, durch brusthohes Wasser waten, um das Dorf
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zu verlassen. Eine Frau aus Kpevikpo: «Ich sehe nichts Positives an der Firma. Sie haben nur unser Land zerstört. Wir haben sie gefragt, ob sie eine kleine Brücke über den Kanal bauen können, aber sie haben sich geweigert.» Richtete GADCO Schäden an, so wusch die Firma ihre Hände in Unschuld; Verhandlungen wurden generell über die Chiefs abgewickelt; Widerstand und Proteste der Lokalbevölkerung wurden von den Chiefs von Fall zu Fall auch unter Einsatz von Gewalt niedergeschlagen. Dabei war sich GADCO der verschiedenen Probleme durchaus bewusst. Der ehemalige Manager Adidakpo Abimbola räumte sogar ein, dass den Chiefs regelmässig ein Pickup-Truck ausgeliehen werde, wenn es Probleme mit der lokalen Bevölkerung gebe. Die Chiefs bewaffneten dann einige Jugendliche mit Stöcken und schlugen die Aufständischen in die Flucht. Auf die Frage, ob sich GADCO bewusst sei, dass hier im Namen von nachhaltiger Entwicklung gesprochene Gelder für Profitinteressen einiger Weniger zweckentfremdet würden, meinte der neue Manager Satyendra Kumar Singh nur: «Wie die lokale Bevölkerung mit dem Geld umgeht, geht uns nichts an. Wir haben unsere Geschäftsstrukturen und sie haben ihre. Wir mischen uns nicht ein.» Der beschriebene und wissenschaftlich dokumentierte Fall ist brisant – nicht nur, weil sich GADCO gross Nachhaltigkeit auf die Fahne schreibt, sondern weil die Firma dafür auch von verschiedenen Entwicklungsakteuren finanziell unterstützt wurde. Für Alliance Sud ist es unabdingbar, dass, wenn die Schweiz in Zukunft in der Entwicklungszusammenarbeit vermehrt auf den Privatsektor setzen möchte, dieses Engagement auf klaren Kriterien sowie einer detaillierten Kontextanalyse aufbaut und durch ein rigoroses, unabhängiges Monitoring regelmässig überprüft wird. 1 Verschiedene Geldgeber von GADCO werden ihrerseits von staatlichen Entwicklungsakteuren unterstützt: AgDevCo wird hauptsächlich vom englischen Department for International Development (DfID) finanziert; AGRA erhält Gelder von DfID, dem deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), USAID und verschiedenen anderen Entwicklungsakteuren; Aatif ist eine Initiative des BMZ und der KfW Bankengruppe. 2 PhD Dissertation in Sozialanthropologie mit dem Titel: «Institutional Change, Gender and Power Relations. Case study of a «best practice» large-scale land acquisition in Ghana.» Universität Bern, 2018.
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KLIMA UND UMWELT
Die Klimakrise und der Kampf um Frauenrechte haben mehr miteinander gemeinsam als auf den ersten Blick ersichtlich. Denn Klimaveränderungen verstärken Diskriminierungen – vor allem im globalen Süden. Jürg Staudenmann
Auf Frauen hören bei der Bekämpfung der Klimakrise
Frauen auf dem Weg zur Arbeit in Jamshedpur im indischen Bundesstaat Jharkhand, der stark vom Stahl- und Mischkonzern Tata geprägt ist. Foto: Penny Tweedie/Panos
Frauen nehmen die bedrohliche Klimathematik ernster als Männer. Frauen wollen eher Ressourcen schonen und sind eher bereit, ihr Verhalten zu ändern. Männer dagegen neigen eher zu riskanten technischen Lösungsansätzen der Klimakrise.1 Studien zufolge haben Frauen eine bessere CO2-Bilanz als Männer, sie fahren weniger und sparsamere Autos, essen häufiger vegetarisch und achten beim Einkauf vermehrt auf ökologische Produkte. Gleichzeitig sind Frauen und Mädchen überproportional von den Auswirkungen der Klimaveränderung betroffen; vor allem in Entwicklungsländern. Und trotzdem werden lokale, von Frauen geprägte Lösungsansätze oft ignoriert.
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Das sind einige der Themen, mit denen sich das globale Frauen-Netzwerk Women Engage for a Common Future (WECF) befasst und die es u.a. auf grossen, informativen «Educational Posters» ins öffentliche Bewusstsein bringt. Alliance Sud befragte Katharina Habersbrunner und Anne Barre vom WECF, die dort für die Umsetzung geschlechtergerechter Klima- und Energieprojekte bzw. eine gendergerechte Ausgestaltung der Klimapolitik zuständig sind. Alliance Sud: Warum braucht es einen feministischen Zugang zur Klimakrise? WECF: Es geht nicht darum, Stereotype zu bedienen, aber patriarchal geprägte
Handlungsmuster wirken sich direkt auf die Klimakrise und den Umgang damit aus. Die Klimaveränderung ist nicht geschlechtsneutral, weder im globalen Norden noch im Süden. Nicht nur in Entwicklungsländern haben Frauen weniger politische Entscheidungsmacht, weniger Zugang zu Ressourcen, von Finanzmitteln über Eigentum bis hin zu Bildung und Information. Gleichzeitig erreichen neue Entwicklungen wie etwa erneuerbare Energien die Frauen meist schlechter oder später als Männer. Bei der Planung, Implementierung und Evaluation von klimafreundlichen Techniken oder Projekten werden sie kaum eingebunden, obwohl Frauen die Bedürfnisse ihrer Familien besser kennen und damit die di-
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Auf der Insel Ghoramara in der Bucht von Bengalen arbeiten Frauen an einem Lehmdamm, der ihr Hab und Gut vor dem steigenden Meeresspiegel schützen soll. Foto: Robin Hammond/Panos
rekteren Nutzerinnen von Energie sind. Es fliessen derzeit nur gerade 0,01% der gesamten Klimafinanzierung in explizit geschlechtersensible Klimalösungen. Welches sind aus Frauensicht die Herausforderungen oder auch Chancen im Zusammenhang mit der Klimakrise und nachhaltiger Entwicklung? Weil Frauen der Zugang zu Information oder Unwetterwarnungen vorenthalten wird, sterben sie bis zu 14-mal häufiger als Männer an den Folgen von Klimakatastrophen.2 In vielen Ländern dürfen Frauen nicht alleine auf die Strassen gehen, sie sind in der Regel weniger mobil und werden weniger in überlebensrettende Trainings einbezogen als Männer. Den Tsunami in Südostasien 2004 überlebten nach Schätzungen von Oxfam fast vier Mal mehr Männer, weil sie im Gegensatz zu Frauen schwimmen konnten. Vor allem aber zwingen die schleichenden Klimaveränderungen in armen Ländern den Frauen und Mädchen immer längere und beschwerlichere Arbeit auf, um die Felder zu bewirtschaften
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oder den Haushalt mit Energie und Wasser zu versorgen. Sie sind es, die infolge der Klimaveränderung zuerst ihr Einkommen verlieren, vorzeitig die Schule verlassen müssen oder zwangsverheiratet werden. Obwohl Frauen in vielen Ländern für die (Subsistenz-)Landwirtschaft und damit für die Ernährung der Familien zuständig sind, haben sie oft weder Grundbesitz- noch Entscheidungsrechte, was den Boden angeht, den sie bearbeiten. Das gilt auch für die Wasserversorgung. Liegt der Fokus bei Anpassungsmassnahmen auf rein technischen Lösungen, so werden die Bedürfnisse der Direktbetroffenen, also von Frauen und Mädchen, viel zu oft ausgeblendet. Noch bezeichnender sind fehlkonstruierte Zyklon-Notunterkünfte in Bangladesch: Weil gender-spezifische Bedürfnisse nicht in die Planung einflossen, sind Frauen während Unwettern vermehrt sexuellen Belästigungen von Männern ausgesetzt, etwa wenn Sanitäranlagen ohne Beleuchtung und weit von den Aufenthaltsräumen entfernt liegen.
