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Unterwegs im Tschamintal, einem der schönsten Täler der Dolomiten.
Berggeschichten Die Grasleitenhütte beherbergt Kletterer, Bergsteiger und Wanderer auf ihren Touren durch die atemberaubende Berglandschaft rund um den bekannten Rosengarten. In dem von Hansjörg und Margot geführten Schutzhaus findet Stress keinen Platz.
E Eine Leite ist ein steiler Berghang, der für Schafe und Ziegen als Weide genutzt wird. Davon leitet sich der Name der Grasleitenhütte ab, die auf 2.165 Metern inmitten der schroffen Hänge direkt unter dem Grasleitenturm, der Grasleiten- und Valbonspitze steht. Die Grasleitenhütte wurde von der Sektion Leipzig des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins erbaut und am 9. September 1887 eröffnet. Geplant wurde die Hütte vom 1923 verstorbenen Architekten Hugo Licht, der auch für den Bau des Neuen Rathauses in Leipzig verantwortlich zeichnete. Die Hütte war zu Beginn nicht bewirtet und für Bergsteiger mit einem im Tal erhältlichen Schlüssel zugänglich. Die Empfehlung für den Standort des Hüttenbaus war vom bekannten Tiroler Alpinisten Johann Santner gekommen. Gemeinsam mit dem Tierser Bergführer Alois Villgrattner hatte er 1878 den später nach ihm benannten Sant
nerpass eröffnet. Auf seine Initiative hin hatte die Gemeinde Tiers den Baugrund kostenlos und das Bauholz zu einem vergünstigten Preis zur Verfügung gestellt. Im Bärenloch wurde der Kalk gebrannt und dann für den Bau nach oben getragen. Durch den Bau der Hütte wurde das Rosengartengebiet vom Tschamintal aus erschlossen. Mit den beiden Erweiterungsbauten in den Jahren 1897/98 und 1909/10 wurde die Grasleitenhütte von der Selbstversorgerhütte zur Schutzhütte mit Gaststube, Speisesaal, Zimmern und Matratzenlagern. In dieser Zeit um die Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg wurden zahlreiche Erstbegehungen im Rosengarten-Gebiet gemacht: Sowohl lokale Alpinisten wie Franz Schroffenegger und Franz Wenter, aber auch internationale Klettergrößen wie zum »
Text: Katja Sanin Fotos: Helmuth Rier
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Beispiel Hans Dülfer nutzten die Grasleitenhütte als Ausgangspunkt für Klettertouren am Valbonkogel und der Valbonkante. Nach dem Ersten Weltkrieg, als Südtirol zu Italien kam, wurde die Hütte vom italienischen Staat enteignet und der Sektion Bergamo des italienischen Alpenvereins CAI (Club Alpino Italiano) übergeben. Daher stammt die italienische Bezeichnung
Wahre Südtiroler Gastlichkeit bei Margot und Hansjörg in der Grasleitenhütte.
der Hütte „Rifugio Bergamo“. Neben weiteren 24 vom italienischen Staat enteigneten Hütten in Südtirol ging die Grasleitenhütte 1999 in das Eigentum der Autonomen Provinz Bozen über. Seit 2015 erfolgt die Vergabe an die Pächter, die Überwachung der Führung und der Sanierungsmaßnahmen durch eine paritätische Kommission, in der das Land Südtirol, der Alpenverein Südtirol und der CAI vertreten sind. Die Grasleitenhütte wurde immer von Tierser Pächtern bewirtet. Seit 1910 ist die Hütte in der aktuellen Form und Größe wie wir sie heute kennen. Noch auf diese Zeit zurück reichen die Täfelung und das Mobiliar im Gastraum und dem Speisesaal, die beiden Treppenanlagen zu den Schlafzimmern- und Lagern sowie die Täfelung im Erd- und den beiden Obergeschossen. Sogar von den beiden Bauten zuvor sind noch die beiden gusseisernen, zylinderförmigen und noch funktionstüchtigen Kanonenöfen erhalten, um die herum die Gäste noch heute ihre verschwitzten T-Shirts trocknen.
