global #75 Herbst 2019

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#75 Herbst 2019 RUBRIK

#FREIHANDEL

Wachstum um jeden Preis?

Das Magazin von

Swissaid Fastenopfer Brot für alle Helvetas Caritas Heks


Heraus zur Wandelwahl! Es bleiben nur noch wenige Tage bis zur Wahl des neuen Parlaments, das die nächsten vier Jahre die Richtung der Schweizer Politik prägen wird. Nach einer Legislatur, die hüben wie drüben wahlweise als verloren, verkorkst oder verschenkt beurteilt wird, keimt Hoffnung. Jede Wahl ist eine Richtungswahl, aber dieses Mal ist – berechtigterweise – auch die Rede von einer Wandelwahl. Und Wandel tut not, das haben in den vergangenen Wochen Millionen von Menschen rund um den Globus gefordert. Sie sind überzeugt, dass das auf der Verbrennung fossiler Brennstoffe basierende Wirtschaftsmodell am Ende seiner Laufzeit angelangt ist. Starke Verbündete haben sie in der Wissenschaft, schwieriger ist es mit jenem Teil der Politik, der eng mit Wirtschaftsinteressen verflochten ist. Doch es gilt zu differenzieren. Immer mehr WirtschaftsverterInnen haben den Ernst der Lage erkannt, haben begriffen, dass wenn die Weichen nicht jetzt Richtung Transformation und nachhaltige Entwicklung gestellt werden, es in absehbarer Zeit nur noch VerliererInnen geben wird; und das dürfte kaum abschätzbare Verwerfungen zur Folge haben. Das neue Parlament wird nächstes Jahr zwei richtungsweisende Vorlagen verabschieden: die Totalrevision des CO₂-Gesetzes und die Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit (IZA) der Schweiz 2021–2024. Mit dem neuen CO₂-Gesetz soll das Pariser Klima-Übereinkommen ohne Wenn und Aber umgesetzt werden können, während es bei der IZA-Botschaft im Kern darum geht, ob der Bund seinen Beitrag zur globalen Armutsreduktion leistet oder ob Entwicklungszusammenarbeit (EZA) primär der Förderung der Aussenwirtschaft dienen soll. Switzerland first oder solidarity first?

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Als parteipolitisch unabhängige Organisation gibt Alliance Sud keine Wahlempfehlungen ab. Durchaus klar ist uns hingegen, in welchen Parteien wir auf wessen Unterstützung zählen können. Smartvote fragte die für einen Parlamentssitz Kandidierenden unter anderem, ob eine Treibstoffabgabe eingeführt werden, der Bund mehr oder weniger für EZA ausgeben soll. Bei gewissen bürgerlichen und Zentrumsparteien sind die Antworten bemerkenswert uneinheitlich ausgefallen, weshalb sich dort ein genauer Blick auf die Profile der Kandidierenden lohnt. Angesichts der Herausforderungen, die auf die Schweiz in der Welt zukommen, war der zurückliegende Wahlkampf eigenartig fad und uninspiriert. Für die Farbkleckse war weitgehend die Zivilgesellschaft zuständig. Wobei die Mehrheit jener, die überhaupt wählen dürfen, immer noch passiv abseits steht. Je reicher die Schweiz im 20. Jahrhundert geworden ist, desto weniger gingen wählen. Vor hundert Jahren waren es 80,4 Prozent, 1975 waren es letztmals mehr als 50 Prozent, die zur Urne gingen. Wer glaubt, dass wir den Wandel jetzt brauchen, geht am 20. Oktober wählen und mobilisiert sein Umfeld, das ebenfalls zu tun!

Mark Herkenrath Geschäftsleiter Alliance Sud

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Foto: Daniel Rihs

AUFTAKT


INHALT INS BILD GESETZT

Schwimmendes Spital in Bangladesch 6 DIE SÜD-PERSPEKTIVE

Jai Jagat – für die Agenda 2030 von Delhi nach Genf 8 HANDEL UND INVESTITIONEN

Wie Betroffene das Mecosur-Abkommen sehen 12 KLIMA UND UMWELT

Klimagerechtigkeit – Abschied vom Egoismus 14 STEUERN UND FINANZEN

Dunkle Wolken über dem Schweizer Geschäftsmodell 16 UNTERNEHMEN UND MENSCHENRECHTE

Ein totaler Testfall für die Sorgfaltsprüfung 18 ENTWICKLUNGSPOLITIK

Wem nützt eigentlich die Weltbank? 20 IZA-Botschaft: Bundesrat Cassis im Gegenwind 23 INFODOC

«African Mirror» – Schweizer Kolonialismus im Film 26 «Ceux qui travaillent» – Schweizer Filmpreis 2019 27

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IMPRESSUM global – Politik für eine gerechte Welt erscheint viermal jährlich. Die nächste Ausgabe von «global» erscheint Anfang Dezember 2019. Herausgeberin: Alliance Sud Arbeitsgemeinschaft Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas, Heks Monbijoustrasse 31, Postfach, 3001 Bern T +41 31 390 93 30 F +41 31 390 93 31 global@alliancesud.ch www.alliancesud.ch Social Media: facebook.com /alliancesud twitter.com /AllianceSud Redaktion: Daniel Hitzig (dh), Kathrin Spichiger (ks) T +41 31 390 93 34  / 30 Bildredaktion: Nicole Aeby Grafik: Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik, Zürich Druck: Valmedia AG, Visp Auflage: 2400 Tarife / Beilagen: siehe Website Bild Titelseite: Sojaernte bei Correntina im brasilianischen Bundesstaat Bahia. Foto: Paulo Whitaker / Reuters

SIE SIND ALLIANCE SUD Präsidium Bernard DuPasquier, Geschäftsleiter Brot für alle Geschäftsstelle Mark Herkenrath (Geschäftsleiter), Kathrin Spichiger (Mitglied der GL), Matthias Wüthrich Monbijoustr. 31, Postfach, 3001 Bern T +41 31 390 93 30  F +41 31 390 93 31 mail@alliancesud.ch Regionalstelle Lausanne Isolda Agazzi (Mitglied der GL), Laurent Matile, Mireille Clavien T +41 21 612 00 95  F +41 21 612 00 99 lausanne@alliancesud.ch Regionalstelle Lugano Lavinia Sommaruga (Mitglied der GL) T +41 91 967 33 66  F +41 91 966 02 46 lugano@alliancesud.ch

POLITIK Entwicklungszusammenarbeit Kristina Lanz T +41 31 390 93 40 kristina.lanz@alliancesud.ch Steuer- und Finanzpolitik Dominik Gross T +41 31 390 93 35 dominik.gross@alliancesud.ch Klima und Umwelt Jürg Staudenmann T +41 31 390 93 32 juerg.staudenmann@alliancesud.ch Handel und Investitionen Isolda Agazzi T +41 21 612 00 95 isolda.agazzi@alliancesud.ch Unternehmen und Menschenrechte Laurent Matile T +41 21 612 00 98 laurent.matile@alliancesud.ch Medien und Kommunikation Daniel Hitzig T +41 31 390 93 34 daniel.hitzig@alliancesud.ch INFODOC Bern Simone Decorvet, Petra Schrackmann, Jérémie Urwyler, Joëlle Valterio T +41 31 390 93 37 dokumentation@alliancesud.ch Lausanne Pierre Flatt (Mitglied der GL), Amélie Vallotton Preisig, Nina Alves T +41 21 612 00 86 documentation@alliancesud.ch

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AUF DEN PUNKT Afrika auf Freihandels-Kurs Afrika ist auf dem Weg, die grösste Freihandelszone der Welt zu werden. Wird der ambitiöse Fahrplan eingehalten, so soll die Afrikanische Freihandelszone (Zone de libre-échange continentale africaine ZLEC) bereits nächstes Jahr 1,2 Milliarden KonsumentInnen umfassen, im Jahr 2050 gar das Doppelte. Dieses Ziel hat die Afrikanische Union (AU) anfangs Juli in Niamey (Niger) bekräftigt. 1991 war das Ziel eines zusammenhängenden Wirtschaftsraums erstmals diskutiert worden, 2012 hatten die afrikanischen Staats- und Regierungschefs grünes Licht für die Umsetzung gegeben. Heute steht nur Eritrea abseits. Bis 2022 soll der innerafrikanische Handel, der heute selbst unter Nachbarstaaten noch sehr bescheiden ist, bereits um 60% zunehmen. Der grenzüberschreitende Warenverkehr in Afrika ist heute vielerorts noch von bürokratischen Hürden und Schikanen gekennzeichnet, aber auch von Zöllen, die bis 100% betragen. Eine Sprecherin der UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) zeigt sich enthusiastisch: «Die Liberalisierung des Handels in Afrika ist beschlossene Sache, wird aber nur schrittweise eingeführt. Für die am wenigsten entwickelten Länder sollen längere Übergangsfristen gelten.»

lysiert, inwiefern alle 193 UNO-Mitgliedstaaten die 17 Nachhaltigkeitsziele erfüllt haben, inklusive 75 der 169 dazugehörigen Indikatoren. Aufgezeigt werden auch Trends und Veränderungen. Die Schweiz befindet sich weltweit auf Platz 17 bezüglich der Umsetzung der Agenda 2030. Dies ist allerdings kein Grund zur Freude. Nicht nur befinden wir uns hinter den meisten westeuropäischen Ländern, wir haben auch nur zwei der 17 SDGs erreicht (SDG 1 zur Armutsreduktion sowie SDG 7 zu erschwinglicher und sauberer Energie), bei den restlichen 15 SDGs werden noch signifikante oder gar grosse Herausforderungen konstatiert. Vor allem beim Ziel 12 zu Produktion und Konsum liegt die Schweiz bei den meisten Indikatoren im tiefroten Bereich.

NGOs beurteilen diese Entwicklung z.T. kritisch, sie fürchten, dass Staaten mit schwacher Wirtschaft von Riesen wie Nigeria, Südafrika oder Ghana erdrückt werden könnten. DH

Noch bedenklicher ist allerdings die sogenannte Spillover-Analyse. Der Bericht analysiert auch, inwiefern ein Land durch seine Politik und Praxis die Erreichung der SDGs in anderen Ländern gefährdet, sei dies durch unlautere Finanzflüsse, Steueroasen, Waffenexporte oder den Konsum von Produkten und Dienstleistungen, welche unter menschenunwürdigen Bedingungen anderswo produziert werden. Hier befindet sich die Schweiz sage und schreibe auf Platz 1 der Rangliste; das heisst, sie ist weltweit das Land, welches am meisten negative Spillover-Effekte aufweist. Die Analyse der Bertelsmann-Stiftung zeigt auf, dass unsere oft gelobte beschauliche kleine Insel des Wohlstands im Grunde genommen doch ein zutiefst globalisiertes Land ist, dessen Reichtum vielfach auf der Ausbeutung und Armut anderer aufbaut. KL

SDG-Säumige: Schweiz auf Rang 1 Auch dieses Jahr hat die BertelsmannStiftung ihren Sustainable Development Report publiziert. Der Bericht ana-

IWF beziffert Phantom-Investitionen Enorme 2316 Milliarden Dollar an Direktinvestitionen flossen laut der Nationalbank 2017 in und aus der

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Schweiz. Wer sich vorstellt, mit diesem Geld würden die mehr oder weniger sinnvolle Herstellung von Gütern oder die Verrichtung von Dienstleistungen finanziert und damit Arbeitsplätze geschaffen, ist zumindest teilweise auf dem Holzweg. Laut einer Vorabmeldung des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu einer noch unveröffentlichten Studie fliessen weltweit fast 40 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen (FDI) nicht in die Realwirtschaft, sondern landen in Fake-Unternehmen, die alleine dafür geschaffen wurden, Steuern zu umgehen. In der Schweiz sollen es sogar über 50% sein, die gemäss IWF einzig dazu dienen, Gewinne in Territorien mit den niedrigsten Unternehmenssteuern zu verlagern und so die Steuerrechnungen multinationaler Konzerne zu minimieren. Die Forscher reden insgesamt von 15 Milliarden Dollar weltweit – was der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung Chinas und Deutschlands entspricht.