Oft wird Frauen auch schlicht der Zugang zu Lösungen verwehrt: In Georgien hat WECF mit lokalen PartnerInnen Solarkollektoren für Warmwasser entwickelt, die vor Ort produziert werden. Das reduziert die Abholzung, spart vor allem Frauen Zeit und Geld. Doch leider stockt die Umsetzung, denn die Frauen bekommen anders als Männer mit weniger Einkommen kaum Darlehen; oder es werden viel höhere Zinssätze verlangt als bei Männern. Frauen wird oft eine besondere Rolle in der Bewältigung der Klimakrise zugeschrieben… Frauen sind aufgrund ihrer Rolle als Familienmanagerinnen und Care-Arbeiterinnen oft viel direkter darauf angewiesen, praktische Alltagslösungen auf Klimaveränderungen zu entwickeln. Weil sie Gemeinschaften mobilisieren können, werden sie oft als change agents gesehen. Tatsächlich setzen sich Frauen in allen Teilen der Welt für innovative, effektive und bezahlbare Strategien vor Ort ein. Doch solche lokalen low-techAnsätze erhalten in der Regel viel weni-
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ger politische Unterstützung und Finanzierung als hochtechnische und kommen somit kaum im notwendigen grossen Stil zur Anwendung. Auf der letztjährigen Weltklimakonferenz in Kattowitz wurde ein Gender-Aktionsplan (GAP) verabschiedet. War das ein Wendepunkt für eine geschlechtergerechtere Klimapolitik? Die konsequente Verwirklichung der Gleichstellung von Mann und Frau, das sogenannte gender mainstreaming wurde im über 25-jährigen Prozess der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) erst spät anerkannt. Und dies obwohl gendergerechte Massnahmen einen wichtigen Beitrag zur Wirksamkeit der Klimapolitik leisten. In der Präambel des Pariser Klimaübereinkommens wird nun völkerrechtlich verbindlich gefordert, Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und die stärkere Teilhabe von Frauen in allen Aktivitäten zur Bekämpfung der Klimaveränderung zu berücksichtigen. Der GAP konkretisiert diese Forderungen in fünf Kernbereichen: Kapazitätsaufbau, Wissensaustausch und Kommunikation zum Beispiel durch Gender-Trainings in den Uno- Institutionen; Geschlechterparität in Führungspositionen bei den Klimakonferenzen und in den Ländern; Kohärenz, dass Beschlüsse zu Geschlecht und Klimawandel auch in den Massnahmen der
übrigen Uno-Organisationen umgesetzt werden; gendersensible Umsetzung inklusive der dafür notwendigen Mittel sowie gendersensibles Monitoring und Berichterstattung über getroffene Klimamassnahmen. Weil die Vertragsstaaten geschlechtsspezifische Daten erheben und ihre Klimapolitik einer Genderanalyse unterziehen müssen, werden Regierungen dazu gebracht, Genderpolitik und Klimapolitik zusammen zu denken. Der GAP bildet also die Basis für eine geschlechtergerechte(re) Klimapolitik. Aber es braucht noch deutliche Fortschritte in der Umsetzung sowie ambitioniertere Entscheidungen an den kommenden Klimakonferenzen. Es gibt aber auch Wissenschafterinnen, die Kritik an der «Feminisierung der Klimakrise» üben. Sie zielt u.a. darauf, dass die Arbeitsteilung nach Geschlechtern zementiert würde, während Frauen von den zentralen Verhandlungen über die internationale Klimapolitik nach wie vor weitgehend ausgeschlossen bleiben. Wie beurteilen sie diese Thesen? Werden bestehende Strukturen innerhalb einer Gemeinschaft oder eines Haushalts ausgeblendet, so pflanzen sich vorherrschende Machtstrukturen und soziale Ungleichheiten in Projekte und Politiken fort oder werden gar noch verstärkt. So betrachtet verlangsamt
eine genderblinde Klimapolitik das Finden von Lösungen zur Eindämmung der Klimakrise. Insofern stimmen wir der These der «Feminisierung der Klimakrise» absolut zu. Die Klimaveränderung wirkt wie ein Risikomultiplikator und verstärkt bestehende Diskriminierungen, die Frauen aufgrund ihres geringen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Status erfahren. Es ist darum wichtig zu betonen, dass Frauen vor allem aufgrund traditioneller Rollenverteilung in den meisten Gesellschaften anfälliger sind für die Auswirkungen des Klimawandels. Darum ist die verbindliche Umsetzung des GAP mit seinen verschiedenen Ebenen so wichtig. Je mehr Frauen auf allen Ebenen in die Entscheidungen miteingebunden werden, desto erfolgreicher die Klimapolitik. 1 World Bank, World Development Report 2012 2 UNFPA, Women on the frontline
Women Engage for a Common Future WECF ist ein internationales Netzwerk von mehr als 150 Frauen- und Umweltorganisationen in 50 Ländern. WECF setzt sich für die lokale Umsetzung nachhaltiger Klimalösungen und die Förderung geschlechtergerechter politischer Rahmenbedingungen weltweit ein. Als Gründungsmitglied der Women and Gender Constituency des UNFCCC (Uno-Klimarahmenkonvention) und offizielle Partnerin des Uno-Umweltprogramms UNEP implementiert WECF in den Bereichen Klima und Gender Politiken, die eng miteinander verzahnt sind und die Kapazitäten von Frauen durch Klimaprojekte vor Ort stärkt. JS Katharina Habersbrunner, früher u.a. Risikomanagerin bei MunichRe, arbeitet bei WECF im Bereich erneuerbare Energie und Klimaschutz.