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Zuflucht in den Bergen. Auch heute noch kann man die Grasleitenhütte als das „Wohnzimmer der Kletterer und Bergsteiger“ bezeichnen. Sie ist von allen Hütten eine der beliebtesten, nicht nur unter den Tiersern. Da der Hüttenwirt selbst ein begeisterter Kletterer ist, erlebte die Kletterei in den Wänden um die Grasleitenhütte in den letzten Jahren eine Art Revival. Tiers ist ein ausgesprochenes Bergsteigerdorf und hat immer schon gute Klet-
terer hervorgebracht. In den letzten Jahrzehnten ist wieder eine neue Kletter-Generation herangewachsen, die Erstbegehungen im Rosengartengebiet macht. „Es ist schön, von der Terrasse aus den Kletterern zuzuschauen, sie anschließend zu bewirten und ihnen zuzuhören, wie sie bei einem frischen Saft oder Bier fachsimpeln und die vorgenommene Route noch einmal durchsprechen“, erzählt die Hüttenwirtin. Doch nicht nur Kletterer und Wanderer kommen auf die Grasleitenhütte. Letzten Sommer zum Beispiel hat eine junge Frau ein Wochenende gebucht, um abzuschalten und den Stress bei der Arbeit abzulegen. Ihr hat der Aufenthalt in der Hütte so gut gefallen, dass sie ihre gesamte Urlaubswoche auf der Hütte verbracht hat und nicht nur eine Nacht wie ursprünglich geplant. Sind es heute überwiegend Urlauber und Freizeitsportler, die sich auf den Weg durch das Tschamintal rauf zur Grasleitenhütte machen, war die Hütte in den 1960er Jahren die zweite Heimat der berg- »
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reichbar; von Compatsch auf der Seiser Alm aus auf dem Weg Nummer 2 über Panorama, Goldknopf, Rosszahnscharte, Tierser Alpl und Molignonpass in rund vier Stunden und von Saltria aus auf dem Weg Nummer 8 zum Gasthof Tirler und weiter entlang der Forststraße zum Gasthof Dialer und dann weiter übers Tierser Alpl und den Molignonpass ebenfalls in rund vier Stunden zu erreichen.
Bergwanderer fasziniert besonders die Ursprünglichkeit des Tschamintales.
begeisterten Tierser Jugend. Damals hatte die Jugend kein Geld und nicht so viele Möglichkeiten wie die Jugendlichen von heute. In der damals politisch sehr turbulenten Zeit hatte einer der jungen Studenten und Kletterer auch Kontakt zu SüdtirolAktivisten und kannte die Szene. Als es in den Monaten nach der Feuernacht am 11. Juni 1961, als im Raum Bozen 37 Strommasten in die Luft gesprengt wurden, zu einer regelrechten Verhaftungswelle durch die Carabinieri kam, fühlte er sich auf der Grasleitenhütte sicher und wurde von der „Proder Rosl“, wie die damalige Hüttenwirtin Rosa Weißenegger, liebevoll genannt wurde, bewirtet und bemuttert. Die Feuernacht war der Höhepunkt der Bombenjahre in Südtirol und brachte das SüdtirolProblem mit den politischen Spannungen zwischen der deutschen und der italienischen Sprachgruppe sogar in die Schlagzeilen der Weltpresse.
Eine Hütte im Wandel der Zeit. Die Grasleitenhütte ist von der Tschamin Schwaige in Tiers in rund zweieinhalb Stunden durch das Tschamintal er-
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Seit 2009 wird die Hütte vom Tierser Hansjörg Resch mit seiner jungen Familie geführt. „Ich bin eigentlich gelernter Maurer, doch als die Bürokratie für uns Handwerker immer mehr und mehr wurde, überlegte ich gemeinsam mit Margot, die die Berge ebenso liebt wie ich, eine Hütte zu übernehmen. Als wir hörten, dass Karl und Agatha Ladstätter nicht mehr weitermachen wollten, beschlossen wir, uns zu bewerben“, erzählt der Hüttenwirt, der damals eine gerade mal neun Monate alte Tochter hatte und die zweite erwartete. Diesen Sommer geht die Familie Resch in ihre zehnte Saison auf der Grasleitenhütte, die von Anfang Juni bis Anfang Oktober bewirtet wird. Das junge Paar drückte der Hütte in den letzten zehn Jahren mit ihren Qualifikationen als Maurer und Grafikerin ihren Stempel auf. Es wurde allerhand erneuert: Von den WCs, Duschen und Bädern über die Fenster und die Fassade bis hin zu den Matratzen und der Kühlzelle. Margot hat ein neues Logo entworfen, das sowohl die Speisekarten als auch die neue Bettwäsche schmückt und sorgt für die Gemütlichkeit in der Hütte, die ihren Reiz als Schutzhütte nie verloren hat. „Das Schöne am Hüttenwirteleben ist, dass jeder Tag anders ist. Man hat zwar vier Monate lang keine freie Minute, aber wir haben uns an das Hüttenleben mit unseren Mitarbeitern und Gästen gewöhnt und genießen den Sommer in den Bergen“, sagt Margot und fügt hinzu: „Es kommen viele ganz unterschiedliche Menschen zu uns, aber eines haben alle gemeinsam – die Liebe zu den Bergen und zur Natur. Natürlich versuchen wir, unseren Gästen einen gewissen Komfort zu bieten und auf Wünsche einzugehen, doch eine Schutzhütte soll nicht mit einem Hotel verwechselt werden. Manchmal kommt es vor, dass Gäste gerne einen eigenen Tisch hätten, doch das ist auf so engem Raum nicht möglich und die anfängliche Skepsis und Scheu der Gäste weichen fast immer der Freude, sobald sich anfangs Fremde am gemeinsamen Tisch über Herkunft, Wanderrouten und Erlebtes austauschen“, erzählt der Hüttenwirt.