Laut IWF beherbergen Luxemburg und die Niederlande fast die Hälfte dieser weltweiten Phantom-FDI. Schaut man nur auf die entsprechenden Zuflüsse in die Konzernsteueroasen, so liegt die Schweiz gemäss Financial Times mitten unter den karibischen Steueroasen, Singapur und Hongkong und noch vor dem ebenfalls prominenten Tiefsteuergebiet Irland auf Platz 8. Wir sind gespannt auf die genaue Lektüre der IWF-Studie. DG

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RUEDI WIDMER

HAUSMITTEILUNG Agenda 2030 im Hintertreffen Vier Jahre nach der Lancierung sind die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Agenda 2030 alles andere als auf Kurs. Zu diesem Schluss kommt der erste wissenschaftliche Expertenbericht, den die Uno Mitte September in New York veröffentlicht hat. Auch in der Schweiz hat sich die Einsicht auf höchster Ebene noch nicht durchgesetzt, dass es zur Umsetzung der Agenda 2030 ein echtes Umdenken braucht. Deutlich kritisiert wird dies in den Antworten auf die bundesrätlichen Fragen, in welche Richtung sich die internationale Zusammenarbeit der Schweiz entwickeln soll. Zusammen mit Kristina Lanz fasst Eva Schmassmann die Ergebnisse der Vernehmlassung auf Seite 23 zusammen. Es ist ihr vorläufig letzter Artikel für «global», Eva Schmassmann hat neu die Geschäftsleitung der zivilgesellschaftlichen Plattform Agenda 2030 übernommen und will dafür sorgen, dass die Agenda 2030 auch in

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der Schweiz endlich den ihr zustehenden Stellenwert erhält. Wir freuen uns, dass Eva unserem Netzwerk erhalten bleibt und drücken ihr bei ihrer neuen Aufgabe die Daumen! Ihre Stelle bei Alliance Sud hat Kristina Lanz übernommen, die sich ab sofort nicht nur mit der Weltbank (Seite 20), sondern mit Entwicklungspolitik generell befasst. Kristina kennt die Thematik bestens, ihr Doktorat in Sozialanthropologie hat sie zum Thema Landgrabbing in Ghana verfasst. Willkommen an Bord, Kristina! In der «global»-Sommerausgabe haben wir Sie informiert, dass unser Magazin neu umsonst, aber nicht gratis zu haben ist; siehe auch den Einleger in diesem Heft. Und dass wir auf der Suche nach neuem, vor allem auch jüngerem Lesepublikum sind. Wenigstens wir sind auf Kurs: Wir begrüssen herzlich die über 100 Leserinnen und Leser, die «global» neu abonniert haben! DH

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INS BILD GESETZT

Swinde Wiederhold (41) aus Essen hat die Welt während drei Jahren auf der Panamericana von Argentinien nach Alaska auf dem Velo erfahren. Nach dem Fotostudium schwang sie sich wieder aufs Rad, dieses Mal von Europa nach Asien, um unterwegs an sozialen und gesellschaftlichen Reportagen zu arbeiten. In ihrer Arbeit «Doktor Ahoi» porträtiert Wiederhold die Arbeit der NGO Friendship in Bangladesch. Die BewohnerInnender Char Islands haben den Verlust ihres Hab und Guts täglich vor Augen. Infolge der Klimaänderung steigt der Meeresspiegel und sie sind gezwungen, ein Nomadenleben auf Schlamm und Schlick zu führen. Die einzige Möglichkeit für medizinische Versorgung und Behandlung kommt per Schiff. Friendship betreibt mittlerweile fünf Krankenhausschiffe, die von Insel zu Insel fahren und die BewohnerInnen mit dem Nötigsten versorgen. Viele der erreichten Menschen haben zuvor noch nie einen Arzt besuchen können.

Ein Blick in die Zahnklinik an Bord.

Dr. Shafiul Azam, zuständig für allgemeine Medizin und Pädiatrie, lebt selbst auf dem Schiff.

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In neun Tagen hat Dr. Julien-David Szwebel (links im Bild) mit seinem Team an Bord der «Lifebuoy» 35 Operationen durchgeführt. Alle Fotos: Swinde Wiederhold

Die 5-jährige Rokeya hat Verbrennungen erlitten. Nach der Operation verscheucht ihre Mutter Fliegen.

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SÜD-PERSPEKTIVE

Entwicklung? Klimaveränderung? Gleichberechtigung? Menschenrechte? Überall fordert die Zivilgesellschaft Mitsprache ein. Rajagopal P.V. und Jill Carr-Harris wollen diese Bewegung weltweit kanalisieren und vernetzen. Interview von Dominik Gross und Daniel Hitzig.

«Echte Entwicklung gibt es nur, wenn niemand abgehängt wird.»

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Foto: Marco Zanoni / Lunax

global: Sie haben mit Märschen der Landlosen-Bewegung Ekta Parishad in Indien die Mächtigen herausgefordert. Jetzt wollen Sie Ihre Anliegen mit einem grenzüberschreitenden Marsch auf die globale Ebene bringen. Sie nennen die Aktion «Jai Jagat 2020». Wofür steht das? Rajagopal P.V.: Übersetzt heisst Jai Jagat Sieg der Welt. Das kommt Gandhis Konzept von Sarvodaya («Wohlbefinden von allen») sehr nahe. Wenn es einen Sieg gibt, dann sollte es der Sieg der vereinten Menschheit sein und nicht der Sieg einer Nation über eine andere. Begonnen hat unsere Aktion am 2. Oktober 2019, dem 150. Geburtstag von Mahatma Gandhi. Den Schluss- und Höhepunkt setzen wir genau ein Jahr später in Genf, dem zweitwichtigsten Sitz der Vereinten Nationen. Was passiert dazwischen? Ursprünglich wollten wir zu Fuss von Indien in die Schweiz kommen. Pakistan bleibt uns wegen der Spannungen mit Indien nun leider verschlossen, weshalb wir die ersten vier Monate kreuz und quer durch Indien marschieren. Anfang Februar 2020 fliegen wir dann nach Abu Dhabi und gelangen von dort hoffentlich mit der Fähre in den Iran. Ihr werdet aber nicht Hunderttausende sein… Nein, anders als bei früheren Märschen werden wir aus logistischen Gründen nur mit etwa 200 Leuten losmarschieren, denn die Unterbringung der Marschierenden ist im Winter nicht einfach. In der warmen Jahreszeit draussen zu übernachten ist kein Problem für uns, da können wir gerne viele mehr sein. Die Kerngruppe wird nun aus 50 Leuten bestehen. In jedem Land sollen dann noch mindestens 150 für eine Teilstrecke zu uns stossen. Jill Carr-Harris: Für die letzte Etappe nach Genf rechnen wir schon mit 5000 Leuten – es wird das Ergebnis des Jai Jagat-Sternmarsches sein, der sich im Spätsommer 2020 aus Schweden, Gross-

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britannien und Nordafrika auf den Weg machen wird. Und wir hoffen natürlich auch auf die Teilnahme vieler Schweizerinnen und Schweizer sowie von Menschen aus der Genfer Grenzregion, die uns zur UNO begleiten werden. Wo führt ihre Route durch? Rajagopal P.V.: Vom Iran nach Aserbaidschan und von dort über Armenien nach Georgien. Das Schwarze Meer werden wir im Schiff überqueren und in Bulgarien Europa erreichen. Via Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien gelangen wir in Split ans Mittelmeer und setzen mit dem Schiff nach Ancona in Italien über. In Assisi hoffen wir, Papst Franziskus zu treffen. Schliesslich werden wir in Brig die Schweiz erreichen und von dort das Rhonetal hinunter nach Genf gelangen. Dafür planen wir 22 Tage. Die Alpen bewältigen wir aber in einem Bus. Jai Jagat soll schliesslich kein Sportanlass, sondern ein Friedensmarsch sein (lacht). Welche politischen Inhalte werden Sie auf dem Marsch im Gepäck haben? Jill Carr-Harris: Überall auf unserer Route werden wir in Veranstaltungen und Gesprächen auf Themen Bezug nehmen, welche die Leute vor Ort beschäftigen. In Indien und Pakistan das von Gewalt geprägte gegenseitige Verhältnis, in Iran die nukleare Frage, aber auch die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. Der Kaukasus ist ein Brennpunkt für den neuen Kalten Krieg zwischen Russland und der NATO, der Balkan einer für ethnisch-religiöse Konflikte. Mit welchen Problemen sind Sie bei der Vorbereitung des Marsches konfrontiert? So sicher uns die Unterstützung der Zivilgesellschaft ist, so schwierig ist es zuweilen mit den Behörden. Nehmen wir Italien, ein Land mit einer langen Tradition beim Empfang von Geflüchteten. Das verkehrte sich mit der von Matteo Salvini dominierten Regierung ins Gegenteil. Italien wird eine ganz

wichtige Etappe von etwa 16 Tagen im Hochsommer 2020. Dass Ferienzeit ist, hilft uns hoffentlich, den Papst treffen zu können. Soziale Bewegungen werden von den Regierenden weltweit immer stärker unter Druck gesetzt. Auch in Indien? Rajagopal P.V.: Der kleiner werdende Spielraum für die Zivilgesellschaft ist ein grosses Thema für Organisationen, die auf Freiwilligenbasis arbeiten. Das Konzept der Menschenrechte wird im globalen Süden generell wenig geschätzt und auch von der indischen Regierung als westliches Instrument in Misskredit gebracht. Zwar geniessen NGOs, die Verbindungen zu internationalen Organisationen haben, einen gewissen Schutz, umgekehrt werden sie genau deswegen als «ausländische Agenten» angegriffen, deren Einfluss im Interesse der nationalen Entwicklung gebrochen werden müsse. Dabei ginge es doch primär um die Frage, welche Entwicklung sich die Menschen wünschen… Ja, «Entwicklung» kann sehr gewalttätig daherkommen. Und da kommt die Perspektive Gandhis ins Spiel. Er kämpfte für Selbstbestimmung. Gandhi interessierte sich nicht für einen mächtigen indischen Nationalstaat, der Dämme baut, ihm ging es um den Aufbau einer Föderation aus selbstbestimmten und souveränen Dorfgemeinschaften. Denn Entwicklung sollte nie die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen in Frage stellen. So wie das grosse Rohstoffunternehmen tun, die dem Staat zudienen, politische Parteien finanzieren, damit Wahlen gewinnen und so auf höchster staatlicher Ebene Einfluss nehmen können. So läuft es jedoch heute und darum wird ein anderer Entwicklungsbegriff, der nicht blind jenem des industriellen Fortschritts folgt, so energisch bekämpft. Aber Gandhis Ideen sind natürlich – gerade auch in Afrika oder Lateinamerika – aktueller denn je.

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Gewaltlosigkeit ist ein Instrument, das auch die Allermächtigsten in die Knie zwingen kann, das hat der Unabhängigkeitskampf in Indien gezeigt.

Im Herbst 2012 marschierten Tausende von Gwalior im Bundesstaat Madhya Pradesh in die indische Hauptstadt Delhi, um sich für ihre Landrechte und eine Bodenreform einzusetzen.

Was sind die sozialen Folgen der Landnahme durch die Agroindustrie oder Rohstoffkonzerne und die damit verbundene Vertreibung der dort ansässigen Menschen? Wir nennen diesen Prozess auch die Brasilianisierung Indiens. Wie dort sollen auch in Indien immer noch mehr Menschen in die Elendsquartiere der grossen Städte ziehen. Wer sich für funktionierende Trinkwasser- und Energieversorgung auf dem Land einsetzt, der wird als anti-indisch gebrandmarkt. Wie sieht ihr Gegenmodell aus? Jill Carr-Harris: Wir sagen, die DNA Indiens liegt nicht darin, eine Nuklearmacht zu sein, sondern ein Land, wo Buddha und Gandhi Gewaltlosigkeit und Friede gelehrt haben; das sind Instrumente, die auch die Allermächtigsten in die Knie zwingen können, das hat der Unabhängigkeitskampf gegen die britische Kolonialmacht gezeigt. Und genau diese Instrumente braucht die heutige Welt. Als wir das Konzept von Jai Jagat entwarfen, war unsere Frage: Was kann Indien der Welt geben? Es ist nach Gandhi die Vorstellung einer Welt ohne Grenzen und ohne Verlierer, in der es allen gut gehen soll.