Tamazina Carlos (47) vor den Überresten ihres vom Zyklon Kenneth zerstörten Hauses in Macomia, Mosambik. Foto: Tommy Trenchard/Panos
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Anne Barre baute WECF in Frankreich auf und leitet heute in der Zentrale in München den Bereich Gender und Klimapolitik.
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STEUERN UND FINANZEN
Steuerpolitik ist etwas für wenige abgehobene – in der Regel männliche – Eingeweihte. Dabei zeigt sich gerade aus dem Blickwinkel der Geschlechtergerechtigkeit: In der Steuerpolitik werden die elementarsten Dinge des Lebens verhandelt. Dominik Gross
Steuerflucht tötet Mütter Steuerpolitik ist – gelinde gesagt – etwas ziemlich Abstraktes. Vor lauter «regulären Steuersätzen», «Bemessungsgrundlagen», «automatischem Informationsaustausch», «Profitverschiebungen», «Registern der wirtschaftlich Berechtigten», «länderbezogenen Berichten» oder – PricewaterhouseCoopers, erlöse uns von derart Bösem – der «zinsbereinigten Gewinnsteuer», geht leicht vergessen, dass sich Steuerpolitik im Grunde genommen um ganz unmittelbare Bedürfnisse des Menschseins dreht. Zum Beispiel darum, dass jedes Kind – ob Bub oder Mädchen – überall auf der Welt einen möglichst offenen Zugang zu jenen elementaren Dienstleistungen bekommen sollte, die ein würdiges Leben ermöglichen: eine gute Gesundheitsversorgung, eine anständige Schulbildung, sichere öffentliche Transportwege und Infrastruktur, Teilhabe an Kultur, Politik und Gesellschaft. Und manchmal geht es in der Steuerpolitik um Leben und Tod. Etwa dann, wenn irgendwo auf der Welt eine Mutter während einer Geburt stirbt, weil das öffentliche Spital, im dem diese Frau ihr Kind zur Welt bringen wollte, schlecht ausgerüstet ist. Gemäss der Weltgesundheitsstatistik 2018, welche die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedes Jahr zu den gesundheitsrelevanten Zielen für eine nachhaltige Entwicklung (SDG) im Rahmen der UNOAgenda 2030 herausgibt, starben alleine im Jahr 2015 303 000 Frauen wegen gesundheitlichen Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit einer Geburt oder einer Schwangerschaft standen. 99% dieser Frauen starben in Ländern, die die WHO zu den Entwicklungs- oder Schwellenländern zählt. Fast zwei Drittel davon, nämlich 62% starben in Subsahara-Afrika. In der Schweiz sterben bei 100 000 Geburten fünf Frauen, in Ghana sind es 319 und in Nigeria 814. Nicht viel besser sieht es bei der Kindersterblichkeit aus: In der Schweiz sterben nur vier von 1000 Kindern bei der Geburt, in Ghana sind es 35 und in Nigeria 70. Ghana und Nigeria gehören beide nicht zu den allerärmsten Ländern der Welt.
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Ersteres wird von der internationalen Gemeinschaft wegen seiner stabilen politischen Verhältnisse gerne als afrikanischer Vorzeigestaat gelobt, letzteres gilt trotz eines Bürgerkriegs im Osten des Landes als aufstrebender Wirtschaftsstandort. Trotzdem liegen in diesen Ländern die Mütter- und Säuglingssterblichkeitsraten um ein Vielfaches höher als in europäischen Ländern. Gemäss der WHO könnten die allermeisten dieser Todesfälle mit der entsprechenden medizinischen Ausrüstung verhindert werden. Sichere Geburt ist ein Privileg Im UNO-Zwischenbericht von 2018 zum Ziel 3 der Agenda 2030 («Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern») ist zwar festgehalten, dass die Müttersterblichkeitsrate seit 1990 weltweit um 37 Prozent und jene bei Säuglingen um 39 Prozent gefallen ist. Trotzdem ist eine einigermassen sichere Geburt für Mutter und Kind immer noch ein Privileg für einen kleinen Teil der Weltbevölkerung. Unter diesem Eindruck einigten sich die UNO-Mitgliedsländer 2015 mit dem Ziel 3 der Agenda 2030 darauf, die Müttersterblichkeitsrate bis 2030 auf weltweit weniger als 70 Todesfälle pro 100 000 Geburten und die Sterblichkeitsrate bei Säuglingen auf 12 pro 1000 Geburten zu reduzieren. Auch wenn das gemessen an den oben genannten Zahlen bescheidene und letztlich willkürlich gesetzte Ziele sind – ohne steuerpolitische Reformen in vielen Entwicklungsländern, in den Tiefsteuergebieten und auf globaler Ebene wird auch das nicht zu schaffen sein: Denn für die allermeisten Menschen weltweit hängt der Zugang zu medizinischer Versorgung ausschliesslich von der Qualität der öffentlichen Gesundheitsversorgung an ihrem Lebensmittelpunkt ab – und diese Qualität wiederum von Steuereinnahmen, die es einem Gemeinwesen erlaubt, eine für Mutter und Kind ausreichende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.