Tagesablauf auf einer Schutzhütte. Die meisten Gäste bleiben eine Nacht und setzen ihre Hüttenoder auch Fernwanderung am nächsten Tag fort. Der Tag beginnt für den Hüttenwirt um 5.15 Uhr mit den Vorbereitungen für das Frühstück, das die Gäste zwischen 6.30 und 9 Uhr einnehmen können. Ab spätestens 10 Uhr sind alle Gäste wieder unterwegs. Dann werden die Zimmer und Schlaflager gereinigt, die Gaststube gesaugt und gewischt und die Büroarbeit erledigt. Der Koch beginnt mit seinen Vorbereitungen in der Küche und so gegen 11 Uhr, ehe die ersten Gäste erwartet werden, setzen sich Hansl und Margot mit ihren Mitarbeitern auf der Terrasse in die Sonne und genießen gemeinsam einen Kaffee. Tagsüber herrscht je nach Wetter mehr oder weniger hektisches Treiben und um 18.30 Uhr gibt es Abendessen. Gegen 20 Uhr essen die Hüttenwirte und das Personal, dann werden noch die Frühstückstische für den nächsten Morgen gedeckt und um 22 Uhr ist Hüttenruhe.
benden Originelles einfallen, damit auch in abgeschiedener Höhe immer Leben in der Hütte ist. So hat sich zum Beispiel Margot an ihrem ersten Geburtstag als Hüttenwirtin ein Konzert gewünscht und diesen Sommer kommt die Südtiroler Band „Queen Laurin“ schon zum zehnten Mal, um ihren legendären Blues-Abend auf der Grasleitenhütte zu zelebrieren. „Der Aufwand für so einen Konzertabend auf der abgelegenen Hütte ist nicht ohne mit dem Transport der Instrumente und dem letzten Stück Fußmarsch für uns Musiker, aber ist die
Zwei- bis dreimal pro Woche macht sich Hansl am Morgen auf den Weg ins Dorf, um frische Vorräte wie Brot und Gemüse zu besorgen. Er kümmert sich darum, dass immer Nachschub da ist und auch um die Anlagen wie die Materialseilbahn, den Generator und die Kühlzellen. Früher wurde alles mit Maultieren und Haflinger Pferden zur Hütte transportiert. In den 1960er Jahren wurde dann die Materialseilbahn errichtet und bis dorthin kann der Hüttenwirt mit dem Jeep fahren. Das letzte Stück rauf bis zur Hütte ist seine fast tägliche Trainingsstrecke und er bewältigt sie in knapp dreißig Minuten. Das Tschamintal gilt als eines der schönsten Dolomitentäler und wird auch gerne als Trainingsstrecke von Bergläufern genutzt. Viele Einheimische lieben die gemütliche und gastfreundliche Stimmung auf der Grasleitenhütte und gehen an freien Tagen oder nach Dienstschluss regelmäßig rauf, um sich körperlich fit zu halten. Auf Initiative zwei befreundeter Schwestern der Hüttenwirte wurde eine Art Wettbewerb lanciert, um zu sehen, wer im Laufe der Saison den Hüttenwirten am öftesten einen Besuch abstattet. Es wurde eine Tafel aufgehängt, wo die Besuche der lokalen Stammgäste registriert wurden. Den Rekord hielt letztes Jahr der Überetscher Georg Jocher mit 33 Mal, gefolgt von den beiden Tiersern Filippo Pittscheider und Georg Psenner. Auch die Hüttenwirte ließen sich mit dem Grasleitenlauf, Tanz-, Musik-, Karten- und Sagena-
Stimmung umso toller, da alle in der Hütte wie gefangen sind und gemeinsam den Abend genießen“, erzählt der Sänger der Band, Klaus Gummerer, der seine tiefe Stimme gerne mit Whisky ölt und die Gaststube auf der Grasleitenhütte an einem Abend im Jahr mit zwei weiteren Vollblutmusikern mit Blues vom Feinsten zum Beben bringt. «
Das Leben und Wirtschaften am Berg ist mühsam, schenkt aber viel Genugtuung.
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