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Also ein Konzept, das jenem konkurrierender Nationalstaaten diametral widerspricht? Rajagopal P.V.: Ja, absolut. Und weil dieses alte Wissen dem westlichen Konzept von globaler Industrialisierung widerspricht, wird ihm heute die Berechtigung abgesprochen. Dabei macht die Behauptung, dass die Globalisierung jedes Problem lösen könne, die Menschen verrückt. Die Macht des Geldes und der Politik interessierten Gandhi nicht, er setzte auf moralische Macht. Als Indien unabhängig wurde, feierte er nicht, sondern arbeitete an der Versöhnung zwischen Hindus und Muslimen. Macht ohne Moral ist sinnlos, davon war Gandhi überzeugt. Was ökonomisch funktioniert, braucht noch lange nicht ethisch korrekt zu sein. Korruption, Armut und Elend werden von den ökonomischen Messgrössen wie dem BIP (Bruttoinlandprodukt) nicht abgebildet. Aber diese Logik regiert die Welt und wir haben dem zu lange tatenlos zugesehen. Wie erklären Sie, dass Gandhi als indischer Nationalheld verehrt wird, obwohl er ein ganz anderes Weltbild vertritt als das moderne Indien? Für viele Inderinnen und Inder ist Gandhi nicht so wichtig. Und es gibt eine sehr

ernstzunehmende Tendenz, sein Erbe kaputtzumachen. Denn Gandhis Ideen sind zu herausfordernd, er spricht über Moral, über Einfachheit, über Ehrlichkeit – über all das, was viele Inderinnen und Inder nicht hören wollen, er ist damit eine ständige Quelle der Irritation. Jill Carr-Harris: Gandhi ist mit seiner Philosophie gegen den Machtanspruch der Mehrheit angetreten. Doch heute wird das wieder legitimiert durch die Hindu-Mehrheit des indischen Premierministers und Hindu-Nationalisten Narendhra Modi. Genau gegen diese Ausgrenzung der anderen hat sich Gandhi gewehrt – und das ist auch eine Grundlage von Jai Jagat, mit der wir dem grassierenden Nationalismus und Protektionismus etwas entgegensetzen wollen. Es geht um Teilhabe aller, um die Demokratisierung der Demokratie. Und natürlich hoffen wir, dass die Idee, mit der wir in die Welt hinaus marschieren, auch wieder auf Indien zurückwirkt. Welche Rolle spielt die Gewaltfreiheit in der Frage um die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern oder in der Klimadebatte? Interessant ist, dass Gandhis Anschauungen in diesen Fragen aktuell geblieben sind. Egal ob moderne oder post-

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Fotos: Mansi Thapliyal / Reuters, Marco Zanoni / Lunax

moderne Debatten, Gandhi schlägt mit seinen Ansichten den goldenen Mittelweg ein. Das kann all diese Kämpfe vereinen und zusammenführen. Feministinnen, die nicht auf die einsichtigen Männer zählen, werden nicht vom Fleck kommen. Wir brauchen Väter, die ihre Mädchen zu starken Frauen erziehen. Die Idee, alles als zusammenhängend zu sehen, ist hier im Westen etwas Neues, das wir nicht gewohnt sind. Ein wichtiger Punkt dabei ist der lange Atem: Gandhi hat sich nicht für die kurze Frist interessiert, diese Kämpfe brauchen Geduld und viel Zeit, und man muss seine Wut gegen die Ungerechtigkeit im Zaum halten können und konstruktiv bleiben. Sein verletztes Ego im Griff zu behalten, ist gar nicht so einfach. Ihr betont die direkte Verbindung von Jai Jagat zur Uno-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (SDGs). Inwiefern ist das so? Rajagopal P.V.: Was ist Gandhis Vermächtnis? Er wollte mit seiner Arbeit die absolut Machtlosen ermächtigen. Für ihn ging es beim Thema Entwicklung immer darum, dass niemand abgehängt werden soll. Der Kerngedanke der SDGs, niemanden zurückzulassen (Leave no one behind), ist im UNO-Kontext fast schon eine Erleuchtung (lacht). Wir brechen auf vom Grab Gandhis, marschieren durch all diese Länder und bringen diese Botschaft, niemanden zurückzulassen, zurück an den Sitz der UNO in Genf. Denn es ist offensichtlich, dass in einer globalisierten Welt für die «Letzten» kein Platz ist. Die Agenda 2030 wird einfach eine schöne Wunschliste bleiben, wenn sich die Zivilgesellschaft nicht Raum schafft und laut und deutlich ihre Vorstellungen dieser Agenda einbringt. Wenn multinationale Konzerne über Erde, Luft und Wasser verfügen, wenn die Menschen nicht mehr über ihr eigenes Leben bestimmen, wie soll dann die Armut ernsthaft bekämpft werden können? Die Agenda 2030 ist für die Menschen da und nicht für die Regierungen. Die UNO muss die

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Regierungen dazu bringen, auf die Menschen, auf die Zivilgesellschaft zu hören. Wir hoffen, die weltweite öffentliche Meinung mit Jai Jagat in diesem Sinn beeinflussen zu können. In welchem Sinn konkret? Technologische Lösungen werden für den Bau einer besseren Welt keinesfalls genügen, wir handeln uns damit nur neue Probleme ein. Es braucht ein ganzheitliches Denken, wir müssen auf die Beziehungen zwischen einzelnen Dimensionen unserer Gesellschaften fokussieren statt jedes Thema für sich alleine zu betrachten. Auch diese Philosophie ist Teil der SDGs. Wenn wir im Oktober 2020 in Genf ankommen, wollen wir Gespräche auf höchster Ebene führen: mit Verantwortlichen der Weltbank, des Internationale Währungsfonds und der Welthandelsorganisation. Denn deren Entwicklungs-, Finanz- und Handelspolitik steht in krassem Gegensatz zu den Inhalten der Agenda 2030. Aber die UNO schweigt dazu, es fehlt an Kohärenz. Wie aber wollen Sie jene dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern, die von den jetzigen Verhältnissen profitieren? Jill Carr-Harris: Wenn die Leute einmal die Kraft der Kollektive entdecken, dann wird der trügerische Reiz des Geldes abnehmen. Die Reichen verbunkern sich zunehmend in gated communities, weil sie sich vor der Aussenwelt fürchten. Ihr Individualismus schützt sie aber nicht mehr, Sicherheit kann es nur gemeinsam mit anderen geben. Wie erklären Sie sich, dass Sie mit Ihrer Botschaft tatsächlich auch von Ministerinnen und Wirtschaftsführern angehört werden? Rajagopal P.V.: Unsere Philosophie ist eine von Widerstand und Dialog. Das eine braucht das andere. Kriege werden nicht auf dem Schlachtfeld beendet, sondern dann, wenn die Gegner wieder zurück finden zum Gespräch. Ich habe diese Erfahrung bereits 1972 gemacht, als niemand mit den landlosen Bandi-

ten in Chambal sprechen wollte und ich zwischen Ministern und den Gesetzlosen vermittelte. Niemand konnte es glauben, als diese Outlaws ihre Maschinenpistolen vor einem Gemälde Gandhis niederlegten. Der Wechsel von nackter Gewalt zum Dialog kann eine ungemeine Kraft entwickeln. Leider wissen viele führende Persönlichkeiten immer noch nicht, wie man Konflikte zivilisiert löst, stattdessen verstecken sie sich hinter Sicherheitskräften, welche die Leute verprügeln. Persönlich bin ich überzeugt, dass wir die Fähigkeit zum Dialog, zur Überwindung von Polarisierung brauchen, wenn es der Welt besser gehen soll. Dafür machen wir uns auf den Weg, und dafür kommen wir im Oktober 2020 nach Genf, um einen sehr ernsthaften Dialog zu führen. Walk walk, talk talk.

Rajagopal P.V. (*1948) stammt aus dem indischen Bundesstaat Kerala. Der Sohn eines Unabhängigkeitskämpfers und studierte Agraringenieur gründete 1991 die Organisation Ekta Parishad, die nach den Prinzipien der Gewaltlosigkeit Mahatma Gandhis für die Rechte der Landbevölkerung kämpft. Im Zentrum der Bewegung stehen Landreformen, die Beendigung von Vertreibungen und funktionierende Konfliktlösungsinstanzen für Landkonflikte.

Jill Carr-Harris Seit 1993 ist Jill Carr-Harris seine Lebenspartnerin. Die gebürtige Kanadierin lebt seit mehr als 30 Jahren in Indien, forscht und unterrichtet zu Gewaltlosigkeit und Frieden mit einem speziellen Fokus auf das Thema Frauen und Entwicklung.

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HANDEL UND INVESTITIONEN

Das Freihandelsabkommen mit dem Mercosur wirft u.a. die Frage auf, welche Art von Wachstum wir wollen. Betroffene vor Ort befürchten noch mehr Macht für das Agrobusiness. Und schlechte Aussichten für ihre Menschenrechte. Isolda Agazzi

Auslaufmodell Freihandel

Bei JBS S.A in Santana de Paraiba (Brasilien), dem weltgrössten Rindfleischproduzenten, wartet gesalzenes Fleisch darauf, verpackt und verschickt zu werden. Foto: Paulo Whitaker / Reuters

«Was wollen wir mit Freihandelsabkommen (FHA) erreichen? In wessen Interesse sind sie? Freihandel geht vom Prinzip aus, was den Stärksten nützt, komme letztlich allen zugute. Doch trotz des Wirtschaftswachstums nehmen die Ungleichheiten zu. Seit 20 Jahren wird gefordert, die Folgen von FHA für die Menschenrechte abzuschätzen, um so negative Auswirkungen des Freihandels zu identifizieren bzw. zu vermeiden oder ergänzende Massnahmen anzugehen», erklärt Caroline Dommen. Die Genfer Spezialistin für Handelsund Menschenrechtsfragen arbeitet zurzeit im Auftrag von Alliance Sud an einer Studie, welche die menschenrechtlichen Folgen des FHA mit dem Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) untersucht. «Für unsere Studie haben wir uns intensiv mit Betroffenen auseinandergesetzt und uns auf jene Menschenrechte

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konzentriert, welche diese selbst gefährdet sehen. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt die Studie nicht», sagt Dommen. Die Befragten beantworteten einen Online-Fragebogen, einige nahmen in Buenos Aires an einem von Alliance Sud mitorganisierten Treffen teil. Das Ergebnis der Umfrage ist eindeutig. Die Befragten, also Arme, ältere Menschen, die indigene Bevölkerung, KleinbäuerInnen und Arbeitnehmende in den informellen und sensiblen Industriesektoren, aber auch in KMUs, schätzen die Auswirkungen des Freihandels auf die Menschenrechte zu 70% als negativ ein. Achillesferse Agroindustrie «Nord-Süd-Handelsabkommen sind asymmetrisch und schützen die Menschenrechte in peripheren Ländern nicht»,