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Eine Krankenschwester in Ausbildung im Mzuza General Hospital in Malawi. Foto: Sven Torfinn/Panos
In den meisten Entwicklungsländern ist die Mobilisierung steuerlicher Ressourcen für die öffentlichen Dienste eine äusserst prekäre Angelegenheit: In den ärmsten Ländern belaufen sich die Steuereinnahmen im Durchschnitt auf nur gerade 15% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Das ist viel weniger als in den reichen Ländern der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), wo die Steuereinnahmen rund 34% des BIP ausmachen, und nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) sind 15% zu wenig, um ein funktionierendes Staatswesen zu gewährleisten. Einer der Hauptgründe für diese grosse Differenz bei der Mobilisierung von Steuergeldern in Entwicklungs- und OECD-Ländern ist der Abfluss von grossen Privatvermögen und Unternehmensgewinnen in Tiefsteuergebiete, von denen aus Konzerne und Vermögensverwalter global operieren. Mit verheerenden Folgen: Der Washingtoner ThinkTank Global Financial Integrity (GFI) schätzt, dass im Jahr 2014 allein aus Entwicklungs- und Schwellenländern eine Billion US-Dollar in Form von sogenannten unlauteren Finanzflüssen abfloss. Die Zeche dafür zahlen vor allem die Entwicklungsländer. Zwar fliesst auch in den reichen OECD-Ländern
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viel Steuersubstrat ab. Da viele von ihnen – nicht nur notorische Steueroasen wie die Schweiz – aber selbst über Steuerschlupflöcher verschiedener Art verfügen, fliessen ihnen auch wieder Fluchtgelder zu. Entwicklungsländern fehlen hingegen in der Regel die entsprechenden Mittel, um in den Wettbewerb zwischen den Staaten um Steuervermeidungsgelder überhaupt einzugreifen. Aber nicht nur im Gesundheitswesen werden die anerkannten Grundrechte vor allem von Mädchen und Frauen aus steuerpolitischen Gründen beschnitten. Überall dort, wo es öffentliches Engagement und finanzielle Ressourcen braucht, um strukturelle Geschlechterdiskriminierungen etwa in der Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden und neue Formen des geschlechtergerechten Zusammenlebens zu entwickeln, bleiben die Rechte von Frauen und Mädchen als erste auf der Strecke. Der Kampf für Geschlechtergerechtigkeit ist also immer auch ein Kampf für Steuergerechtigkeit und einen gut finanzierten Service Public – und umgekehrt. Umso mehr, wenn dieser Kampf von der Schweiz aus mit einem globalen Blick für die ökonomischen Strukturen hinter der Diskriminierung von Frauen und Mädchen geführt wird. Denn nach wie vor und trotz allen steuerpolitischen Reformen der letzten Jahre, ist die Schweiz der grösste Offshore-Finanzplatz und einer der prominentesten Handels- und Kapitaldrehscheiben für multinationale Konzerne aus aller Welt. Hierzulande werden also Gewinne versteuert, die anderswo erwirtschaftet wurden und dort als Steuereinnahmen fehlen – mit potentiell verheerenden Folgen schon am Beginn jedes Menschenlebens.
Ohne Unterstützung durch UN-Gelder gäbe es dieses Gesundheitszentrum in der Stadt Mbanza-Ngungu in der DR Kongo nicht. Foto: Sven Torfinn/Panos
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AGENDA 2030
Die Mehrheit der Angestellten im Tourismus ist weiblich. Ob Tourismus als Entwicklungsmotor für Gleichberechtigung taugt, ist eine Frage der Arbeits- und Rahmenbedingungen, die der Sektor den Frauen bietet. Eva Schmassmann
Ein Bild, das von fast überall sein könnte. Lanzarote, Kanarische Inseln. Foto: Dominic Nahr/MAPS
Putzen für Paschas Haben Sie Ihre Sommerferien schon gebucht? Wie wählen Sie Ihr Reiseziel aus? Stehen Sie manchmal auch vor dem Schaufenster eines Reisebüros und staunen, für wie wenig Geld man all in ans andere Ende der Welt reisen kann? Was für uns Kundinnen und Kunden auf den ersten Blick positiv scheinen mag, bezahlen die Angestellten im Reiseland mit schlechten Arbeitsbedingungen und ungenügendem Schutz bei Umwelt und Menschenrechten. Wenn wir in die Ferien reisen, wollen wir uns entspannen oder suchen das Abenteuer und den Ausbruch aus dem Arbeitsalltag. Wenn wir einen Aufenthalt im Hotel buchen, geniessen wir es, die täglichen Haushaltsarbeiten wie Putzen, Einkaufen oder Kochen abgeben zu können. Vielleicht
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nutzen wir auch – zumindest für wenige Stunden – gerne die Möglichkeit, die Kinder betreuen zu lassen. Diese Arbeiten werden mehrheitlich von weiblichen Angestellten ausgeführt. Gemäss der Statistiken der Internationalen Arbeitsorganisation ILO sind mehr als 55% der Angestellten im Tourismussektor (Hotel, Catering und Tourismus Frauen). In einzelnen Ländern ist der Anteil noch wesentlich höher. So sind beispielsweise in Thailand 76% der Angestellten weiblich. Sei es als Zimmermädchen, als Bedienung im Restaurant oder für die Kinderbetreuung. Es sind die klassisch-traditionellen Hausfrauenaufgaben. Auf Englisch gibt es dafür den Begriff der housewifization des Tourismussektors. Er impliziert die Geringschätzung von
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Aufgaben, die vermeintlich keine zusätzlichen Qualifikationen verlangen. Jobs für Frauen im Tourismusbereich führen also die strukturellen Benachteiligungen der Frauen weiter und verschärfen sie. In einer kürzlich erschienenen Studie «Sun, Sand and Ceilings» geht die britische NGO «Equality in Tourism» der Frage nach, wie es mit der Gleichberechtigung im Tourismussektor aussieht. Sie vergleicht insbesondere die Vertretung von Frauen in den Verwaltungsräten von Hotels, Reiseveranstaltern, Flug- und Kreuzfahrtgesellschaften. Zwar konstatiert sie einen steigenden Anteil von Frauen, 2018 lag er bei 23%. Das bleibt ein Armutszeugnis, zumal andere Branchen, in denen weniger Frauen arbeiten, wesentlich schnellere Fortschritte machen. Schweizer Firmen gehören dabei mit zu den rückständigsten: Im Verwaltungsrat der in Baar (ZG) beheimateten Mövenpick Holding etwa sitzen ausschliesslich Männer. Generell sind Frauen krass untervertreten in Kaderstellen im Tourismus. Auf Ebene der Geschäftsleitung beträgt der Anteil von Frauen 25,5%. Der ungleiche Zugang zu Kaderstellen geht einher mit einer krass ungleichen Lohnverteilung zwischen den Geschlechtern. Abhängig und wehrlos In armen und ärmsten Ländern sehen sich Frauen im Tourismus noch vielen anderen Erschwernissen gegenüber. So arbeiten sie oft im informellen Sektor, als Strassenverkäuferinnen oder als unbezahlte Arbeitskräfte im Familienbetrieb. Im formellen Sektor werden Frauen für die unqualifizierten Jobs eingestellt. Gerade im Kontext von Armut und hoher Arbeitslosigkeit ergibt sich dadurch eine Situation der Abhängigkeit, die – wenn rechtlicher Schutz von Arbeitnehmenden ungenügend ist oder ganz fehlt – von den Arbeitgebenden ausgenutzt wird. Die Frauen, die auf einen Zusatzverdienst angewiesen sind, sehen sich gezwungen, lange Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, Überstunden zu leisten, auf Abruf eingesetzt zu werden. Oft hat dies auch Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit der Frauen. Materielle Abhängigkeit führt auch dazu, dass weibliche Angestellte sich nicht gegen sexuelle Belästigung wehren können. Hotels oder Bars, die dem Gast suggerieren, sich wie «zu Hause zu fühlen», verwischen die Grenze zwischen privat und öffentlich, so dass sich Gäste nicht selten so verhalten, wie sie dies in einem klar öffentlichen Kontext nie tun würden. Wird die gängige Devise «Der Gast ist König» ohne moralischen Kompass gelebt, so trauen sich Angestellte kaum, problematisches Verhalten anzusprechen oder Beanstandungen werden gar nicht erst weiter verfolgt. Tourismus, wie er heute Mainstream ist, verstärkt tendenziell bestehende strukturelle Benachteiligungen von Frauen. Sie verrichten die unqualifizierten, unsichtbaren und schlecht bezahlten Jobs. Eine Stärkung von Frauen kann nur dann erreicht werden, wenn sie Zugang zu den sichtba-
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ren Jobs mit Macht- und Entscheidungsbefugnissen erhalten. Zusätzlich braucht es klare rechtliche Rahmenbedingungen, sowohl im globalen Süden wie auch bei uns, um Ausbeutung zu verhindern. Bei denArbeitsbedingungen sind Mindeststandards zu setzen und gewerkschaftliches Engagement zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen muss geschützt sein. Ausserdem müssen Tourismusprojekte auf ihre Auswirkungen im lokalen Kontext hin geprüft werden. Nebst der Beachtung der Menschenrechte und des Umweltschutzes braucht es eine Prüfung aus Gender-Perspektive. Damit der Tourismus tatsächlich einen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung leisten kann, muss er sich grundlegend transformieren. Ein entscheidender Faktor dabei ist selbstredend das individuelle Verhalten: Über unsere Nachfrage haben wir es in der Hand, nachhaltigem Tourismus zum Durchbruch zu verhelfen. Qualität hat immer ihren Preis.
Las Kellys In Spanien wehren sich Zimmermädchen gegen sich verschlechternde Arbeitsbedingungen im Tourismusbereich. Sie nennen sich «Las Kellys», abgeleitet vom spanischen «las que limpian», also diejenigen, die putzen. Im Nachgang der Finanzkrise wurden in Spanien die Arbeitsrechte gelockert. Im Tourismusbereich wurde die Möglichkeit geschaffen, einzelne Arbeiten auszulagern. Dieses Outsourcing ohne regulierte Mindestlöhne führte – in einem Kontext von steigender Arbeitslosigkeit – zu einer massiven Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Mehr Zimmer in der gleichen Zeit putzen, unbezahlte Überstunden, sinkende Löhne. In der Hektik und dem Stress steigen Unfall- und Krankheitsrisiko. Dagegen gehen die «Las Kellys» in Spanien bunt und laut auf die Strasse und in die sozialen Medien. Unsichtbare Arbeit soll sichtbar werden.
Nachhaltig reisen Das Reiseportal fairunterwegs.org bietet Informationen zu Themen von Tourismus und nachhaltiger Entwicklung sowie Tipps zur Reiseplanung oder einen Wegweiser zu Labels für fairen und nachhaltigen Tourismus.
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DIE SÜD-PERSPEKTIVE
Es ist eine Binsenwahrheit: Ohne aufgeschlossene Männer gibt es in der Genderdebatte keinen Fortschritt. Was aber ist, wenn wie in der Mongolei die Männer in Sachen Bildung abgehängt werden? Lkhamaa Dulam
Die zurückgelassenen Männer
Ohne Pickup-Truck wären die riesigen Distanzen in der mongolischen Steppe nicht zu überwinden. Foto: Lkhamaa Dulam
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Galaa 1 und seine Frau Odnoo sind Hirten im Verwaltungsbezirk (mongolisch Soum) Tsenkher rund 450 Kilometer von der Hauptstadt Ulaanbaatar entfernt. Sie haben zwei Kinder – den 30-jährigen Sohn Tumur und die 20-jährige Tochter Tuya. Tumur ist ebenfalls Hirte und immer noch nicht verheiratet. Üblich wäre auf dem Land, allerspätestens mit 25 den Bund fürs Leben zu schliessen. «Ich habe mich in allen benachbarten Tälern nach einer potentiellen Frau umgesehen und es gab keine», sagt er. Tuya studiert in der Hauptstadt für einen Bachelor. «Ich werde nach meinem Abschluss nie zurückkehren, sondern mich in der Stadt niederlassen», sagt sie zuversichtlich. Auf die Frage nach dem Grund ihrer Entscheidung antwortet sie: «Das Nomadenleben ist so hart.» Ähnliche familiäre Konstellationen haben wir in der ländlichen Mongolei während unserer Forschung mit dem Projekt WOLTS 2 immer wieder erlebt. Alleinstehende Männer erzählen uns, dass die wenigsten Jungen, die für einige Jahre nach Ulaanbaatar gezogen sind, wieder aufs Land zurückkehren. Zu angenehm könne das Leben in der Stadt sein. Von der Landflucht zurückgehalten werden von ihren Familien vor allem junge Männer, denn die werden dringender benötigt bei der harten Arbeit draussen beim Vieh. Identität als Nomadenvolk Etwa 20% der mongolischen Haushalte pflegen heute noch eine halbnomadische Lebensweise, die sich ausschliesslich auf die Tierhaltung stützt. Und wir Mongolen sind stolz auf diese tief verwurzelte Identität als Hirtenvolk, es war über Jahrhunderte die beste Art und Weise, sich an ein empfindliches Ökosystem anzupassen. Wir müssen uns bewegen, wenn wir Weiden für unser Vieh haben wollen. Männer und Frauen haben in dieser Lebensform unterschiedliche Aufgaben, die Männer arbeiten vor allem draussen und sorgen dafür, dass die Herden erhalten, was sie brauchen, während die Frauen sich ums Melken,