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sagt ein Befragter. Um diesen Trend umzukehren, müssten alle Betroffenen, angefangen bei den lokalen Gemeinschaften, von den Entscheidungsgremien konsultiert werden. «Weil es keine Folgenabschätzungen gibt und die Verhandlungen konsequent hinter verschlossenen Türen geführt wurden, wird das Abkommen zu einem ungleichen Austausch führen: Der Mercosur wird hauptsächlich Rohstoffe mit geringer Wertschöpfung exportieren. Stattdessen sollten die Familienbetriebe und die lokale Verarbeitung von Produkten gefördert werden. Das würde die Einkommen verbessern und zu einer gerechteren Verteilung führen», ergänzt eine Umfrage-Teilnehmerin. Als Achillesferse des Mercosur-Entwicklungsmodells identifizieren die Befragten die industriell betriebene Landwirtschaft; das Abkommen werde dieses Modell nur noch stärken. «Die Art, wie wir konsumieren, wird immer ungesünder», heisst es in der Umfrage, «wir haben billige und qualitativ schlechte landwirtschaftlich-industrielle Lebensmittel, gesunde Lebensmittel dagegen werden immer knapper. Das muss anders gesteuert werden, die Agrarökologie sollte subventioniert werden, das Recht auf Land muss gefördert und sichere, ohne Gifteinsatz von Familienbetrieben produzierte Lebensmittel müssen besser vermarktet werden.» Ebenfalls auf die Frage der Landrechte verweist diese positiver gestimmte Stimme: «Der Druck auf das Land der lokalen Gemeinschaften ist gross, die Rechtslage häufig ungeklärt. Aber ich glaube, dass das Abkommen stabilere Arbeitsplätze schaffen kann als sie derzeit von der Agroindustrie angeboten werden. Voraussetzung ist aber, dass die Rechte der indigenen Völker respektiert werden.» Einseitige Produktionsstruktur Kritisiert wird das Produktionsmodell der Mercosur-Länder, das heute stark auf dem Export von Agrar-Rohstoffen und dem Bergbau basiert. Neu sollte der Fokus auf die Herstellung von Industriegütern, Produkten mit geringer bis mittlerer Komplexität und die Entwicklung von Wissen und Dienstleistungen gelegt werden. All dies würde Wohlstand in einem Wirtschaftsraum schaffen, der unter Rezession, Sparprogrammen und Inflation leide. Der Binnenmarkt würde angekurbelt und Arbeitsplätze geschaffen, «unser wichtigstes Anliegen heute», wie immer wieder betont wird. Besorgnis weckt die Aussicht, dass Arbeitsplätze in kleinen und mittleren Unternehmen verschwinden könnten, diese sind auch im Mercosur eine treibende Kraft der Wirtschaft. Hingewiesen wir auf das NAFTA, das nordamerikanische Freihandelsabkommen, das kürzlich neu ausgehandelt wurde und in Mexiko zu sinkenden Löhnen und niedrigeren Arbeitsnormen führe. «Die EFTA (die europäische Freihandelsassoziation, welcher die Schweiz angehört, Red.) wird in der Lage sein, Industrieerzeugnisse zollfrei zu exportieren, das wird unsere aufstrebende lokale Industrie stark unter Druck setzen.»

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Die konsultierten Organisationen zeigen sich auch besorgt, dass das Abkommen die Mercosur-Staaten einschränkt, Massnahmen zu ergreifen zum Schutz der Umwelt, der öffentlichen Gesundheit und des Rechts auf Wasser, der Arbeitnehmerrechte und der indigenen Völker. Mit Blick auf die Schweiz wird jedoch vor allem die im Abkommen vorgesehene Stärkung der Rechte des geistigen Eigentums kritisiert. Befürchtet wird, dass die Verlängerung der Laufzeit von Patenten und strengere Bedingungen für die Vermarktung von Generika den Preis von Arzneimitteln erhöhen werden. Der Zugang zur Medizin werde erschwert, und das Recht auf Gesundheit sei gefährdet. Ausgebauter Patentschutz könnte überdies auch den Zugang der Kleinbauern zu Saatgut erschweren.

Kampf um Saatgut in Argentinien In Argentinien versucht die Regierung seit Jahren, das Gesetz über Saatgut zu ändern. Ziel ist es, im Interesse der Saatgut-Multis das Recht der Landwirte einzuschränken, wie diese Saatgut verwenden, speichern und reproduzieren. Bis heute ist es zivilgesellschaftlichen Organisationen gelungen, diese Gesetzesänderung zu verhindern. Sie prangern die vorgesehene «Legalisierung der Biopiraterie» an, dank der Biotechnologie- und Agroindustrieunternehmen auf Kosten von bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften deren Saatgut kommerzialisieren könnten. Tamara Perelnuter, Politologin an der Universidad Nacional von José Clemente Paz (Provinz Buenos Aires): «Mehr als die Hälfte der Ackerfläche in Argentinien ist mit transgenem Saatgut bepflanzt. Wir sind damit ein strategischer Ort, um Konflikte um die Saatgutaneignung zu analysieren. Es wäre dringend geboten, den Übergang zu einem anderen Agrarmodell voranzutreiben. Grundlage dafür müsste die Agroökologie sein, sie erlaubt die Produktion gesunder und kulturell verwurzelter Lebensmittel. Dabei sind die biologische Vielfalt und die natürlichen Ressourcen zu berücksichtigen, die der Menschheit gemeinsam gehören.» Die liberale Regierung von Mauricio Macri will den Entwurf des Saatgutgesetzes noch vor Ende des Jahres und ihres Mandats verabschieden. Die Stärkung der Rechte an geistigem Eigentum, wie sie im EFTAMercosur-Abkommen wahrscheinlich vorgesehen ist, gibt ihr dafür einen Steilpass; zum Nachteil der Ernährungssouveränität und des von der Zivilgesellschaft des Mercosur angeregten Paradigmenwechsels.

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KLIMA UND UMWELT

Klimagerechtigkeit – ein Wort macht späte Karriere. Das zugrunde liegende Prinzip wurde schon 1992 formuliert, aber von den reichen Ländern nie umgesetzt. Auch die Schweiz drückt sich, eingegangene Verpflichtungen zu erfüllen. Jürg Staudenmann

Gerecht sein – ein moralischer Imperativ Im Rahmen der «Fridays for Future»-Klimastreiks, aber auch an der nationalen Demonstration «Klima des Wandels» vom 28. September war der Begriff «Klimagerechtigkeit» omnipräsent. Im Kontext der jugendlich geprägten Streikbewegung zielt «Klimagerechtigkeit» auch auf die ältere Generation: Ihr hinterlässt uns eine Welt am Abgrund, ihr habt ein Problem geschaffen, das wir lösen müssen. Das ist ungerecht. Klimagerechtigkeit meint aber noch viel mehr: Es geht um eine ethische und politische Herangehensweise an die menschengemachte Klimaveränderung, und zwar im historisch-geographischen Kontext; die einen profitieren, die anderen bezahlen. Darum kann es nicht angehen, die dramatischen Folgen der Erwärmung der Erdatmosphäre als rein technisches Umweltproblem zu betrachten. Auch das wäre ungerecht. Klimagerechtigkeit als Konzept umfasst also auch globale Verteilungs- und Gleichstellungsfragen. Und der Begriff ist alles andere als neu: Alliance Sud beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen von Entwicklung und Gerechtigkeit im Spannungsfeld der globalen Klimaveränderung; und schlägt praktikable Lösungen zur Bewältigung der fortschreitenden Klimakrise vor. In seinen Ursprüngen geht der Begriff Klimagerechtigkeit auf die Ausarbeitung der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) von 1992 zurück, als erstmals über die Reduktion der TreibhausgasEmissionen verhandelt wurde. Geprägt

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wurde er durch Menschenrechts- und Gleichstellungüberlegungen und der Forderung, dass jedem Erdenbewohner grundsätzlich dasselbe begrenzte «Emissionsbudget» zustehen sollte. Weil die wohlhabenden Länder des Westens ihren Wohlstand im 20. Jahrhundert auf dem Verbrennen billiger fossiler Energieträger aufgebaut hatten, ist es a priori ungerecht, den «nachfolgenden Entwicklungsländern» dasselbe nun zu verwehren. So wurden im Kyoto-Protokoll 1997 die «bereits entwickelten Staaten» in die Pflicht genommen, ihre Emissionen zu reduzie-

ren; Entwicklungsländer sollten fossile Energien vorerst weiter nutzen dürfen. Angesichts der seither schneller als erwartet fortschreitenden Klimaveränderung muss die Forderung nach globaler Gleichbehandlung von einem Recht in eine Pflicht umgedeutet werden: Jeder Mensch muss sich gleichermassen anstrengen, seinen Klimafussabdruck zu reduzieren. Das heisst, dass viel emittierende Erdenbewohner wie wir SchweizerInnen sehr viel mehr zur weltweiten Reduktion von menschengemachten Treibhausgasen beitragen müssen als die pro Kopf für weitaus we-

Ein im heftigen Monsun dieses Sommers überflutetes Quartier in Kathmandu, Nepal. Foto: Navesh Chitrakar / Reuters

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niger Emissionen verantwortlichen Menschen des globalen Südens. Als Prinzip wurde diese Sichtweise notabene schon in der Rahmenkonvention von 1992 im Ansatz der «gemeinsamen aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit» verankert. Im Klartext bedeutet das: Will die Weltgemeinschaft die Treibhausgas-Emissionen rasch eliminieren, müssen die wohlhabenden Industrieländer – und zunehmend auch die aufstrebenden Schwellenländer – nicht nur ihren eigenen, viel zu grossen CO₂-Fussabdruck verringern, sondern auch Entwicklungsländer dabei unterstützen, dass sie sich möglichst ohne Treibhausgas-Emissionen entwickeln können. Klimagerechtigkeit als normatives Konzept muss heute aber noch weiter gedacht werden, über die Frage der Reduktion von Treibhausgas-Emissionen hinaus: Im Grunde geht es um die ungleiche Verteilung von Ursache und Wirkung in der globalen Klimaveränderung. Die fortschreitende Klimakrise manifestiert sich in verschiedenen Gegenden der Welt auf sehr

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unterschiedliche Weise. Und die Mittel, die Klimaveränderung einzudämmen oder sich gegen deren negative Auswirkungen zu wappnen, sind sehr unterschiedlich verteilt. Vereinfacht ausgedrückt gipfelt Klimagerechtigkeit im Imperativ, dass jeder Mensch, jedes Land, aber auch jedes Unternehmen Klimaverantwortung übernimmt; sich nach den jeweiligen Mitteln und Möglichkeiten verantwortungsbewusst und verantwortungsvoll an der gemeinsamen Lösung der globalen Klimaproblematik beteiligt. Klimaverantwortung und Verursachergerechtigkeit Wer Klimaverantwortung hierzulande ernst nimmt, weiss, dass unser Klimafussabdruck auch Emissionen umfasst, die durch den Konsum von importierten Waren und internationale Flüge ausserhalb der Landesgrenzen entstehen. Im Fall der Schweiz machen diese pro Kopf fast das Doppelte des inländischen Fussabdrucks aus. Klimagerechtigkeit bedeutet in diesem Kontext, die Verantwortung für sämtliche Emissionen des eigenen Lebensstils zu übernehmen. Dabei sind jene Emissionen noch nicht eingerechnet, die durch Anlagen und Investitionen des Schweizer Finanzplatzes verursacht werden. Sie umfassen bekanntlich ein Mehrfaches davon. Die Frage ist brisant: Wer trägt die (Klima-)Verantwortung dafür? Im Sinne von Verursachergerechtigkeit geht es darum, Verantwortung für die Folgen der eigenen Emissionen für Dritte zu übernehmen: Wenn ausgerechnet die Ärmsten in der Welt, die selber am wenigsten zur Klimaveränderung beigetragen haben, am vehementesten von deren Auswirkungen getroffen werden, müssen sich jene, die diese hauptsächlich zu verantworten haben, finanziell beteiligen. Klimagerechtigkeit bedeutet also auch, die Folgekosten der durch unser Konsumverhalten verursachten Klimaveränderung angemessen mitzutragen.

Globale Klimagerechtigkeit heisst also, die eigene Klimaverantwortung wahr- und ernst zu nehmen. Im Pariser Klimaübereinkommen manifestiert sich dies klipp und klar in der Verpflichtung der Industrieländer, gemeinsam 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr für Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen in Entwicklungsländern bereitzustellen. Das darf aber nicht auf Kosten der Entwicklungszusammenarbeit geschehen, wie dies die meisten wohlhabenden Länder – auch die Schweiz – tun. Denn die Unterstützung der ärmsten und verwundbarsten Bevölkerungen im globalen Süden im Kampf gegen die Klimaveränderung ist nicht mit Armutsbekämpfung gleichzusetzen. Die Reduktion von Treibhausgasen (Mitigation) und der Schutz vor den Auswirkungen der fortschreitenden Klimaveränderung (Adaption) können Entwicklungszusammenarbeit zwar ergänzen, aber niemals ersetzen. Es ist daher zynisch, wenn die Schweiz und andere Länder den Entwicklungsländern denselben Franken zwei Mal verkaufen wollen; einmal als öffentliche Entwicklungshilfe und ein zweites Mal als Klimafinanzierung.

Das fordert Alliance Sud Das Alliance Sud-Positionspapier «Klimagerechtigkeit und internationale Klimafinanzierung aus entwicklungspolitischer Sicht» geht dem Zusammenhang zwischen Klima- und Entwicklungsaufgaben auf den Grund und schlägt konkrete Lösungen vor, wie jährlich 1 Milliarde Franken verursachergerecht zusätzlich zur Entwicklungszusammenarbeit zur Unterstützung von Klimamassnahmen in Entwicklungsländern mobilisiert werden können. Im neuen CO2-Gesetz muss dafür eine (teil-)zweckgebundene Flugticketabgabe eingeführt, die bestehende CO2-Abgabe auf Brennstoffe erhöht und auf Treibstoffe ausgeweitet werden.

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STEUERN UND FINANZEN

Die Wertschöpfungsketten multinationaler Konzerne umspannen längst den ganzen Globus. Doch besteuert werden Konzerne immer noch auf der Ebene der Nationalstaaten. Die Unitary Taxation, eine globale Gesamtkonzernbesteuerung, könnte das ändern. Dominik Gross

Eine Steuer für alle Im Bergbau Sambias arbeiten Tausende Menschen. Doch ein Grossteil der Gewinne aus diesen Minen fliesst mit Hilfe von Buchhaltungstricks in andere Länder ab, nicht selten in die Konzernzentralen der Rohstoffunternehmen im Kanton Zug oder am Genfersee, wo oft nur ein paar wenige Beschäftigte arbeiten. Das ist meistens legal, entzieht dem sambischen Staat aber dringend benötigtes Steuersubstrat. Und Sambia ist nur ein Fall unter vielen. Die herrschende Ordnung in der internationalen Steuerpolitik könnte durch eine Reform des internationalen Steuersystems im Rahmen der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und der G20 schon bald stark verändert werden. Die USA und grosse

In Zukunft sollen vermehrt jene Länder von den Gewinnen der Konzerne profitieren können, in denen diese ihre Produkte verkaufen. Schwellenländer wie Indien, Indonesien oder Nigeria arbeiten auf eine Umverteilung der Besteuerungsrechte hin. Bei grenzüberschreitender Wertschöpfung innerhalb von multinationalen Konzernen sollen zukünftig nicht mehr in erster Linie jene Länder die Gewinne von Konzernen besteuern dürfen, wo diese ihre Fabriken oder ihre Hauptsitze haben. Die ReformerInnen wollen die internationalen Regeln so umgestalten, dass in Zukunft vermehrt jene Länder von den Gewinnen der Konzerne profitieren können, in denen diese ihre Produkte verkaufen. Es geht also um eine Verschiebung der Besteuerung weg von den sogenannten «Quellenländern» hin zu den «Marktländern». Wer schliesslich von einem neuen Besteuerungssystem profitieren würde, ist noch unklar. Zuerst müssen sich die 134 Länder, die im Rahmen

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des sogenannten Inclusive Framework der OECD zusammen am Verhandlungstisch sitzen, überhaupt auf eine gemeinsame Position einigen können. Angekündigt ist dies fürs nächste Jahr. Entscheidend wird die Formel sein, nach der die Gewinne eines multinationalen Konzerns dereinst verteilt werden sollen. In der laufenden Diskussion spielt auch ein Vorschlag eine Rolle, der eine wirklich gerechte Verteilung der Konzerngewinne ermöglichen könnte: Die Gesamtkonzernbesteuerung (GKB), auf Englisch Unitary Taxation. Dabei würden die Gewinne anhand einer bestimmten Formel (formulary apportionment) zwischen den Ländern aufgeteilt, in denen ein Konzern aktiv ist. Und zwar unabhängig davon, ob das Unternehmen in diesem Land mit einer Fabrik, einer Dienstleistungs- oder einer Verwaltungseinheit auch wirklich physisch präsent ist. Anders als heute würden die einzelnen Einheiten eines multinationalen Konzerns also steuerrechtlich als eine einzige Firma behandelt werden und nicht mehr wie voneinander unabhängige Einzelfirmen. Die Gewinne der einzelnen Einheiten würden zu einem Gesamtkonzerngewinn zusammengezählt und dann gemäss verschiedenen Faktoren (vgl. Grafik) auf die einzelnen Länder aufgeteilt, die zur Wertschöpfung des Konzerns beitragen. Steuererträge gerechter verteilen Die GKB mit einer Gewinnaufteilungsformel würde die Attraktivität von Gewinnverschiebungen für multinationale Konzerne deutlich verringern. Alleine den Entwicklungsländern entgehen heute jährlich Steuereinnahmen in dreistelliger Milliardenhöhe, weltweit fehlen dem Fiskus Billionen. Eine sorgfältig ausgestaltete GKB, die den Faktor Arbeit hoch gewichtet, könnte beispielsweise den Rohstoffabbauländern Afrikas, deren öffentliche Dienste stark unter den Gewinnabflüssen leiden, deutlich mehr Steuersubstrat bringen.

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Die Unitary Taxation ist keine neue Idee – auch in der Schweiz nicht: Bereits 2013 reichte die Berner SP-Nationalrätin Margret Kiener-Nellen ein Postulat ein, in dem sie vom Bundesrat verlangte, einen Bericht über die Vor- und Nachteile einer GKB zu erstellen. Der Bundesrat beantragte umgehend die Ablehnung des Postulates, der Nationalrat schob seine Beratung auf die lange Bank und schrieb es nach zwei Jahren schliesslich ab. Die aktuelle Reformdebatte im Inclusive Framework der OECD könnte der Idee aber neuen Schwung verleihen. Über die Frage, ob eine Gesamtkonzernbe-

So funktioniert die Gesamtkonzernbesteuerung Daten, Investitionen, Lohnkosten, Umsätze von Tochterunternehmen

Land A

Land B

Land C

Mutterkonzern Gesamtbilanz

Gesamtgewinn Formel zur Aufteilung des Gewinns

Land A

Land B

steuerung von einem einzelnen Land in Eigenregie umgesetzt werden könnte oder ob das nur in einer global abgestimmten Aktion möglichst vieler Länder möglich ist, streiten sich die ExpertInnen allerdings schon lange. Würden die Gewinne zuerst auf die einzelnen Länder verteilt und nach den dort geltenden Regeln versteuert, wäre es zumindest theoretisch denkbar, dass die Schweiz als bedeutender Standort für Hauptsitze globaler Konzerne mit gutem Beispiel voranginge. Dafür müsste die Schweiz von «ihren» Konzernen jedoch Buchhaltungsdaten verlangen, die eine faire Verteilung des Gesamtgewinns auf alle Länder ermöglicht, in denen die betreffenden Konzerne aktiv sind. Unschwer zu erkennen, dass sich die Schweiz mit einer solchen Reform auf den ersten Blick ins eigene Fleisch schneiden würde, weil der Schweizer Anteil der steuerbaren Gewinne von hier ansässigen Konzernen aller Voraussicht nach sinken würde. Allerdings ist es angesichts der laufenden Reformdebatten auf internationaler Ebene ohnehin fraglich, ob die Schweiz ihr Geschäftsmodell in der Konzernbesteuerung aufrechterhalten kann; basiert es doch heute darauf, Gewinne zu besteuern, die im Ausland erarbeitet wurden. Zudem zeigen die roten Zahlen, die im Nachgang zur Umsetzung der letzten Unternehmenssteuerreform (STAF) vor allem den Kantonen drohen, jetzt schon: Allmählich rechnet sich das grosszügige Angebot von Steueroptimierungsmöglichkeiten für multinationale Konzerne auch für die Schweiz nicht mehr. Bald kann sich die Schweiz ihre Konzernsteueroasen also nicht mehr leisten. In der kommenden Legislatur täte das neue Parlament deshalb gut daran, echte Alternativen zum gegenwärtigen Schweizer Geschäftsmodell zu prüfen, die sowohl im In- wie im Ausland Steuereinnahmen aus echter Wertschöpfung von Schweizer Konzernen sichern. Die selbstständige Einführung einer Gesamtkonzernbesteuerung für Konzerne mit Hauptsitz in der Schweiz könnte eine dieser Alternativen sein. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre, den alten Vorstoss von Nationalrätin Kiener-Nellen wieder aufs Tapet zu bringen. Denn wie man aus der Geschichte weiss: Jeder gesellschaftliche Fortschritt braucht mindestens zwei Anläufe.

Land C

Gewinnanteil zu besteuern nach Landessteuer

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UNTERNEHMEN UND MENSCHENRECHTE

Die gesetzliche Verpflichtung, sorgfältig zu geschäften, soll präventiv wirken. Damit es gar nicht erst zur Verletzung von Menschenrechten oder Umweltschäden durch Unternehmen kommt. Ein Fallbeispiel aus Frankreich. Laurent Matile

Nur noch sorgfältige Geschäfte werden akzeptiert

Total ist in Uganda und Tansania Marktführer bei den Tankstellen. Bild: Dar Es Salaam, Tansania Foto: Mark Henley / Panos

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Es ist eine Premiere in Frankreich. Auf der Basis des neuen Devoir de vigilance-Gesetzes haben französische NGOs und ihre Partnerorganisationen aus Uganda 1 den Total-Konzern verbindlich dazu aufgefordert, einen «Sorgfaltsplan» zu veröffentlichen und umzusetzen. Das französische Gesetz, das die Pflicht zu einer Due Diligence-Prüfung umschreibt, erstreckt sich nicht nur auf Mutterfirmen, sondern auch deren Töchter und Zulieferer. Total ist mit seinen 900 Tochtergesellschaften das viertgrösste Öl- und Gasunternehmen der Welt; es wies 2018 einen Umsatz von rund 210 Milliarden US-Dollar aus und beschäftigt in mehr als 50 Ländern rund 104 000 Mitarbeitende. Es geht um das Megaprojekt Tilenga, das Total seit Jahren in Uganda und Tansania vorantreibt. Entwickelt wurde das Projekt am Ufer des Albertsees von einem Ölkonsortium, dessen Betreiber und Hauptinvestor Total (mit 54,9%-Anteil) ist. Ausserdem beteiligt sind der chinesische Multi CNOOC (33,33%) und die britische Tullow (11,76%). Das Tilenga-Projekt soll sechs Ölfelder – hauptsächlich innerhalb des Naturschutzgebietes Murchison Falls – mit einer Produktion von rund 200 000 Barrel pro Tag erschliessen. Es umfasst den Bau einer Leitung zu einer nahe gelegenen Raffinerie sowie ein Industriegebiet. Tilenga ist Teil eines Grossprojekts, bei dem Total ebenfalls Partner ist: dem Bau der 1445 Kilometer langen East African Crude Oil Pipeline (EACOP) durch Uganda und Tansania, über die das Öl an den Indischen Ozean gebracht werden soll. Geschätzte Gesamtkosten der EACOP: 3,5 Milliarden US-Dollar. Die Projekte Tilenga und EACOP stellen eine ernste Gefahr für die Menschenrechte der betroffenen Bevölkerung und eine ernsthafte Bedrohung für die Umwelt dar, Biodiversität und Wasserressourcen könnten irreversible Schäden nehmen. Zwar gibt es zwei Sozial- und Umweltverträglichkeitsstudien, wovon bis jetzt nur eine veröffentlicht wurde, doch für die NGOs gibt es insbesondere bei den Massnahmen zur Minderung von Umweltschäden im Murchison Falls Natural Park gravierende Mängel. Zum grössten Park Ugandas gehört ein Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung, das durch die RAMSAR-Konvention geschützt ist.