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die Verarbeitung der Milch, die Kinderbetreuung und den Haushalt kümmern. Auch in der ländlichen Mongolei braucht es zwei, um Tango zu tanzen. Als die Mongolei in den 1990er Jahren schnell vom Sozialismus auf die Marktwirtschaft umstellte, stieg der Druck auf die jungen Männer, für ihre Familien Bargeld zu verdienen. Viele versuchten es als Händler oder verliessen das Land, um ihr Glück als Arbeitskräfte in Ländern wie Südkorea, den USA oder Grossbritannien zu suchen. Für junge Frauen dagegen öffnete sich der Zugang zu den Universitäten. Ich erinnere mich, dass wir in meinem Bachelorstudium unter 50 Studierenden nur gerade vier Männer in unserer Klasse hatten. Auf dem Land begannen sich die Eltern an die neue Lebensweise anzupassen, indem sie ihre Söhne oder mindestens einen davon zu Hause bleiben liessen, um ihr Vieh zu treiben, die Töchter dagegen zur Schule und zum Studium schickten. In unserer Arbeit bei WOLTS untersuchen wir einige der sozialen Konsequenzen, welche die Benachteiligung der Männer im Bildungsbereich für die Gesellschaft hat. Denn unsere Feldarbeit bestätigt für die ländlichen Gebiete, was auch die nationalen Statistiken für die ganze Mongolei belegen: Die Frauen sind deutlich besser ausgebildet als die Männer. Der Global Gender Gap Report 2018 zeigt, dass 86,1% der Frauen in der Mongolei eine Sekundarschulausbildung absolvieren, verglichen mit 77,7% der Männer. Dieses umgekehrte Geschlechtergefälle akzentuiert sich bei der höheren Bildung, zu der 76,4% der Frauen, aber nur 53,5% der Männer Zugang haben. Und schliesslich spiegeln sich die Unterschiede auch in den Anteilen von Frauen und Männern, die in technischen Berufen zu finden sind. 64,6% Frauen stehen 35,4% Männer gegenüber. Nach dem mongolischen Gesetz über die Grund- und Sekundarbildung aus dem Jahr 2002 müssen alle Kinder eine 12-jährige Schulbildung haben. Das gut gemeinte Gesetz soll das Bildungssystem des Landes an internationale Standards anpassen, übt aber zusätzlichen
Frauen, die für die Forschungsarbeit interviewt wurden. Foto: Lkhamaa Dulam
Druck auf den traditionellen halbnomadischen Lebensstil aus, der zwangsläufig saisonalem Wechsel unterworfen ist. Mit nur 1,9 Menschen pro Quadratkilometer ist die Mongolei das am dünnsten besiedelte Land der Welt und Schulen gibt es nur in den Bezirkshauptorten, entsprechend schwer sind sie für die ländliche Bevölkerung zu erreichen. Verheiratete Nomadenpaare setzt das unter Druck, den grössten Teil des Jahres getrennt zu leben, damit Mütter ihren Kindern den Schulbesuch im Hauptort des Soum ermöglichen können. Verzweifelte Hausmänner Wir treffen uns mit Bold, der jedes Jahr für mindestens zehn Monate allein bleibt, während seine Partnerin im Soum-Zentrum bleibt und sich dort während des ganzen Schuljahrs um die gemeinsamen Kinder kümmert. Herdenarbeit ist an sich schon hart, jetzt muss er sie ohne weibliche Unterstützung erledigen. Er kämpft darum, die Viehzucht am Leben zu erhalten, sie ist die einzige Einkommensquelle der Familie. Bold wirkt, als hätte er die Hoffnung verloren, sein Haushalt ist chaotisch, es ist kalt, es brennt kein wärmendes Feuer in der Jurte, um Essen zu kochen. Er sagt: «Ohne meine Frau ist das kein richtiges Zuhause, ich bin nur noch zum Geld machen gut». Viele Männer in dieser Situation beginnen zu trinken, Alkoholismus ist in der Mongolei zu einem Problem geworden. Fortsetzung auf Seite 25
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Studienprogramm NADEL Entwicklung und Zusammenarbeit Herbstsemester 2019
Planning and Monitoring of Projects
23.09. – 27.09.
Engaging with Policy Processes: Strategies and Tools
30.09. – 04.10.
Fraud and Corruption: Prevent, Detect, Investigate, Sanction
23.10. – 25.10.
Qualitative Research for Development Practitioners
28.10. – 01.11.
VET between Poverty Alleviation and Economic Development
04.11. – 08.11.
Fragile Contexts – From Humanitarian Aid to Development
25.11. – 29.11.
Auskunft über Zulassung und Anmeldung: www.nadel.ethz.ch 24
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Wie aber wirkt sich diese Situation auf die Frauen aus? Viele der Mädchen, die an den Universitäten in der Hauptstadt Ulaanbataar studieren, arbeiten nach ihrem Abschluss als Händlerinnen, andere arbeiten als Kellnerinnen. Längst nicht alle junge Frauen, die für ein besseres Leben in die Stadt aufgebrochen sind, können beruflich erfolgreich sein. Denn das Leben in der Stadt ist vielleicht körperlich weniger hart, kann aber auf andere Weise brutal sein. Im Grossraum Ulaanbaatar leben mittlerweile auf 0,3% der Fläche des Landes zwei Drittel der mongolischen Bevölkerung von insgesamt gut 3 Millionen; die unendliche Weite unserer Heimat hat sich dort in ihr Gegenteil verkehrt. Die Themen, die ich hier beschreibe, tragen zu grösseren sozialen Problemen in der Hauptstadt bei. Nicht wenige Mädchen und junge Frauen in Ulaanbaatar, die dort keine gut geregelte Unterkunft haben, landen in der Prostitution oder werden Opfer von Menschenhändlern. Und auch jenen, denen es gelingt, mit ihrer Ausbildung Karriere zu machen, fällt es schwer, einen passenden Mann zu finden, wie das unlängst auch in der britischen Zeitung The Guardian beschrieben wurde. In unserer intensiven Feldarbeit mit WOLTS in drei verschiedenen Regionen der Mongolei stossen wir immer wieder auf diese Problematik von getrennt lebenden Familien und zurückgelassenen Hirten. Wir Mongolinnen und Mongolen müssen dringend Lösungen suchen und finden, bevor unsere nomadisch-mongolische Identität und unsere traditionelle pastorale Lebensweise zerstört ist. 1 Die Namen wurden geändert. 2 Womenʼs Land Tenure Security (WOLTS) ist eine Zusammenarbeit zwischen den NGOs Mokoro Ltd. (UK), PCC (Mongolei) und HakiMadini (Tansania).