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Wird in Uganda nach Öl gebohrt, so hat die lokale Bevölkerung in der Regel keine Aussicht auf Entschädigung. Foto: Sven Torfinn / Panos

Das weniger fortgeschrittene EACOP-Projekt hat nach Studien des WWF, von Action Aid und BankTrack potenziell negative Auswirkungen auf Zehntausende von Menschen. Die Total-Gruppe veröffentlichte in ihrem Jahresbericht 2017 einen ersten Due Diligence-Plan, wie ihn das französische Recht seit jenem Jahr vorschreibt. Der Plan, der 2018 aktualisiert wurde, wird von den NGOs aber als krass mangelhaft kritisiert, auch sei seine Umsetzung nicht ausreichend wirksam. Insbesondere werfen sie Total vor, keine spezifischen Sorgfaltsmassnahmen vorzusehen. Der Due Diligence-Plan von Total würde damit nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprechen, die eine detaillierte «Abbildung der Risiken» verlangt. Dazu gehört eine gewichtete Darstellung der Risiken, die sich an den tatsächlichen Aktivitäten des Konzerns orientiert. Zur Erinnerung: Das französische Devoir de vigilance-Gesetz war am 27. März 2017 nach einem dreijährigen Hin und Her verabschiedet worden. Im Zentrum des Gesetzes steht die Sorgfaltspflicht. Die vom Gesetz erfassten Grossunternehmen sind verpflichtet, einen Due Diligence-Plan zu erstellen, zu veröffentlichen und effektiv umzusetzen. Die Firmen müssen die Risiken ihrer Geschäftstätigkeit identifizieren, um «schwere Verletzungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Gesundheit und Sicherheit von Personen und der Umwelt» zu verhindern. Der Due Diligence-Plan muss Auskunft darüber geben, wie Vorschriften eingehalten werden. Dieser Plan und Berichte darüber, wie er umgesetzt wurde, müssen veröffentlicht und in den jährlichen Geschäftsbericht der Unternehmen aufgenommen werden. Kommt ein Unternehmen dem nicht oder ungenügend nach, können Menschenrechts-, Umweltorganisationen oder Gewerkschaften die Firmen verbindlich dazu auffordern.

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Kommt das Unternehmen seinen Verpflichtungen nach Ablauf einer Frist von drei Monaten nicht nach, kann ein Richter es anweisen, dies zu tun; verbunden mit einer so lange auflaufenden Busse, bis dem Gesetz Genüge getan ist. Schliesslich kann im Schadensfall dem Unternehmen aufgetragen werden, «den Schaden zu ersetzen, den die Erfüllung dieser Verpflichtungen verhindert hätte». Die Muttergesellschaft oder das beauftragende Unternehmen kann also verpflichtet werden, den Opfern Schadenersatz zu leisten. Voraussetzung dafür ist jedoch die gerichtliche Feststellung des Fehlens eines Plans, eines unzureichenden Plans oder das Ungenügen von dessen Umsetzung. Anders gesagt: Das Gesetz verpflichtet also dazu, gewisse Instrumente anzuwenden. Hat ein Unternehmen einen Due-Diligence-Plan in der gebotenen Qualität erstellt und umgesetzt, so haftet es im Schadensfall auch nicht. Im oben beschriebenen Fall hatte Total bis Mitte 2018 Zeit, die beanstandeten Mängel seiner Sorgfaltsprüfung zu beheben. Die der Gesellschaft eingeräumte gesetzliche Frist, um Massnahmen zu treffen, ist Ende September 2019 abgelaufen. Wenn die NGOs mit den von Total ergriffenen Massnahmen nicht zufrieden sind, können sie ein Gericht in Frankreich anrufen. Ein Fall, der auch in der Schweiz sehr genau zu verfolgen ist. 1 Es handelt sich um die NGOs Friends of the Earth France und Survival sowie ihre ugandischen Partner AFIEGO, CRED, NAPE/Friends of the Earth Uganda und NAVODA.

Konzern-Initiative auf der langen Bank In der Schweiz bleibt die Frage weiterhin hängig, ob Konzerne dafür geradestehen müssen, wenn sie im Ausland Menschenrechte verletzen oder die Umwelt verschmutzen. Statt einen eigenen indirekten Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative (KoVI) zu diskutieren, zog es der Ständerat am 26. September vor, das Geschäft weiter auf die lange Bank zu schieben. Er stimmte einem Antrag des economiesuisse-Lobbyisten Ruedi Noser (FDP/ZH) zu, den im August überraschend angekündigten Gegenvorschlag des Bundesrats zur Initiative abzuwarten. Dabei ist der Inhalt dieses Gegenvorschlags bekannt: Konzerne sollen nur berichten müssen, wie sie die Menschenrechte im Ausland einhalten, im Schadenfall aber nicht für angerichtete Schäden haften. Das Vorgehen der Initiativ-Gegner erinnert an die Abzocker-Initiative: Auch damals wurde die heisse Kartoffel solange zwischen Parlament und Kommissionen hin und her geschoben, bis sich die Volksabstimmung nicht mehr weiter verzögern liess. Die Stimmbevölkerung quittierte das unwürdige Theater an der Urne, die Initiative erhielt 67,9% Zustimmung. DH

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ENTWICKLUNGSPOLITIK

Mit der Gewährung von Grosskrediten und ihren Beratungsdienstleistungen hat die Weltbank einen enormen Einfluss auf die internationale Entwicklungspolitik. Nun ist auch die Schweiz aufgefordert, sich an Kapitalerhöhungen zu beteiligen. Kristina Lanz

Die Weltbank will mehr Geld – aber wem nützt es?

Infrastrukturbauten sind kapitalintensiv. Bau einer Autobahnbrücke in Neu Delhi, Indien. Foto: Qilai Shen / Panos

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In den letzten Jahren hat die Weltbank ihr Monopol in der Vergabe von Entwicklungsdarlehen verloren, da Länder vermehrt private Anbieter nutzen und sich neue Entwicklungsbanken formiert haben. Allen voran die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), der die Schweiz 2016 beigetreten ist. Um sich dem veränderten Umfeld anzupassen, hat die Weltbankgruppe (WBG – siehe Kasten) eine Reihe von Reformen eingeleitet. Die Transformation zu einer «Wissensbank» soll den Fokus verschieben, weg von der Darlehensvergabe hin zu einer Verstärkung der politischen und technischen Beratung und der direkten Projektfinanzierung. Ausserdem möchte die Weltbank in den nächsten Jahren vermehrt in fragilen Kontexten aktiv werden und hat angekündigt, im Klimabereich eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Das übergeordnete Ziel der gesamten Weltbankgruppe für die nächsten Jahre ist unter der Bezeichnung Maximize Finance for Development (MFD) zusammengefasst. MFD setzt ein besseres Zusammenspiel aller Unterorganisationen der WBG voraus, mit dem übergeordneten Ziel, konsequent private Gelder für die Entwicklungsfinanzierung zu mobilisieren. Der MFD-Ansatz basiert auf der Vorstellung, dass zum Erreichen der in der Uno-Agenda 2030 zusammengefassten Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) ein Umdenken stattfinden muss: Weil die Milliarden offizieller Entwicklungsgelder nicht ausreichen, um die SDGs zu finanzieren, soll es der Privatsektor richten und die Billionen zur Verfügung stellen, die es zur Zielerreichung braucht. Ein sogenannter Kaskadenansatz erklärt, wie das gelingen soll: Um Entwicklungsziele zu erreichen, wird zuerst immer versucht, private Gelder zu mobilisieren. In Ländern und Sektoren, in denen der Privatsektor schwächelt, propagiert die Weltbank in einem zweiten Schritt landesweite oder sektorielle Reformen zur Verbesserung des Investitionsklimas. Um die Risiken

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für Private zu mindern, sollen in einem dritten Schritt Garantien oder Instrumente zur Risikoteilung angewandt werden; zum Beispiel in Form von öffentlich-privaten Partnerschaften. Wenn sektorielle Reformen oder Risikoteilung nicht zu marktbasierten Lösungen führen – und nur dann – werden öffentliche Ressourcen mobilisiert. Kritik an der Weltbank Obwohl die Weltbank in den letzten Jahrzehnten vor allem mit den Instrumenten der IDA in vielen Ländern zur Armutsreduktion beitragen konnte, steht sie seit den 1980er Jahren immer wieder in der Kritik. Trotz vieler Reformen und vermehrtem Austausch mit der Zivilgesellschaft stellt die Weltbank

Die Alliance Sud-Position Bis jetzt ist unklar, wie die Kapitalerhöhungen finanziert werden sollen und wann die Vorlage dem Parlament vorgelegt wird. Für Alliance Sud ist allerdings klar, dass es sich bei den Kapitalerhöhungen der Weltbank um einen Aktienkauf der Schweiz in einer einflussreichen globalen Institution handelt, die auch den aussenwirtschaftlichen Interessen in der Schweiz ansässiger Firmen und Banken dient. Es handelt sich hingegen nicht um Entwicklungszusammenarbeit, wie sie in der Schweizer Verfassung und im Gesetz definiert ist – auch wenn Beiträge an die Weltbank gemäss den einschlägigen Kriterien der OECD offiziell als Entwicklungsausgaben verbucht werden dürfen. Die IBRD und die IFC investieren vor allem in Länder mittleren Einkommens und nicht in die ärmsten Länder; bedenklicher noch, die von ihnen investierten Gelder fliessen oft in Sektoren und Projekte, die sogar entwicklungs- und klimaschädlich sind. Aus diesen Gründen und angesichts eines prognostizierten Rechnungsüberschusses von 2,8 Milliarden Franken im Bundesbudget wäre eine Kompensation der Weltbank-Kapitalerhöhungen bei den Geldern der internationalen Zusammenarbeit (IZA) ein Hohn.

den kreditnehmenden Ländern nach wie vor eine Reihe von Bedingungen, ehe diese in den Genuss von billigem Geld kommen: Einseitige Handelsöffnung, finanzielle Deregulierung, Privatisierung und der Rückzug des Staates gehören dazu. Diese sogenannten Konditionalitäten sind von den wirtschaftlichen Interessen der reichen Länder beeinflusst, die nach wie vor die Stimmrechte in der WBG kontrollieren und einen (noch) besseren Zugang zum Markt der ärmeren Länder anstreben. Der neue MFD-Ansatz ist eine Verschärfung dieser Praxis. Obwohl Investitionen des Privatsektors unter gewissen Bedingungen durchaus sinnvoll und wichtig sind, ist es fragwürdig, ob der von der Weltbank propagierte Ansatz tatsächlich der Armutsreduktion dient; oder ob er nicht in der Absicht entwickelt wurde, global tätigen Firmen den Markteinstieg in Entwicklungsländern zu erleichtern und eigene Risiken dabei zu minimieren. Kritische Stimmen betonen, dass der MFD-Ansatz viel weiter gehe als bloss den Privatsektor in die Entwicklungsfinanzierung miteinzubeziehen. Fakt ist, der im MFD enthaltene Kaskadenansatz zieht die private Finanzierung von Entwicklung immer und in jedem Kontext der öffentlichen Finanzierung vor, ohne zuvor eine Kosten-Nutzen-Analyse durchzuführen oder sicherzustellen, dass die private Finanzierung dem öffentlichen Interesse entspricht und einen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung und Armutsreduktion leistet. Da die propagierten Reformen den Ländern topdown von der WB aufgezwungen werden, sind sie zumeist nicht das Ergebnis eines demokratischen Prozesses. Entgegen verschiedener Versprechungen und trotz ihrer Sozial- und Umweltstandards investieren die IBRD und die IFC zudem nach wie vor in klimaschädliche und nicht menschenrechtskonforme Grossprojekte in Entwicklungsländern. Dies liegt unter anderem daran, dass die Standards nicht in allen operativen Bereichen der