Die Autorin Lkhamaa Dulam ist Mitbegründerin und Vorsitzende der mongolischen NGO People Centered Conservation (PCC) und aktive Mitarbeiterin des Women’s Land Tenure Security (WOLTS) Projekts. Foto: zVg
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KARUSSELL Pio Wennubst, Deza-Vizedirektor und dort bisher Leiter der Globalen Zusammenarbeit, wird neu ständiger Vertreter der Schweiz bei den Uno-Landwirtschaftsorganisationen in Rom (FAO, IFAD, WFP), seine Nachfolge ist noch nicht bekannt. Weiteres Sesselrücken in der Chefetage der Schweizer Entwicklungsagentur: Der neue Leiter der reorganisierten Abteilung Südliches und Östliches Afrika ist Peter Bieler, sein Vorgänger Gerhard Siegfried wurde pensioniert. Barbara Böni wird neu Chefin der zusammengelegten Asien-Abteilung (Südasien und Ostasien). Sie löst Derek Müller ab, der die neu gebildete Abteilung Mittlerer Osten und Nordafrika (MENA) übernimmt. Claudio Tognola wird neu Leiter der Abteilung Westafrika und ersetzt dort Chantal Nicod, die als Regionalberaterin Gesundheit in die Botschaft Tirana (Albanien) wechselt. Neuer Leiter Multilaterales bei der ständigen Mission der Schweiz bei der Uno in Genf und Spezialgesandter beim UN-Menschenrechtsrat wird Felix Baumann, der bisher Generalkonsul für die Schweiz in Mailand war. Nach fünf Jahren beim Fastenopfer kehrt Doro Winkler (Bild) zur FIZ, der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, zurück und leitet dort die Öffentlichkeitsarbeit und das Fundraising. Sie bleibt Mitglied der Expertengruppe des Europarates gegen Menschenhandel. Das Programm Rohstoffe und Menschenrechte beim Fastenopfer wird François Mercier übernehmen. David Cornut (Bild), bisher Campaigner bei Amnesty International Schweiz, hat zum Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) gewechselt. Als Public Affairs-Spezialist wird er
dort u.a. für die Kontakte zu ParlamentarierInnen im Bundeshaus zuständig sein. Im Hinblick auf die mögliche Abstimmung im Februar 2020 baut die von 114 zivilgesellschaftlichen Organisationen getragene Konzernverantwortungsinitiative ihre Geschäftsstelle aus. Bereits etwas länger dabei ist Daniela Kistler (Bild), die das Wirtschaftskomitee für verantwortungsvolle Unternehmen koordiniert, das mittlerweile von über 125 unternehmerisch tätigen Persönlichkeiten unterstützt wird. Neu auf dem Kampagnensekretariat der Initiative arbeitet Dominik Elser. Der promovierte Jurist ist als Mitgründer der Operation Libero bekannt. Eva Schmassmann (Bild), bisher Präsidentin der zivilgesellschaftlichen Plattform Agenda 2030, übernimmt von Sara Frey die Leitung der Koordination der Plattform. Neuer Präsident wird Pierre Zwahlen, der Sprecher der Federeso, dem NGO-Netzwerk der lateinischen Schweiz. Neu in den Vorstand der Plattform gewählt wurden Martin Leschhorn Strebel, Geschäftsführer von Medicus Mundi, sowie Luca Cirigliano vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund, er ersetzt Zoltan Doka von der Unia. Wechsel gibt es in der weiterhin von Samuel Bon präsidierten Geschäftsleitung von Swisscontact: Neu an Bord sind Anne Bickel (Abteilung People & Learning) und Philippe Schneuwly (Abteilung Partners & Clients), die beide schon bisher für die wirtschaftsnahe Stiftung für Entwicklungszusammenarbeit arbeiteten. Noch offen ist die Nachfolge von Finanzchef Urs Bösch, der Swisscontact verlassen wird.