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Weltbank gleich anwendbar sind. Zurzeit kommen die Standards vor allem bei der direkten Projektfinanzierung zur Anwendung, nicht aber bei entwicklungspolitischen Beratungsdienstleistungen, die in manchen Jahren bis zu 40% der gesamten Weltbank-Finanzierung ausmachen und oftmals heikle Sektoren wie etwa den Bergbau oder die Forst- und Landwirtschaft betreffen. Ausserdem hat vor allem die IFC in den letzten Jahren vermehrt Kredite an Banken, Aktienfonds oder Pensionskassen (sogenannte Finanzintermediäre) vergeben, die dieses Geld wiederum in andere, zum Teil undurchsichtige, Projekte investieren. Investitionen in Finanzintermediäre, die in Hochrisikosektoren operieren, haben sich in den letzten Jahren vervielfacht. So waren Ende 2018 beim unabhängigen Beschwerdemechanismus der IFC 65 Fälle von Menschenrechtsverlet-

zungen und negativen Umwelteinflüssen hängig. Eine langjährige Recherche der NGO Inclusive Development International belegt zudem bei 150 Projekten von Finanzintermediären negative soziale und schädliche Umweltauswirkungen sowie Menschenrechtsverletzungen. Auch gegen durch die IBRD finanzierte Projekte wurden in den letzten zehn Jahren 32 Klagen beim Inspection Panel – dem unabhängigen Beschwerdemechanismus der IBRD und der IDA – eingereicht; viele davon betreffen grosse Infrastrukturprojekte. Das Interesse der Schweiz Nachdem die Schweiz bereits Mitglied von MIGA und ICSID war, ist sie 1992 der IDA, IBRD und IFC beigetreten und beteiligt sich seither regelmässig an den Kapitalaufstockungen sowie an den Wiederauffüllungen des IDA-Fonds, der für die ärmsten Länder reserviert ist. Gegenwärtig hat die Schweiz nicht nur

den Diskurs der Weltbank – die Entwicklungszusammenarbeit mehr auf die Interessen des Privatsektors zu fokussieren – übernommen, sie wird sich voraussichtlich auch an den anstehenden Kapitalerhöhungen der IFC und der IBRD beteiligen und der Weltbank dabei behilflich sein, ihre MFD-Strategie in Entwicklungsländern umzusetzen. Dies nicht nur um ihr Stimmrecht in dieser einflussreichen Institution zu erhalten, sondern auch aus wirtschaftlichem Eigeninteresse. Vor allem die IFC co-finanziert verschiedene in der Schweiz ansässige multinationale Firmen, Banken und Unternehmen mittlerer Grösse, die an Investitionen in aufstrebenden Märkten interessiert sind. Das langfristig angelegte Portfolio des IFC in Schweizer Firmen betrug 2018 1,4 Milliarden US-Dollar – im Rahmen des angestrebten Ausbaus der Privatisierung der Entwicklung wird dieses voraussichtlich noch wachsen.

Weltbank: Finanzierung von Entwicklungsprojekten Die Weltbankgruppe (WBG) besteht aus diesen fünf Unterorganisationen: —— Die Internationale Entwicklungsorganisation (IDA), die langfristige zinslose Kredite und Zuschüsse an die ärmsten Entwicklungsländer vergibt. —— Die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD), die den Ländern mittleren Einkommens Kredite anbietet. —— Die Internationale Finanz-Korporation (IFC), die Kredite an Privatunternehmen vergibt. —— Die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur (MIGA), die ausländische Direktinvestitionen im Ausland absichert und Investoren berät. —— Das Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID), das Streitigkeiten zwischen ausländischen Investoren und Regierungen schlichtet. Die WBG funktioniert im Sinne einer Finanzkooperative, deren Mitglieder die 189 Mitgliedstaa-

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ten sind. Diese haben Stimmrechte, die auf dem einbezahlten Kapital, aber auch auf der Grösse ihrer Wirtschaft basieren. Aufgrund der hohen Reserven erhält die Bank auf den internationalen Kreditmärkten zusätzlich Kredite zu Vorzugskonditionen, die sie an Entwicklungsländer weitergeben kann. Im Unterschied zu kommerziellen Banken ergänzt die WBG ihre Finanzdienstleistungen mit entwicklungspolitischer Beratungstätigkeit und anderweitiger Unterstützung. Kredite werden jedoch oft an entwicklungspolitische Konditionen geknüpft. Bei der Festlegung gemeinsamer Standards und Richtlinien in verschiedensten Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit nimmt die WBG eine Vorreiterrolle ein. Während der IDA-Fonds regelmässig alimentiert wird, kommt es nur unregelmässig und aufgrund spezieller Umstände zu Kapitalerhöhungen. Nun steht wieder eine solche an, namentlich bei der IFC und der IBRD.

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ENTWICKLUNGSPOLITIK

250 Institutionen, Organisationen und Verbände nahmen an der erstmaligen Vernehmlassung zur internationalen Zusammenarbeit teil. Das Verdikt: Die Bundesräte Cassis und Parmelin müssen nochmals über die Bücher. Kristina Lanz und Eva Schmassmann

Switzerland first? Nein danke! Alle vier Jahre schlägt der Bundesrat dem Parlament eine überarbeitete Strategie für die internationale Zusammenarbeit (IZA) der Schweiz vor. Welche Ziele soll die Schweiz mit ihrer internationalen Zusammenarbeit fördern, welche Schwerpunkte soll sie setzen und in welchen Ländern soll sie aktiv sein? Diese Fragen sollten in der erstmaligen Vernehmlassung zur IZA beantwortet werden. Eingereicht wurden 250 Stellungnahmen, wesentlich mehr als die 100 bis 150 Institutionen, Organisationen und Individuen, die sich am Prozess, den Puls der Bevölkerung zu fühlen, sonst beteiligen. Kaum jemand verwirft den strategischen Rahmen komplett, viele sind in den Grundsätzen einverstanden, die Mehrheit fordert jedoch teils signifikante Anpassungen am Text. Sehr kontrovers beurteilt wird der geplante Ausstieg aus der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika. Eine grosse Anzahl an Stellungnahmen, auch solche aus den Kantonen, kritisiert den Fokus auf die Interessen der Schweiz. Eine zu einseitige Priorisierung der Eigeninteressen der Schweiz – insbesondere der kurzfristigen handels- oder migrationspolitischen Interessen – beunruhigt etwa auch die Zürich-Versicherung, die findet, das Prinzip der Langfristigkeit und der Nachhaltigkeit müsse überwiegen. Agenda 2030 als Referenzrahmen Klar vermisst wird ein explizites Bekenntnis zur UnoAgenda 2030 für nachhaltige Entwicklung als übergeordneter Referenzrahmen. An dieser Agenda haben sich alle Massnahmen und Programme der IZA zu orientieren. So lautet der Kanon aus Kantonen, Gewerkschaften, NGOs, Wissenschaft und Privatwirtschaft. Zum Thema der Migration, das von den Medien am häufigsten kommentiert wurde, nehmen vergleichsweise weniger Akteure Stellung. Hier wird insbesondere darauf hingewiesen, man solle nicht zu hohe Erwartungen wecken. Der Verzicht auf eine strikte Verknüpfung von EZA und wirtschafts- und migrationspolitischem Entgegenkommen durch Empfängerländer wird begrüsst. Die wichtige Frage nach den zur Verfügung stehenden Mitteln für die Aide publique au développement (APD) fehlte in der Vernehmlassung. Nichtsdestotrotz findet sich in

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Welche Rolle sollen Schweizer Konzerne in Zukunft in der Entwicklungszusammenarbeit spielen? Foto: Ashwini Bhatia / AP / Keystone

mindestens jeder zweiten Stellungnahme ein Kommentar dazu. Einzig die SVP und der Schweizerische Gewerbeverband SGV fordern direkt oder zumindest indirekt eine Kürzung der Mittel für die IZA. Alle andern fordern eine Erhöhung. Im Minimum solle die Schweiz die vorgesehene Quote von 0,45% des Bruttonationaleinkommens (BNE) auf die vom Parlament beschlossenen 0,5% erhöhen und zumindest längerfristig die international mehrfach zugesagten 0,7% einhalten. Mehrere Stellungnahmen fordern sogar eine APD-Quote von 1%. Angesichts der Budgetüberschüsse in Milliardenhöhe sei dies finanziell auch tragbar. Alles in allem zeigt die Vernehmlassung klar den grossen Rückhalt, den die IZA in der Schweiz geniesst. Die Schweiz darf ihren Beitrag zum Wohlergehen der Weltgemeinschaft durchaus fokussieren, allerdings braucht es dazu klarere Kriterien. Nun ist der Bundesrat wieder gefragt. Wenn er die Vernehmlassung ernst nimmt, muss er nochmals über die Bücher und seine Strategie in zentralen Punkten nachbessern. Eine ausführliche Zusammenfassung der IZA-Vernehmlassung sowie die Alliance Sud-Stellungnahme finden sich auf unserer Website.

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Studienprogramm NADEL Entwicklung und Zusammenarbeit FrĂźhjahrssemester 2020

M4P - Making Markets Work for the Poor

02.03. - 06.03.

Planning and Monitoring of Projects

09.03. - 13.03.

Evaluation von Projekten

16.03. - 20.03.

Impact Evaluations in Practice

24.03. - 27.03.

Climate Change and Development

30.03. - 03.04.

Tools and Approaches for Capacity Development

21.04. - 24.04.

Current Development Debate - Policy Coherence for Development

28.04. - 30.04.

Conflict Sensitivity and Peacebuilding - Tools and Approaches

11.05. - 15.05.

Migration: A Challenge for Development Cooperation

18.05. -20.05.

ICT4D - Concepts, Strategies and Good Pracices

25.05. - 29.05.

Finanzmanagement von Projekten

02.06. - 05.06.

VET between Poverty Alleviation and Economic Development

08.06. - 12.06.

Auskunft Ăźber Zulassung und Anmeldung: www.nadel.ethz.ch


Fotos: ZVG

KARUSSELL Schon 2018 wollte das EDA Mirko Manzoni (Bild), Botschafter in Maputo (Mosambik), «turnusgemäss versetzen». Mosambiks Staatspräsident Filipe Jacinto Nyusi wollte jedoch mit Manzoni weiterarbeiten, welcher als Mediator zwischen den Bürgerkriegsparteien über Jahre eine zentrale Rolle gespielt hatte, und schaltete UNO-Generalsekretär António Guterres ein. Dieser ernannte den Schweizer am 8. Juli zu seinem persönlichen Gesandten für Mosambik. Am 6. August wurde in Maputo – in Anwesenheit von Bundesrat Ignazio Cassis – ein historisches Friedensabkommen unterzeichnet. Manzoni auf Swissinfo: «Ich glaube, die Mosambikaner waren schneller als die Schweizer. Es hätte alles unternommen werden sollen, damit das Team, welches das Abkommen ausgehandelt hat, vor Ort bleibt und die Umsetzung überwacht.» Das kann jetzt geschehen, im Oktober wird in Mosambik gewählt. EDA-Staatssekretärin Pascale Baeriswyl (Bild) wird ab Frühling 2020 die Schweizer Mission bei der UNO in New York leiten. Sie wird Einsitz im Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (ECOSOC) nehmen und soll den Einsitz der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat in den Jahren 2023/2024 einfädeln. So dreht sich das Personalkarussell bei der Deza: Christian Frutiger (Bild) ist der neue Chef der Globalen Zusammenarbeit. Er war zuletzt als Head Global Public Affairs im Kader von Nestlé. Frutiger ersetzt Pio Wennubst, der als Missionschef zur FAO nach Rom wechselt. Peter Bieler, bisher in der Sektion Evaluation & Controlling, wird neu Leiter der Abteilung Südliches und Östliches Afrika. Ihn abgelöst bei E+C hat Romana Tedeschi.

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Barbara Böni heisst die Leiterin der fusionierten Abteilung Asien. Sie selber wird in der Abteilung Zentralasien ab November von Ursula Läubli abgelöst, die als Kooperationschefin aus Belgrad zurückkehrt. Claudio Tognola, bisher Co-Leiter der Abteilung Zentralasien, wird neuer Abteilungsleiter Westafrika. Der neue Chef IZA in Kabul heisst Oliver Bangerter, Vorgänger Thomas Fisler wird pensioniert. Der neue Regionalkoordinator des Mekongprogramms in Vientiane (Laos) heisst JeanFrançois Cuénod, bisher stv. Leiter der Südzusammenarbeit in Bern. Seine Stelle übernimmt Gabriella Spirl, bisher Leiterin des Kooperationsbüros in Ulan Bator (Mongolei). Stv. Missionschefin und Chefin IZA in Bangladesch ist neu Suzanne Müller. Neue Botschafterin in Bolivien und Chefin IZA wird Edita Vokral. Sie löst Roger Denzer ab, der als Missionschef an die Botschaft in der Demokratischen Republik Kongo gewechselt hat. Vokrals Stelle als Regionalkoordinatorin in Managua übernimmt Jean-Gabriel Duss. Willy Graf, bisher Koordinator im Tschad, wird neu Chef IZA in der Botschaft in Tunis. Sein Kollege Romain Darbellay geht den umgekehrten Weg und wird neu Kooperationschef in N’Djamena. Auch Nicole Ruder und Holger Tausch tauschen die Plätze. Ruder wird Chefin IZA in der Botschaft in Kiew, Tausch übernimmt ihre Stelle als Chef Globale Institutionen in Bern.

wurden Angelo Gnädinger, früher Generaldirektor des IKRK, Erna Karrer-Rüedi, Geschäftsführerin der EoS Entrepreneur Foundation, der Medienunternehmer Hansi Voigt sowie der Betriebsökonom Ueli Winzenried in das Strategieorgan gewählt. Biovision hat einen neuen Geschäftsleiter, Mitgründer Andreas Schriber hat den Stab an Frank Eyhorn (Bild) weitergegeben. Der Entwicklungsexperte Eyhorn arbeitet seit 1997 als Forscher und Berater im Bereich nachhaltige Landwirtschaft und Marktsysteme. Der Rotkreuzrat hat Thomas Heiniger, den früheren Zürcher Gesundheitsdirektor, zum neuen Präsidenten des SRK gewählt. Er ersetzt in dieser Funktion die tragischerweise kurz darauf verstorbene alt-Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz. Ende 2019 wird Jon Andrea Florin die Geschäftsführung des Arbeitskreis Tourismus & Entwicklung (akte) übernehmen. Er folgt auf Christine Plüss (Bild), die akte während über 30 Jahren geprägt hat und im November pensioniert wird. Florin leitete zuletzt Kommunikation und Fundraising bei Swissaid.

Ivo Germann, Leiter der wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit beim Seco, wechselt als Chef der Wirtschaftssektion an die Schweizer Botschaft in Washington D.C. Sein Nachfolger in Bern ist Martin Saladin, der beim Seco bislang das Ressort Länder und Globales führte. Grosse Rochade im Helvetas-Zentralvorstand: Nach Rücktritten von Guillaume de Buren, Ruth EggerTschäppeler und Richard Gerster

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INFODOC

Ein entlarvender Blick in den Spiegel

Mochten die DorfbewohnerInnen nicht mehr drehen, behalf sich René Gardi mit professionellen Statisten aus der Stadt. Fotos: zVg

Über Jahrzehnte erklärte René Gardi (1909–2000) dem Deutschschweizer Fernsehpublikum den afrikanischen Kontinent und seine Menschen. Der Dokfilm «African Mirror» öffnet Gardis Archiv. In Büchern, Fernsehsendungen und Filmen schwärmte Gardi von den schönen nackten Wilden und der vormodernen Zeit, in der sie lebten. Der an der Berlinale uraufgeführte Dokumentarfilm «African Mirror» von Mischa Hediger

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zeigt nicht nur Gardis problematisches Afrikabild. Im Archiv des Schweizer TV-Pioniers spiegelt sich auch Schweizer, westliches Selbstverständnis in vielfacher Weise. «African Mirror» löst ambivalente Gefühle aus, weil er zeigt, wie wir uns bis heute einem Blick in diesen Spiegel verweigern. Gardi war ein sentimentaler Globalisierungskritiker avant la lettre, dessen freundlich-herablassende Herangehensweise an Afrika zwischendurch merkwürdig aktuell wirkt.

Regisseur Hediger (geb. 1984) war den Afrikabüchern René Gardis in seinem Elternhaus begegnet. Sie waren in dutzende Sprachen übersetzt worden, seine Filme liefen nicht nur im Schweizer, sondern auch im japanischen und britischen Fernsehen. Als Hediger später selbst im Auftrag einer NGO in Burkina Faso Imagefilme drehte, wurde ihm seine eigene Verstrickung in Vorurteile und klischierte Afrikabilder bewusst. Die Rolle als weisser Filmemacher in einem Land,

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mit dessen Geschichte und Kultur er nur bedingt vertraut war, löste Unbehagen aus. Dann erfuhr Hediger vom noch kaum bearbeiteten Nachlass von René Gardi und konnte für seinen Film schliesslich dessen Archiv auswerten mit Tagebüchern, Briefen, Zeitungsartikeln, Filmrollen, Tonbändern und über 30 000 Fotografien, der grösste Teil davon unveröffentlicht. «African Mirror» zeigt, wie subjektiv und konstruiert Gardis Afrika war. Die Szenen in seinen Filmen waren oft sorgfältig inszeniert, so dass sie keine Spuren von «Modernität» zeigten, das Leben in den Städten wurde bewusst ausgeblendet. Diese Sicht auf Afrika erzählt viel über den reaktionär zivilisationskritischen Zeitgeist, dem Gardi verhaftet war. Er sehnt sich zurück nach einfachen Zeiten, schwadroniert von einer Freiheit des Naturmenschen, die es auch bei uns so nie gegeben hat. Erst recht nicht, was den Umgang mit Körper und Sexualität betrifft. Erzählonkel Gardi liess die Schweizerinnen und Schweizer von Abenteuern träumen, in einer Zeit, in der den Wenigsten weite Reisen möglich waren, und fabulierte, wie schade es doch sei, dass die Schweiz keine eigenen Kolonien habe. Und war damit Teil dessen, was heute als «Kolonialismus ohne Kolonien» beschrieben wird. Denn das Bildermachen, wie es Gardi praktizierte, war ein wichtiger Bestandteil dieser kolonialistischen Weltsicht. Hedigers «African Mirror» besteht fast ausschliesslich aus Bild-, Ton- und Textdokumenten aus dem Archiv von René Gardi. In der Montage des Materials werden Bild und Ton in ein neues Verhältnis gesetzt, die Bilder beginnen zu denken und erzählen die Geschichte unseres Afrikabildes. DH

«African Mirror» kommt am 14. November in die Deutschschweizer Kinos, begleitet von Premieren in Anwesenheit des Regisseurs. In die Suisse romande kommt der Film im Frühjahr 2020.

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«Es gibt keine Ausreden.» Mit «Ceux qui travaillent» hat Antoine Russbach den Schweizer Filmpreis für den besten Spielfilm und das beste Drehbuch gewonnen. Er gibt einen verstörenden Einblick in die Arbeitswelt eines Frachtunternehmens. Und die unsichtbare Welt dahinter. Interview von Nina Alves. global: Warum haben Sie das Milieu des globalen Schiffstransports als Rahmen für Ihren Film gewählt? Antoine Russbach: Ich hatte das Buch «Freuden und Mühen der Arbeit» von Alain de Botton gelesen, in dem er dem Weg eines panierten Fisches vom Teller bis zum Fischer zurückverfolgt. Ich war fasziniert von diesem für uns unsichtbaren Güterverkehr. Bei meinen folgenden Recherchen habe ich viel über die enorme Bedeutung meiner Heimatstadt Genf im maritimen Güterverkehr gelernt. Es ist verrückt, dass das Binnenland Schweiz einer der bedeutendsten Akteure in diesem Bereich ist. Dabei sehen die Händler die Frachter gar nie, die sie dirigieren. Die Schiffe, die sie verwalten, sind bloss Punkte auf einer Karte. Genauso neigen wir dazu zu glauben, dass unsere Konsumgüter aus dem Nichts kommen. Das Drama nimmt seinen Lauf, als auf einem Frachter ein blinder Passagier entdeckt wird. Entdeckt eine Besatzung einen blinden Passagier, so verlangt das Seerecht, dass der Frachter diesen zum Ausgangshafen zurückbringt. Das verursacht hohe Kosten, erst recht wenn die Fracht verderblich ist. Das Thema ist ein grosses Tabu in der Frachtindustrie. Während meiner Recherchen wurde mir exakt diese Geschichte erzählt: Der Mitarbeiter eines Frachtunternehmens erfuhr, dass auf einem seiner Schiffe ein blinder Passagier aufgetaucht sei. Seine erste Reaktion war, ihn irgendwie loszuwerden, aber schliesslich liess er sein Schiff wen-

den und den blinden Passagier zurückbringen. Erst als ihm die Matrosen später ein Foto des Mannes im Leibchen seiner Lieblings-Fussballmannschaft zeigten, erkannte er, dass der Illegale ein Mensch wie er war. Zu Beginn des Films wird Hauptdarsteller Frank genau mit dieser Situation konfrontiert und entscheidet sich, den blinden Passagier über Bord werfen zu lassen. Der Mord fliegt auf, Frank wird entlassen und stürzt in eine existenzielle Krise. Der Film lässt uns über die indirekten Folgen unseres Konsums nachdenken… Der Film konfrontiert uns auf verschiedene Weise mit dem Unsichtbaren und dem Virtuellen. «Ceux qui travaillent» ist kein Film für oder gegen den Kapitalismus, aber er weist darauf hin, wie dieses System einen Grossteil der westlichen Welt ernährt. Es geht also um die Frage der Mitverantwortung, um die menschliche Natur und ihren Einfluss auf die von uns gebauten Systeme. Er lässt das Publikum über seine Rolle und seine Verantwortung in dieser Gesellschaft nachdenken. Als KonsumentInnen können wir uns zwar über die Gewalt des kapitalistischen Systems empören, aber doch kurz darauf ein neues Smartphone kaufen. Die Frage ist: Wo hört unsere Trägheit auf? Unsere Fähigkeit, sich wider besseres Wissen nicht zu ändern, fasziniert und erschreckt mich. Ausreden gibt es keine.

«Ceux qui travaillent» ist noch vereinzelt im Kino zu sehen und als Video on demand auf der Website des Filmverleihs www.outside-thebox.ch abrufbar.

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ZAHLEN UND FAKTEN

Ein Schiff wird kommen... 90% des Welthandels werden über das Meer abgewickelt

10,7

22%

läuft über Schweizer Handelshäuser

Mia. Tonnen

Rohstoffe und Waren (2017)

90 000 Frachter, 17,1% davon sind Containerschiffe, die 90% unserer Konsumgüter transportieren.

In der Schweiz gibt es 65 Reedereien, ihnen gehören 411 Schiffe, weitere rund 400 sind gechartert. Die in Genf domizilierte Mediterranean Shipping Company (MSC) kontrolliert 12,3% des Weltmarkts (2. Platz).

Der Meerestransport verbrauchte 2018

In Genf sind auch grosse Schwerölhändler domiziliert, darunter die Glencore-Tochter Chemoil (Welt-Nr. 3), Cockett (11), Litasco (Lukoil), Trafigura, Addax Energy, Vitol u.a.m.

272 Mio. Tonnen Schweröl

Gesundheit Der jährliche Ausstoss von

67 000 Tonnen Kohlenstoffruss

Ausstoss von Treibhausgasen

und Schwefeldioxid SOx (1 grosser Frachter = 50 Mio. Autos)

1 Mia. Tonnen CO2

verursacht

60 000 Todesfälle/Jahr

Ab 2020 werden Handelsschiffe den Schwefelanteil in ihrem Treibstoff von 3,5% auf 0,5% senken müssen

sowie Atemwegserkrankungen

Ölteppiche aufgrund von Havarien

150 000 Tonnen Rohöl/Jahr

Lärmverschmutzung

Ablassen von Ölrückständen

1/3 der Meeressäuger

leidet unter irreversiblen Hörschäden

1,8 Mio. Tonnen/Jahr toxische Produkte

Quellen: UNCTAD, ICCT, STSA, Le Temps, Courrier International, Alternatives Economiques, Film «Freightened – The real price of shipping» Infografik: mirouille

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