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Fotos: zVg
Fortsetzung von Seite 23
INFODOC
«Unsere Stimmen können nicht mehr ignoriert werden» Der Stamm der Naga verteilt sich mit über 30 Volksgruppen über den Nordosten des indischen Subkontinents. Ihre Zahl wird auf 3 bis 4 Millionen geschätzt, verteilt auf über 120.000 km². Atina Pamei erläutert, wie die Naga-Frauen den Friedensprozess fördern. Simone Decorvet
global: Welche Position nimmt die Frau im Alltag der Naga ein? Atina Pamei: Die Frau spielt sowohl zu Hause als auch auf Gemeindeebene eine wichtige Rolle in der indigenen Naga-Gesellschaft. Doch das stereotype Bild einer Naga-Frau bleibt das einer ernährenden, fürsorglichen, aufopfernden und unterwürfigen Frau, von der erwartet wird, dass sie täglich alle Hausarbeiten erledigt. Die enorme Verantwortung einer Naga-Frau innerhalb der Familie wird im politischen und öffentlichen Bereich selten anerkannt. Welche Rolle spielt der Feminismus im Leben der indigenen Frauen heute? Die Naga gelten als egalitär, Frauen haben im Vergleich zu anderen indischen Gesellschaften eine stärkere Position inne. Sie geniessen Bewegungsfreiheit; der Schutz von Frauen durch männliche Mitglieder der Gesellschaft ist von höchster Bedeutung. Allerdings ist auch die Naga-Gesellschaft weit von einer Gleichstellung der Geschlechter entfernt. Sie ist an einen patriarchalischen Rahmen gebunden, in dem die Stellung der Frau durch traditionelle Praktiken und Bräuche eingeschränkt wird, die oft diskriminierend sind. Darüber hinaus sind die Erfahrungen mit Konflikten,
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Seit 1963 ist Nagaland ein indischer Bundesstaat, doch immer wieder kommt es zu Konflikten mit der Zentralregierung. Foto: B. Mathur/Reuters
Militarisierung und Gewalt, die die Naga-Gesellschaft historisch erlebte, ein wichtiger Faktor, der die sozialen, politischen und geschlechtsspezifischen Beziehungen geprägt hat. Der Naga-Feminismus steht daher für Geschlechtergerechtigkeit, Frieden und soziale Gerechtigkeit. Friedensstiftung war von Anfang an die traditionelle Rolle der Frau. Die weibliche Führung in diesem Bereich wird akzeptiert, weil sie die traditionellen Geschlechterrollen nicht in
Frage stellt. Die Friedensbewegung der Naga-Frauen hat aber nicht nur den Frieden neu definiert, sondern auch das Potenzial für die Überarbeitung von Geschlechterstereotypen geschaffen, die Frauen von der Macht bisher ausgeschlossen haben. Was sind die grossen Herausforderungen für indigene Frauen? Die politische Tradition schliesst die Beteiligung von Frauen an politischen, ju-
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ristischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen aus. Den Frauen wird das Recht auf Erbschaft nach wie vor verweigert. Es ist der Naga-Mann, der die Kultur und Tradition der Naga bis heute definiert. Kürzlich stiess die Forderung der Frauen nach politischer Partizipation auf starke Opposition seitens der Naga-Männer. Darüber hinaus sind die grössten Herausforderungen für die Naga-Frauen die Militarisierung und die Gewalt, die eine gemeinsame Vision für eine friedliche und gerechte Zukunft der NagaNation behindern. Das Leben in bewaffneten Konfliktgebieten hat die Menschenrechtssituation von Naga-Frauen und -Männern gleichermassen verschärft. Die einzige Hoffnung auf den Wiederaufbau der Naga-Gesellschaft ist die Lösung des politischen Konflikts zwischen der indischen Mehrheitsbevölkerung und den Naga sowie die Entmilitarisierung der Naga-Gesellschaft. Auf der Suche nach Frieden und Gerechtigkeit haben sich die Naga-Frauen in der Naga Women Union (NWU) und der Naga Mothers Association (NMA) organisiert. Die beiden Organisationen arbeiten eng mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Friedensprozess zusammen. Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (UN OHCHR) hat die NWA mehrfach bei der internationalen Kampagne und der Lobbyarbeit durch umfangreiche Massnahmen unterstützt. Die Stimmen der Naga-Frauen können heute weder von der indischen Regierung noch der bewaffneten Gruppen der Naga ignoriert werden.
Atina Pamei ist Menschenrechtsaktivistin und kämpft für die Rechte indigener Frauen und Minderheiten in Asien. 2014 war sie Senior Indigenous Fellow im Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR) und diesen Frühling Gastreferentin in der InfoDoc in Bern. Foto: zVg
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Die Web-Plattform Wikigender 2015 rief die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Wikigender ins Leben, eine Web-Plattform zum Thema Geschlechterungleichheit, welche die politischen Entscheidungsträgerinnen und Experten aus Industrie- und Entwicklungsländern zusammenbringen soll. Die Website gibt es mittlerweile auf Englisch, Französisch und Spanisch. Wie der Name sagt, lehnt sich das Projekt an die Qualitäten von Wikipedia an: Offenheit und Austausch zur Schaffung eines gemeinsamen Raums für den Wissensaustausch zu Genderfragen sind Programm. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt auf den Uno-Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG), selbstverständlich mit einem besonderen Fokus auf Ziel 5 zur Geschlechtergleichstellung. Das Wikigender-Projekt beruht auf drei von der OECD entwickelten «institutionellen Produkten»: – Die Geschlechter-, Institutionen- und Entwicklungsdatenbank (GID-DB) – Der Indikator «Soziale Institutionen und Gleichstellung der Geschlechter» (SIGI) – Das OECD Gender Data Portal Darüber hinaus gibt es ein nach Weltregionen und/oder Themen geordnetes Angebot an Texten sowie eine monatliche Presseschau zu Genderthemen in Englisch und Französisch. Ein Länderprofil bietet Informationen in den drei Bereichen Bildung, Gesundheit und Beschäftigung. Diese Da-
ten alleine geben noch keine Vorstellung von der Situation der Frauen in ihren verschiedenen Dimensionen, doch bietet die Website auch externe Links zur Vervollständigung des Länderprofils, wie beispielsweise zu den entsprechenden Berichten von Human Rights Watch. Der Wiki-Idee entsprechend können BenutzerInnen das Portal interaktiv nutzen, indem sie Informationen etwa zu Veranstaltungen austauschen, thematische Artikel aktualisieren oder am Forum teilnehmen. Ist eine Userin mit einem Thema besonders vertraut, kann sie auch selbst Artikel anlegen. Die Frage ist allerdings berechtigt, wie nützlich eine solche Plattform ist für jene, die keinen Zugang zu Computer und Internet haben. Schade ist auch, dass die Website keine Beiträge zum Hören bietet, das wäre gerade für ihre Nutzung in den Ländern des Südens sehr wichtig. Nichtsdestotrotz ermöglicht Wikigender wertvolle Einblicke in Themen, die im Mainstream der Medien in der Regel ausgeblendet sind. PF www.wikigender.org
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ZAHLEN UND FAKTEN
Frauen und Männer: Wer leistet welche Arbeit? Bezahlte und unbezahlte Arbeit (2016)
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Länder mit mittlerem Einkommen
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Männer
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Frauen
Fre iw
265
5667 3578
In der Schweiz leisten die Frauen
61,3 %
267 257
unbezahlte Arbeit
Unbezahlt
262
der unbezahlten Pflegearbeit.
Quellen: Mascha Madörin, Internationale Arbeitsorganisation (ILO), Bundesamt für Statistik
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Weltweit leisten die Frauen
76,2 %
der unbezahlten Pflegearbeit,
das entspricht
1,5 Milliarden Menschen, die jeden Tag 8h unbezahlt arbeiten.
Infografik : mirouille
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